Denk-Orte: ein Dorf erzählt sein Gedächtnis (Abstract)
Ernst Langthaler
Wie kommt es, dass sich Individuen beim Erzählen von Geschichten über die Vergangenheit auf den Standpunkt von Kollektiven stellen - und von dort aus Übereinstimmung erzielen oder in Streit über das Geschichtsbild geraten? Diese im Alltag häufig zu beobachtenden Phänomene, die Maurice Halbwachs mit dem Begriff mémoire collective zu fassen versuchte, standen im Mittelpunkt des Projektes "Denk-Orte" im Rahmen des Forschungsschwerpunkts "Kulturwissenschaften / Cultural Studies". Die etwa 2.000 Einwohner zählende Gemeinde Frankenfels in den niederösterreichischen Voralpen diente gewissermaßen als Labor, um die Feinmechanik von Sprechen und Schweigen über die Vergangenheit - den Kreislauf der Produktion, Zirkulation und Konsumtion von Gedächtnisnarrativen - zu untersuchen. Entgegen einer gängigen Praxis verorten sich die Forscher nicht außerhalb des Dorfes; vielmehr begreifen sie sich als Teilnehmer von dörflichen Gedächtnisdiskursen. Der Dialog zwischen Forschern und Beforschten wird auf mehrere Weisen angeregt: in Form von Gesprächen mit DofbewohnerInnen über deren lebensgeschichtlichen Erfahrungen; in Form einer kommentierten Veröffentlichung dieser Erzählungen als Audio-CD; in Form einer Gruppendiskussion über die Frage, wie sich die mentalen Repräsentationen der einzelnen Frauen und Männer im Dorf in diese materielle Repräsentation der dörflichen Gedächtnisses fügen. In diesem einjährigen, durch unterschiedliche Kommunikationsmedien vermittelten Dialog werden die Beobachter auch zu Teilnehmern und, umgekehrt, die TeilnehmerInnen auch zu BeobachterInnen. Kurz, nicht nur die Forscher, sondern auch die Beforschten selbst beginnen über ihre Geschichtsbilder zu reflektieren.
Die Gruppendiskussion zeigt zweierlei: Einerseits nützen die SprecherInnen das affirmative Potenzial des ‘veröffentlichten Dorfgedächtnisses’, um ihre Vorstellungen von Dorfgemeinschaft zu bekräftigen. Andererseits kommt auch das in der CD angelegte kritische Potenzial zur Geltung. Die SprecherInnen gruppieren sich zunächst im Zentrum, im Nahbereich oder am Rand einer imaginierten Dorfgemeinschaft. Dabei erscheinen die Topoi von Fleiß und Genügsamkeit, Gemütlichkeit und Bodenständigkeit, um die sich die Individuen scharen, als Gravitationszentren eines kollektiven Gedächtnisses. Vermutlich bezeichnen diese drei Denk-Orte das, was man das "Ethos des Dorfes" nennen könnte: die Neigung zu wie der Ausdruck von einer dörflichen Lebensform. Fleiß und Genügsamkeit, Gemütlichkeit und Bodenständigkeit erscheinen als jene unhinterfragten Gewissheiten, in deren Gestalt kulturelle Repräsentationen von bäuerlich-handwerklichen Gruppen bestimmend für einen Großteil der Dorfgesellschaft geworden sind. Das dörfliche Ethos konturiert durch räumliche Differenzen nach außen hin eine Lokalidentität, die klassen-, geschlechter- und generationenspezifische Differenzen im Inneren verblassen lässt. Fleißig und genügsam, gemütlich und bodenständig – so sieht sich die ‚typische Frankenfelserin‘ und der ‚ typische Frankenfelser‘, und so möchten sie und er von anderen gesehen werden.
Die weitere Diskussion nimmt einen ambivalenten Verlauf. Einerseits zeigt sich das Dorfgedächtnis über weite Strecken als zähe, reproduktive Struktur. Die Topoi Fleiß und Genügsamkeit sowie Bodenständigkeit werden von niemand auch nur ansatzweise hinterfragt. SprecherInnen beiderlei Geschlechts platzieren sich um diese Denk-Orte und rechtfertigen darüber die diskursive, von den Projektmachern in Frage gestellte Ungleichwertigkeit von Frauen- und Männerarbeit. Andererseits wird das Dorfgedächtnis in gewisser Weise auch als flüssige, transformative Struktur fassbar. Der Denk-Ort der Gemütlichkeit wird in der Auseinandersetzung über "das Politische" derart in Frage gestellt, dass darüber ein offener Schlagabtausch zwischen VertreterInnen der älteren und der jüngeren Generationen entsteht. Die Leitfiguren dieser Konfrontation sind Friedrich als Verteidiger der Frankenfelser Gemütlichkeit und Karl als deren Ankläger. An beiden Kontrahenten lassen sich die Wechselwirkungen von Habitus und Diskurs exemplarisch zeigen. Friedrich wie Karl werden durch Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, die sie sich im Lauf ihrer jeweiligen Lebensgeschichten einverleibt haben, zu bestimmten Denk-Orten hingezogen: der eine als ehemals vom NS-Regime faszinierter Hitlerjunge und Wehrmachtssoldat, der sich mit dem Vorwurf des Mitmachens und –wissens konfrontiert sieht; der andere als Sohn einer Betroffenen und eines Augenzeugen des NS-Terrors, der die Hitlerjugend- und Soldatengeneration mit dem Vorwurf des Mitmachens und -wissens konfrontiert. Machtvolle Diskurse, die mögliche Denk-Orte markieren, üben Anziehungskraft auf Friedrich und Karl aus: im einen Fall Spielarten des Opfer-Diskurses, etwa die Fernsehdokumentation "Holokaust", welche die Verantwortung für Krieg und Genozid auf die wenigen Mächtigen abwälzen; im anderen Fall Varianten des Täter-Diskurses, etwa die sogenannte "Wehrmachtsausstellung", die den Vielen eine direkte oder indirekte Mitverantwortung an den NS-Verbrechen zuschreiben.
