Daniel Winkler

Repräsentationsformen der Pariser Banlieue der 90er Jahre zwischen Dokumentation und Konstruktion:

Bertrand und Nils Taverniers Dokumentarfilm De lautre côté du périphund Tahar Ben Jellouns Erzählung Les raisins de la galère.

Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie aus der

Studienrichtung Vergleichende Literaturwissenschaft eingereicht an der Geistes- und

Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien

Wien, 2000

Ich spiele einen Zwerg.

Welchen?

Den Vierten.

Wie legst du ihn an?

Hintergründig.

Ich habe einmal den Siebenten gespielt;.der ist eine viel bessere Rolle als der Vierte.

In der Bearbeitung nicht!

Repräsentationsformen der Pariser Banlieue der 90er Jahre zwischen Dokumentation und Konstruktion: Bertrand und Nils Taverniers Dokumentarfilm „De lautre côté du périph“ und Tahar Ben Jellouns Erzählung „Les raisins de la galère“.

INHALTSVERZEICHNIS

EINSTELLUNG 7-8

  1. DOKUMENTARFILMTHEORIE

1.1 Positionen der neueren Dokumentarfilm-Theorie

1.1.1 Einführung

Einleitung und Überblick 9-10

Wissenschaftliche Etablierung 10-11

Gattungsdebatte 1 12-13

1.1.2 Definitionsdebatten im Überblick

Dokumentarfilm v/s Spielfilm (nach Beyerle) 13-14

Publikumserwartungen: Evidenz v/s Imagination 14-16

Gattungsdebatte 2: Der Stand der Dinge 16-20

1.2 Bill Nichols als Vertreter der neueren Theoriebildung

1.2.1 Einführung

Nichols Ansatz im Überblick 20-21

Adressierung 21-22

1.2.2 Fünf Modi der Dokumentarischen Repräsentation

Einleitung 23-24

Expository mode 24-25

Observational mode 25-27

Interactive mode 28-30

Reflexive mode 30-33

Performative mode 34-38

Überleitung 1 38

  1. ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES DOKUMENTARFILMS DE LAUTRE CÔTÉ DU PÉRIPH

Les Grands Pêchers, eine HLM-Siedlung in der Pariser Banlieue 39

Wohnungs- und Integrationspolitik in Montreuil 40-41

Der politische Kontext des Films 41-42

Die Reaktionen der Politik 43

Das Gesetz 43-44

Die öffentliche Debatte 44-46

Die CineastInnen 46-47

Vom politischen Protest zum Film 47-48

Die Taverniers in Montreuil 48-50

Das Produkt und seine Rezeption 50-53

Überleitung 2 53-54

3. DER BLICK AUF DIE BANLIEUE

3.1 Banlieue und Beur - Zwei Begriffe und ihre mediale Stigmatisierung

Banlieue: la crise de la ville 54

Mediale Repräsentationsmuster 55-56

Drei Themen - eine Figur: Gewalt, Jugend, Immigration - Beur 56-58

3.2 Selbstkritische Tendenzen in den Medien

Gegenkonstruktion 59-60

Sozio-lokale Perspektivierung 60-61

Balancement rhétorique v/s Revanche der banlieusards 61-64

4. MEDIENKRITIK UND NARRATION IN DE LAUTRE CÔTÉ DU PÉRIPH

4.1 Ein neuer Zugang zum Genre: Beispiele aus dem Film

4.1.1 Thema, Struktur und Perspektivierung des Films

Thematischer Überblick 64-65

Strukturierungselemente des Films 66-67

Ein Beispiel: Die Anfangseinstellung des Films 67-68

Perspektivierung 68-70

Ein Beispiel: Alexandre Leonardovich 70-71

4.1.2 Alternativer Diskurs - Differenzierte Apologetik

Immigration 71-72

Sequenz über den Rassismus 72-74

Integration in der Cité, Aneignung im Film 74-75

Henri Olivier 75-76

Mahati Fofana 76

Bouba Sangaré 76-77

4.2 Selbstreferenzialität

4.2.1 Der narrative Rahmen

Le cœur de la cité - Anfang 77-80

Le cœur de la cité - Ende 80-82

Le meilleur de lâme - Anfang 82

Le meilleur de lâme - Ende 83-85

4.2.2 Reflexive mode

Funktion des Rahmens 85-86

Selbstreferenzialität als kohärenzstiftender Faktor 86-91

5. TAHAR BEN JELLOUNS ERZÄHLUNG LES RAISINS DE LA GALÈRE IM LICHTE VON DE LAUTRE CÔTÉ DU PÉRIPH

    1. Vorbemerkung: Die Banlieue zwischen zwei Medien und zwei Genres

      1. Dokumentarfilm v/s literarischer Text 92

      2. Authentische Dokumentation, dokumentarische Ästhetik 93-95

    1. Die Perspektive der „Texte“

      1. Autorenschaft: Innen- v/s Außenperspektive?

5.2.1.1 Parallelen und Differenzen 95-96

5.2.1.2 Bertrand und Nils Tavernier 96-97

5.2.1.3 Tahar Ben Jelloun

Überblick 97-98

Sprache und Sprachwahl 98

Biographie und Werk 99-101

    1. Dokumentarische Qualitäten des Romans Les raisins de la galère (1996)

      1. Einführung in die dokumentarische Ästhetik

Überblick zu Les raisins de la galère 101-102

      1. Ein erstes Beispiel aus dem Text: Die orale Ästhetik Ben Jellouns 102-104

      2. Beispiel 2: Zwei Perspektiven auf die Banlieue Rouge 104-106

      3. Der Paratext als Schlüssel zum Text 106-108

5.3.5 Intertextualität: La misère du monde

Dokumentarische Form und Ästhetik 108-110

Ein inhaltlicher Exkurs: Die Medien 111-112

Palimpseststruktur und Gattungszuschreibung 113-114

5.4 Identität im Kontext der condition postcoloniale

5.4.1 Postkoloniale Verweise 114-115

      1. Une Arabe qui nest pas arabe mais kabyle, qui est française

mais qui se sent aussi algérienne 116-119

      1. Eine Familienchronik der Immigration: Großvater - Vater - Enkelin

Überblick 119-120

Das Scheitern der Integration des Vaters 120-122

Entwurzelter Vater, politisierte Tochter 122-123

Flucht vor der kollektiven Identität: Arioule v/s génération beur 123-126

    1. Schluß: Banlieue-Dokumentation v/s Beur-Erzählung

5.5.1 Les Grands Pêchers und le Val-de-Nulle-Part 126-127

5.5.2 Littérature beur als Privileg der génération beur? 128-130

5.5.3 Spannungsräume kultureller Auseinandersetzung: Die Innenperspektive

auf die communautés marginalisées 130-132

ABBLENDUNG

Die soziale Relevanz der „Texte“ 133-136

BIBLIOGRAPHIE 137-142

EINSTELLUNG

Die vorliegende Diplomarbeit hat zum Ziel, einen literarischen Buchtext und einen Dokumentarfilmtext aus den 90er Jahren unter Hinzuziehung von genrespezifischem Theorierepertoire und politisch-soziologischem Kontextwissen zu analysieren.

Der Dokumentarfilm De lautre côté du périph (1997) von Bertrand und Nils Tavernier liefert in Form von Interviews ein Portrait der HLM-Siedlung Les Grands Pêchers in Montreuil und versucht sie von den Banlieueklischees der konventionellen Fernsehberichterstattung zu befreien. Dieser Produktion wird die Dokumentarfilmtheorie von Bill Nichols, die dieses Genre anhand von fünf Repräsentationsmodi typologisiert, sowie die Mediensoziologie von Guy Lochard und Henri Boyer, die die Fernsehgeschichte der Banlieue und deren Repräsentation untersucht, zur Seite gestellt. Neben einer Einführung in die kulturwissenschaftliche Dokumentarfilmtheorie der 80er und 90er Jahre stehen so die Analyse des Dokumentarfilms und seiner Entstehungsgeschichte, die wesentlich durch die von der Regierung Juppé 1997 anvisierte Verschärfung der Aufenthaltsgestzgebung und die sich daran anschließenden Proteste der CineastInnen geprägt ist, im Zentrum.

Diesem Dokumentarfilm wird der Roman Les raisins de la galère (1996) des marokkanischen Autors Tahar Ben Jelloun gegenübergestellt. Auch dieser Text spielt in einer HLM-Siedlung der Pariser Banlieue, allerdings einer fiktiven. Zudem ist beiden Texten gemein, dass sie eine stark realistisch-dokumentarische Ästhetik aufweisen. Dies ist vermutlich nicht zuletzt der Grund, warum, im Gegensatz zu formal raffinierteren und stärker fiktionalisierenden (Spiel-) Filmen und Romanen von Tavernier und Ben Jelloun, so gut wie keine Sekundärliteratur vorliegt. Neben der so naheliegenden Frage, inwieweit ein Dokumentarfilm mit einem literarischen Text aufgrund einer ähnlichen ästhetischen Orientierung vergleichbar ist, steht so die Perspektive der beiden Texte auf die Banlieue im Mittelpunkt. Der Film, von zwei Franzosen gedreht, fokussiert eine Siedlung mit BewohnerInnen unterschiedlichster national-ethnischer Herkunft und Sozialisation. Der Roman des zwischen Paris und Tanger pendelnden (E-)Migranten Ben Jelloun wird aus der Perspektive der Beurette Nadia erzählt, die ausschließlich über das Leben der ImmigrantInnen aus dem Maghreb und deren Kinder in der HLM-Siedlung Val-de-Nulle-Part berichtet. Der Fokussierung der Protagonistin entsprechend wird dieser Text im Kontext postkolonialer Theoriebildung analysiert. Daneben wird aber auch die Frage der dokumentarischen Qualität des Textes gestellt, da in ihm starke intertextuelle Bezüge zu soziologischen Studien über die Immigration und die Banlieue enthalten sind.

Wie die Komplexität und Diversität der Themenstellung vermuten läßt, ist diese Diplomarbeit in einem längeren Lese- und Diskussionsprozess entstanden. An dessen Beginn stehen drei Lehrveranstaltungen des Instituts für Vergleichende Literaturwissenschaften und des Instituts für Romanistik, die meine Auseinandersetzung mit Fragen des Kulturkontakts/-konflikts, des Postkolonialismus und der Filmanalyse initiiert haben.

Taverniers Film De lautre côté du périphwurde Ende 1999 auf dem Bücherfest Lire en Fête des Französischen Kulturinstitutes erstmals in Wien gezeigt. Von Zohra Bouchentouf-Siagh stammen der Hinweis auf die Filmvorführung und auch die Anregung darüber zu arbeiten. Die Anregung, das Genre Dokumentarfilm selbst zu einem thematischen Schwerpunkt der Arbeit zu machen, stammt von Birgit Wagner. Die entsprechende theoretische Basis haben mir die Bestände der Bibliothèque du Film, der Centre Georges Pompidou sowie die Bibliothèque Municipale André Malraux während meines Aufenthalts in Paris im August 2000 veschafft. Diesen Teil der Arbeit habe ich ganz wesentlich Jürgen Doll zu verdanken, der mir den Aufenthalt dort ermöglicht hat.

Die Idee, es nicht bei der Filmanalyse zu belassen, sondern einen Vergleich mit einem literarischen Text vorzunehmen, ist auf Gespräche mit meinem Betreuer Norbert Bachleitner zurückzuführen. Den Hinweis auf den konkreten Text von Tahar Ben Jelloun verdanke ich wie viele Informationen zur Beur-Literatur Zohra Bouchentouf-Siagh.

Genauso wie meinen (in-)offiziellen BetreuerInnen sei meinen inoffiziellen LektorInnen gedankt, deren Korrekturen, Anregungen und Gedanken ebenso wie die der ersteren meine Arbeitsphasen begleitet und unterstützt haben, allen voran Maud Damon und Anke Gladischefski. Last but not least: Dank an die Institutsgruppe Romanistik und die Basisgruppe GEWI für Solidarität bei der politischen Wende am Institut für Romanistik, die auch ihre Auswirkungen auf meine Diplomarbeit hatte, sowie zunehmendes Verständnis für mein abnehmendes Engagement.

Wann immer man versucht, den Dokumentarfilm allgemeingültig zu definieren, taucht in den Texten der Theoretiker unvermeidlich das Wort Fiktion auf. Es scheint unmöglich, das Dokumentarische nicht aus der Opposition zu einem bekannten Genre heraus zu definieren. Selbst wenn diese Methode an sich aus epistemologischer Sicht kritisierbar ist [...], könnte man sich im Sinne einer neuen Begriffs-formulierung auf sie einlassen. Man muß allerdings zugeben, daß sie für gewöhnlich zum gegenteiligen Ergebnis führt, weil auch der Begriff der Fiktion nicht eindeutig definiert ist und sich aus ver-schiedenen Ausdrücken zusammensetzt, die mit ihm frei assoziiert werden: Erzählung, Objektivität, Realität. (Jost 1986: 216)

  1. DOKUMENTARFILMTHEORIE

    1. Positionen der neueren Dokumentarfilmtheorie

      1. Einführung

Einleitung und Rückblick

Die klassische Theoriedebatte des Dokumentarfilms ist durch zwei Konstanten geprägt, die bereits die beiden théoricien-praticiens des Genres John Gierson und Dziga Vertov in den 20er und 30er Jahren formuliert haben: die Definition des Genres in Opposition zum Spielfilm (später insbesondere zu Hollywood), dem eine ökonomische und ideologische Vormacht zugeschrieben wird, und über ein angeblich besonderes Verhältnis des Dokumentarfilms zur äußeren Wirklichkeit.

Vertov und Gierson sind die ersten, die eine Begriffsbestimmung des Dokumentarfilms an einen spezifischen Wirklichkeitsbezug des Genres binden und aus ihm eine interventionistische soziale Funktion ableiten. (Hohenberger 1998: 8-9)

Nicht zuletzt aufgrund des daraus abgeleiteten Anspruchs auf gesellschaftliche Veränderung, der im (kalten) Krieg in politische Instrumentalisierung pervertiert wird, und der damit verbundenen Fixierung auf den Kommentar mit der didaktischen bis propagandistischen Funktion, dem Publikum in direkter Adressierung die Bilder zu erläutern und zu interpretieren, bleibt dieses Verständnis des Genres bis in die 60er Jahre in Theorie und Praxis konstant. Wenn auch modifiziert, werden auch die neo-realistischen Bewegungen der 60er und 70er Jahre durch das eingangs genannte binäre Definitionsmodell geprägt. In ihren theoretischen Ansätzen verschärft sich, wie ihr Name schon andeutet, die Absetzung vom anderen Genre: Nun sind es das authentische Material, aus dem der Dokumentarfilm seine Erzählungen gewinnt, und sein angeblich unmittelbarer Zugang zur Wirklichkeit, die das Genre für unverfälschte Realitätsabbildung prädestinieren, ein Anspruch, den die Vorgänger nie gestellt hatten. (Hohenberger 1998: 15-16) Sprichwörtlich ist das Bild vom Fenster zur Welt (Hohenberger 1998: 21), das der Dokumentarfilm darstellen soll.

Wie das Zitat von Jost vermuten läßt, bleibt dieses Erklärungsmodell aber auch darüber hinaus bis weit in unsere Zeit prägend, auch wenn die Theorie zunehmend versucht, die alten Muster abzuschütteln. Seine Äußerung paraphrasierend kann mensch so feststellen, dass der Dokumentarfilm traditionell als das „ehrlichere“ Genre des Films galt und gilt, das den Anspruch stellt/e, die Gesellschaft/ das Publikum mit ihren eigenen Problemen zu konfrontieren oder sie darüber aufzuklären. (vgl. Beyerle 1997: 19-20, 28-29, Scheinfeigel 1995: 235-238) Hohenberger resümiert:

In der Folge der klassischen Dokumentarfilmtheorien und unter dem Einfluß des cinema direct, haben sich für eine wissenschaftliche Theorie des Dokumentarfilms verschiedene Problematiken herauskristallisiert, die auf jeweils unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln sind, auf denen die Spezifik des Dokumentarfilms von Anfang an als dessen Wirklichkeitsbezug in Differenz zum Spielfilm behauptet wird. (Hohenberger 1998: 20)

Wissenschaftliche Etablierung

Ein klarer Bruch sowohl mit dem realistischen Selbstverständnis als auch den binären Definitionsmustern einer Theoriegeschichte, die als Abfolge der Schriften einzelner théoricien-praticiens und Schulen wahrgenommen wird, zeigt sich mit der akademischen Etablierung der Filmwissenschaft, die parallel zum Neo-Realismus vom angelsächsischen Raum aus ihren Ausgang nimmt.

Eine bedeutsame Veränderung ergab sich, als in den 60er Jahren die Semiotik Eingang in die Filmtheorie fand. Von da an wurde auch der Dokumentarfilm nach und nach als Signifikationssystem (an)erkannt - und damit seine (formale) Verwandtschaft zum Spielfilm. Im gleichen Maße wurden die Ansprüche auf einen privilegierten Zugriff des Dokumentarfilms auf die Wirklichkeit zurückgenommen. (Beyerle 1997: 20)

Zunehmend findet damit auch eine Trennung zwischen filmischer Praxis und der Theorie/Analyse des Genres statt. (Hohenberger 1998: 17-18; Beyerle 1997: 23)

In diesem Kontext entwickelte sich die Filmsemiotik, die das realistische Modell des Primats der Realität vor dem Film (Hohenberger 1998: 21) durch das Verständnis des Films als Text, als System der Bedeutungs(re-)produktion ersetzt.

Mit dem Textbegriff rückt statt dessen die Realität des Films selbst in den Blick, die gegenüber der gezeigten Realität an Eigengewicht gewinnt und die Rede vom Dokumentarfilm als „Fenster zur Welt“ ersetzen soll. (Hohenberger 1998: 21)

Filmischer Realismus wurde so zu einer Frage ästhetischer Konvention und Wahl, die Repräsentationsfrage rückte in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses. Die Filmtheorie fokussierte so weniger die Vermittlung der Reproduktion profilmischer Phänomene als die Kritik am Gedanken der mimetischen Reproduktion. (Beyerle 1997: 42)

Der dominante Stellenwert der Semiotik in der akademischen Filmwissenschaft hat aber auch lange Zeit eine Reduktion der Forschungsinteressen auf die formalen, sprachlich-systematischen Aspekte des Textes Spielfilm zur Folge. Auch aufgrund des realistischen „Erbes“ naheliegende interdisziplinäre Berührungspunkte des Genres, die eine Beschäftigung mit Fragen des Intermedialen, Sozialen, Ökonomischen und Politischen wie von selbst aufwerfen, werden erst einmal ausgeblendet. So wird die Untersuchung der gesellschaftlichen und pädagogischen Funktion des Dokumentarfilms den Kommunikations- und Neue-Medien-WissenschaftlerInnen überlassen. (Hohenberger 1998: 18-19)

Dies hängt zweifelsohne mit der der Filmsemiotik immanenten Gleichsetzung der beiden Genres zusammen, die zu einer zeitweiligen Ignorierung des Dokumentarfilms führt. D.h. einerseits galt nun auch er als zu analysierender Text, andererseits wurde er nicht als eigenständige Gattung mit einem spezifischen historischen Gattungsdiskurs verstanden. Ab Mitte der 80er Jahre setzte sich allerdings zunehmend ein Verständnis durch, das von der Ähnlichkeit formaler und narrativer Strategien ausgeht, ihnen aber beim Dokumentarfilm andere Funktionen und Implikationen zuschreibt. TheoretikerInnen wie William Guynn, Michael Renov, Bill Nichols und Eva Hohenberger arbeiten mit dieser Annahme. So orten z.B. Nichols und Guynn ein ambivalentes Verhältnis des Dokumentarfilms zum Spielfilm. Beide plädieren dafür, formale Kriterien und Kategorien des Spielfilms auf die Anwendbarkeit für den Dokumentarfilm erst zu überprüfen und halten dabei -im Gegensatz zu Hohenberger- an Spezifika des Dokumentarischen fest. (Beyerle 1997: 46-47)

Gattungsdebatte 1

Die Theoriebildung ist von nun an eine Zugriffsgeschichte auf Problematiken, die ihr sowohl die Geschichte des Gegenstands als auch die klassischen Theorien hinterlassen haben. (Hohenberger 1998: 18) Dies bedeutet, dass mit der Reflexion und Analyse des dokumentarischen Gattungsdiskurses die Definition des Genres im Spannungsfeld zwischen Spielfilm und äußerer Wirklichkeit, wie sie von der Filmtheorie lange vertreten wurde, ihr Ende erfährt. Der Dialog der Gattung mit sich selbst, mit der eigenen Geschichte und den eigenen Diskursformen (Beyerle 1997: 21) wird zu einer dritten Komponente in der Dokumentarfilmtheorie. Dies ist u.a. deswegen von großer Bedeutung, weil so die historische Entwicklung des Dokumentarfilms und seiner Theoriebildung transparent werden. Denn der Großteil an theoretischen Reflexionen stammt seit Gierson und Vertov, also seit Anbeginn, von den FilmemacherInnen selbst. Aufgrund dieses engen Verhältnisses von Theorie und Praxis ist der Verlauf der zu Beginn thematisierten Theoriebildung des Dokumentarfilms nicht verwunderlich. (Beyerle 1997: 22-23)

Führt man sich die Entwicklung dieser Theoriebildung vor Augen, fällt auf, daß die meisten Überlegungen und Definitionsversuche von den Dokumentaristen selbst stammen, daß sie gewissermaßen die Theoretiker ihrer eigenen Sache waren oder immer noch sind. Hier liegt ein signifikanter, das dokumentarische Diskursfeld prägender Unterschied zum Bereich des Spielfilms, in dem Theorie und Praxis viel unabhängiger voneinander operieren. Die oben angesprochene Vorgehensweise, den Dokumentarfilm im Spannungsfeld zwischen Spielfilm und äußerer Wirklichkeit zu verorten, geht demnach im wesentlichen auf die Praktiker des Genres zurück. (Beyerle 1997: 22-23)

Beyerle folgert daraus den allgemein reaktiven Charakter (Beyerle 1997: 32-33) der Dokumentarfilmtheorie und das entsprechend kleine Spektrum an unabhängiger Theoriebildung. Ihr zufolge wurde sie bis in die jüngste Vergangenheit nicht nur von den Reflexionen der DokumentaristInnen dominiert, sondern ihre Ansätze wurden auch in der Regel relativ unkritisch reproduziert. Aus dieser ständigen Übernahme des vorangegangenen oder folgenden Modus durch KritikerInnen und TheoretikerInnen folgert Beyerle eine v.a. polemische und weniger programmatische Qualität vieler dokumentarischen Theorien: Denn das Zurückweisen der jeweils dominanten formalen Mittel und politischen Zielsetzungen diente nicht zuletzt dazu, die eigenen stilistischen und thematischen Charakteristika als unabdingbare Voraussetzungen des wahren Dokumentarismus hervorzuheben und den Authentizitätsanspruch des eigenen Repräsentationsmodus durchzusetzen. Teil dieser Strategie war es so auch, das eigene Neue und Unkonventionelle zwar zu unterstreichen, hingegen die Übereinstimmungen mit dem hervorgehenden zu verschweigen. (Beyerle 1997: 32-34) Die Filmwissenschaftlerin Eva Hohenberger (Hohenberger 1998: 8-9) bestätigt diese Analyse, wobei sie nicht nur auf die historische Selbstrechtfertigung der théoricien-praticiens eingeht, sondern sie (selbst-) kritisch auch auf die gegenwärtige etablierte (Film) Wissenschaft bezieht:

Doch, dass die frühen Theorien immer auch Selbstvergewisserungen sind, Legitimationen eigener Anschauungen, Verarbeitungen eigener Erfahrungen und Versuche der ästhetischen Verortung der eigenen filmischen Praxis, stellt sie in den generellen Kontext von Filmtheorie, die ebenso als zugleich experimentelle Erforschung und soziale Legitimation des neuen Mediums in den zwanziger Jahren beginnt. Wenn sich daher die Geschichte der Dokumentarfilmtheorien ebenso wie jede Filmtheorie auf die Entwicklung ihres Gegenstands sowie zeitgenössische Denktraditionen und Gesellschaftsanalysen rückbeziehen läßt, ist sie unter den Bedingungen ihrer institutionalisierten Produktion im Rahmen der Wissenschaft ebenso deren Entwicklungen, realen Paradigmenwechseln und temporären Moden unterworfen. (Hohenberger 1998: 8-9)

1.1.2 Definitionsdebatten im Überblick

Dokumentarfilm v/s Spielfilm (nach Beyerle)

Im Gegensatz zu den Anforderungen Hohenbergers halten die meisten TheoretikerInnen punktuell an der Gattungsdebatte als Definitionsdebatte des Dokumentarfilms fest.