Die Schärfe der Auseinandersetzung erklärt sich nicht allein aus dem Spannungsverhältnis von Verteidigern und Anklägern, die zeitlich befristete Bündnisse mit anderen DiskutantInnen eingingen. Die Diskussion über Mitwisser- und Mittäterschaft in der NS-Zeit war wohl auch darum so heftig, weil so unterschiedliche Auffassungen über die private und öffentliche Tradierung dieses Wissens an die jüngere Generation bestanden. Vielleicht war gerade Irene, die jüngste und schweigsamste Teilnehmerin, diejenige, um deren Anerkennung die Kontrahenten am heftigsten rangen. Sie erhielt, ohne dass dies jemand intendiert hätte, zusehends die Rolle einer über den Streitparteien stehenden Richterin zugesprochen – eine Rolle, die sie schließlich auch wahrnahm. Am Ende der heftigen Kontroverse stand Irenes salomonischer Vorschlag eines Denkmals für die Opfer des 1945 durch das Dorf ziehenden "Todesmarsches" jüdischer Häftlinge am Friedhof und ihr Plädoyer gegen die Verurteilung einer Zeit, in der man nicht selbst gelebt hat. Damit war gewissermaßen das versöhnliche Schlusswort einer konfliktreichen Debatte gesprochen.
Den theoretischen Bezugspunkt des Projektes bildet die Erkenntnis, dass diskursive und soziale Praktiken wechselseitig aufeinander Bezug nehmen. Wer man ist, bestimmt das, was man sagt; umgekehrt beeinflusst der Standpunkt, den man im symbolischen Raum vertritt, den Standort, den man im sozialen Raum einnimmt. Der soziale Raum der Handlungen und der symbolische Raum der Aussagen konstituieren sich aus Machtbeziehungen zwischen einzelnen Positionen. Im einen Fall sind es unterschiedlich mächtige Akteure, die Positionen im sozialen Raum besetzen; im anderen Fall sind es unterschiedlich mächtige Diskurse, die Positionen im symbolischen Raum behaupten. In Sprechsituationen treten diese beiden Räume miteinander in Beziehung: Akteure mit einer bestimmten Sprecherposition im sozialen Raum bringen eine bestimmte Sprechposition im symbolischen Raum mündlich, schriftlich oder auf andere Weise zum Ausdruck. Diese Beziehung zwischen Handeln und Sprechen ist keineswegs beliebig; sie folgt einer "Ökonomie des sprachlichen Tausches" (Pierre Bourdieu): Die sozialen Positionen von Akteuren strukturieren und sind strukturiert durch die symbolischen Positionen, die sie sprachlich zum Ausdruck bringen. Sprechen erscheint unter dieser Sichtweise als Tauschvorgang, der durch Nachfrage und Angebot auf einem sprachlichen Markt bestimmt ist. Das Angebot, die Neigung eines Akteurs zu bestimmten Aussagen, erwächst aus den verinnerlichten Strukturen des Habitus, den im Lauf der Lebensgeschichte einverleibten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata. Die Nachfrage, die Unterscheidung zulässiger und unzulässiger Aussagen, wird durch die äußerlichen Strukturen des sprachlichen Marktes in Form von machtvollen Diskursen bereitgestellt, die über Medien und Mediatoren Dauerhaftigkeit erlangen. Im Wechselspiel von Habitus und Diskurs entwickeln Akteure bewußte und unbewußte Deutungs- und Handlungsstrategien, um ‚Profit‘ auf dem sprachlichen Markt zu erzielen. In diesem Sprachspiel versuchen die Forscher, eine Moderatorenrolle einzunehmen: Sie hören zu, wenn mächtige und weniger mächtige SprecherInnen Position beziehen; und sie machen sich zu Sprechern ohnmächtiger Positionen, die im Diskurs unterzugehen drohen. Damit erweist eine Kulturwissenschaft, die den Dialog zwischen Forschern und Beforschten pflegt, ihre gesellschaftliche Relevanz: Versteinerte Geschichtsbilder werden im Wechselspiel von Rede und Gegenrede gewissermaßen zum Tanzen gebracht.
Ein ausführlicher Projektbericht mit weiterführender Literatur ist im WorldWideWeb unter der Adresse http://www.eforum-zeitgeschichte.at verfügbar.