In den neueren Tendenzen wird zwar für keine realistische Definition eingetreten, aber Wert darauf gelegt, neben dem Gemeinsamen auch das Trennende der Genres zu betonen. So wird festgestellt, dass Dokumentar- wie Spielfilme unsere Kultur reflektieren und somit eine Art gesellschaftlicher „Spiegel“ sind. Folglich kann also auch beim Dokumentarfilm keine völlig unmittelbare Konfrontation mit einem Thema stattfinden. Zudem ist die ontologische Basis beider Genres die gleiche, die Verbindung von Bild und Realität und Bild und Objekt/Referent, was sich aus der indexikalischen Qualität des fotografisch-filmischen Bildes ergibt. (Beyerle 1997: 50-52) Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm ist deren unterschiedliche Referentialität/indexikalische Beziehung. Der Dokumentarfilm stellt so wie die Geschichtsschreibung ein nicht-fiktionales System dar, das sich somit auf die Welt tatsächlicher Ereignisse und außersprachlicher Realität bezieht. Die Beziehung zur Realität ist insofern eine direkte, als die Möglichkeit besteht, den im Dokumentarfilm geschilderten Ereignissen einen konkreten Ort und eine konkrete Zeit zuzuschreiben. Zudem kann dieses nicht-fiktionale System wie die Politik oder die Wissenschaft (durch das Drehen vor Ort, das für sich schon eine Art Intervention darstellt, aber auch die Rezeption des fertigen Films) konkrete gesellschaftliche Zustände beeinflussen und so Macht ausüben - auch wenn das Medium Dokumentarfilm im Gegensatz zu den anderen genannten Systemen nie direkt, sondern nur immer über die bildlich-akustische Repräsentation reflektieren kann. Dementsprechend spielt das Genre auch mehr auf den Verstand an, das Wort hat einen hohen Stellenwert und soll im Dienste der „Wahrheitsfindung“ an die Vernunft des Publikums appellieren, was natürlich auch die Gefahr der Instrumentalisierung mit einschließt. Demgegenüber stehen im Spielfilm die Erinnerung an Fantasiestrukturen von Träumen im Vordergrund, dem Appellieren an die Vernunft steht das Ansprechen der Gefühlswelt gegenüber. (Beyerle 1997: 50-54)

Dies gilt, obwohl der Dokumentarfilm wie der Spielfilm selbstverständlich eine Signifikationspraxis ist und seine Interpretation des Gezeigten über eine Textform konstruiert. Folglich ist hier eine Ambivalenz prägend: Der Dokumentarfilm nimmt seine Rolle als Text wahr, dirigiert die Aufmerksamkeit der ZuschauerInnen aber gleichzeitig auf die äußere historische Realität der gemeinsamen Erfahrung. Er verweist also über den Text auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem ein Handeln, das Konsequenzen nach sich zieht, möglich und unvermeidbar ist.(Beyerle 1997: 57)

Publikumserwartungen: Evidenz v/s Imagination

Während beim Spielfilm davon ausgegangen wird, eine Geschichte erzählt zu bekommen, wird im Dokumentarfilm die Nachvollziehbarkeit eines Arguments erwartet. Es wird davon ausgegangen, dass er sich auf die reale Welt unseres Lebens bezieht, die Dokumentarfilmbilder, die Argumentation und der Großteil seiner Tonspur also unserer gemeinsamen äußeren Realität entnommen sind, wir sie in unserem Alltag erlebt oder wahrgenommen haben könnten. Das profilmische Ereignis und der historische Referent stimmen also überein, das Bild ist somit der auf die Leinwand projizierte Referens.

Die metaphorische Distanz, die mensch dem Spielfilm zuschreiben kann, ist hier gering: Mensch ist in der Regel nicht mit fiktionalen Charakteren und ihrem Schicksal beschäftigt, sondern mit gesellschaftlich Handelnden und dem Schicksal selbst, d.h. sozialer Praxis. (Beyerle 1997: 53-56; Eco 1994: 69-74) Bezüglich des anfangs erwähnten indexikalischen Charakters läßt sich sagen, dass zumindest der klassische Dokumentarfilm den indexikalischen Sog des (Ab-) Bildes in Richtung auf den Referenten, zur äußeren Realität hin stärker oder in anderer Weise nutzt als der Spielfilm. (Beyerle 1997: 51) Beim Dokumentarfilm sind es v.a. die Muster der Argumentation, Erklärung und Interpretation, die auf der indexikalischen Beziehung zu der von allen erlebbaren äußeren Realität beruhen. Die Basis des Dokumentarfilms ist also die Evidenz, die an die Einmaligkeit des historischen Ereignisses gebunden ist. (Beyerle 1997: 55-56)

Bezüglich der beiden Genres kann folglich zwischen einer zentrifugalen Bewegung des looking-out beim Dokumentarfilm und einer zentripetalen des looking-in beim Spielfilm, in der das Imaginäre die ZuschauerInnen immer mehr in seinen Bann zieht, unterschieden werden. Am Beispiel des Themas des Todes und des Sterbens zeigt sich dieser Unterschied besonders gut. Bei Bildern vom Tod behauptet der Dokumentarfilm, den realen physischen Tod einer Person zu zeigen, keine mimetische Repräsentation. Aus der ZuschauerInnenperspektive macht dies einen großen Unterschied in der Erfahrung und Wahrnehmung des Bildes, auch wenn sie zum Großteil auf dem Glauben der intratextuell nicht überprüfbaren Behauptung beruht, dass das Gezeigte wirklich stattgefunden hat. (Beyerle 1997: 58)

Während im Spielfilm das imaginäre Geschehen im Zentrum steht, ist es beim Dokumentarfilm vielmehr das Bild, das als Evidenz für das Stattgefundenhaben eines historischen Ereignisses steht. Anders ausgedrückt kann mensch auch von einer doppelten Zeitstruktur sprechen: Beim Dokumentarfilm existiert eine profilmische Realität unabhängig vom Film, sie ist aber in ihm als bereits (real) geschehen abwesend und filmisch so als Erinnerung in der vergegenwärtigenden Wiederholung präsent. Der Dokumentarfilm ist daher immer doppelt als vergangenes Ereignis und gegenwärtiger Film. Räumlich ist er hingegen unmittelbar. (Beyerle 1997: 58-59) Der Dokumentarfilm betont so textuell das Dagewesensein eines Ereignisses, gleichzeitig versucht er den Eindruck des being there as it happens zu vermitteln. Diese Verwandlung geht oft mit Mitteln des Spielfilms in Form einer beschwörenden Vergegenwärtigung des real Geschehenen vor sich (Beyerle 1997: 61). Generell läßt sich aus dieser Tendenz ableiten, dass die Gegenwart die dominante Zeitform des Spielfilms, die Vergangenheit die des Dokumentarfilms ist. Wenn der Dokumentarfilm also passagenweise danach streben muß (mit Strategien des Spielfilms), Gegenwart zu etablieren, versucht der Spielfilm umgekehrt andere Formen als die Gegenwart zu erzeugen. (Beyerle 1997: 59-62)

Gattungsdebatte 2: Der Stand der Dinge

Die oft angebrachte Kritik, dass ein Großteil der Schriften über den Dokumentarfilm traditionell sehr deskriptiv geprägt ist, ohne den Repräsentationscharakter und seine ideologische Komponente miteinzubeziehen, trägt Früchte. (Kuhn 1978: 71-72)

Die dominante Vorstellung, der Dokumentarfilm böte einen privilegierten Zugriff auf die Realität oder sei gar das Spiegelbild der äußeren Realität, wird relativiert. So kehrt sich auch die beschriebene Tendenz, den Dokumentarfilm auch aus strategischen Gründen, vom Spielfilm abzugrenzen, im Laufe der Theoriedebatten ab den späten 60er Jahren um. (Beyerle 1997: 42-43) In der theoretischen Debatte z.B. der Fachzeitschrift Screen kristallisiert sich schon in den 70er Jahren zunehmend der Hollywoodfilm als Feindbild heraus, der mit seinem Abzielen auf Transparenzwirkung den kinematischen Illusionismus (Beyerle 1997: 44) paradehaft verkörpert/e. Er steht exemplarisch für die Vorstellung des Films als einer logisch strukturierten, in sich geschlossenen fiktionalen Welt, ebenso wie für konventionalisierte stilistische und narrative Verfahren, die die ZuschauerInnen in das Leinwandgeschehen über die Identifikation mit Charakteren emotional einbinden sollen. Die Vorstellung der Reflexivität, der Verweis auf den eigenen Textcharakter und die Produktionsbedingungen wird demgegenüber als politische Verpflichtung hervorgehoben. (Beyerle 1997: 44-46) Der Dokumentarfilm wird als konstruiertes Signifikationssystem wahrgenommen und so werden nun zunehmend die formalen Verwandtschaften zum Spielfilm betont. (Beyerle 1997: 20) Symptomatisch dafür ist der vielzitierte Ausspruch des amerikanischen Dokumentarfilmtheoretikers Bill Nichols vom Dokumentarfilm als a fiction (un)like any other (Nichols 1994: 98).

Die Dominanz des Abbildcharakters in der Theorie wird laut Beyerle nun zunehmend durch eine Überbetonung des Konstruktcharakters - auch im Verhältnis zur tatsächlichen filmischen Umsetzung reflexiver Strategien - abgelöst. Diese Kurskorrektur ist zwar erkenn- und verstehbar, fördert aber dennoch durch die ihr implizite ideologische Überhöhung ein normatives Verständnis der Gattung. Beyerle weist also auf die Problematik der oppositionellen Verwendung der Begriffe realistisch und reflexiv hin, zumal eine ganze Reihe von Produktionen beide Tendenzen vereinen. Sie kritisiert die pauschale Beurteilung von Filmen als nicht progressiv und fordert statt dessen detaillierte Einzelanalysen. Als Beispiele für diese dekonstruktivistische Mode verweist die Autorin hier auf Hohenbergers Orientierung an Screen-TheoretikerInnen der 70er Jahre, sieht aber auch in Nichols Stilisierung von Giersons argumentationslastigem expository mode zum Prototyp des Dokumentarfilm Ansätze dazu. Denn in seiner historischen Typologie fällt so das Direct Cinema - da schwer in das Modell integrierbar - aus der „Norm“, und der Dokumentarfilm findet erst mit dem interactive und v.a. dem reflexive mode seine argumentative Bestimmung (Beyerle 1997: 48) wieder. (Beyerle 1997: 43-48; vgl. 1.2)

Demgegenüber sieht Beyerle gerade in der Ambivalenz zwischen Abbild- und Konstruktcharakter die Spannung und das Interessante des Genres, da es so Nischen abdecken kann, die der Spielfilm nicht ausfüllt und verweist dabei auf das Direct Cinema (Beyerle 1997: 49) und den gleichen Textcharakter beider Genres. Denn auch für den Dokumentarfilm gilt: Es handelt sich zwar zweifelsohne um wirkliche Bilder, aber ob es Bilder der wirklichen Ereignisse sind, die sie bedeuten sollen, ist bestreitbar. Denn die Evidenz aus der Welt unserer gemeinsamen kollektiven historischen Erfahrungen ist in ein Signifikationssystem eingeschlossen, das ihr erst innerhalb eines bestimmten Kontextes ihre spezifische Bedeutung verleiht. Folglich gibt es im Dokumentarfilm zwei evidentielle Ebenen, wobei die Ebene der faktischen Evidenz auf der Basis der Einstellung die Ebene der Produktion von Bedeutung, die diese Einstellungen kontextualisiert, in ihrer Glaubwürdigkeit unterstützt.

Die Glaubwürdigkeit des Dokumentarfilms hängt somit vom Realitätseffekt ab, dem Eindruck, dass ein Ereignis sich so zugetragen hat bzw. haben könnte, wie das Publikum es vermittelt bekommt, hinter den der Konstruktcharakter zurücktritt, da die Bilder des

Dokumentarfilms keinen Beweischarakter für die Richtigkeit der Argumentation haben. (Beyerle 1997: 62-64)

Allgemein zieht Beyerle eine positive Bilanz und stellt in den letzten Jahren eine Intensivierung der Forschungen im Bereich des Dokumentarfilms fest, was anhand der Publikationen über den Dokumentarfilm in Fachzeitschriften, Sammelbänden und Monographien leicht belegbar ist (vgl. Bibliographie). Beyerle führt dies zum einem auf die Tatsache zurück, dass es in diesem Bereich noch grundsätzliches zu erforschen gibt, andererseits darauf, dass der Wunsch besteht, dem marginalisierten Dokumentarfilm mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Ähnliches ist ihr zufolge auch im Bereich des Stummfilms, des ethnic cinema, des Experimental- und des Essayfilms festzustellen. Allerdings gelten diese Äußerungen nur für die Beschäftigungen mit der Theorie, das allgemeine Prestige des Genres und die Situation für FilmemacherInnen und VerleiherInnen berührt dies (noch) nicht. (Beyerle 1997: 47)

Hohenberger betrachtet hingegen den Status der Dokumentarfilmtheorie trotz der „filmwissenschaftlichen Wende“ nach wie vor vergleichsweise skeptisch und verweist auf die wenigen existenten Anläufe einer entsprechenden Theoriegeschichtsschreibung:

Während der Dokumentarfilm im Laufe seiner Geschichte den Status eines Genres angenommen hat, dessen produktive Höhepunkte und stilistische Strömungen benannt und dessen „Klassiker“ kanonisiert sind, ist analog dazu eine Geschichte der Theorie des Dokumentarfilms noch kaum geschrieben worden. (Hohenberger 1998: 8)

Hohenberger geht aber noch wesentlich weiter. Sie stellt die grundlegende Frage, ob überhaupt eine eigenständige Theorie des Dokumentarfilms existieren kann, wenn diese Theorie auch das Resultat ständiger Spezialisierungen und Ausdifferenzierungen im Bereich der Filmwissenschaft sein soll. Sie übt so eine radikale Kritik am Festhalten an der Idee des spezifisch dokumentarischen (Ab-)Bilds (Hohenberger 1998: 21), das trotz der semiotischen Wende und des Interesses für den Konstrukt- und Repräsentationsaspekt des Dokumentarfilms eine Konstante in der Theoriebildung geblieben ist. Ihrer Ansicht nach gilt die Authentizität filmischer Bilder entweder für alle Filmgenres oder keines. Aus dem spezifisch ikonischen oder dem indexikalischen Charakter dokumentarischer Zeichen läßt sich somit weder das Besondere am Dokumentarfilm noch eine entsprechend „gültigere“ Referentialität ableiten. Die Frage nach der Indexikalität zielt dann, wenn jede Filmeinstellung ein Dokument davon ist, was sich zum Aufnahmezeitpunkt vor der Kamera ereignet hat, auf den fiktionalen und experimentellen Film ebenso ab wie auf den Dokumentarfilm. Hohenberger vertritt also diesbezüglich den Ausgangspunkt der textorientierten Filmwissenschaft der Gleichsetzung der Genres und lehnt eine Unterscheidung in narrativ und nicht-narrativ ab. Als Beispiel für die Unmöglichkeit einer solchen Grenzziehung verweist sie auf das (typische Spielfilm-) Muster des Direct Cinemas, dessen Filme sich in der Regel um eine HeldIn im Zentrum positionieren, die der sogenannten Krisenstruktur ausgesetzt ist, d.h. die Handlung ist auf einen zentralen Konflikt und dessen Lösung hin ausgerichtet. (Hohenberger 1998: 21-22) Hohenberger spricht von den Gründungsmythen zweier strikt getrennter Gattungen (Hohenberger 1998: 23) und meint, dass sich beide Genres der Diskursformen des jeweils anderen bedienen. So verwendet der Dokumentarfilm historische Spielfilmverfahren des Narrativen, d.h. indem er erzählt, fiktionalisiert er die in ihm geschilderten Ereignisse, unabhängig davon, ob sie (un-)wahr sind. Denn die Wahrheit der Ereignisse wird im Dokumentarfilmgenre zwar vorausgesetzt, diese Kategorie ist allerdings, wie schon geschildert, intrafilmisch nicht verifizierbar. (Hohenberger 1998: 22-23)

So wie die Geschichtsschreibung die Ordnung und sinnhafte kausale Verknüpfung von Ereignissen in die Realität zurückverlegt, während sie sie rhetorisch mit Hilfe bestimmter Tropen erst konstituiert, so behauptet auch der Dokumentarfilm, Realität lediglich zu zeigen, wo er selbst sie als sinnvolle doch eben erst konstruiert. (Hohenberger 1998: 22)

Dies zeigt sich darin, dass, wenn Dokumentarfilme bloße Dokumente wären, ihnen eine logische und argumentative Struktur und eine Zielgerichtetheit sowie ein Abschluß, der jede Erzählung kennzeichnet, fehlen würde. D.h. HistorikerInnnen wie DokumentaristInnen versehen ihr Material durch Prozesse der sinnvollen Anordnung erst mit Bedeutung. Aber wie an vielen Avantgardefilmen ablesbar ist, haben weder die Ordnung und Sinnhaftigkeit des historischen Diskurses noch die des (narrativen) Dokumentarfilms [...] daher zwingend etwas mit der Prozeßhaftigkeit des Realen zu tun. Dass es bei beiden so erscheint ist das Ergebnis ihrer prinzipiellen „fiction making activity“. Daraus läßt sich nach Hohenberger folgern, dass die indexikalische Authentizität des Dokumentarischen ein arbiträres Verhältnis zur Realität selbst hat, ihre „Echtheit“ also ein diskursiver Effekt ist. (Hohenberger 1998: 22)

Für die Filmwissenschaft bedeutet dies zweierlei: einerseits eine stärkere Konzentration auf den filmischen Text und somit auch eine zunehmende theoretische Auflösung der explizit dokumentarfilmischen Ansprüche, andererseits aber auch die Schwierigkeit der Theorieanwendung. Denn trotz einsichtiger Feststellungen, wie jener, dass auch Dokumentarfilme narrativ geprägt sind und sich die Frage der Authentizität der Bilder für alle Filme gleich stellt, bleibt in der mehrheitlichen Praxis des Filmemachens ein deutlicher Unterschied der Genres nicht nur bezüglich des Anspruchs, sondern auch der Ästhetik (Dominanz der Interviews und der Tonspur etc.) bestehen. Im Folgenden wird ein Definitions- und Typologisierungsmodell des Dokumentarfilms von Bill Nichols näher betrachtet, das auch vom realen Filmschaffen ausgeht, auf differenzierte Weise an der Ambivalenz der Gattungen festhält und so für die praktische Anwendung mehr Anhaltspunkte bereitzuhalten verspricht.

Der Film markiert, indiziert oder verweist auf diesen Ort, ohne ihn jemals ganz einzuschreiben. Ein solcher Ort läßt weniger die Vorstellung fiktionaler Geschlossenheit aufkommen als die eines offenen Zugangs zum Realen, wobei diese immer noch Über-schneidungen zwischen dem Dokumentarfilm und den illu-sionistischen Strategien des Spielfilms zuläßt. (Nichols 1976: 170)

    1. Bill Nichols als Vertreter der neueren Theoriebildung

1.2.1 Einführung

Nichols Ansatz im Überblick

Bill Nichols, der spätestens seit den 80er Jahre dominante Vertreter des Genres in der amerikanischen akademischen Debatte, weist schon in seinem Aufsatz Dokumentarfilm - Theorie und Praxis (Nichols 1976: 164-182) darauf hin, dass der Dokumentarfilm das Genre des nicht-fiktionalen Films ist, das in der Theoriebildung am stärksten vernachlässigt wurde.

Er führt dies auf die Ideologie „linker“ Apologeten des Genres zurück, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten den Mythos des Dokumentarfilms als Fenster zur Welt produziert haben, anders gesagt auf die Beschränkung des Genres auf eine Art Propagandainstrument, abseits ästhetischer Implikationen. Um das Klischee der quasi natürlichen Objektivität des Dokumentarfilms zu dekonstruieren, schlägt er vor, die Bedeutungskonstruktion im Dokumentarfilm über Ton und Bilder zu untersuchen, wie auch dessen formale Struktur. Es ist also eine Neubetrachtung notwendig, die den Film nicht als Ausschnitt der äußeren Realität wahrnimmt, sondern als ein formales und semiotisches System, das durch das Prinzip der Selektion Bedeutung produziert. (Nichols 1976: 164-165)

Nichols grenzt sich somit von den „üblichen“ Herangehensweisen ab. Er lehnt sowohl Definitionen ab, die den Dokumentarfilm in traditioneller Manier als ein vom Spielfilm klar abgrenzbares Genre mit einem einfachen Kriterienkatalog umreissen (z.B. Richard M. Barsam 1992: Nonfiction Film. A Critical History. Bloomington/Indianapolis), als auch Ansätze, die dem Dokumentarfilm eigene spezifische Signifikationsprozesse absprechen (vgl. Hohenberger 1998). Er geht davon aus, dass der Dokumentarfilm sehr wohl eigenen Konventionen und ZuschauerInnenerwartungen unterliegt, die ihn aber nicht in eine simple Opposition zu narrativen Gattungen stellen. Eine brauchbare Definition sollte nach Nichols daher den Dokumentarfilm neben das Element des Narrativen stellen und untersuchen, wo er mit dieser Größe übereinstimmt und wo nicht. Fest steht für ihn auf jeden Fall, dass es zu weiten Überschneidungen von Verfahrensmustern kommen kann, so dass auch Dokumentarfilme narrative Muster in ihre formale Struktur eingliedern. Nach Nichols kann mensch so zwar für den Dokumentarfilm je nach Periode bzw. Typ spezifische Eigenschaften feststellen, diese können einzeln aber genauso als dokumentarische Effekte in Spielfilme integriert sein. (Nichols 1976: 166-167)

Adressierung

Nichols konzentriert sich in seinen Untersuchungen v.a. auf die Analyse der Vielfalt der erklärenden Codes und unterscheidet zwei wesentliche Adressierungsweisen bezüglich der Bild-Ton-Beziehung des Dokumentarfilms.

Er spricht von direkter Adressierung, wenn die ZuschauerIn direkt als Subjekt, also als AdressatIn des Films angesprochen wird, von indirekter Adressierung, wenn dies nicht der Fall ist. Im Weiteren differenziert er, ob das Publikum von Charakteren oder SprecherInnen angesprochen wird, d.h. von Personen, die im Film ihre außerhalb des Films gelebten sozialen Rollen repräsentieren oder von Personen, die die Perspektive des Dokumentarfilms und somit oft die der Interpretation der FilmemacherIn repräsentieren. Denn grundsätzlich wird im Dokumentarfilm davon ausgegangen, dass die in Dokumentarfilmen beteiligten Personen (mit Ausnahme der SprecherInnen) ihre eigene soziale Realität repräsentieren, auch wenn sie durch den Filmprozeß bedingt nur selektiv und tendenziös festgehalten werden kann. Damit verbunden ist die Annahme, dass es sich bei den Aufnahmen um Originalszenen handelt, also nicht um nachgestellte Handlungen, also der Anspruch des Dokumentarfilms, gesellschaftliche Konflikte so darzustellen, wie sie die Beteiligten selbst wahrnehmen. (Nichols 1976: 167-168)

Zudem kann unterschieden werden, ob die Rede sich synchron zu den Bildern verhält oder nicht. Der üblichste Modus ist der Synchronton, der über Bilder des jeweiligen Charakters illustriert wird; so wird ein Charakter in seinem Milieu verankert und die an der Oberfläche sichtbaren Zeichen seiner außertextuellen Identität wie Gestik oder Kleidung werden realisiert. Hier kann eine bildliche Referenz zu textuellen Äußerungen hergestellt werden, z.B. der angesprochene desolate Zustand von Gebäuden wird auch gezeigt. Die nicht-synchrone Bild-Ton-Kombination liegt z.B. bei illustrativen Bildern (= Zwischenschnitte, Einblendungen) vor, die das Argument einer SprecherIn erläutern können. Sie können aber auch kontrapunktisch oder abgrenzend eingesetzt werden, z.B. in Form von Interviews im Synchronton, die dem Filmtenor widersprechen. Ebenso ist eine Relation möglich, die den Bedeutungsradius der Äußerungen eines Charakters erweitert, z.B. über den Einsatz von Metaphern (z.B. metaphorische Identifikation von Gefangenen, Sklaven und Arbeitern), die aber oft den Nebeneffekt haben, undifferenziert zu sein und der historischen Situation ihre Einmaligkeit zu nehmen. (Nichols 1976: 178-179)

Allgemein können die Aussagen und die Charaktere selbst entweder eine Überbrückungsfunktion zwischen Sequenzen haben oder sich nur auf eine Sequenz beschränken. Ersteres ist dann der Fall, wenn ein Charakter an der Planung des Films beteiligt ist, durch den Film hindurch ein Argument verkörpert und gleichzeitig auf seine außerfilmische Realität als sozialer Akteur und reale Person verweist, also den Argumentationsradius erweitert. Konstruiert wird eine solche Funktion, die zwischen der der SprecherIn und der des Charakters liegt, erst über die Montage. Wesentlich häufiger ist allerdings die Beschränkung auf eine Sequenz, sind also Interviewausschnitte von Personen, deren Persönlichkeit im Laufe des Films nicht näher verfolgt wird, sondern die nur punktuell im Dienst einer Argumentationslinie eingesetzt werden. Häufig und relativ unproblematisch ist hier der Einsatz solcher Fragmente mit dem Ziel, eine Argumentationslinie zu unterstützen. Die Argumentation kann so eine Behauptung, eine These sein, die über ZeugInnenaussagen auf der persönlichen Ebene durch Charaktere noch einmal untermauert wird, das Fragment erläutert oder beschreibt also, stellt aber keine eigene Argumentation auf. Die Gefahr der Schwäche des Bildmaterials, das nicht zu einem bestimmten Argumentationsverlauf passt, ist so nicht gegeben. (Nichols 1976: 175-176)

1.2.2 Fünf Modi der dokumentarischen Repräsentation

Einleitung

Zur genaueren Untersuchung des Genres selbst unterscheidet Nichols vier, später fünf (historische) Modi der Adressierung. (Nichols 1988: 48-63; Nichols 1994: 92-106).

Nach Beyerle stecken die dokumentarischen Repräsentationsmodi expository, observational, interactive, reflexive mode (plus performative mode) den Rahmen des Gattungsdiskurses seit den frühen Kinojahren ab: In jeder historischen Periode des Dokumentarfilms reift jeweils ein anderer Modus zum dominanten heran. In der Folgeperiode wird dieser dann von anderen dominanten Charakteristika, also einem anderen Modus abgelöst oder mit älteren Modi vermischt. Neu ist dabei jedoch, dass die Dokumentarfilmmodi nicht chronologisch und linear aufeinander folgen, sondern dass es zu Überlagerungen kommt: Früher dominante Modi existieren neben neueren weiter und sind eine Art Reservoir, dessen sich die nachfolgenden Tendenzen bedienen können. (Beyerle 1997: 20) None of these modes expels previous modes; instead they overlap and interact. The terms are partly heuristic and actual films usually mix different modes although one mode will normally be dominant. (Nichols 1994: 95)

Nichols geht davon aus, dass die im (Dokumentar-) Film entwickelten Strategien und Stile auch aufgrund von ständig wechselnden ideologischen Herausforderungen wechseln.

Da im Laufe der Zeit die Konventionalität jedes Repräsentationsmodus immer deutlicher wird, entwickelt sich ein alternativer, der den vorhergehenden zunehmend ablöst. Denn der als Realismus akzeptierte Stil einer Generation wirkt auf die nächste schon wieder gekünstelt. D.h., dass immer wieder neue Strategien nötig sind, um „Dinge, wie sie sind“ zu repräsentieren und um diesen Repräsentationsmechanismus durch neue filmische Praktiken zu hinterfragen. So ist jeder Modus auch eine Reaktion auf den historisch vorhergehenden dominanten Modus, d.h. dass der neue dominierende Modus jeweils die ästhetischen und thematischen Rahmen des vorherigen durchbricht, wie auch dessen gesellschaftliche Vorstellung, also einen eigenen Standpunkt gegenüber der „Realität“ entwickelt. (Beyerle

1997: 19-20; Nichols 1988: 48)

Beyerle ortet v.a. in dem oben genannten Aspekt der Überlagerung der Adressierungsweisen einen innovativen Gewinn dieses Ansatzes für die Theoriebildung und weist auf den Konnex mit dem Gattungsdiskurs hin:

Die besondere Qualität dieser Tendenz liegt darin, daß sie die Entwicklung und Ausformulierung verschiedener dokumentarischer Ansätze nicht nur als historisch bedingt, sondern als aufeinander bezogen erkennt und analysiert. Über diese Herangehensweise wird es möglich, den Dokumentarfilm als eigenständige Gattung mit einer eigenen Gattungsgeschichte und vor allem mit einem eigenen Gattungsdiskurs wahrzunehmen. Deutlicher als bisher zeigt sich, daß sich dokumentarische Bewegungen innerhalb eines spezifischen gesellschaftspolitischen und ästhetischen Kontexts entwickeln und daß nachfolgende Strömungen auf vorangegangene reagieren -oftmals in polemischer Art und Weise [...] (Beyerle 1997: 19)

Expository mode

Den ersten Modus beschreibt Nichols als einen didaktischen Ansatz, der die klassische off-screen-narration einsetzt, die das Reale direkt adressiert. Diese Erzählweise, die er in der Gierson-Tradition der 30er Jahren verortet, stützt sich v.a. auf die Tonspur. (Nichols 1988: 48) Ein Beispiel für diesen Modus ist der Dokumentarfilm Drifters (1929) des Schotten John Gierson, der den Alltag des Heringfischfangs zum Thema macht. Giersons Maximen entsprechend steht nicht der ästhetische Aspekt im Vordergrund, sondern der soziale; somit ist ein journalistisch-beobachtender Stil prägend. Wie in der gesamten britischen Dokumentarfilmschule der 20er und 30er Jahre gilt auch bei diesem Film das Primat der Tonspur, die die Beobachtungen über eine KommentatorInnenstimme erklärt und analysiert. Auf der Bildebene wird das Alltagsleben von einfachen Fischern vorgeführt, die direkte Adressierung über die Tonspur strukturiert und interpretiert den Film aber, gibt also eine innere Logik vor. (Gauthier 1995:49-50, 59-61)

Klassisch ist beim Dokumentarfilm dieses Modell der direkten Adressierung wohl auch aufgrund seiner analytischen Genauigkeit durch die Strukturierung über die SprecherInnenrolle. Der Kommentar der SprecherIn strukturiert den Film, verbindet die Einstellungen zu Sequenzen, Segmenten und zum textuellen Ganzen, steuert also die Erzählung. Er weist den anderen Elementen wie O-Ton, Musik und Bild ihre Rolle zu und verschafft dem Publikum, an das er sich direkt wendet, den Zugang zum erklärenden Ganzen. So ist dem expository mode auch eine gewisse dogmatische und didaktische Wirkung zu eigen, nicht zuletzt durch die im Film immer neu konstruierte Stimme der Autorität (synchron, z.B. durch einen Experten repräsentiert) und den allwissenden Kommentar (nicht-synchron, z.B. in Form einer Off-Stimme des Regisseurs).Die Bilder haben sowohl in den von der SprecherIn dominierten Passagen als auch in Interviewsequenzen (synchron) oder Abschnitten, wo lediglich die ZeugInnenstimme präsent ist (nicht-synchron), nur illustrativen Charakter. (Nichols 1998: 168-173)

Wohl auch aufgrund des dogmatischen Realismus ist dieser Ansatz des klassischen Dokumentarismus nach dem 2. Weltkrieg zunehmend zurückgedrängt worden, so dass er heute zwar im Fernsehdokumentarismus (Nachrichten, politische Dokumentationen, Werbung, Spiel- und Talkshows) weiterhin eine große Rolle spielt, nicht aber im eigentlichen (künstlerischen) Dokumentarfilm. Allerdings tritt er hier in Abwandlung und Kombination mit anderen Modi später wieder auf. (Nichols 1988: 48)

Nichols frühen Schriften zufolge gilt der expository mode als klassischer Dokumentarfilmmodus, v.a. aufgrund seiner Ansicht, dass im Dokumentarfilm die Tendenz der Dominanz verbaler Erklärungsmuster gegenüber visuellen prägend ist. Die Bedeutsamkeit des Arguments verleiht so dem Ton seine große Bedeutung, der laut Nichols wiederum dessen Logik leichter veranschaulichen kann als das Bild. (Beyerle 1997: 67-71) So hat die logische Kontinuität der Argumentation, die völlig disparate Ausschnitte der äußeren Realität als Evidenz zusammenfügen kann, Vorrang vor der raum-zeitlichen Kontinuität des Spielfilms. (Beyerle 1997: 70) Die Logik des Arguments bestimmt so den Film, in sie werden die Interviews integriert, ihr werden alle anderen Komponenten untergeordnet und angepaßt.

Observational mode

Nichols Feststellung des gemeinsamen Bestrebens von realistischen Spiel- und Dokumentarfilmen, den von ihnen gegenüber der Welt eingenommenen Standpunkt zu kaschieren und Ansichten und Erfahrungen so zu präsentieren, als seien sie vorgegeben und würden lediglich enthüllt und widergespiegelt, gilt für den expository wie den observational mode, der ebenso an traditionellen Authentizitätsansprüchen festhält. (Beyerle 1997: 62-63)

Aufgrund seines mitunter stark narrativen Charakters werden trotz seines Realismus sowohl das Primat der Argumentation des Dokumentarfilms wie die Annahme der unterschiedlichen Orientierung der realistischen Filme der Genres Dokumentar- bzw. Spielfilm auf eine bzw. die Welt hier fraglich. (Beyerle 1997: 62, 67) Dies veranschaulicht das Beispiel des Direct Cinema mit seiner mehr auf einer Ästhetik der Sinnlichkeit aufbauenden picture logic, die auf einen Voice-over-Kommentar, eine SprecherIn und musikalische Untermalung verzichtet, so dass sich die Geschichte über die Chronologie der Bilder selbst erzählt/erzählen soll. (Beyerle 1997: 67-69, Hohenberger 1998: 25)

Schon der Name verrät, dass hier der Anspruch der Unmittelbarkeit und des Einfangens von „wahren“ Vorkommnissen aus dem Alltagsleben im Vordergrund stehen. Die gezeigten Beobachtungen über die Realität werden beim observational mode nicht als Ergebnis eines direkten Arguments, sondern auf der Basis der Interferenz, die sich auf die historische Evidenz, also das Bild bezieht, hervorgebracht. So werden einzelne Ereignisse im Dokumentarfilm als Evidenz historischer Determinierung und nicht als Produkte künstlerischer Blickweisen wahrgenommen, obwohl sie uns nur als Ergebnis textueller Strategien zugänglich sind. (Nichols 1988: 52-53; Nichols 1998: 168) Ab nun soll der Dokumentarfilm die Realitätserfahrung des Zuschauers filmisch ersetzen können. Die Wahrnehmung eines Dokumentarfilms wird gleichbedeutend mit der Teilhabe an der in ihm aufgehobenen Realität. (Hohenberger 1998: 16)

Dies trifft u.a. für die zahlreichen Portraitfilme der das Direct Cinema dominierenden Gruppe Drew Associates zu. Filme wie Meet Marlon Brando (1965) oder Whats Happening! The Beatles in the U.S.A. (1964), die von den Gebrüdern Maysles, die sich von der genannten Gruppierung losgesagt hatten, gedreht wurden, gehen von der von Hohenberger genannten Prämisse aus. Die Realität der Stars soll in Form der Erfahrung der Filmemacher, die diese über lange Zeit mit der Kamera begleitet und aus der Nähe beobachtet haben, im Film widergespiegelt und so an das Publikum direkt weitergegeben werden. Die ausschließlich indirekte Adressierung unterstützt diesen Authentizitätsanspruch zusätzlich. So steht die Bildspur im Zentrum, da sie ja als Evidenz für die Authentizität des gezeigten Ereignisses und Erlebnisses bürgt. (Beyerle 1997: 233)

Das Direct Cinema greift so auch auf den Anspruch des privilegierten Zugangs des Dokumentarfilms zur Wirklichkeit zurück, um seinen beobachtenden Dokumentarismus gegenüber dem Hollywoodfilm, insbesondere aber gegenüber dem traditionellen Erzähldokumentarismus im Gefolge Giersons abzugrenzen. Der Argumentation vieler VertreterInnen des Direct Cinema zufolge konnten aufgrund der neuen technischen Errungenschaften (tragbare Kameras, Geräuschrekorder, die Synchronton unter Standortbedingungen aufnehmen können) reale Personen in authentischen Situationen ohne Drehbuch spontan erfasst werden. Zentrales Element der Theorie des Direct Cinema ist die Ablehnung jeglicher Intervention in das Filmgeschehen -auf das Nachstellen, Wiederholen oder Inszenieren von Situationen wird verzichtet- und Montage, die gemäß der natürlichen Chronologie der Ereignisse gestaltet werden soll, um das befilmte Material und somit die gefilmten Geschehnisse möglichst authentisch wiederzugeben. (Beyerle 1997: 36-41, Hohenberger 1998: 15-16)

Oberservational documentary appears to leave the driving to us. No one tells us about the sights we pass or what they mean. Even those obvious marks of documentary textuality - muddy sound, blurred or racked focus, the grainy, poorly lit figures of social actors caught on the run - function paradoxically. Their presence testifies to an apparently more basic absence: such films sacrifice conventional, polished artistic expression in order to bring back, as best they can, the actual texture of history in the making. (Nichols 1988: 52)

So kann dieser Modus trotz oder gerade wegen des Vorrangs der Interferenz vor dem Argument und des Bildes vor dem Ton als Höhepunkt der „Fenster-zur-Welt“-Ideologie der Dokumentarfilmgeschichte betrachtet werden. (Hohenberger 1998: 21)

Der Purismus der indirekten Adressierung, die damit häufig verbundene Tendenz zum synchronen Empirismus samt dessen immanenten Mangel an (historischer) Kontextualisierung birgt so die Gefahr der Unverständlichkeit, auch wenn durch den behaupteten Mangel an Stil den ZuschauerInnen laut den TheoretikerInnen die Möglichkeit gegeben werden soll, die Erfahrungen der FilmemacherInnen möglichst unverfälscht nachvollziehen zu können. Das Schaffen von Bedeutungen durch den Akt des Filmens (Beeinflussung des Verhaltens der gefilmten Personen durch die Anwesenheit des Filmteams) durch Selektionsprozesse wie die Wahl des Bildausschnitts, die Kameraführung und das Verknüpfungen der Einstellungen in der Montage bleiben so ebenfalls unthematisiert.(Beyerle 1997: 36-41; Nichols 1988: 48-53)

So wie die realistische Erzählung des fiktionalen Films den Zuschauer in ihre diegetische Welt vergnüglich verkennend einbindet, so schottet der beobachtende Dokumentarfilm die Wirklichkeit in einer selbstexplikativen filmischen Erzählung ab, in der nichts mehr darauf hinweist, daß das, wovon sie erzählt, auch außerhalb ihrer Erzählung existiert. Damit zwingt der realistische Dokumentarfilm nicht nur die Widersprüche der Realität in die Anschaulichkeit eines einzigen Sinns, sondern ebenso die Zuschauer in die gedankenlose und vergnügliche Akzeptanz dieses Sinns. (Hohenberger 1998: 25)

Beyerle betont aber, dass das Direct Cinema v.a. über seine theoretischen Ansprüche wahrgenommen wurde, weniger bezüglich deren nur partiellen Umsetzung. Interessant für die Entwicklung des Gattungsdiskurses ist der einschneidende Bruch, den das Direct Cinema auslöste. Es brach nicht nur mit der traditionellen Ästhetik, also dem an textuellen Merkmalen orientierten dominanten Repräsentationsmodus, sondern löste auch eine Welle der Kritik an der Gruppierung aus, die Beyerle zufolge die bisher unausgesprochenen Widersprüche in der Dokumentarfilmtheorie (der Anspruch des bloßen Abbildens der der Realität innewohnenden Bedeutungen v/s der Notwendigkeit, das Filmmaterial eingreifend zu strukturieren) an die Oberfläche beförderte. (Beyerle 1997: 39-41, Hohenberger 1998: 15-16)

Interactive mode

Seit den 60er Jahren gibt es neuere Tendenzen der direkten Adressierung, die (teils) ganz ohne SprecherIn auskommen. Die Argumentation wird hier über Aussagen verschiedener sozialer AkteurInnen gesteuert, die über die Montage verknüpft werden (entweder von Stimme und Bild = synchron oder Stimme oder Bild = nicht-synchron, d.h. Bilder illustrierend). Neben der wesentlich deutlicheren Dominanz der Montage zeigt sich hier eine Ambivalenz zwischen der Rezeption und der direkten Adressierung: Einerseits ist das Publikum stärker gefordert, da es ohne die optische und stimmliche Präsenz der SprecherIn auskommen, also selbst die Argumentationslinie über Assoziationen entschlüsseln muß, andererseits wirkt dem die direkte Adressierung in Form der Interviews entgegen. Kurz: Die KommentatorIn als Strukturierungshilfe fällt weg, dafür stehen einzelne Charaktere im Vordergrund. (Nichols 1976: 168, 172-173)

Allgemein wird dieser Modus der direkten Adressierung, bei dem die Charaktere direkt zum Publikum sprechen, v.a. in interviewdominierten (politischen) Dokumentationen eingesetzt. Auf eine voice-of-authority (Nichols 1988: 53), die sich über eine ErzählerIn manifestiert, wird weitgehend verzichtet. Dies ist ein zentrales Merkmal der Dokumentarfilme, die dem Anspruch einer Alltagsgeschichtsschreibung als Gegenpool zur great man history folgen. Demzufolge wird mehr von einer persönlicher ZeugInnenschaft als der Autorität historischen Urteils ausgegangen. Soziale AkteurInnen, die ihr Leben/Miterleben vor der Kamera erzählen, stehen im Vordergrund, das traditionell dominante stellvertretende Sprechen soll so eingegrenzt werden. Mensch will die betroffenen (einfachen) Leute für sich selbst sprechen lassen und ihnen, gegenüber rhetorisch versierten „FührerInnen“figuren, den Vorzug geben. (Nichols 1976: 168, 172-173) So werden auch einige grundlegende Probleme der Voice-over-Erzählung umgangen, z.B. gebieterische Allwissenheit oder didaktische Verkürzung. So ist diese Strategie auch ein Ausweg aus dem Dilemma, dass weder ein Ereignis für sich, noch eine Stimme mit endgültiger Autorität sprechen kann.

La Hora de los Hornos (1968) des argentinischen Filmemachers Fernando Solanas ist eine solche Interviewproduktion. Dieser Dokumentarfilm besteht aus einer Ansammlung von Interviews, aber auch Ausschnitten aus Nachrichtensendungen. Er bezieht gegen den früheren Kolonialismus und den heutigen ökonomischen und kulturellen Imperialismus Stellung. Es kommen u.a. Studierende und GewerkschaftsvertreterInnen, aber auch viele einfache Leute zu Wort. Auf dieser Basis entwickelt der Film die Theorie der Machtergreifung der Bourgeoisie in Argentinien, der der Peronismus als politische Hoffnung entgegengesetzt wird. So kommt diese Dokumentation dem Anspruch der Alltagsgeschichtsschreibung des interactive mode nach, basiert aber trotzdem nicht nur auf der synchron-direkten Adressierung, sondern setzt auch den Kommentar als strukturierendes und ideologisierendes Element ein. (Gauthier 1995: 207-208)

Bei allen Vorteilen ist diese Form der direkten Adressierung formal und strategisch so nicht unproblematisch. Viele FilmemacherInnen dieses in den 60er und 70er Jahren dominanten Filmmodus stützen sich bei der filmischen Rekonstruktion der Vergangenheit oft allein auf die mündliche/s ZeitzeugInnenschaft und ExpertInnenaussagen, die noch dazu durch die subjektive Perspektive der RegisseurIn auf das Filmthema selektiert werden. Das Fundament ist somit die Glaubwürdigkeit der InterviewpartnerInnen, die aber nicht thematisiert, sondern vorausgesetzt wird, sowie eine subjektive und fragmentarische Zugangsweise auf ein Ereignis, deren Produkt, der Dokumentarfilm, aber den Anspruch auf Authentizität stellt. Bei dieser unkritischen und naiven Geschichtsschreibung zeigt sich als Hauptproblem der Umgang mit den „Stimmen“ der Interviewten in Bezug auf die „Stimme“ des gesamten filmischen Textes. Der Anspruch einer Gegengeschichtsschreibung auf der Basis von ZeitzeugInnenberichten, die sich der Interviewtechnik bedient, um ein Ereignis aus der Perspektive „von unten“ zu rekonstruieren, stellt sich selbst in Frage, wenn er letztendlich dem Konzept der great man history verpflichtet bleibt, also seine eigenen Darstellungsweisen nicht problematisiert und reflektiert. (Nichols 1988: 49, 53-57; Nichols 1993: 176-178)

Problematisch ist diese Vorgangsweise auch in Hinblick auf die Rezeption. Denn unsere Bereitschaft, dem, was gesagt wird, zuzustimmen, beruht zu einem großen Ausmaß auf rhetorischer Überredung und dokumentarischer Konvention. Vielfach wird so z.B. Archivmaterial allein schon aufgrund von dessen historischem Charakter ein authentischer Stellenwert zugeschrieben. Die FilmemacherIn baut also über ihr schweigendes Einverständnis auf das, was dem Publikum gesagt wird. (Nichols 1993: 177-178) Im Kontext dieser Ambivalenz von Selektivität und Authentizitätsanspruch stellt sich grundlegend die Frage, ob der Filmmodus der Nacherzählung unter Einsatz von Interviews wirklich authentischer als eine Neuinszenierung bzw. Verarbeitung von Material und Ereignis ist. Nichols Ansicht nach gibt diese traditionelle Einschätzung dem gesprochenen Wort mehr Vertrauen als es verdient. Er regt somit ein Überdenken des von ihm selbst lange vertretenen Primats der Tonspur an. Denn sowohl das Interview als auch der Kommentar bringen in erster Linie zum Ausdruck, was wir oder eine InterviewpartnerIn nun denken, was damals, also bei dem Ereignis, über das berichtet wird, passiert ist und was das für uns bedeuten kann. Das eigentliche Ereignis steht im Hintergrund. So kann mensch also das gesprochene Wort als eigenmächtige Neuinszenierung oder eine Interpretation bezeichnen, die durch zeitliche Distanz und einen subjektiven Standpunkt geprägt ist. (Nichols 1993: 176-177)

Die Vielstimmigkeit also, die Verwendung und Re-Kontextualisierung von verschiedenem, widersprüchlichem Material (Archivmaterial, verschiedene ZeugInnenaussagen, Kommentare, die unterschiedliches aussagen), und der selbstkritische Umgang (Verfremdung von Fotos...) mit ihm machen also die Chancen dieses Modus deutlich. So kann eine Differenz zwischen der Aussage einer sozialen AkteurIn, des Films und der Stimme des Films erhalten bleiben. Letztere birgt so nicht nur die oben angesprochene Gefahr der Vereinheitlichung, sondern kann auch das Material in einer Art und Weise klar strukturieren, so dass unterschiedliche und widersprüchliche Positionen klar werden. Der zusätzliche Einsatz der FilmemacherInnenstimme kann hier (abseits einer direkten Adressierung) äußerst bedeutsam sein, als Garant für eine kritische Sichtung des Interviewmaterials und als kontrapunktisches Stilmittel, das den Wahrheitsgehalt der ZeugInnenberichte anzweifeln kann. (Nichols 1988: 56-57; Nichols 1993: 177-178)

Reflexive mode

Nichols zufolge ist der reflexive mode weitaus weniger problematisch als die vorhergehenden, er sieht aber in ihm auch einen zeitlich beschränkten Ansatz. Der reflexive mode unterscheidet sich insofern grundlegend von den anderen Modellen als er keine geschlossene Form mit fixem Thema vertritt, sondern den Repräsentationsanspruch aufgibt. Dieser Modus zieht seine Erkenntnis, dass auch der Dokumentarfilm eine Diskursform ist, die ihre Effekte und Standpunkte selbst kreiert, aus der Arbeitsweise ethnographischer FilmemacherInnen. (Nichols 1988: 49-50) Nichols betont, dass die selbstreflexiven Strategien eine besonders komplexe historische Beziehung zur Dokumentarfilmform haben. Obwohl sie seit dem ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts existieren, haben sie, abgesehen von Avantgardebewegungen, erst in den 80er Jahren eine stärkere Verbreitung gefunden. Nichols zufolge handelt es sich hier um mehr als um eine bloße Reaktion auf die vorhergehende Form, vielmehr ist die Popularität dieses Modus ein Indiz dafür, dass die dominanten kulturellen Ausdrucksmuster über dokumentarisches Material scheinbar im Wandel sind. So hängt das Aufkommen der selbstreflexiven Strategien auch mit den Defiziten zusammen, die sich beim Übersetzen stark ideologischer Praktiken (des Filmens) in ein Schema ergeben haben, das sich auf Neutralität, Objektivität und Authentizität berufen hat. (Nichols 1988: 62)

Der reflexive Film ist so für Nichols kein Bild von imaginärer und konstanter Kohärenz, das magisch auf eine Leinwand repräsentiert wird, sondern die Evidenz eines historisch verwurzelten Aktes der Bedeutungsproduktion durch unseren täglichen eigenen historisch situierten Akt des Begreifens. Dabei legt Nichols primär wert darauf, politische und formale Strategien zu vertreten, die einem aktuellen Verständnis unserer Situiertheit in Welt und Leben entsprechen und sie so im Bereich des Films angemessen beschreiben können.

(Nichols 1988: 50)

Seiner Ansicht nach ist es der Widerspruch zwischen Evidenz und Argument, der den Dokumentarfilm spannend macht, der aber gleichzeitig sein grundlegendes Problem ist.

Einerseits macht er allgemeine Äußerungen oder stellt Thesen über das Leben auf, andererseits verwendet er für diese Argumentation Bilder und Töne, die unweigerlich ihre besonderen historischen Wurzeln haben und erst eine Bedeutung konstituieren, die im Text als ganzem ihre Funktion hat. Die übliche Vorstellung, die Geschichte oder Realität über den Film zu uns sprechen zu hören, blendet den Konstruktaspekt des Dokumentarfilms als Kunstwerk aus. Das, was mensch eigentlich hört ist, folglich die Stimme des Textes, auch oder gerade dann, wenn diese Stimme sich selbst auszuschalten versucht. (Nichols 1988: 52)

This is not only a matter of semiotics but of historical process. Those who confer meaning (individuals, social classes, the media, and other institutions) exist within history itself rather than at the periphery, looking in like gods. Hence, paradoxically, self-referentiality is an inevitable communicational category. A class cannot be a member of itself, the law of logical typing tell us, and yet in human communication this law is necessarily violated. Those who confer meaning are themselves members of the class of conferred meanings (history). For a film to fail to acknowledge this and pretend to omniscience- wheather by voice-of-God commentary or by claims of „objective knowledge“ - is to deny its own complicity with a production of knowledge that rests on no firmer bedrock than the very act of production. (Nichols 1988: 52)

Emile de Antonios In the Year of the Pig verfolgt so eine selbstreflexive Strategie, die die ZeugInnenberichte, aus denen der Dokumentarfilm besteht, nicht als authentische Information darstellt, sondern sie in die Argumentationslinie des Films einbaut und kritisch beleuchtet. De Antonio verzichtet auf eine KommentatorInnenstimme, die eine Interpretationslinie vorgibt und so eine homogene Botschaft vermittelt. Seine Dokumentation wird dafür durch eine textuelle Stimme getragen, die Interviewfragmente werden zueinander in Beziehung gesetzt und kontextualisiert. Die verschiedenen Interviews ergänzen sich so durch ihre unterschiedlichen Perspektiven und Informationen, es wird klar, dass keines den Anspruch stellen kann, die „Wahrheit“ oder „Realität“ wiederzugeben. Der Film zeigt so z.B. einen US-Regierungssprecher, der die „kommunistische Bedrohung“, die politischen Konzeptionen Ho Chi Minhs aus amerikanischer Sicht skizziert. Ho Chi Minh selbst kommt hingegen nicht zu Wort, seine Strategien werden nur über einen interviewten Vietnamesen erklärt. Dieser Text wird durch Bilder Vietnams ergänzt, so dass eine deutliche Affinität zwischen Ho Chi Minh und dem Land samt Bevölkerung hergestellt wird, die im Gefahrenszenario des Regierungssprechers fehlt. Die ZuschauerIn muß sich folglich mit Hilfe des von de Antonio zur Verfügung gestellten widersprüchlichen Materials selbst ein Bild von Ho Chi Minh und der Situation im Land machen. So ist de Antonios Dokumentarfilm zwar nicht auf einer direkten Ebene selbstreflexiv, er selbst tritt im Film nicht auf und kommentiert das Filmemachen auch nicht auf der Tonspur. Dadurch aber, dass er die Interviews kontextualisiert und wertet, also ein Konzept der Great man history ebenso wie eine schlichte Interviewdokumentation vermeidet, thematisiert er sehr wohl den Konstruktcharakter des Films. Die Stimme des Films enthält so einen Skeptizismus, der die einzelnen Interviews des Films kritisch beäugt, die Perspektive der Dokumentation steht so den einzelnen ZeitzeugInnenberichten gegenüber . (Nichols 1988: 56-59)

Ziel eines solchen reflexive mode ist es, eine Empfindung von historisch situierter Subjektivität zu erreichen und so den Repräsentationscharakter des filmischen Schauplatzes zu „outen“, weniger einen historischen Ort in eine narrativen oder mythischen zu verwandeln. (Nichols 1993: 175) Ein Beispiel für eine solche Strategie ist das Sichtbarmachen des Standpunktes der FilmemacherInnen und dessen Repräsentation. Gerade ihr Körper ist eine ständige Erinnerung an das Spezifische, der so die Frage des Rechts auf Repräsentation der Belange anderer durch die FilmemacherInnen und ihr Wissen im Film thematisiert. (Nichols 1993:176) Hier steht nämlich die Verankerung der FilmemacherIn in der Welt unserer gemeinsamen historischen Erfahrung, in die er im Moment der Aufnahme integriert ist, im Zentrum und nicht die Vision der FilmemacherIn selbst. Es handelt sich also um kein realistisches, sondern ein reflexives Moment, das mehr ein Garant für das historisch reale Aufnehmen einer Situation ist, und weniger für historische Realität. (Beyerle 1997: 55-59)

Nichols zufolge ist die Selbstreflexibilität aber kein akademischer Selbstzweck, der aus dem Dokumentarfilm ein Genre für eine Intelligenzia machen soll, die mehr an schöner Form als sozialer Veränderung interessiert ist. Folglich sind auch die Grundsätze des selbstreflexiven Kinos, die Subjektivität und die soziale und textuelle Positionierung des Selbst nicht als reine Kategorien zu verstehen, sondern als punktuell eingesetzte Stilmittel. So geht es vielmehr darum, die formale und soziale Konstruiertheit von Wissen und der Position des Selbst in Relation zum Vermittler des Wissens, einem vorgegebenen Text, in Form eines hybrid style in das Filmschaffen zu integrieren. Eine solche Perspektive stellt die Dialektik zwischen dem Selbst und dem Anderen wieder her, neither the „out there“ nor the „in here“ contains its own inherent meaning. Denn der Prozess der Bedeutungskonstruktion überlagert die konstruierten Bedeutungen selbst. (Nichols 1988: 60-61) So wird auch auf den performativen Aspekt des Films aufmerksam gemacht: Es ist der Film, der eine Welt wie zum ersten Mal entstehen läßt, von deren Bedeutungen und Äußerlichkeiten wir glauben, sie schon zu kennen. (Nichols 1994: 96)

Die dem reflexive mode eigene Alinearität aufgrund des Hinterfragens der Entstehungsbedingungen des Films und der Rollenverteilung auf die dabei beteiligten Personen ermöglicht aber auch die Verwendung von Stilmitteln älterer Modi. So prägt auch der Stilmix die Praxis aktueller Dokumentarfilmproduktion, wobei in der Regel ein Modus dominiert. Gegenüber den ersten drei Modi bietet die Selbstreferentialität so z.B. die Möglichkeit der Mischung: von direkter und indirekter Adressierung, also zwei Ebenen der historischen Referenz (Argument und Evidenz, z.B. Off-Camera-Kommentare), und zwei Ebenen textueller Struktur (Beobachtung und Exposition). (Nichols 1988: 60-61; Nichols 1994: 95) Derartige Strategien stellen den traditionellen Repräsentationsanspruch des Dokumentarfilms grundlegend in Frage, die klassische Form des Realismus wird hinterfragt, der Realitätseffekt durch den Stil der Hybridität ausgetauscht. Während die realistische Reinform oft faktische und historische Repräsentation suggeriert hat kann der selbst-evidentielle Charakter dieses Modus Mißtrauen in die Bilder als politische und ideologische Repräsentationsformen setzen. (Nichols 1993: 175-176)

Performative mode

In seinem neuesten Buch, Blurred Boundaries, fügt Nichols den vier Modi einen fünften hinzu, den performative documentary. (Nichols 1994: 92-106) Diese Form der 80er und 90er Jahre betont noch wesentlich stärker als der reflexive mode die subjektiven Aspekte eines klassisch objektiven Diskurses und ist durch ihren experimentellen Charakter geprägt, so dass die Grenze zwischen Spiel- und Dokumentarfilm aufgeweicht wird. (Nichols 1994: 95, 102-103) Aufgrund seiner „Vorliebe“ für das Lokale, Konkrete, Evokative besteht der performative film auf der Dialektik zwischen subjektiven Spezifika des realen privaten Lebens portraitierter Personen und konzeptuellen Kategorien wie Exil, Rassismus, Sexismus oder Homophobie. Er erlaubt es, das Abstrakte mit dem Konkreten, das Allgemeine mit dem Besonderen, das Individuelle mit dem Kollektiven und das Politische mit dem Persönlichen zu verbinden. Da diese Themen nur schweigend durch Nebeneinanderstellung und Montage erwähnt, aber kaum genauer erläutert werden, muß sie das Publikum selbst entdecken. Gleichzeitig vermeidet die Filmpraxis so sowohl den der Theorie inhärenten Reduktionismus als auch die Detailbesessenheit des Formalismus und Kontextualismus. Er stellt somit die grundlegende Frage sozialer Subjektivität und der Beziehungen zwischen dem Selbst und dem Anderen, Kategorien die genauso affektiv wie konzeptuell sind. (Nichols 1994: 94, 104-105)

Dies birgt allerdings auch die Gefahr in sich, dass das Augenmaß für das (Un-)Wichtige verloren gehen und der Dokumentarfilm in subjektiv-privatisierende Selbstdarstellung von lediglich persönlichem Interesse oder in die Sehnsucht nach alten Modellen mit klaren Parametern umkippt. Deshalb dürfen laut Nichols Fragen, die die Spannung zwischen representation und represented berühren, nicht vergessen werden.. (Nichols 1994: 93-94) Der Schritt von einem transzendenten aber individuellen Bewußtsein zu einem dialektischen und sozialen bedingt allerdings zusätzlich einen entsprechenden politischen Rahmen, in dem der performative Dokumentarfilm rezipiert werden kann. (Nichols 1994: 105-106)

Grundsätzlich werden den alten dokumentarfilmischen Ansprüchen des Benennens, Erklärens und Konzeptualisierens neue gegenübergestellt. Die Tradition des Fensters zur Welt mit dem Anspruch der Repräsentation von „vollständigen“ Bildern wird durch die fragmentarischen und subjektiven Bilder der persönlichen Welten von FilmemacherInnen ersetzt. Im Unterschied zu den anderen Modi stehen hier weder die (homogene) Form und der politische Kontext noch eine logische Argumentation oder lineare Erzählung im Zentrum. Übliche Filmmuster wie das Identifizieren eines Problems und das Lösen desselben in der Filmchronologie und -logik gelten nicht mehr. Die Fragen nach dem Wahrheitsgehalt und der Klarheit eines gestellten Problems sind überholt. Dem (entkörperten) Wissen und flexibler lokaler Mobilität von Kameras und Fernsehteams wird die von diesen Zwängen befreite materielle und lokale Situiertheit der sozialen AkteurIn gegenübergestellt. (Nichols 1993: 174; Nichols 1994: 99-102)

Ein Beispiel für die Umsetzung dieser theoretischen Fragestellungen auf der Ebene der unmittelbaren körperlichen, subjektiven und individuellen Erfahrung ist Trinh T. Minh-has Film Surname Viet Given Name Nam (1989). Durch das Engagieren von in die USA exilierten vietnamesischen Laienschauspielerinnen, die die Rolle einheimischer vietnamesischer Frauen spielen, wird somit die Frage des entkörperten Wissens umgesetzt. Die Schauspielerinnen repräsentieren somit die Körper und Wörter von in Vietnam lebenden Frauen. (Nichols 1993: 175, 178, 188) Aber Tinh T. Minh-ha inszeniert nicht direkt Ereignisse der Vergangenheit neu, sondern rekonstruiert Interviews von ZeugInnen. Diese sehr stilisierten, extrem monotonen Nachstellungen betonen die vermittelnde Funktion von Interviews selbst und die des daran beteiligten Übersetzungsprozesses durch das Bewegen von einer Sprache, einer Kultur und eines sozio-ökonomischen Systems in eine andere/ein anderes, wobei der experimentelle Charakter verschiedener Realitäten bestätigt wird. (Nichols 1993: 180) Das lokale, spezifische, konkrete Ereignis in Vietnam wird im Film über die subjektive Erfahrung am eigenen Körper, der durch andere repräsentiert wird, gezeigt. Das Spiel der Repräsentation einer fremden Kultur wird hier nicht berührt, damit auch nicht die Problematik der Übersetzungsprozesse in vertraute Konzepte und Kategorien, da sowohl Minh-ha als auch die Schauspielerinnen aus Vietnam kommen. Im Zentrum stehen dafür die für sie alle zentralen Fragen der Erfahrung des displacements, der dislocation, der sozialen und kulturellen Entfremdung und des Überlebens. (Nichols 1993: 181) So weist der Film eine hegemonische Organisation von Realität auf, die innerhalb eines kontrollierenden Rahmens verschiedene Interpretationen und Vermittlungen zwischen den Realitäten verschiedener Kulturen und Personen zuläßt. (Nichols 1993: 180)

Nichols umschreibt diese Art des Filmemachens mit dem von Stephen Tyler stammenden Anspruch einer postmodern ethnography (Nichols 1994: 101), der eine Emanzipation sowohl vom totalen Empirismus und Realismus als auch der Erzählung sowie einen verfremdenden Ausdrucksmodus fordert. Nichols fügt dem ein Verlangen nach gewandeltem Bewußtsein und sozialer Transformation hinzu, schließt also auch das persönliche Engagement der FilmemacherIn ein. (Nichols 1994: 101-102)

Performative documentary seeks to evoke not the quality of a peoples worldview but the specific qualities that surround particular people, discrete events, social subjectivities, and historically situated encounters between filmmakers and their subjects. The classic anthropological urge to typify on the basis of a cultural identity receives severe modification. (Nichols 1994: 101)

Der performative film verkörpert, wie oben angedeutet, nach Nichols ein Paradox: Er schafft eine Spannung zwischen Performance und Dokument (vgl. Evidenz und Argument beim reflexive film), dem Persönlichen und dem Typischen, dem Verkörperten und Entkörperten, Geschichte und Wissenschaft. Dieser Modus betont also seine Stimme und ihre expressiven Qualitäten, während er einen referentiellen Anspruch auf das Historische bewahrt und ihm Bedeutung verleiht. Dabei werden sowohl konventionelle Plots als auch konventionelle und realistische Vorstellungen von historicality (Nichols 1994: 98), wie sie sich die meisten HistorikerInnen zu eigen machen, abgelehnt. Der performative Film betont aber neben dem subjektiven Aspekt der figurability (Nichols 1994: 98) die Notwendigkeit einer angemessenen Repräsentation von sozialer Realität und Alltagsleben, d.h. er verlangt einen experimentellen Umgang mit der Kategorie des Historischen in Bezug zur figurability, so dass seine Bedeutung auf einer konkreten und persönlichen Ebene klar wird. (Nichols 1994: 97-98)

But such films remain true to the paradox mentioned a moment ago; the referential aspect of the message that turns us toward the historical world is not abandoned. Such works then, though expressive, stylized, subjective, and evocative, also constitute a fiction (un)like any other. The indexical bond, which can also prove an indexical bind for the documentary form, remains operative but in a subordinated manner. (Nichols 1994: 98)

Insgesamt ist die Suggestion auf der ikonischen Ebene das dominierende Prinzip, nicht das Argument, es wird mehr angedeutet als erklärt und zusammengefaßt. So haben auch der Kommentar wie die gesamte Tonspur eher untergeordneten Charakter. (Nichols 1994: 99-100) Das Anliegen des Films besteht weniger darin, zu zeigen, was wirklich passiert ist, als darin, neu zu kontextualisieren, was erinnert wird. Der referentielle Aspekt wird so weniger als Objekt einer Befragung behandelt, als ein Bestandteil einer Nachricht, die woandershin gerichtet wird. So zeigen sich zwar Parallelen bezüglich des Verfremdungseffekts zu den russischen Formalisten oder Brecht, beim performative film geht es aber weniger um die Bestätigung des Konstruktcharakters der referentiellen Nachricht als darum, uns voranzutreiben, die zugrundeliegenden Prämissen der dokumentarischen Epistemologie selbst zu überdenken. (Nichols 1994: 99) Kurz: Der performative Dokumentarfilm besetzt genau jene strategischen Orte, die die Identitätspolitik der politics of location und die postmoderne Theorie verhandelt bzw. fordert: eine veränderte offene und soziale Epistemologie des Momentes, der Erinnerung und des Ortes, abseits von in Misskredit geratenen Meistererzählungen und Geschichtsschreibungen. (Nichols 1994: 105-106)

Konkret drückt sich diese politics of location z.B. in „Zeugnisfilmen“ aus. Dieses meist in der ersten Person abgefasste Genre ist eine Repräsentationsform, die das Persönliche als Politisches sowohl auf der Ebene der textuellen Organisation als auch auf der der gelebten Erfahrung entdeckt. Es sind mehr mündlich als literarisch, mehr persönlich als theoretisch orientierte Formen. Sie verkörpern soziale Verwandtschaft, aber sind sich ebenso ihrer sozialen Unterschiede, Marginalität und des eigenen Platzes unter den sogenannten Anderen bewußt. (Nichols 1993: 183)

Die politics of location kommt auch in diesem Zusammenhang an der Thematisierung des Körpers als dem lokalsten und spezifischsten Aspekt von uns nicht vorbei. Dem Gefühl und dem Körperempfinden, die im klassischen Dokumentarfilm vom Sprechen dominiert werden, da sie als persönliche Elemente traditionell verdächtig sind und der Kategorie des Privaten zugeordnet werden, wird hier Freiraum verschafft. Nun ist es also der Körper selbst, der in Dokumentarfilmen zum Zeugen wird. So wird nicht nur das von ZeugInnen und ExpertInnen besessene Wissen, das durch deren Sprechen mitgeteilt wird, sondern ebenso un(aus)gesprochenes Wissen und Erfahrung über den Körper selbst mitgeteilt. In diesem Kontext weist Nichols auf den nicht zufälligen Einsatz von Techniken des Spielfilms im Dokumentarfilm hin, die dem Genre helfen, den Aspekt der persönlichen subjektiv-körperlichen Erfahrung umzusetzen, ebenso aber mit dem dokumentarischen Authentizitätsanspruch zu brechen und zur Performance zu schreiten. (Nichols 1993: 175, 184)

Social subjectivity, like the social imaginery that it transcends, is a category of collective consciousness. It exceeds or surpasses the monadic desire by a preconstituted subject underpinning the dynamics of self/other, us/them dichotomies. Social subjectivity evokes a discourse of visceral, existential affinity. Social subjectivity transforms desire into popular memory, political community, shared orientation, and utopian yearing for what has not yet come to be. (Nichols 1994: 105)

Überleitung 1

So hilfreich eine derartige Kategorisierung bei der Analyse von Dokumentarfilmen ist, so zeigt sich zugleich ein grundlegendes Problem. Selten wird ein Dokumentarfilm mit künstlerischem Anspruch, also keine reine Fernsehmagazin-Dokumentation, ohne weiteres einem der fünf Modi zuzuordnen sein. Diese Skepsis hat Nichols implizit selbst schon geäußert, indem er bei seiner historischen Typologie davon ausgeht, dass zwar in jeder historischen Phase einer der fünf Modi dominant ist, er daraus aber keinen Absolutheitsanspruch ableitet. Diese Ambivalenz zwischen den einzelnen Modi und der filmischen Praxis wird auch in der Analyse des hier gewählten Fernsehdokumentarfilms von Bertrand und Nils Tavernier mit dem Titel De lautre côté du périph zum Ausdruck kommen. Der formalen Analyse des Films soll aber der Kontext der Produktion vorausgeschickt werden. Hierbei handelt es sich zum einen um die Entstehungsgeschichte des Films und zum anderen um Kontextwissen zum Genre Banlieuefilm, beides ist für eine Untersuchung des Dokumentarfilms von großem Nutzen. Die Entstehung von De lautre côté du périph ist stark politisch motiviert: Die von der französischen Regierung 1997 anvisierte Verschärfung der Aufenthaltsgesetzgebung spielt ebenso wie die Repräsentation der Banlieue in Fernsehdokumentationen eine wesentliche Rolle, sowohl was den Inhalt, als auch was die Perspektive des Films betrifft. Denn die unmittelbare Beteiligung der Cineasten an der politischen Debatte rund um das Gesetzesvorhaben und der Bezug des Films auf die medialen Banlieueklischees hat nicht zuletzt auf die Form und somit den ambivalenten Modus der Dokumentation ihre Auswirkung.

On sait par ailleurs que lexpression culturelle de lémigration/immigration se fait de préférence par dautres modes dexpression que la littérature: la musique „rock“ puis „rap“, le cinéma, mode dexpression essentiel de Mehdi Charef et de Farida Belghoul, ou tout simplement lanimation culturelle, que pratiquent beaucoup de ces écrivains. Il y a bien là lexpression dune sorte de difficulté dêtre dune littérarité telle que pratiqué ailleurs, dans cet espace longtemps aphasique de limmigration. (Bonn 1994: 106-107)

  1. ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES DOKUMENTARFILMS DE LAUTRE CÔTÉ DU PÉRIPH

Les Grands Pêchers, eine HLM-Siedlung in der Pariser Banlieue

Der zweiteilige Dokumentarfilm De lautre côté du périph der Filmemacher Bertrand und Nils Tavernier mit den Untertiteln Le cœur de la cité und Le meilleur de lâme aus dem Jahr 1997 hat das östlich von Paris gelegene Montreuil-sous-Bois, das auch unter dem „Label“ Montreuil-la-rouge (Télérama 20.8.97: 4-9) firmiert, zum Gegenstand, genauer die HLM-Siedlung Les Grands Pêchers, die sich süd-östlich vom Zentrum der Stadt befindet.

Diese Cité ist Teil des sogenannten quartier est von Montreuil, das in den 50er Jahren entstanden ist. An der Stelle der murs à pêchers wurden Einfamilienhäuser errichtet, aufgrund des starken Bevölkerungswachstums sowie der verstärkten Immigration aus der Peripherie und dem Ausland aber auch zunehmend ensembles collectifs für die ärmeren BewohnerInnen der Stadt. Die billige Bauweise, die Konzentration sozial benachteiligter Milieus und die mangelnde Infrastruktur machten seitens der Stadtpolitik bald Sozialprojekte nötig, um die Wohnungen selbst wie auch die generelle Lebensqualität im Viertel zu verbessern. In einer Sonderausgabe der amtlichen und einzigen Stadtzeitung Montreuil-Dépêche, die der zweiten Hälfte der Amtszeit (1977-83) des Bürgermeisters Marcel Dufriche gewidmet ist, werden u.a. die Errichtung von 495 HLM-Wohnungen, des Kindergartens, des Kulturzentrums und einige Neuerungen im Stadion Les Grands Pêchers, das wie der dort beheimatete Fußballverein Red Lion Star Club noch aus der Vorkriegszeit stammt, erwähnt. (Montreuil-Dépêche Januar 1983: 28)

Wohnungs- und Integrationspolitik in Montreuil

Neben dem Wohnungsproblem wird v.a. der Thematik der Immigration viel Raum gewidmet. Dabei fügen sich konservative Positionen und populistische Argumentationsweisen wie „Stopp der Immigration nach Montreuil“ scheinbar problemlos in das Konzept der kommunistischen Stadtpolitik ein: Bezüglich des status quo, der durch eine ImmigrantInnenquote von 18% sowie soziale und ethnische Gettos gekennzeichnet ist, wird auf Versäumnisse der früheren Stadtregierung verwiesen, obwohl diese politisch ebenso von der union de la gauche gestellt wurde. (vgl. Willard 1982: 144) Gleichfalls wird diese Konzentration von sozial „Bedürftigen“ der Politik der Pariser Regierung angelastet; bereits 1974 wurde in Montreuil ein freilich politisch ergebnisloser „Immigrationsstopp“ beschlossen. (Montreuil-Dépêche Januar 1983: 24) Die v.a. seit Ende der 60er Jahre immer wieder in Krisen befindliche industrielle Wirtschaft Montreuils (Abbau von Arbeitsplätzen, Unternehmensschließungen und -abwanderungen (vgl. Willard 1982: 135-141, 148-150), die sich auch heute noch in einer hohen Arbeitslosigkeit von 17% (1997) ausdrückt, liefert Stoff für eine derartige Rhetorik. V.a. die starke Langzeit- (42%), Frauen- (41%) und Jugendarbeitslosigkeit (14% sind unter 25 Jahren) machen diese strukturellen Probleme deutlich. (Choisir Montreuil 1999: 9) Vor diesem Hintergrund werden traditionelle Positionen wie der Kampf um eine „gerechtere“ Aufteilung der ImmigrantInnenbevölkerung in der Pariser Region, die von Dufriche und seinen kommunistischen Amtskollegen seit 1969 gefordert wird, durch eine relativ progressive Integrationspolitik im Sinne des Gleichheitsgedankens ergänzt: affirmer notre solidarité pour que les travailleurs immigrés et leurs familles aient des droits et des devoirs égaux, et des conditions de vie dignes. (Montreuil-Dépêche Januar 1983: 24)

So wurde in den Jahren 1974-1983 auch ein der ambivalenten politischen Positionierung entsprechendes Immigrationsprogramm geschaffen. Neben der Einrichtung eines Service de limmigration, einer Commission extra-municipale pour les problèmes dimmigration und Alphabetisierungskursen umfaßt es v.a. die Beseitigung von riesigen foyers-ghettos und die Umsiedlung der BewohnerInnen in andere Unterkünfte. Ziel sollte es sein, die AsylantInnenheime auf eine Bettenanzahl von unter 200 Betten zu reduzieren, was bei vielen Unterkünften eine Halbierung oder Drittelung der Betten zur Konsequenz hatte bzw. gehabt hätte. (Montreuil-Dépêche Januar 1983: 24) So wurden BewohnerInnen in vorhandenen Heimen außerhalb der Stadt oder neu errichteten wie dem in der Cité des Grand Pêchers untergebracht. Allerdings scheinen die oben skizzierten Ansprüche zumindest hier nicht realisiert worden zu sein. Diese riesige Siedlung, in die ein foyer africain „integriert“ ist, stammt sichtbar aus den 70er Jahren (1977) und besteht aus sieben Betontürmen mit je 6-14 Etagen, insgesamt 562 Wohnungen bzw. 3399 BewohnerInnen. (Le cœur de la cité; Libération 6./7.12.97: 2-4).

Der politische Kontext des Films

Am 11. Februar 1997 protestieren 59 FilmemacherInnen, unter ihnen Bertrand Tavernier, gegen weitere Restriktionen in der Immigrationsgesetzgebung durch die vom Innenminister Debré geplante lois relative au séjour des étrangers en situation irrégulière, indem sie eine Pressekonferenz im Pariser Kino Europa Panthéon abhalten und ein „Manifest“ verlesen. Darin beschuldigen sie sich kollektiv, gesetzeswidrig ausländische FreundInnen und KollegInnen beherbergt zu haben, fordern eine Bestrafung gemäß dem gültigen Gesetz Pasqua von 1993 und rufen auf à désobéir aux lois relatives au séjour des étrangers en situation irrégulière. (Le cœur de la cité; Libération 12.2.97: 12; Télérama 3.12.97: 84) Bertrand Tavernier verlangt hier schon die vollständige Zurücknahme des Gesetzes: Quand nous avons des lois crapuleuses, il faut les combattre par tous les moyens, nous devons marquer notre désaccord. (Libération 12.2.97: 12)

Der Protest richtet sich v.a. gegen den ersten Artikel des Gesetzesvorschlags des Innenministers Jean-Louis Debré, der u.a. französische GastgeberInnen dazu verpflichten sollte, bei Empfang von ausländischen GästInnen ein amtliches Beherbergungszertifikat zu unterschreiben und die Stadtverwaltung ebenso von deren Abfahrt zu informieren. Eben dies verweigern die Unterzeichnenden mit ihrer Unterschrift. Das comité antidélation, das sich schon ein paar Wochen zuvor als Reaktion auf die erste Lektüre des Gesetzestextes in der Assemblée am 16.12.96 aus Menschenrechtsorganisationen wie Droits Devant! und dem Comité catholique contre la faim et pour le développement konstituiert hat, hatte bereits ein erstes Manifest verfaßt. Dieses will an den Vichy-Kontrollerlass vom 10.12.41 erinnern, der einen ähnlich formulierten Beherbergungspassus mit Meldepflichten beinhaltet, und ruft ebenso zum zivilen Ungehorsam auf. (Bensaïd 1997: 12; Libération 12.2.97: 12, 22./23.2.97: 3; Rosello 1999: 53-54)

Auslöser für die von den beiden CinéastInnen Pascale Ferran und Arnaud Desplechin initiierte und verfasste Petition (Nouvel Observateur 11.12.97: 28-29; Libération 13.2.97: 3) war die ihnen bekanntgewordene Festnahme und Verurteilung von Jacqueline Deltombe im Jänner, die am 4.2.97, wenn auch unter Strafbefreiung, bestätigt und am 6.2. übers Radio verkündet wurde. Sie hatte an ihrem Wohnort in Lille zwei FreundInnen, den ohne Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich weilenden Tony MBongo Bongolo aus Zaire und seine Verlobte Hélène beherbergt. (Libération 17.2.97: 4, 22./23.2.97: 7; Rosello 1999: 53-54)

Der Aufruf wird samt einer zunehmenden Zahl von Unterschriften in mehreren Zeitungen abgedruckt: zuerst in der Wochenzeitung Les Inrockuptibles, in Le Monde und in Libération, andere Organe ziehen nach. (vgl. z.B. Rosello 1999: 53-54; Libération 22./23.2.97: 3, 12-13)

Es folgt eine Welle von Solidarisierungen: Am Tag nach der Pressekonferenz schließen sich weitere sieben FilmregisseurInnen dem Aufruf an. Am 13. und 14. Februar erscheint er erneut in Le Monde und Libération, ergänzt durch fast 200 weitere Unterschriften von SchriftstellerInnen, KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen, darunter Julia Kristeva, Jean-François Lyotard, Françoise Sagan und Ariane Mnouchkine (Libération 14.2.97: 4):

Nous, écrivains et auteurs français, déclarons: Nous sommes coupables, chacun dentre nous, davoir hébergé récemment des étrangers en situation irrégulière. Nous navons pas dénoncé nos amis étrangers. Et nous continuerons à héberger, à ne pas dénoncer, à sympathiser et à travailler sans vérifier les papiers de nos collègues et amis. Suite au jugement rendu le 4 février 1997 à lencontre de Mme Jacqueline Deltombe, „coupable“ davoir hébergé un ami zaïrois en situation irrégulière, et partant du principe que la loi est la même pour tous, nous demandons à être mis en examen et jugés nous aussi.

Enfin, nous appelons nos concitoyens à désobéir pour ne pas se soumettre à des lois inhumaines. Nous refusons que nos libertés se voient ainsi restreintes. (Libération 14.2.97: 4)

Letztendlich war es aber das politische Ziel der Protestbewegung, die anfangs v.a. von Kulturschaffenden vorangetrieben wurde, nicht nur einen Artikel oder Debrés ganzen Gesetzestext zu Fall zu bringen, sondern über die Mobilisierung der Öffentlichkeit die Regierung zu zwingen, auch die noch von Debrés Vorgänger Pasqua stammenden und gültigen gesetzlichen Regelungen zurückzuziehen.

Die Reaktionen der Politik

Inzwischen beginnt sich auch auf dem politischen Terrain einiges zu bewegen: Am 14.2. kündigen mehrere Bürgermeister der PC und PS an, dass sie das Gesetz, d.h. seinen ersten Artikel, im Falle des Inkrafttretens nicht ausführen werden. Die Konflikte innerhalb der Regierung, also zwischen dem Innenminister, der seinen Entwurf unbedingt so verabschiedet sehen will, und dem Präsidenten und dem Premierminister, die aufgrund des öffentlichen Drucks den schwarzen Peter dem Parlament zuspielen wollen und bei Korrekturwünschen seitens der Versammlung inzwischen doch neuerliche Diskussionsmöglichkeiten sehen, nehmen zu. Am gleichen Tag, dem 17.2., äußert sich Jospin zum ersten Mal zum Thema und schlägt lediglich eine Rücknahme des ersten Artikels vor. In den kommenden Tagen äußern sich die in den vorhergegangenen Tagen paralysierten OppositionspolitikerInnen immer klarer ablehnend zum Gesetzesvorschlag und nehmen immer intensiver an den Protestaktionen teil. Am 18.2. ringt sich Juppé doch zu einer möglichen Modifikation bzgl. der Kontrolle der Beherbergungszertifikate durch: LEtat pourrait décider de prendre le relais des maires (Libération 15.2.97: 9, 22./23.2.97: 3-4)

Das Gesetz

Die intensive gesellschaftspolitische Debatte erstreckt sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr, geht eigentlich aber weit hinter den Zeitpunkt der Vorlage des Debré-Entwurfs zurück und über die modifizierte Verabschiedung des Gesetzentwurfs mit dem endgültigen Titel loi relative à lentrée et au séjour des étrangers et au droit dasile (Luchaire 1998: 1015) unter dem „linken“ Innenminister Jean-Pièrre Chevènement im Mai 1998 hinaus.

Zuvor hatte Jospin, Ministerpräsident der neuen Regierung aus SozialistInnen, KommunistInnen, Grünen und Mouvement des Citoyens den Pariser Politologen und directeur de recherche au CNRS Patrick Weil beauftragt, einen Bericht zur Reform der komplizierten Gesetzeslage zur Immigration und zur StaatsbürgerInnenschaft zu verfassen. Dieser rapport bildet die Basis für das neue Gesetz und sieht nur eine Reform des Pasqua-Gesetzes, nicht wie versprochen seine Abschaffung vor. Da Weil nicht nur einfaches Mitglied der PS, sondern auch Vertrauter von Chevènement ist, wußte die Regierung, was für Ergebnisse sie von ihm erwarten konnte. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil die Berichte für die Regierung v.a. die Funktion haben sollten, die Gemüter innerhalb der Regierung und in der Öffentlichkeit zu beruhigen, also das Gesetzesvorhaben schnell durchzusetzen. (Nouvel Observateur 4.12.97: 62-63)

Dennoch soll erwähnt werden, dass die immer noch stark umstrittene Endfassung -schließlich lautete das Wahlversprechen der gauche plurielle Außerkraftsetzung der Pasqua-Gesetze- einige Modifikationen enthält: So wird z.B. das certificat dhébergement aus dem Gesetzestext gestrichen und die Liste der straffreien Ausnahmen bei Unterstützung des séjour irrégulier dun étranger wird u.a. auch auf in diesem Bereich tätige humanitäre Organisationen ausgedehnt. (Luchaire 1998: 1020, 1022; Rosello 1999: 54)

Die öffentliche Debatte

Die öffentliche Debatte ist einigermaßen umfangreich und thematisiert neben dem Komplex der sans-papiers auch die Wahlerfolge des Front National, z.B. in Toulon und Vitrolles. Den Februar über bestimmen die Proteste besonders die journalistische Öffentlichkeit: Seitenlange Petitionen gegen die Gesetzesänderung, Interviews mit und Artikel von Betroffenen, KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen füllen die Zeitungen. (Rosello 1999: 54; vgl. z.B. Libération 22./23.2.97: 2-17).

In den der Pressekonferenz vom 11.2.97 folgenden Tagen und Wochen entsteht eine Flut von neuen Petitionen: Im Kontext der Fahrt nach Châteauvallon entsteht eine Liste mit den Namen von über 400 Theaterschaffenden, darunter Jean-Louis Trintingnant, Jeanne Moreau und Catherine Deneuve. Léon Schwartzenberg initiiert am 15.2. eine Petition mit dem Titel Les 121 noms difficiles à prononcer, die aber innerhalb einer Woche knapp 700 Unterschriften erhält. Und ab dem 16./17.2. entstehen die ersten Petitionen von „normalen“ BürgerInnen, in den Universitäten zirkulieren ebenso Listen wie unter Architekten, BeamtInnen, AnwältInnen und MedizinerInnen. Am 19.2. ruft die Fédération indépendante et démocratique lycéenne über Anschläge zum Unterschreiben auf. Ebenso gibt es eine liste des 421 chercheurs et universitaires, darunter Pierre Bourdieu und Alain Touraine. In Marseille zirkuliert der Aufruf der CineastInnen in örtlichen Organisationen, der unter dem Motto pères et mères de familles tausende von Unterschriften erhält. WissenschaftlerInnen und ÄrztInnen lancieren Aufrufe übers Internet, Charlie Hébdo und Les Inrockuptibles veröffentlichen am 19.2. ein Spezialheft mit 1400 Unterschriften von JournalistInnen. (Libération 15.2.97 : 9, 17.2.97: 3, 18.2.97: 14, 22./23.2.97: 3-4)

Neben und parallel zu den Petitionen finden zahlreiche Aktionen statt: Besetzt mit prominenten Kulturschaffenden wie Bertrand Tavernier und Mehdi Charef, fährt am 12.2.97 der train de la liberté von Paris nach Toulon. Konkreter Anlaß waren die politisch motivierte Absetzung des Leiters des Théâtre national de la danse et de limage in Châteauvallon, Gérard Paquet, und der Beschluß des Bürgermeisters, das Theater aufzulösen. An der place de la Liberté demonstrieren am nächsten Tag mehrere tausend Leute, KünstlerInnen, GewerkschafterInnen u.a. gegen den FN und den von ihm gestellten Bürgermeister Le Chevallier. (Le Monde 14.2.97: 30, 15; Libération 13.2.97: 2-3, 14.2.97: 3-4)

Am 22.2.97 geht von der Pariser Gare de lest eine (von vielen) Großdemonstration gegen Rassismus mit über 100 000 TeilnehmerInnen aus, die durch das Verlesen der Aufforderung zur désobéissance durch Emmanuelle Béart eröffnet und durch Paralleldemonstrationen in anderen Großstädten wie Toulouse und Lyon ergänzt wird. (Libération 22./23.2.97: 2)

Bertrand Tavernier, der von Anfang an einer der wichtigsten und sichtbarsten ProponentInnen der Protestbewegung war, macht deren vielschichtigen und kollektiven Charakter deutlich und zieht eine positive Zwischenbilanz:

Dès le début, il a été clair que lAppel ne devait être quun point de départ, qui devait être repris par dautres, même si personne navait prévu que ce serait dans ces proportions, pour culminer avec la manifestation du 22 février. Etant lun des signataires les plus connus des médias, jai été énormément sollicité, jai renvoyé sur dautres cinéastes autant que possible, et jai toujours tenu au courant le collectif de ce que je faisais. Jai voulu être un militant de base. Ayant un certain passé dans laction politique, jai observé passionnément une nouvelle génération en découvrir les rouages, les méthodes et les pièges. A mon sens, lensemble du parcours du premier appel à la dissolution du collectif en passant par la conférence de presse et le texte de Desplechin et Ferran publié dans Le Monde du 18 février est un sans-faute.

(Le Monde 19.3.97: 24)

Die CineastInnen

Warum sind es gerade die FilmemacherInnen, die den Anstoß für die nicht enden wollenden Prosteste bringen? Das läßt sich wohl nur zum Teil mit der -verglichen mit dem deutschsprachigen Raum- ungleich wichtigeren Rolle erklären, die das Kino und mit ihm seine AkteurInnen in der französischen Kultur- und Subventionslandschaft spielen. Bertrand Tavernier ist ohne Zweifel einer der bekanntesten, was seine Spielfilme betrifft, wohl auch einer der „amerikanischsten“. Er gehört zu jenen, die schon lange politisch engagiert sind, und immer wieder an Aktionen gegen die Pasqua-Gesetze und für die ImmigrantInnen ohne Papiere teilnehmen. Er erklärt seine Begeisterung und somit vielleicht auch die vieler KollegInnen für die Petition mit dem dramaturgischen Charakter der Petition und der Vertrautheit vieler FilmemacherInnen mit der Thematik:

Il ne me semble pas fortuit quelle vienne de cinéastes. Pas seulement parce que la plupart dentre eux, contrairement à ce quon dit, font des films en phase avec la réalité sociale, et aussi parce que, du fait des difficultés de diffusion, nous allons constamment en province, en banlieue, à la rencontre des gens pour montrer nos films, ce qui finit par donner une véritable connaissance de terrain. Il y a aussi dans le texte une idée de mise en scène, une idée dramaturgique et morale: la désobéissance civile. (Le Monde 19.3.97: 24)

Pascale Ferran, eine der beiden InitiatorInnen der Petition und der Pressekonferenz, begründet ihre Motivation wiederum mit ihrem persönlichen Protest gegen jenen Passus des ersten Artikels des Gesetzestextes, der die automatische Erneuerung der Aufenthaltsgenehmigung von Leuten, die länger als 10 Jahre in Frankreich leben, verhindern soll, und mit dem „Fall“ Deltombe. Zwar war schon zuvor klar, dass die Pasqua-Gesetze MigrantInnen das Leben in Frankreich unmöglich machten, nun wurde mit diesem Fall aber deutlich, dass die FilmemacherInnen, z.B. bei Einladung von KollegInnen, genauso betroffen sind. Im Interview mit den drei CineastInnen (Libération 22./23.2.97: 12-13) wird aber auch der solidarische Aspekt aufgrund des internationalen Charakters des Filmemachens deutlich.

Mordillat: Il ny a pas détranger pour un cinéaste. Parce que dans le cinéma, par nature, on est toujours en contact avec létranger, les étrangers; il existe une véritable solidarité internationale entre les cinéastes. (Libération 22/23.2.97: 12)

Gérard Mordillat argumentiert aber auch (kultur-) politisch und sieht den Gesetzesvorschlag für sich als den Tropfen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat, er kam zur schon vorhandenen Sensibilisierung nach der Schließung des Theaters von Châteauvallon und dem Wahlerfolg des FN in Vitrolles hinzu. Ähnlich sieht es Claire Denis: Du coup, pour beaucoup dentre nous, anesthésiés depuis des années, le texte a eu une fonction de réveil. (Libération 22./23.2.97: 12) Sie lehnen die Vereinnahmung und Stigmatisierung der sans-papiers durch die Politik ab. Alle drei verstehen die Petition als eine Frage des Prinzips und wenden sich gegen die stückweise Verschärfung der Aufenthaltsgesetzgebung seit den 80er Jahren, in der sie ein Nachgeben in Reaktion auf die Politik des FN sehen. Mordillat bringt es auf den Punkt und schließt an die Analysen von Boyer und Lochard an: Er spricht die Sündenbockfunktion der sans-papiers an. Über das Thema der Immigration wird so von den eigentlichen gesellschaftlichen Problemen abgelenkt: Je trouve scandaleux que lon désigne sans cesse, aussi bien à droite qu à gauche, limmigration clandestine comme responsable de tous nos maux, de la crise, du chômage, de linsécurité, et de la montée du FN. (Libération 22/23.2.97: 13) Ferran kommt nochmals auf die Petition zu sprechen, deren große Akzeptanz sie auch auf ihre Ansiedlung jenseits der Links-Rechts-Skala zurückführt: Mit dem Unterzeichnen findet aus ihrer Perspektive auch eine Ablehnung der Stigmatisierung der Immigration als Bedrohung für Frankreich und der AusländerInnen als potentiell Schuldige statt. Ihrer Ansicht nach muss die Immigrationsfrage wieder moralisch diskutiert werden. (Libération 22/23.2.97: 13)

Vom politischen Protest zum Film

Die Schlüsselrolle in der Entstehungsgeschichte der Dokumentation spielt der ministre délégué à la ville et à lintégration der Regierung Juppé, Éric Raoult, der laut B. Taverniers eigenen Worten seinen Film „initiiert“ hat. Raoult reagiert auf die Pressekonferenz der CineastInnen mit einem polemischen Standardbrief, in dem er ihnen Unkenntnis der sozialen Realität vorwirft und jede einzelne TeilnehmerIn dazu „einlädt“, einen Monat in jeweils einem anderen quartier en difficulté „seines“ Abgeordnetendepartements Seine-Saint-Denis zu verbringen. (Libération: 13.2.97: 4; Télérama 3.12.97: 84-88) An Bertrand Tavernier schreibt er folgendes:

Cher Monsieur, Vous avez signé un manifeste appelant à désobéir aux lois sur le séjour des étrangers en situation irrégulière. Afin de mieux apprécier lampleur des difficultés économiques et sociales rencontrées par nos compatriotes et leurs élus dans les quartiers en difficultés, je vous invite à venir habiter pendant un mois au quartier des Grands Pêchers à Montreuil. Vous vous rendez, peut être, ainsi compte que l intégration, ce nest pas du cinéma. Réussir lintégration dun étranger en France ne consiste pas, en effet, seulement à lui fournir des papiers, mais cest plus sérieusement lui trouver une crèche, une école, un logement et bien entendu un emploi. Cest pour cela que réussir lintégration, cest aussi maîtriser les flux migratoires. Dans ce manifeste, vous avez malheureusement commis une erreur de scénario et de casting. (Dossier de presse 12.2.97: 12)

Aber die Polemik des Ministers in dieser Debatte ist keine Ausnahme, sie steht nur besonders öffentlichkeitswirksam für den Umgang der Regierung und der gesamten politischen Klasse mit den sozialen Problemen in der Banlieue. Auch der Regierungssprecher kommentiert den öffentlichen Konflikt mit den CineastInnen:

Dans un état de droit, tous les citoyens sont tenus de respecter toutes les lois. Jaimerais savoir comment les intéressés réagiraient si les spectateurs de cinéma appelaient à ne pas respecter la loi en ce qui concerne le financement des productions cinématographiques françaises. (Le Monde 14.2.97 : 8)

Die Taverniers in Montreuil

In der Stadtzeitung von Montreuil hatte der Bürgermeister Jean-Pierre Brard bereits mit einem Brief an Raoult Stellung zum Brief an die CineastInnen genommen. Zwar ist sein Brief nicht weniger polemisch als der des Ministers, aber er schlägt nicht nur politisch Kapital aus der Situation, sondern weist auch auf die politischen Mängel und Gefahren hin. Er beurteilt den Brief nicht nur als demagogisch und in Hinblick auf den FN gefährlich, sondern verurteilt auch die implizite Stigmatisierung der Banlieue, indem er darauf hinweist, dass ihre sozialen und wirtschaftlichen Probleme auch die Frankreichs sind und die als Wohnquartiere „vorgeschlagenen“ Siedlungen in Montreuil keineswegs dem Banlieueklischee entsprechen:

Les habitants des quartiers des Grands Pêchers et de la Noue ne constituent nullement, comme le sousentend le ministre une population à part, répréhensible et menaçante pour les autres. [...] Mais monsieur Raoult préfère inviter chez les autres, car dans la commune huppée du Raincy, dont il est maire, les logements sociaux sont rarissimes! Le gouvernement serait bien inspiré découter les arguments des réalisateurs qui ont toujours été, à Montreuil, les bienvenus. (Montreuil-Dépêche 19.2.97: 3)

Durch den Brief Raoults, der im Zuge der Debatte öffentlich wird, schockiert und verletzt, laden einige BewohnerInnen der HLM-Siedlung Bertrand Tavernier zu sich ein. Am 6. März kommt er als Gast der BewohnerInnen der Siedlung, der Association montreuilloise du cinéma und der Gemeindeverwaltung nach Montreuil. Er zeigt am Abend im Kino Georges Méliès seinen neuen Film LAppât und diskutiert mit den BesucherInnen. Zuvor trifft er auf 150 bis über 250 BewohnerInnen der Cité Les Grands Pêchers (die Angaben schwanken) im Centre danimation municipal (CLEC) von Montreuil, wo sie ihrer Empörung über den Brief von Raoult und die dadurch verursachte öffentliche Stigmatisierung der Siedlung Luft machen. (Montreuil Dépêche 12.4.97: 6-7; Le cœur de la cité)

Eine von ihnen ist Marie-Jo Tirat. Sie engagiert sich in der Siedlung in einem der vielen von den BewohnerInnen organisierten Vereinen, die die sozialen Defizite der Familien und Wohnungen auszugleichen versuchen und eine andere Seite „der“ Banlieue darstellen. Laide au devoir, geleitet von Mme Tirat und anderen älteren Damen, arbeitet mit 25 Kindern der Grands Pêchers und der benachbarten Siedlung mehrmals die Woche in mehreren Gruppen. Dieses ehrenamtliche Engagement, das genau der Stigmatisierung der Banlieue und den Problemen der Jugendlichen entgegenzuarbeiten versucht, äußert sich verständlicherweise hier in Empörung: Cest honteux. Cest honteux de faire ça en tant que ministre à lintégration parce que cest une injure. Cest une injure aux gens des cités. Et ça provoquera plus de violence. (Le cœur de la cité)

Bei diesem Treffen entsteht die Idee zu einem kurzen TV-Beitrag von ca. 20 Minuten, der die öffentliche Stigmatisierung der Siedlung durch den Minister anhand von Interviews mit BewohnerInnen „korrigieren“ soll. Bertrand Tavernier deutet hier schon eine differenzierte Blickweise auf die Banlieue, auf die Siedlung an, die sich jenseits von positiven wie negativen Klischees verortet:

Jai trouvé cette rencontre tout à fait passionnante. Jai été très touché par tous ces témoignages, y compris par les choses contradictoires. On me dit souvent que les jeunes manquent de tout, et que quand on les interroge ils ne parlent pas ou seulement par des cris. Il faut aller chercher et alors ils sexpliquent. La banlieue ce nest pas seulement les bagnoles qui brûlent, cest aussi un peu un retour vers une bataille commune. Jai trouvé la solidarité, des valeurs qui font chaud au cœur. (Montreuil-Dépêche 12.3.97: 7)

Mit Unterbrechungen bleibt Tavernier zusammen mit seinem Sohn Nils nicht, wie von Raoult vorgeschlagen, einen, sondern drei Monate in Montreuil. Der Film wird nach zusätzlichen vier Monaten Schnitt nicht 20, sondern 150 Minuten lang.

Tavernier ist zwar der einzige Filmemacher, der auf den Brief mit einem Film reagiert, aber auch sein Kollege Cédric Klapisch beantwortet den Brief Raoults ähnlich direkt:

Devant votre proposition ridicule, je vous fais une contre-proposition: allons habiter ensemble dans une cité à Stains et au bout dun mois nous verrons celui de nous deux qui aura le mieux réussi son intégration. (Libération 22./23.2.97: 14)

Ihm war vorgeschlagen worden, einen Monat in Stains zu verbringen, wo er bereits, peinlicherweise für den Minister, vier Monate verbracht hatte, um seinen Film Un air de famille à Stains zu drehen. Er entgegnet dem Vorwurf der Unwissenheit, dass ein Gutteil der FilmemacherInnen in den letzten Jahren Filme über die Banlieue und ihre soziale Problematik gedreht hat und ein Teil in der Banlieue lebt, so also die Integrationsfrage gut kennt:

Nous, nous voulons rappeler aux gens justement le contraire, la banlieue, ce nest pas lenfer et être étranger, ce nest pas un problème. Lamalgame que vous faites entre limmigration et la banlieue est à limage de lesprit de confusion du gouvernement actuel. A vous entendre, vous nêtes pas le ministre délégué à la Ville et à lIntégration, vous êtes le ministre de limpossible intégration. (Libération 22./23.2.97: 14)

Das Produkt und seine Rezeption

Die fertige Dokumentation führen die Taverniers im November 1997 den BewohnerInnen im Kino Georges Méliès in Montreuil vor, wo sie ein positives Echo hervorruft. So kann der Film selbst auch als Dokument und Agent eines Solidarisierungsprozesses in der Cité betrachtet werden, der eine größere Innen- als Außenwirkung hervorgerufen hat.

Denn die Sendung des Films im Dezember in zwei Staffeln auf France 2 ruft im Vergleich zur politischen Debatte um die CineastInnen im Kontext der Pressekonferenz ein geringeres öffentliches Interesse hervor. In der Presse von November und Dezember 1997 finden sich einige ausführlichere Artikel über die Dokumentation, die meisten sind aber Ankündigungen der Fernsehausstrahlung, setzen sich also nur oberflächlich mit dem Film auseinander. Die ausführlichsten Berichterstattungen über den Film befinden sich interessanterweise nicht in der einschlägigen Fachpresse, sondern in Tages- und Wochenzeitungen. So findet sich eine vierseitige Berichterstattung in Libération, samt Ankündigung auf dem Titelblatt, einen ausführlicheren Artikel enthält nur noch Télérama, das neben Kurzberichten zu den beiden Ausstrahlungen auch auf die Entstehungsgeschichte eingeht. Die Lokalzeitung Montreuil-Dépêche enthält zwar mehr Berichte über den Film, v.a. auch über seine Entstehung, sie sind dafür aber weniger ausführlich. Neben diesem Aspekt der politischen Stigmatisierung der Banlieuesiedlung und der Initiative der CineastInnen wird in allen drei Zeitungen v.a. die soziale Situation in der Siedlung (Zustand der HLM, Infrastruktur etc.) diskutiert. Es werden beispielhaft Portraits von mitwirkenden BewohnerInnen gezeichnet und vom Beispiel der Cité Les Grands Pêchers ausgehend die Problematik der Fernsehberichterstattung thematisiert. Die künstlerische Komponente wird ausgespart. Während die Rezeption des Films als Abbild der Realität, also seine Reduktion auf die Dokumentation der sozialen Lage vor Ort und des politischen Kontextes in den Tages- und Wochenzeitungen nicht verwundert, überrascht die ähnlich naive Betrachtungsweise in der Fachpresse doch. Bezeichnend sind die wenigen Berichte in der einschlägigen Fachpresse (Cahiers du Cinéma, CinémAction, Positif, Variety), weil sie mit der Ausnahme von Positif, das anstatt einer Rezension ein längeres Interview mit Bertrand Tavernier bringt, nur kurz den politischen Kontext anreißen, den Film aber weder analysieren noch in einem filmtheoretischen oder Genrezusammenhang stellen. Neben der Entstehungsgeschichte (Brief Raoults, Pressekonferenz etc.) und den sozialen Problemen vor Ort wird v.a. auf die Perspektive des Films im Vergleich zur üblichen Behandlung des Themas Banlieue im Fernsehens eingegangen und indirekt an die Analysen Boyer/Lochards angeknüpft. So betont CinémAction (Sivan 1999: 187) den Anspruch der Taverniers, eine konkrete Banlieuesiedlung und nicht die Banlieue zu zeigen. Ebenso wird auf den Interviewcharakter, das Zeigen unterschiedlicher Positionen, die respektvolle Umgangsweise mit den InterviewpartnerInnen und die ausgewogene Betrachtungsweise abseits von Verurteilung und Karikatur hingewiesen. Die Besprechung der Cahiers du cinéma (Orléan 1998: 18) spricht auch die Rolle der Kamera an, die in statischen Portraitbildern Dinge und Personen zeigt, aber nicht wertet und so Vertrauen schafft. Hier wird zusätzlich auf die anfänglich aggressiven Reaktionen mancher Jugendlicher auf das Filmteam und somit die von Boyer/Lochard thematisierte Stigmatisierung der Banlieue hingewiesen. Auch Variety (Kelly 1998: 38) betont den alternativen dokumentarischen Charakter durch die Darstellung der sozialen Probleme über Interviews mit langen Einstellungen und aus verschiedenen Blickwinkeln.

Die Frage nach der (authentischen) Repräsentation der Situation vor Ort und des politischen Kontextes wird aber in allen drei Artikeln nicht gestellt. Es wird weder die (narrative und selbstreferentielle) Rolle der Entstehungsgeschichte im Film noch die Montage und Selektion der Interviews thematisiert, von Fragen der Filmästhetik gar nicht zu sprechen. Die Rezensionen lassen so ein Dokumentarfilmverständnis durchblicken, das Hohenberger mit dem Dokumentarfilm als Fenster zur Welt umschrieben hat. Dementsprechend unkritisch wird auch mit dem Begriff des Realen umgegangen:

Les moments les plus réussis sont très certainement ceux où la réalité soffre sans fard, sans atours, presque avec distance, sans rien dautre que sa violence et ses étranges paradoxes. [...] Le film, en effet, ne connaît pas de réelle progression. Il épuise différents thèmes, un peu au hasard des rencontres, selon un axe très décousu, comme si cet éparpillement était une fatalité contre laquelle il ne pouvait rien, le meilleur moyen de recréer in-vitro le bouillonnement du réel. (Orléan 1998: 18)

Lediglich in Variety fällt der Begriff des Dokumentarfilms und es wird die Frage des Dokumentierens zumindest angeschnitten, indem die Herangehensweise an die Banlieuesiedlung als cinema verite-style filmmaking (Kelly 1998: 38)

bezeichnet wird. Allerdings ist damit keine kritische Auseinandersetzung verbunden, im Gegenteil wird auch hier der Film mit der Realität vor Ort gleichgesetzt:

The Taverniers do this in the mode of old-fashioned activist helmers - by moving right into the neighborhood and slowly but surely building close ties with the folks theyre filming. The result is a rare glimpse of the real people behind headlines about violence, poverty and discontent in the housing projects of France. (Kelly 1998: 38)

In den neueren Interviews mit und Biografien über Tavernier wird der Dokumentarfilm De lautre côté du périph völlig übergangen oder nur ganz beiläufig mit wenigen Sätzen erwähnt; von neueren Filmprojekten Taverniers ist hingegen sehr wohl die Rede. So ist es nicht verwunderlich, dass wissenschaftliche Betrachtungen gar nicht erst existent sind. Diese Rezeptionsmängel sind wohl neben dem geringeren Prestige und der geringeren Vermarktbarkeit, von (zumal politischen) Dokumentar- im Vergleich zu Spielfilmen, mit der Ermüdung und Enttäuschung der inzwischen 10 Monate alten Protestbewegung zu erklären, Enttäuschung v.a. über die seit einigen Monaten amtierende gauche plurielle, deren Parteien mit dem Wahlversprechen angetreten waren, die Pasqua-Gesetze außer Kraft zu setzen, woran die Hoffnung geknüpft worden war, das die „illegal“ nach Frankreich gekommenen MigrantInnen als Flüchtlinge anerkannt würden. Davon war nun keine Rede mehr. Zwar gibt es im Herbst ein sanftes Wiederaufleben der Proteste vieler NGOs wie SOS-Racisme und Ligue des Droits de lHomme unter dem Motto Jospin trahison! (Nouvel Observateur 27.11.97: 32), als Debré Anfang September via Presse kundtut, er könne sich vorstellen, für diejenigen Teile des Gesetzes zu stimmen, bei denen die SozialistInnen ihrem Gedankengut abschwören. Letztendlich setzt sich aber der consensus républicain, der laut Jospin mit der Instrumentalisierung der MigrantInnen für Wahlzwecke, es stehen im Frühjahr Regionalwahlen an, Schluß machen soll, durch. (Nouvel Observateur 27.11.97: 32; Nouvel Observateur 4.12.97: 63)

Überleitung 2

Die einerseits nur marginale Wahrnehmung dieses Dokumentarfilms in der Fachpresse und die andererseits sehr wohlwollende Rezeption (in den Tages- und Wochenzeitungen) steht stark im Zusammenhang mit der respektvollen Perspektive des Films auf die Banlieue und der generellen Repräsentation der Banlieue im Medium Fernsehen. Denn dieses Thema ist in der französischen Gesellschaft stark präsent und macht einen nicht unbeträchtlichen Teil der medialen Krisendiskussionen aus. Die jahrzehntelange Inszenierung der Banlieue als dem Ort, an dem die gesellschaftlichen Konflikte ausgetragen werden, hat so im letzten Jahrzehnt zu einem gewissen Wandel im gesellschaftlichen Bewußtsein geführt. Zunehmend sind so auch Dokumentationen in das Fernsehprogramm aufgenommen worden, die sich differenzierter mit der gesellschaftlichen Realität der Banlieue, d.h. v.a. einzelner Banlieuesiedlungen, auseinandersetzen. Hier stehen oftmals der Kontakt und die Diskussion mit BewohnerInnen und LokalpolitikerInnen im Vordergrund der Berichterstattung. Als eine solche Produktion, die sich gegen eine klischeehafte und stigmatisierende mediale Betrachtungsweise wendet und statt dessen den Betroffenen vor Ort das Wort gibt, kann De lautre côte du périph gesehen werden.

  1. DER BLICK AUF DIE BANLIEUE

3.1 Banlieue und Beur - Zwei Begriffe und ihre mediale Stereotypisierung

Banlieue: la crise de la ville

Die Banlieue ist ein altes Medienthema mit einem großen Repertoire an Klischees und Mythen. Das Ende der 60er Jahre markiert eine Schnittstelle zweier genereller Tendenzen ihrer Betrachtungsweise. Während zuvor v.a. eine positive Repräsentation dominant war, die den Begriff Banlieue mit den Idealen des Fortschritts und der Moderne assoziierte, ist zu dieser Zeit eine Destabilisierung des Modells der städtischen Entwicklung zu beobachten. Es findet nun eine Konzentration auf die Aspekte der Anonymität, der Einsamkeit, der Unsicherheit des übervölkerten Raums Banlieue statt. Die Banlieue wird in Frankreich innerhalb eines Jahrzehnts zum verrufenen Krisenort, für den symbolhaft die großen HLM-Anlagen stehen. Dieser zum medialen Kondensationsort der sozialen Frage überfrachtete Raum der gesellschaftlichen Ängste und Defizite übernimmt in der öffentlichen Debatte den Gegenpart zur Stadt und ihrer Reputation ein. Allgemeine gesellschaftliche Probleme sowie die des Zentrums Paris (aber auch anderer großer Städte) werden über Städtebaupolitik, aber auch die mediale Debatte, also die Repräsentation der Banlieue in Film und Fernsehen, „ausgelagert“ und so ihr angelastet. Die Banlieue wird so als Gegenpol zur Stadt definiert, die den BürgerInnen nicht nur Sicherheit und Wohlstand ermöglicht, sondern letztendlich überhaupt erst Sinn verleiht. Alles Störende wird aus der Stadt verbannt. (Lochard 1998a: 21-25)

Mediale Repräsentationsmuster

Auslöser für ein dauerhaftes und breites Interesse der Medien für diese Banlieue und ihren sozialen Sprengstoff sind Krawalle in einigen Vororten von Lyon und Paris Anfang der 80er Jahre („étés chauds“). Berüchtigt wird der polizeiliche Einsatz von Feuerwaffen gegenüber meist unbewaffneten Jugendlichen, ebenso Bilder von aufgebrochenen Autos und nächtlichen Autowettrennen, den sogenannten rodéos. Diese medial wahrgenommenen und aufbereiteten Ereignisse werden zum Symbol für die Banlieue, die der question de la banlieue gewidmeten Sendungen nehmen ab 1989 stark zu. Zunehmend wird damit allerdings die konkrete soziale Thematik dieses städtischen Raums banalisiert, so dass sie nicht mehr auf ihren konkreten Referenzraum, also ein konkretes Problem beschränkt bleibt. Die soziale Thematik zieht so das gesamte Spektrum an Fragen über die Zukunft der französischen Gesellschaft nach sich. (vgl. Boyer 1998: 120-122; Le Monde 1.12.97: 3-4)

Auf der Ebene der Analyse ergibt sich hier eine Doppelbödigkeit: Einerseits wird so der Banlieue Gehör verschafft, d.h. die sozialen Probleme werden thematisiert, andererseits geschieht dies v.a. nach den Mechanismen des Fernsehens und seiner Marktgesetze, so dass die negativen Ausnahmesituationen wie die Gewaltausschreitungen zu dauerpräsenten medialen Stereotypen werden. (Lochard 1998c: 84-88; Le Monde 1.12.97: 3-4) Der alte Widerspruch der medialen Informationsvermittlung bleibt bestehen: Der Anspruch der Seriosität, also die Garantierung einer sachlichen und der „Wahrheit“ verpflichteten Berichterstattung, und der Anspruch, das Publikum zu unterhalten, also das Repertoire der imaginären Banlieue und seiner Effekte zu nutzen, bleibt bestehen. (Boyer/Lochard 1998a: 91) Boyer beschreibt ein diesen Ansprüchen der Dramatisierung genügendes Szenario der mises en scène narrativisées. (Boyer/Lochard 1989a: 95):

Ces fameux quartiers, ces fameuses cités (quon va dire „à risques“) seraient donc habités par une violence endémique (et linsécurité quelle entraîne) qui serait le fait de „bandes de jeunes“, lesquelles semblent en toute impunité semer la terreur sur leur territoire de guerre. Une guerre en particulier avec les forces de lordre dont il arrive quelles soient victimes, à la suite de „bavures“, lesquelles ne manquent pas de relancer les „rodéos“ et autres actes de vandalisme. Parfois les jeunes des banlieues saventurent en pleine ville pour „casser“, lors des manifestations de leurs congénères lycéens ou/et étudiants. (Boyer 1998: 123)

Die „Probleme“ werden in der Regel von Einzelpersonen verkörpert, die aber als Repräsentantinnen der allgemeinen Situation in der Banlieue wahrgenommen werden. (Boyer/Lochard 1989a: 95-96) Boyer/Lochard betonen le phénomène délection et de promotion médiatique de certains individus instaurés en voix inconturnables du débat public français sur la question urbaine. (Boyer/Lochard 1998a: 104) Ihrer Analyse nach ist in vielen Sendungen ein festes Repertoire an AkteurInnen, aber auch an bestimmten Personen feststellbar, die immer wieder bei Diskussionen zu diesem Thema auftreten: der Experte, der für die Jugend engagierte Künstler, der anti-konformistische acteur de terrain, z.B. der Lehrer, der Kommissar, der unkonventionelle Politiker und der Monsieur Banlieue. (Boyer/Lochard 1998a: 104-105)

In vielen Diskussionssendungen v.a. der 80er Jahre wird dieses Set von Personenkonstellationen in Form von diskursiven Duellen abgespielt, die auf der Konfrontation medialer Figuren wie dem casseur und dem Français de souche aufgebaut sind. Andere Sendetypen basieren mehr auf dem „Liveeffekt“ und werden von Einspielungen von Aufnahmen von vor Ort bestimmt. Sie beinhalten, um einer publikumswirksamen Dramatik gerecht zu werden, sogar nachgestellte Szenenfolgen und nehmen, unterlegt mit von Horrorfilmen inspirierten Musiknummern, auf der Ebene der Montage Anleihe an die Clipästhetik und an Traumbilder. Dieser Dominanz der Bildspur und des Prinzips der suggestiven Erzählung, die lediglich Oberflächenmanifestationen von Phänomenen feststellt, deren Fundamente aber nie analysiert werden, kann folglich mit Argumenten und Kommentaren aus dem Off nicht beigekommen werden. (Boyer/Lochard 1989a: 95-96) Boyer beschreibt die Mechanismen dieser über mehrere Jahrzehnte hinweg dominanten medialen Repräsentation:

Doù lusage abondant dimplicites codés, lexploitation de représentations culturelles partagées. Doù le plus souvent, à propos de tel ou tel événement, non pas tant la production dune information soumise à un éclairage exigeant que la reconduction avec tous les ingrédients du spectacle audiovisuel, dun interdiscours convenu (que les médias ont parrainé ou dont ils amplifient lécho dans lopinion), doù la représentation collective figée: le stéréotype, commode parce que simplificateur et consensuel, sert de grille de lecture des faits. En caricaturant, en diabolisant, en stigmatisant. (Boyer 1998: 119-120).

Drei Themen - eine Figur: Gewalt, Jugend, Immigration - Beur

Mit den „Ausschreitungen“ vom Oktober 1990 in Vaulx-en-Velin, bei denen ein junger Mann von einem Polizeiauto getötet wird, und Reaktionen wie den manifestations lycéennes in der Banlieue nördlich von Paris, die die Wut über Gewaltakte zum Ausdruck bringen, läßt sich ab Ende des Jahres im Fernsehen eine (neuerliche) „Pflege“ des Topos der gewalttätigen Jugend vernehmen. Diese „Vorfälle“ und ihre mediale Inszenierung machen aber ebenso die Heterogenität der Banlieue klar, deren medienkompatible Komponenten verknüpft und an einen symbolischen Ort verlagert werden. (Boyer/Lochard 1998a: 102)

Dem medialen Identifikationsobjekt der durchschnittlichen FranzösIn wird wieder der böse Jugendliche aus der Banlieue gegenübergestellt. Gleichzeitig wird der Prototyp der Banlieue im imaginaire public neu und verwandelt installiert - in Form der Figur des jeune beur. (Lochard 1998c: 84-88) Mit der Figur des Beur zeigt sich ab 1989 auch ein thematischer Wandel in der Fernsehdebatte. Die lange dominante crise de la ville wird durch den intégrisme musulman abgelöst, dessen Forum die Banlieue erstlinig zu sein scheint. Dieser Perspektivenwechsel in der question de la crise urbaine zeigt sich deutlich in der Programmgestaltung des Fernsehens, die den immigré de deuxième génération zu ihrer Leitfigur macht. (Boyer/Lochard 1998a: 92-93) Reale Faktoren, die die Medien ein immer düstereres Banlieuebild zeichnen lassen, das in gewaltvollen Endzeitstimmungsszenen ihren Ausdruck findet, sind neben den Diskussionen um die Rushdie-Affäire 1989 und die Frage der Vereinbarkeit des foulard mit dem laizistischen Schulsystem auch ein zunehmender islamischer Fundamentalismus in Nordafrika und die damit verbundenen Anschläge in Frankreich in den 80er und 90er Jahren. Dies führt zu einer steigenden Angst vor einem fundamentalistischen Islam im Land, der durch den Front National und dununzierende Schlagworte wie barbares de lintérieur und bandes éthniques (Lochard 1998b: 72) zusätzlich geschürt wird.

Dabei sind es v.a. die Jugendlichen maghrebinischer Herkunft, die als Objekt kollektiver Angst dienen und den (medialen) Konflikt in den Banlieues so sichtbar und damit auch vermarktbar machen. Mit den medialen Figuren des jeune beur und des casseur ist also eine Ethnisierung der Banlieue und so auch der sozialen und der gesellschaftlichen Probleme bemerkbar. Der jeune beur wird zum kollektiven Handelnden der grands ensembles périphériques und verkörpert ideal die trois thématiques porteuses Gewalt, Jugend

(-arbeitslosigkeit) und Immigration, die sich allmählich herauskristallisieren und das spectacle télévisuel continu mit Klischeebildern und Drehbuchdramatik versorgen. Thematisch dominieren Fragen wie die des Status der ImmigrantInnen und ihrer Kinder in der französischen Gesellschaft, die unter den Schlagworten AusländerInnenfeindlichkeit / Rassismus, Integration / Assimilation, Islamismus / Fundamentalismus / Laïcité behandelt werden. Die Jugendprobleme werden v.a. mit der wirtschaftlichen Krise, also der Arbeitslosigkeit verbunden. Und die gesellschaftliche Gewalt wird insbesondere unter dem Fokus der Drogen und des Diebstahls in den grands ensembles périphériques behandelt. (Boyer 1998: 120-121)

Ces „bandes“ sont constituées pour lessentiel de „beurs“, mais, apparemment de „beurs“ de plus en plus jeunes (la deuxième vague de la „deuxième génération“?). Car les „grands frères“ semblent sêtre plus ou moins bien tirés de la „galère“. Les „beurettes“ quant à elles, sont nettement en meilleure position, à lavant-garde de lintégration.

Face aux adolecents qui semblent peupler seuls ces quartiers déshérités (on ne voit pratiquement queux „sur le terrain“), il y a -sur les plateaux de télévision - les victimes qui, elles, sont des adultes en général et des Français „de souche“. (Boyer 1998:123)

Boyer/Lochard zeigen, dass dieser Figur keineswegs eine soziale, ethnische Identität vorausgegangen ist, sondern dass sie medial „gemacht“ ist. Im Gegensatz zur Mitte der 80er Jahre werden die Beurs jetzt nicht mehr als Avantgarde einer multikulturellen Zukunft Frankreichs stilisiert, sondern mit der Religionsfrage wird die Kluft zwischen der islamischen und der französischen Kultur problematisiert, die inzwischen als unüberwindbar wahrgenommen wird. Auch die interne Betrachtungsweise macht eine ähnliche Verschiebung mit. Viele enfants de limmigration (Begag 1998: 24) grenzen sich zunehmend von dem Begriff Beur ab und stellen den repli identitaire ins Zentrum. Ebenso wie bei der Banlieue ist also eine Entwicklung hin zum Negativen zu beobachten, sowohl was die semantische Ebene der Termini betrifft als auch die der gesellschaftlichen Situation. Beide Begriffe waren anfangs Synonyme für den Fortschritt, dann für die gesellschaftlichen Krisen. (Boyer/Lochard 1998a: 92-93) Die Problematik des Identitäts- und Repräsentationsaspekts spricht Azouz Begag an. Er vermeidet den Begriff Beur und stellt allgemein eine mangelnde Repräsentation der gens originaires des quartiers et qui savent de quoi ils parlent quand il sagit de lintégration ou de lexclusion (Begag 1998: 25) auf der politischen Ebene fest.

Les enfants de limmigration maghrébine en particulier [...] vous savez ce qui nous qualifie en France? La République française crie à tue-tête que nous sommes tous égaux les uns les autres, mais ce nest pas vrai. Parce que la différence entre nous et les indigènes, cest que nous sommes des FOC. Français dorigine colorée. Ou alors des FOV. Français dorigine visible. Et ça change toute la façon dêtre en France. (Begag 1998: 24)

In der Folge zeigt sich eine zunehmende Skepsis sowohl bezüglich der Effektivität ihres friedlichen „Kampfes“ um gesellschaftliche Anerkennung, als auch bezüglich der Seriosität der medialen Berichterstattung. Der voyeuristische journalistische Blick von außen auf die Banlieuesiedlungen hat schließlich zur Konstruktion der stigmatisierenden Fernsehbilder der Banlieue beigetragen. Die Kritik lautet so immer wieder, dass die Konsequenzen dieser Bilder nicht mitbedacht würden. Denn die schon gesetzlich bedingte Diskriminierung der ImmigrantInnen wird durch die mediale Stigmatisierung als gewalttätiger jeune beur gesellschaftlich noch verschärft. (Boyer/Lochard 1998a: 103)

3.2 Selbstkritische Tendenzen in den Medien

Gegenkonstruktion

Allmählich bildet sich eine Medienkritik heraus, die das Fernsehen immer offener als einen der Hauptverantwortlichen für die Stigmatisierung der Banlieue benennt. Ihm geht eine lange Diskussion über die Auswirkungen medialer Bilder voraus. Kritisiert wird ein Repräsentationsmodus, der letztlich auf ein großes Publikum von nicht Betroffenen ausgerichtet ist und sich auf aufsehenerregende, spektakuläre Effekte konzentriert. (Boyer 1998: 126; Boyer/Lochard 1998a: 102)

Mais la période qui souvre après Vaulx-en-Velin semble bien promouvoir une construction représentationnelle un peu plus complexe, qui prend ses distances avec la diabolisation des banlieues et les désignants qui lont servi. Cependant la dernière période, au cours de laquelle la même thématique a très largement sollicité les supports dinformation, montre que la problématisation ne va pas de soi à la télévision. Le discours informatif, surtout télévisuel, sur la banlieue, a été rapidement mise en cause, de lextérieur des institutions médiatiques, bien évidemment, mais aussi de lintérieur, comme ont pu témoigner divers remous au sein des rédactions et quelques démissions. (Boyer 1998: 126)

Boyer stellt für den Zeitraum ab Ende der 80er Jahre zwei grundsätzliche parallele logiques de construction discursive (Boyer 1998: 124) fest, die beschriebene stereotypisierende Darstellung, die die Banlieue über die Mechanismen der Karikatur und Dramatisierung stigmatisiert, und eine problematisierende, die der Stereotypisierung einen differenzierenden medien-, also selbstkritischen Zugang, den discours épimédiatique (Boyer 1998: 124) gegenüberstellt, der versucht, die Stereotypen zu durchbrechen. Dieser neue Zugang, der ab 1990/91 nach den Ereignissen in Vaulx-en-Velin immer mehr zu überwiegen scheint, thematisiert auch die Frage der Blickweise auf die Banlieue. Seit Ende 1990 nimmt so die Problematisierung der Rolle des Fernsehens und der stigmatisierenden (Re-) Präsentationsmuster der Banlieue in vielen Sendungen deutlich zu. Allgemein kann so auch ein differenziertere und vorsichtigere Herangehensweise an die Banlieue und eine stratégie de rachat seitens vieler Medien festgestellt werden. Neben dem Bekenntnis zu einem wertenden Blick, einem retournement du stéréotypage, de la diabolisation, à travers un regard valorisant (Boyer 1998: 124), fällt auch ein kritischer Umgang mit der Terminologie der Banlieue auf, so werden in manchen Sendungen z.B. Begriffe wie beur, casseur oder intégration hinterfragt, indem sie entweder umschrieben oder bewußter und in Distanz zum medialen Klischee verwendet werden. So wird das Klischee des grand frère auch positiv umgedeutet im Sinne eines freundschaftlichen Vorbilds und Helfers bei Problemen, der belastete Ausdruck „Banlieue“ durch den Ortsnamen ersetzt. Die Ausdrücke beur/ette werden teils von den Betroffenen als positiv akzeptiert, von anderen durch Français/e dorigine maghrébine/algérienne ersetzt. (Boyer 1998: 124-126)

Sozio-lokale Perspektivierung

Zahlreiche Sondersendungen im Folgejahr beziehen sich aber nicht nur auf politische Agenda, sondern zeigen eine neue Blickweise auf die Banlieue. Boyer/Lochard stellen eine désinstitutionnalisation (Boyer/Lochard 1998b: 109) fest. Im Gegensatz zur bisherigen Tendenz der Dramatisierung und Verallgemeinerung wird nun in vielen Sendungen mehr Gewicht auf eine Untersuchung der konkreten lokalen Situation vor Ort gelegt. Die „andere Seite“ wird wohl auch aufgrund der Defensivsituation, in der sich das Fernsehen befindet, zunehmend in Sendungen miteinbezogen, so dass unterschiedliche RepräsentantInnen verschiedenster Herkunft zu Wort kommen. Folglich werden zunehmend mehr EntscheidungsträgerInnen von vor Ort, „anonyme“ Leute und weniger ExpertInnen und PolitikerInnen interviewt und eingeladen. Die thematische Fixierung auf den Maghreb und damit die Ethnisierung der gesellschaftlichen Probleme und der Banlieue wird revidiert. Gleichzeitig erhalten die Betroffenen zunehmend die Möglichkeit, sich selbst zu äußern, das stellvertretende Sprechen nimmt ab. (Boyer 1998: 124-126; Boyer/Lochard 1998b: 109-110) Boyer/Lochard beschreiben ein solches Sendungsmodell:

Mais cette émission et lissue chaotique qui est la sienne [...] soulignent surtout les risques encourus à vouloir jouer sur la crédibilité garantie par les propos distanciés de certains experts et le spectacle promis par la présence non „filtrée“ de plusieurs dizaines de jeunes habitants des cités. (Boyer/Lochard 1998b: 115)

Insgesamt kann also nicht nur eine Perspektivenverschiebung in Richtung des Lokalen festgestellt werden, sondern auch eine dialogisch-partnerschaftliche Dimension der Sendungen, die das auf Sensation ausgerichtete Konfrontationsmodell ablöst. Es entwickelt sich ein Sendetypus, der pragmatischer und unspektakulärer orientiert ist und Themen wie das der Integration beispielhaft biografisch anhand von Betroffenen thematisiert. (Boyer/Lochard 1998a: 92-93; Boyer/Lochard 1998b: 109-110) Diese Selbstkritik und differenzierte lokale Perspektivierung zielt deutlich darauf ab, eine Vielfalt der Stimmen und Positionen über ein Problem zu gewährleisten. So zählt zu den Grundsätzen der Berichterstattung eine gründliche Recherche, ausgewogene Stellungnahmen unterschiedlicher Standpunkte sowie eine Ermunterung zum gegenseitigen Zuhören. (Boyer/Lochard 1998a: 97)

Die Themen Immigration und intégrisme musulman sind also in den 90er Jahren noch präsent, aber sie stehen nun im Kontext der Debatte um den devoir dintégration. D.h. es ist eine Sendungsgestaltung erkennbar, die die Probleme zunehmend auf einer sozialen Ebene diskutiert. Dominant ist dabei z.B. die Thematik der HLMs und der Wohnungsbaupolitik, der Teile der gesellschaftlichen Konflikte angelastet werden: Die logique du droit à la différence est génératrice de „ghettos“ et met en cause les politiques du logement social menée en France depuis un certain nombre dannées. (Boyer/Lochard 1998a: 100)

Balancement rhétorique v/s Revanche der banlieusards

Die Tendenz zur Hinterfragung der selbstproduzierten Klischees und zur positiven Umkehrung der stereotypen Bilder, die bereits 1990 eingesetzt hat, verstärkt sich im Fernsehen in den folgenden Jahren. Die Berichterstattung über die einzelnen Siedlungen wird aber nicht nur differenzierter, sondern sie zeigt zunehmend auch die Widersprüchlichkeiten vor Ort auf. Für eine solche Berichterstattung begeben sich die Sendungsverantwortlichen z.B. für einen Monat in eine Banlieuesiedlung, um so die Situation en détail zu erkunden. So werden grundlegende Bestandsaufnahmen vor Ort gemacht, die angesichts der Ausstattungsmängel der Schule, der Wohnungen etc. zwar negativ ausfallen, aber dieser Eindruck wird durch ein optimistisches Bild ergänzt. Über Interviews wird engagierten BewohnerInnen das Wort gegeben, die z.B. in verschiedensten Initiativen versuchen, die triste Situation, die in der Regel dem mangelnden finanziellen Einsatz der Regierung für die Peripherie angelastet wird, zu verbessern und ihre Identifikation mit „ihrer“ Cité bekunden. (Boyer/Lochard 1998b: 111-113)

On retrouve donc là une forme bien connue de balancement rhétorique (pour/contre, aspects positifs/aspects négatifs) qui est la marque même du sens commun. [...] Elle met bien en lumière que la télévision informative est le plus souvent condamnée, lorsquelle aborde les questions sociales, à une posture discursive marquée par le refus non pas dun „angle“ mais dune perspective danalyse. Cette renonciation sopère le plus souvent, on le sait, au nom de lobjectivité alors que la raison en est plus fondamentalement la norme intégrée par les professionnels dune exigence de spectaculaire, perçue comme entravée par tout discours à ambition analytique. (Boyer/Lochard 1998b: 114-115)

Die weitgehend positive und zuweilen romantisierende Art der Berichterstattung auf der Basis von ZeugInnenberichten, die den vorhergehenden Modus bis zu einem gewissen Grad abgelöst hat, wird ab Mitte der 90er Jahre also ihrerseits durch Sendungen und Sendereihen ergänzt, die durch das Prinzip der ambivalenten Berichterstattung qui peut prudemment balancer entre perceptions rassurante et alarmiste geprägt sind. (Boyer/Lochard 1998b: 114)

Hier zeigt sich eine Alternanz von Sendungen, die eher pessimistisch und solchen, die eher euphorisch ausgerichtet sind. Dieses Prinzip ist auch innerhalb einzelner Sendungen zu beobachten, die z.B. die Situation zweier Cités einander gegenüberstellen. Boyer/Lochard unterstreichen die Vorzüge einer solchen Herangehensweise, die die positiven wie die negativen Aspekte einer Cité zeigt. Diese ausgleichende Perspektivierung soll Betrachtungsweisen, die ideologisieren und für sich gleichzeitig den Anspruch auf Authentizität und Repräsentativität stellen, vermeiden bzw. ebensolche Sendungen relativieren. (Boyer/Lochard 1998b: 113-115) Boyer beschreibt einen solchen Zugang:

Toute la difficulté est de ne sacrifier ni à langélisme ni à la stigmatisation. Il nous semble nécessaire de multiplier autant que possible les témoignages, en juxtaposant et en croisant les regards, les points de vue, de façon à mettre en lumière, hors de toute tentation spectaculaire, la complexité des situations et des gens. La voie est étroite mais cest la seule qui puisse faire de la télévision un instrument dintercompréhension et d intelligence du réel.

(Le Monde 1.12.97: 3)

Dieses mediale Alternativprogramm Boyers wird vom Unmut der BewohnerInnen von stigmatisierten Cités und deren teils handfesten Agressionen gegenüber der Institution Fernsehen kontrastiert, die Boyer/Lochard als einen effet-boomerang beschreiben: Flaschenwürfe auf Fernsehteams und allgemein aggressive Reaktionen bei Treffen zwischen Fernsehverantwortlichen und Betroffenen. (Boyer/Lochard 1998a: 103-104) In solchen Begegnungen vor Ort wird seitens der BewohnerInnen und ihrer MitstreiterInnen immer wieder auf den Einzelcharakter gewalttätiger Vorfälle hingewiesen und auch darauf, dass die Medien bei ihrer Suche nach Sensationen nicht nur zur Stigmatisierung beitragen, die Situation also für die betroffenen BewohnerInnen verschlimmern, sondern auch Gewalt kreieren. Diesen Mechanismus kann mensch im Kontext der Dreharbeiten der Taverniers beobachten:

Raoults polemisch-stigmatisierende Äußerungen in seinem Brief (z.B. Lintégration ce nest pas du cinéma) ist ein Beispiel für den von Boyer beschriebenen stéréotypage médiatique (Boyer 1998: 125), der das traditionelle alarmierende Banlieuebild mitbegründet. Der Brief verknüpft das Toponym der Grands Pêchers mit den Klischees und Problemen der HLM-Betonburgen in der medial-öffentlichen Debatte. Der Name der Siedlung wird so zu einem Symbol und einer allgemeingültigen Bezeichnung für die krisengeschüttelte Banlieue der Krawalle. (Boyer 1998: 122) Demnach ist es nicht verwunderlich, dass Nils Tavernier, der

einige Tage vor seinem Vater in Montreuil zu drehen begonnen hat, die ersten Tage genau mit

dem oben geschilderten Bild der medialen Stigmatisierung konfrontiert ist. Er wird von

vielen Jugendlichen aufgrund von einschlägigen Erfahrungen mit dem Fernsehen

abgelehnt und mit den alarmisierenden Banlieuereportagen assoziiert. Letztendlich hat

sich aber ein Großteil von ihm überzeugen lassen, dass er genau aus der entgegengesetzten

Motivation nach Montreuil gekommen war, nämlich um dieser negativen Banlieue-

berichterstattung anhand des Beispiels von Les Grands Pêchers in Zusammenarbeit mit den

BewohnerInnen ein normalisierendes Bild entgegenzusetzen und zu zeigen, dass ein

differenzierter Zugang auf die Banlieue möglich ist. In einer note dintention beschreibt

Bertrand Tavernier einen solchen Zugang und Anspruch an die eigene Berichterstattung:

Je suis parti dans la cité avec mon fils Nils, et nous y sommes restés, non pas un mois, mais près de trois, avec des moments dabsence. A plusieurs reprises, surtout au début, nous nous y sommes rendus sans caméra, pour apprendre à connaître les gens, leur parler. Montrer que lon ne venait pas les piéger, ni les regarder comme des animaux dans un zoo. (Dossier de presse 1997: 7)

Dieser Prozeß der Annäherung, der die anfängliche Ablehnung in Sympathie verkehrt, kann

sowohl anhand der Berichterstattung von Télérama als auch der Beschreibung der

Filmemacher selbst entnommen werden:

Lhostilité des durs a fait place à la méfiance des autres, de tous les autres, qui

soupçonnent tout interlocuteur de les regarder comme des bêtes de zoo. Les clichés des

journaux télévisés, ils en ont soupé. [...]

Au fond, que démontre le travail des Tavernier? Que le documentaire est parfois aussi

évident que l œuf de Colomb. Qu avec du temps, une qualité de regard et de lintelligence on

finit toujours par trouver du respect, de la dignité et de lhumanité.

(Télérama 3.12.97: 85-86, 87)

Nils Tavernier zeigt die Entwicklung vor Ort in einem Artikel für das Pressedossier von

France 2 auf, den er mit Les Grand Pêchers, un film überschreibt:

Tourner dans un appartement avec un rendez-vous, facile. Difficile par contre dêtre accepté,

caméra à lépaule dans la cité par les mômes. „Si tu tournes ici, on te casse la gueule...“.

[...] La caméra pouvait démolir la réputation de certains qui aiment être craints. Ça ma

énervé... Jai décidé de passer une nuit seul, malgré les menaces, avec une caméra. Les

mômes ont trouvé ça fou, ils mont adopté. Une semaine de tournage,mon père nest pas là.

Nous travaillons avec Rosanne selon les instructions. Les mômes prennent souvent la caméra.

Ils saccaparent le film. Ça se passe bien. Et voilà, quil débarque et là jai peur. Jai peur

que sa présence et son contact cassent mon travail. Il sest intégré très vite, tenait la perche

parfois et les mômes lont trouvé sympa. Ouf! (Dossier de presse 1997: 9)

4. MEDIENKRITIK UND NARRATION IN DE LAUTRE CÔTÉ DU PÉRIPH

4.1. Ein neuer Zugang zum Genre: Beispiele aus dem Film

4.1.1 Thema, Struktur und Perspektivierung des Films

Thematischer Überblick

Die Montage von Interviewsequenzen rollt die verschiedensten Biographien auf, von Immigranten der ersten und zweiten Generation aus dem Mali, aus Marokko oder Osteuropa, von einem klassischen Arbeiter „bretonischer Herkunft“ und „eingesessenen“ Familien. Zentrale Themen der Interviews sind die Problematiken, die von Raoult in seinem Brief angesprochen werden, und denen hier mit Aussagen und Bildern von der „tatsächlichen“ Situation vor Ort gekontert wird: Kürzungen im Ausbildungsbereich, hohe Arbeitslosigkeit, Raum- und Wohnungsnot sowie existenzgefährdende Preise des elektrischen Heizungssystems der HLMs stehen im Zentrum der Diskussion. Medienträchtige Banlieuethemen wie Konflikte mit der Polizei, Gewalt und die rodéos werden durch die Thematisierung der sozialen Probleme der BewohnerInnen ergänzt.

Der erste Teil Le cœur de la cité beginnt, abgesehen von der Rahmenhandlung und der Stereotypendiskussion, mit Stellungnahmen zur Wohnqualität der Cité Les Grands Pêchers. Hier werden positive negativen Äußerungen von BewohnerInnen gegenübergestellt. Konkret werden die angekündigte Schließung des Kindergartens und die Streichung von Schulklassen durch das Ministerium sowie deren Überfüllung thematisiert. Damit verbunden sind die Probleme mit dem nationalen Schulinspektorat, die Überforderung vieler Lehrenden sowie rassistische und gewalttätige Tendenzen von Lehrenden und SchülerInnen. Weiters zeigen sich ein Mangel an Sozialwohnungen und die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die in den Kontext mangelnder Subventionen gestellt werden. Ebenso wird die Integrationsfrage gestellt, die nicht nur die sozialen Defizite, sondern auch die Reputation als zentrales Problem aufzeigt und so den Teufelskreis von Arbeitslosigkeit der Eltern, mangelnder Erziehung, Gewalt und Stigmatisierung der Cité deutlich macht. Zu dieser Realität gehören auch „Vorfälle“ wie eine „aus Langeweile“ beschädigte Glastür und Gegensprechanlage oder Briefkästen und Polizeieinsätze in der Cité. Einzelne PolizeivertreterInnen beklagen so Einbrüche in Autos und Wohnungen sowie die Existenz von Drogen, Diebstahl und Schwarzmärkten. Andere Kollegen relativieren diese Vorwürfe und BewohnerInnen berichten von massiver polizeilicher Schikane und Rassismus, Identitätskontrollen und Untersuchungshaft. Ergänzt wird dieses Bild der klassischen Banlieuetopoi mit Bildern vom sozialen und kulturellen Leben vor Ort, insbesondere von Vereins- und Organisationsaktivitäten, die von der Hausaufgabenhilfe über Bazare, Ausstellungen, der Rapgruppe Positif im Jugendcafé La Pêche bis zu einer Vereinigung der communauté malienne reichen.

Der zweite Teil, Le meilleur de lâme greift die polizeiliche Willkür wieder auf, konzentriert sich aber auf die Perspektive der BewohnerInnen. Im Zentrum steht die Frage der Akzeptanz der ImmigratInnen, im Gegensatz zum ersten Teil wird hier die Integration insbesondere am Beispiel des foyer africain aufgezeigt, nicht anhand von MigrantInnen, die die „normalen“ Gebäude bewohnen. So werden zwei Weltbilder konfrontiert, die Klage über einen zu hohen Anteil an AfrikanerInnen an der Wohnbevölkerung und Vorwürfe des Drogenhandels einerseits, die These der gelebten Integration und der sozialen Funktion des foyer africain für die Cité als eine Art Greislerkooperative andererseits. Als weiterer zentraler Punkt wird der Mangel an Räumlichkeiten für die Jugendlichen, sowohl für Freizeitgestaltung als auch für das Lernen thematisiert. Den letzten Hauptpunkt stellen die extrem hohen Preise der Elektrikheizung in der Siedlung dar, die für viele BewohnerInnen ein Existenzproblem darstellen. Diese Frage wird abschließend am Beispiel von zwei Familien mit der Delogierung aufgrund von Armut und der „Jugendlichenarbeit“ zum Erhalt des elterlichen Haushalts sowie der in beiden Fällen erzeugten Solidarität in der Cité verbunden.

Strukturierungselemente des Films

Der Film stellt eine stark selektive Auswahl und Montage des Interviewmaterials dar, das die

Taverniers während ihres dreimonatigen Aufenthalts in Montreuil produziert haben. Hier

wird der Lebensalltag einiger weniger BewohnerInnen der Cité Les Grands Pêchers

aufgezeigt. Durch ihre Berichte vom „realen“ Alltagsleben in der Cité

schaffen sie in der Tradition der oral history auch eine Art Gegenöffentlichkeit zum

Fernsehmainstream. Der stigmatisierende und latent gewaltauslösende Stil der

Fernsehberichterstattung über die Banlieue wird nicht nur kritisiert, sondern es wird auch ein

alternativer Stil des Dokumentierens angeboten. Bertrand Tavernier beschreibt seine

Herangehensweise in einer Stellungnahme für die Presse:

Nous marchions sur des œufs, et, Nils et moi avons tout fait pour respecter les différents

protagonistes. Nous avons écouté aussi attentivement le discours républicain du Commissaire

de Police, lémotion dun jeune appelé qui craque dans un commissariat, que les propos

répressifs de quelques policiers, ou les témoignages de brutalité de harcèlement et de racisme

de la part de certains membres de la police, que nous ont fournis à satiété les jeunes de la

cité. Nous navons rien éludé, pour ainsi montrer quon ne peut pas réduire la vie de la cité à

ces rapports de la police et de délinquance. Que dans une cité comme Les Grands Pêchers, il

y a également un tissu de solidarité, dentraide, de lutte et de revendication.

(Dossier de presse 1997: 8)

Kennzeichnend für ihn sind ein weitgehender Verzicht auf stellvertretendes Sprechen und ein

würdevoller Umgang mit den InterviewpartnerInnen über lange Einstellungen, die ihre

Person und Äußerung in den Mittelpunkt rücken. Auf stigmatisierende Verfolgungsfahrten

der Kamera, die mit dem Auge des allwissenden Soziologen oder Journalisten dunkle Szenen

von Aktionen anonymer Jugendgruppen in Bomberjacken ablichtet, wird verzichtet. Sie

werden lediglich ironisch eingesetzt: Nils Tavernier wird in der Dunkelheit von Jugendlichen

gerufen, um mit der Kamera willkürliche Verhaftungen zu dokumentieren.

Das Prinzip wird also umgekehrt: Es sind nicht die BewohnerInnen, die ausgeleuchtet

werden, sondern sie werden zu AkteurInnen und die Polizei gerät in die passive,

dokumentierte Rolle. Gleichzeitig wird nicht nur auf Distanz zu einer sensationsorientierten

und denunzierenden Perspektive gegangen, sondern die Taverniers bekennen sich zu einer

subjektiven Herangehensweise an die Banlieuesiedlung und thematisieren dies in ihrem

Dokumentarfilm. Dies geschieht über eine klare Perspektive und das Nebeneinanderstellen

von inhaltlich und formal verschiedenem Filmmaterial, die in die Dokumentation

und ihren politischen Kontext einleiten: Darunter sind v.a. selbstreferentielle Elemente zu

verstehen, die in Form von medienkritischen Kommentaren oder Ironisierungen von

stereotypen Kameraperspektiven die Banlieueberichterstattung thematisieren.

So wird trotz der politischen Motivierung und des Anspruchs, diese Banlieue nicht emotionslos und (pseudo-) objektiv zu beschreiben, kein einseitiges oder vorgefertigtes Bild produziert. Henri Boyer beschreibt einen solchen dokumentarischen Ansatz, der bemüht ist, den ZuschauerInnen vielfältiges (Interview-) Material zur „Lektüre“ bereitzustellen, um eine differenzierte Diskussion über die Banlieue zu ermöglichen:

Il nous semble nécessaire de multiplier autant que possible les témoignages, en juxtaposant et en croisant les regards, les points de vue, de façon à mettre en lumière, hors de toute tentation spectaculaire, la complexité des situations et des gens. La voie est étroite mais cest la seule qui puisse faire de la télévision un instrument dintercompréhension et dintelligence du réel. (Le Monde 1.12.97: 3)

Ein Beispiel: Die Anfangseinstellung des Films

Guy Lochard sieht diese allgemeine Tendenz einer differenzierten und behutsamen Berichterstattung bei Tavernier verwirklicht und spielt auf die Eingangseinstellung der Dokumentation an, in der Cédric Ngo-Van Do, dessen Stellungnahme den Film in Form einer Exposition einleitet, im Synchronton den traditionellen Umgang der Medien mit der Banlieue kritisiert:

Autre question dimportance, posée en ouverture du documentaire, le rôle joué par les médias dans la construction de cet imaginaire négatif de la banlieue avec le témoignage du jeune Cédric. Les réalisateurs non seulement assument le fait mais abandonnent le jeu de la pseudo-objectivité journalistique. Ils affirment un point de vue dauteur, qui donne de la force au parti pris de confronter systématiquement les points de vue: on sait doù on parle.

(Le Monde 1.12.97: 3)

Der 21jährige Cédric wurde früh aus der Schule geworfen, hat nach etlichen Hilfsjobs mit 13 Jahren eine Ausbildung als Glasbläser, seinem heutigen Traumjob, begonnen und sich vor einigen Jahren endgültig von seiner Vergangenheit als casseur verabschiedet. Er bringt in seinem Statement seine Kritik gegenüber den Medien und deren Wahrnehmung der Banlieuejugend, samt Auswirkungen auf das Leben in der HLM-Peripherie, zum Ausdruck und fordert von den Taverniers einen würdevollen Umgang mit den Jugendlichen in der Cité jenseits des üblichen Sensationsjournalismus:

Dans tous les reportages, quoi quil arrive, on passe toujours les jeunes des cités. Ils se font passer pour des cons, cest à dire ils se font passer pour des gens qui agressent les gens. Cest sûr, parmis tous les gens, il y a des bons, il y a des mauvais. Mais il y a pas que des mauvais, il y a aussi des bons, il y a des gens qui veulent sen sortir. Ces gens-là, moi, je le dis, ils faut les aider quoi [...] Faut leur donner un avenir quoi. En tout cas, je demande quune chose, si votre reportage est fait quoi, de faire voir aux gens quon est quelquun et quon vaut quelque chose. (Le cœur de la cité)

So bekommt die ZuschauerIn in Form eines statischen Portraitbildes einen normalen, optisch „sehr französischen“ Jugendlichen mit Baseballmütze zu sehen, der souverän argumentiert und abgesehen von der Einblendung des Namens eher den Eindruck eines Français de souche als eines Immigranten hinterläßt. Damit wird nicht nur dem Klischee vom jeune beur entgegengearbeitet, sondern gleichzeitig der gängigen Berichterstattung ein Alltagsportrait eines Banlieuebewohners gegenübergestellt, das auf Sensation und Aktionismus auf der Bildspur verzichtet. Statt dessen wird ein minimalistischer Stil gewählt, der die Argumentation für sich wirken läßt, also an den Verstand der ZuschauerIn appelliert und dem Bild gegenüber der Tonspur einen lediglich illustrativen Status einräumt. Die Taverniers vermeiden es so bei der Montage der Interviews, die Klischeevorstellungen der Banlieue und die Medienfigur des Beur zu bedienen. Cédric stellt somit das genaue Gegenteil dieser Stereotype dar: Der Gleichsetzung von Banlieue mit gewalttätigen Beur-Jugendbanden, deren Mitglieder allesamt keine Chance haben, Arbeit zu finden, wird der skeptische Cédric Ngo-Van Do gegenübergestellt, der den Sprung in die „geregelte“ Arbeitswelt geschafft hat: Voilà, cest là. Cest mon métier quoi! Faut pas me lenlever. Cest quand je ne suis pas bien, quand je me sens mal ou même quand je me sens bien. Dès que je sens que jai un petit souci, je viens et je bosse. (Le meilleur de lâme) Er kennt das Schicksal vieler Jugendlicher der Siedlung sowie deren sozialen Hintergrund (z.B. ist ein Großteil der Eltern arbeitslos) und verteidigt sie. Cédric wird somit als positive oder auch ironische Variante des Topos des grand frère präsentiert und vertritt als eine Art Protagonist des Films auch die Perspektive der Filmemacher auf die Cité.

Perspektivierung

Während sich der zweite Teil der Dokumentation Le meilleur de lâme v.a. auf das Thema der

Integration sowie auf soziale Konflikte konzentriert, ist der erste Teil Le cœur de la cité in

stärkerem Maße eine polemische Antwort auf den Brief des Ministers und die Politik der

Regierung: Die Taverniers blenden Zitate aus Raoults Brief ein und konterkarieren so dessen

Lippenbekenntnis zur Integration mit der Realität vor Ort, sei es im Positiven („die Banlieue

ist kein Schreckgespenst“) oder im Negativen („Auswirkungen der nationalen Politik“). Auf

diese Weise wird aber zugleich das Interviewmaterial, aus dem der Film fast zur Gänze

besteht, nach Themen (Kindergarten/Schule, Wohnung, Arbeit ) strukturiert und die

Taverniers ermöglichen sich einen Themenwechsel.

Dem Anspruch einer objektiven Berichterstattung setzt dieser politische Interviewfilm eine

Alltagsgeschichtsschreibung entgegen. Das Modell des stellvertretenden Sprechens von

Experten und Ministern und der great man history wird durch die persönliche historische

ZeugInnenschaft der von dem Brief Raoults betroffenen BewohnerInnen ersetzt. So werden

Ansprüche der Allwissenheit und Autorität der traditionellen Voice-over-Erzählung, die

gemäß den Prinzipien des expository mode ein Ereignis für sich oder eine (SprecherInnen-)

Stimme mit endgültiger Autorität sprechen läßt, durch den Einsatz verschiedenster Interviews

vermieden. (Nichols 1976: 168, 172-173) Durch den Film wird also den BewohnerInnen der

Cité die Möglichkeit gegeben, nicht nur ihre Verärgerung über Raoults Brief und die

allgemeine mediale Repräsentation der Banlieue kundzutun. So nehmen die Interviewten,

oder besser Gesprächspartnerinnen, von denen viele am monatelangen Entstehungsprozeß des

Dokumentarfilms aktiv teilgenommen und ihn (über zahlreiche Gespräche außerhalb der

Filmaufnahmen) beeinflußt haben, auch eine zentrale Rolle ein. In dem von den

Taverniers komponierten Text werden die BewohnerInnen so aufgrund der kollektiven

Teilhabe an der Filmentstehung zu Co-AutorInnen. Bertrand Tavernier beschreibt diese

Zusammenarbeit mit den BewohnerInnen und den Effekt der Solidarisierung, der sich

während der Dreharbeiten eingestellt hat, wie folgt:

Nous navons jamais caché la caméra. Il nous est même arrivé, parfois, de la confier à des

habitants de la cité, souvent des jeunes, et de les laisser poser des questions à notre place.

Comme dans „La guerre sans nom“, je voulais respecter leur parole, leurs émotions, leur

désir de témoigner, les laisser, au passage, réfuter, mettre à mal un grand nombre de clichés,

dimages convenues sur les banlieues. Il nous ont fait très vite confiance car ils ont compris

que „De lautre côté du périph“ était aussi leur film. (Dossier de presse 1997: 7)

Die (technische) Umsetzung sieht bei den Taverniers wie folgt aus: Lange,

statische Kameraeinstellungen zeichnen Portraitbilder der BewohnerInnen, die Einblendung

der Namen der jeweils sprechenden Personen betont zusätzlich einen respektvollen und Nähe

erzeugenden Umgang im Kontrast zu den anonymen Bezeichnungen der öffentlichen Debatte

(banlieusard, casseur...). Dies läßt die einzelnen Persönlichkeiten hervortreten, so

dass Klischees über „die Jugendlichen in der Banlieue“ erst gar nicht entstehen können.

Die Aussagen der BewohnerInnen der Cité und einiger lokaler Entscheidungsträger wie des Bürgermeisters, seiner Stellvertreterin, einiger PolizeibeamtInnen und des HLM-Verantwortlichen stellen das dominante Filmmaterial dar. Dabei überwiegt die direkte Adressierung der sozialen AkteurInnen, die sich im Synchronton an das Publikum wenden. Es handelt sich also um Elemente des von Nichols als interactive mode beschriebenen Stils, bei dem die Montage die Charaktere positioniert und die Argumentationslinie schafft, so dass die ZuschauerIn ohne die Leitfigur der SprecherIn auskommen muß, allerdings die Möglichkeit der Identifikation mit den zentral positionierten Charakteren hat. (Nichols 1976: 172-173).

Ein Beispiel: Alexandre Leonardovich

Der 18 Jahre alte Alexandre Leonardovich lebt seit langer Zeit mit seiner Familie in der Siedlung Les Grands Pêchers von Montreuil. Seine Repräsentation im Film zeigt den kritischen und differenzierten Zugang zur Cité, aber auch den respektvollen Umgang mit den BewohnerInnen. Die Kamera folgt Alexandre Leonardovich, während er zum Eingang seiner HLM geht, das Haus betritt, mensch sieht den Aufzug und den langen dunklen Gang, der zur Wohnung führt. Sein Zimmer, in dem der Großteil des Interviews stattfindet, wirkt wie eine Mischung aus einem Kraftstudio und einer Disko. Im Spiegel sind das Mikrophon und Bertrand Taverniers Kopf zu sehen, ebenso Alexandre Leonardovich. Die Kamera schwenkt zu ihm und fokussiert seinen Kopf.

Im Interview beschreibt er die Widersprüche der Integration. Zwar glaubt auch er an die soziale Funktion und Bedeutung von HLM-Wohnungen, aber sie stellen gleichzeitig das Problem der Reputation. Aufgrund der Situation des Arbeits- und Wohnungsmarkts in Montreuil sind immer mehr Cités nötig, aber die Integrationschance in den freien Markt beträgt etwa 1%. (Le cœur de cité) Alexandre Leonardovich betont zwar die geringe Reputation der Gegend, indem er das Leben seiner AltersgenossInnen beschreibt. Er macht aber ebenso seine Identifikation mit diesem Ort zum Thema und zieht das Leben hier der „Zentrale“ Paris vor. Seine Äußerung zeigt aber auf der allgemein-gesellschaftlichen Ebene das „Funktionieren“ der von Boyer/Lochard konstatierten medialen Symbolik der Banlieue. Trotz der Tatsache, dass die Cité den Charakter einer „normalen“ Wohnsiedlung hat, werden die arbeitsuchenden Jugendlichen mit der üblichen Stigmatisierung konfrontiert. Die positiven Eigenschaften der Stadt werden mit dem Zentrum bzw. den quartiers résidentiels, die negativen mit der Peripherie, den cités HLM assoziiert. (Boyer 1998: 122-123)

Jcrois quils sont presque tous au chômage. Sinon, ils vont à lécole. Pas d travail. Dès quon dit Montreuil les gens, ils croient que cest la racaille, cest la caillera, cest fini.

Il faut pas dire Montreuil. Cest pour ça quon dit jamais Grands Pêchers - Bel Air et plus Montreuil-Fontenay-sous-Bois. Les trucs quont pas de réputation. Parce que Montreuil cest une réputation. (Le cœur de la cité)

Gleichzeitig zeigt Alexandre Leonardovich aber durch sein eigenes Verhalten die korrumpierende Wirkung des Fernsehens, den Effekt des Vor-der-Kamera-Sprechens auf. Auf die Frage, was ihm im Leben am wichtigsten sei, antwortet er zuerst mit le sport, la vitesse et les filles. Nach einer Nachfrage korrigiert er sich und plaziert die Frauen mit dem Kommentar, dass das für die Kamera gewesen sei, an die erste Stelle. Auf diese Einstellung folgt eine Erkundung der Wohnung mit der Kamera, ein laut Alexandre Leonardovich ständig laufender Fernseher im Zimmer nebenan wird gezeigt und kommentiert implizit das Medium. Es folgen noch einmal Aufnahmen des anderen Zimmers, die den Betrieb der farbigen Scheinwerfer und der Nebelmaschine zeigen und von Discomusik begleitet werden. Sie beenden das Interview. An dieser Szene wird also deutlich: Die Perspektive der Taverniers denkt die potentiellen Auswirkungen und Signale der Fernsehbilder als Repräsentationsobjekte der Banlieue medientheoretisch mit. Deshalb werden Kameraschwenks und Schnitte sehr vorsichtig eingesetzt sowie durch Fragen oder Textpassagen, die das Medium kommentieren, ergänzt. Die Personen und ihre Äußerungen sollen nicht durch filmtechnische Effekte in Mitleidenschaft geraten. (Le Monde 1.12.97: 2-3)

4.1.2 Alternativer Diskurs - Differenzierte Apologetik

Immigration

Der Umgang der Taverniers mit den BewohnerInnen der Siedlung und dem Begriff der

Integration zeigt eine Form von Gegenkonstruktion zu Raoults Perspektive, aber auch zur

dominanten Fernsehdebatte. Der Dokumentarfilm weist zwar eine tendentiell eher positive,

dennoch aber komplexe Beschreibung der Situation auf, ist also vom Anspruch

gekennzeichnet, sich jenseits von Stigmatisierung und Romantisierung der Banlieue zu nähern

und ihre Ambivalenz aufzuzeigen. (Boyer/Lochard 1998b: 113-115)

Die Anwendung dieses Zugangs, der sich im Kontext der von Boyer/Lochard festgestellten Tendenzen mehr und mehr durchsetzt, ist hier teils strategischer Natur. So kann der Film trotz des Aufzeigens verschiedener positiver und negativer Aspekte der Cité eine klare Antwort auf Raoults Brief geben, indem er genau die Ansprüche des Ministers an Integration (Integration = Finden/Bereitstellen von Arbeit und Wohnung, Kindergarten und Schule, Begrenzung der Zuwanderung) als nicht erfüllte Rhetorik entlarvt und den schwarzen Peter an die Politik zurückspielt. Dominant ist so die Argumentation, dass von den meisten BewohnerInnen selbst die Integration schlicht gelebt wird, die Probleme der Cité hingegen auf soziale und finanzielle Mängel zurückzuführen seien, die die Politik zu verantworten hat. (Le Monde 1.12.97: 3) So wird die Ambivalenz des Dokumentarfilms deutlich. Die differenzierte, widersprüchliche inhaltliche Berichterstattung im Sinne von Boyer und Lochard wird über die vereinheitlichende Argumentation von Kommentar und Montage kontrastiert.

Sequenz über den Rassismus

Der Film enthält nicht nur Portraits von Personen, sondern er setzt Aufnahmen von Leuten auch punktuell innerhalb einer Sequenz im Dienste der Argumentation des Films ein, deren Persönlichkeit so im Laufe des Films nicht näher verfolgt wird. Ziel ist es hier, die durch die Banlieuedebatten bekannte Problematik der Reputation noch einmal zu bestätigen, nicht eine neue These aufzustellen. So thematisieren die Taverniers auf diese Weise die Frage des Rassismus. Sie stellt keinen zentralen Gegenstand im Film dar, aber sie wird erwähnt, um diesen negativen Aspekt der Cité zu zeigen, die konfliktuellen oder unangenehmen Seiten nicht zu verschwiegen. In einer der Stellungnahmen zur Lebensqualität der Cité, die sich der Banlieue-Klischeeschilderung Cédrics anschließt, beschweren sich zwei Bewohnerinnen, die ihren Worten zufolge auf die Pensionierung warten, um endlich weg von Montreuil und der Cité zu kommen, über die Siedlung: Im Stiegenhaus eines der Häuser sieht mensch zwei Frauen, die sich darüber beschweren, dass die letzten vier bis fünf Jahre hier alles immer schlimmer geworden sei, was ihnen zufolge an den Dreck machenden AusländerInnen und FranzösInnen liegt. Die beiden Frauen sind bereits dabei, die Treppen hinaufzugehen, halten also Distanz zur Kamera und wirken nicht besonders gewillt, ein längeres Interview zu geben. Eine der beiden befindet sich bereits auf der Treppe, die andere schwankt, wendet sich zeitweise frontal zur Kamera und ist kurzfristig auch im Portraitbild zu sehen: Non, je ne suis pas contre les immigrés, non il y a malheureusement des Français qui sont sales également. (Le cœur de la cité) Diese Argumentation wird im Synchronton durch den Effekt des schlecht beleuchteten Stiegenhauses unterstützt, das einerseits einen desolaten Zustand vermittelt, anderseits die sich aufgrund ihres Klischeegehalts fast selbst karikierende Äußerung ironisiert. Die Aussage bestätigt das mediale Klischee, ce que tout le monde dit, la sale réputation des cités HLM (Boyer 1998: 122), wie es von Boyer beschrieben wird:

Et il semble que désormais la fin de la mauvaise réputation associée à ces toponymes tombés par surexposition médiatique dans le domaine public passe purement et simplement par la destruction matérielle des lieux ainsi stigmatisés : destruction de „tours“ ... dûment médiatisées. (Boyer 1998 : 123)

Der Film enthält noch ein zweites ähnliches Beispiel: Guytou, der Kneipier der Siedlung, äußert sich im Sportstadion direkter: diminuer un peu de noirs et un peu darabes, ça serait pas trop mal. Auch er ist hier nur halb von hinten, halb seitlich erkennbar, er wendet sich der Kamera, die ihm folgt, nicht zu, sondern geht weiter im Stadion entlang. (Le cœur de la cité)

Durch die Thematisierung der negativen Aspekte in der Cité wird deutlich, dass der Film nicht als pure Polemik gegen die Regierung intendiert ist, sondern versucht, selbstkritisch die Widersprüche der Banlieue (von Montreuil) aufzuzeigen und die Klischees der banlieue médiatisée oder télévisée, die sich auf das Reproduzieren der Krisenthemen Gewalt, Jugend und Immigration beschränkt, anzukratzen, sie aber nicht als reine Konstrukte darzustellen. Durch den Verzicht auf alarmierende Bilder sowie eine dramatisierende Darstellung, auch im Kontext des Rassismus, und der Beschränkung auf statische Portraitbilder wird dieser traditionellen Berichterstattung ein nachdenklicher Film gegenübergestellt. (Le Monde 1.12.97: 3) Allerdings stellen solche Stellungnahmen, die Situation der Cité radikal kritisieren, und nicht in Form eines nicht nur sequentiellen Personenportraits das soziale Leben in der Cité aufzeigen, im Verhältnis zum gesamten Filmmaterial eine Minderheit dar. Im Kontext der Argumentation des Films dienen diese Aufnahmen zudem mehr dazu, die allgemeine Stigmatisierung der Cité (siehe Raoult) aufzuzeigen, als über rassistische Äußerungen einen zu hohen AusländerInnenanteil zu argumentieren. Der Rassismus wird also durch das Filmmaterial in die generelle Filmlogik und -argumentation integriert. Gemäß dem oppositionellen Konstruktionsprinzip des Films wird der gezeigten Argumentation eine positive Interpretation der starken Präsenz afrikanischer Kultur in der sich anschließenden Szene entgegengesetzt und somit der Aspekt des Rassismus abgemildert:

François Fontaine, der in seinem Freizeitanzug neben dem AsylantInnenheim stehend gezeigt wird, sieht das Zusammenleben mit dem foyer africain positiv. Er kauft hier am Wochenende seine Zigaretten und zahlt für den „Service“ vor Ort, der Brot, aber auch Kaffee und Couscous-Gerichte umfaßt, gerne ein paar Francs mehr: Ils agressent pas, ils sont polis, moi ils mgênent pas, pas du tout. Ils sont bien intégrés, je crois, dedans. On les connaît tous. Donc, rien à dire, comme notre cousin. (Le meilleur de lâme)

Insgesamt kann also von einer positiven Darstellung des Zusammenlebens in den Grands

Pêchers durch die BewohnerInnen gesprochen werden. Dies entspricht sowohl der

Perspektivierung der Taverniers als auch dem Charakter des (ersten Teils des) Films als

politische Antwort an die Politik und als „Imagekampagne“ für die BewohnerInnen, die aber

die negativen Aspekte nicht verschweigt. Nils Tavernier macht den tendentiell positiven

Ansatz deutlich, allerdings außerhalb des Films:

On coupe pas la parole dans les interviews et on aime les gens quon filme pour la plupart. Pendant des mois, mon père disait toujours quil lui manquait un plan, une interview dans son montage. Je nai jamais su si cétait vrai. Je le soupçonne en fait davoir eu, comme nous, une nostalgie des lieux. Cest la raison pour laquelle quitter les „Grands Pêchers“ nous a été difficile. Ça ma fait plaisir quil termine son film par „Cest quoi ton plus grand rêve?“ Une formule qui clôt tous mes films. Des mois de tournage riches car toujours tendres. (Dossier de presse 1997: 9)

Integration in der Cité, Aneignung im Film

Diese Tendenz wird anhand der Äußerungen von Henri Olivier, Mahati Fofana und Bouba Sangaré und des cinematographischen Umgangs mit ihnen bestätigt. Alle drei Charaktere werden anhand von statischen Portraitbildern im Synchronton repräsentiert, d.h. dass die Tonspur und damit der argumentative Charakter der Sequenzen deutlich dominant ist und an die Taverniersche Filmlogik anschließt. Im Vordergrund stehen so die jeweiligen Argumentationslinien über die Integration, die sich zwar unterscheiden, aber alle drei verteidigen die Cité und definieren Integration als eine soziale Frage. Dadurch, dass die Taverniers sich bei der Montage auf wenige InterviewpartnerInnen beschränken, also auf einen qualitativen Interviewfilm setzen, wird ein Kohärenzeffekt erzeugt. So kann die ZuschauerIn die Geschichte und Biographie der einzelnen Personen nachvollziehen und es entsteht ein Wiedererkennungseffekt. Diese ästhetische Entscheidung suggeriert so neben der thematisch-argumentativen Herangehensweise an die Banlieue einen narrativen Zusammenhang, zusätzlich zur Rahmenhandlung. D.h., alle drei „Charaktere“ sind nicht nur Bestandteil einer Sequenz, sondern haben eine Überbrückungsfunktion im Film, ihre Argumentation und Lebensgeschichte zieht sich durch ihn hindurch. Durch ihre intensive Beteiligung an der Planung des Films, ihr kontinuierliches Auftreten und ihr Stellungnahmen zu vielen der behandelten Themen in der Dokumentation wird nicht nur eine argumentative Logik der einzelnen Personen erkennbar, sondern mensch kann in ihnen aufgrund der so erzeugten Vertrautheit mit ihrem Aussehen, Argumentation und Biographie unterschiedliche „Rollen“ sehen. Während Olivier den großväterlichen Part des M. banlieue übernimmt, steht Mohati Fofana für die assimilierte und respektierte Immigrantin, Bouba Sangaré für den selbstbewußten Beur. Diese „Figuren“ bewegen sich zwischen der Funktion einer SprecherIn und der eines Charakters, denn durch die den Personen über die Montage im Film verliehene Rolle werden ihnen auch narrative Züge verliehen, wenn auch ihre außerfilmische Realität als soziale AkteurInnen der Cité zentral bleibt. Dennoch, die Portraits sind durch eine gewisse Ambivalenz geprägt: Pas plus que les Tavernier ne nous donneront leur sentiment de citoyens [...]Leur film nest pas une dissertation sur lintégration. De lautre côté du périph ne se veut rien dautre qu une généreuse bouffée de cinéma, au cœur de la réalité. (Le Monde 15.12.97: 38)

Henri Olivier

M. Olivier, stolzer Großvater, homme dusine und Ex-Stalinist, sieht vor dem Hintergrund der von ihm miterlebten Geschichte der banlieue rouge und des Faschismus die Arbeitslosigkeit als Hauptproblem für die Integration und das Funktionieren eines Gemeinwesens. Er schildert am Küchentisch seiner Wohnung sitzend die Entstehung der Siedlung, die er miterlebt hat, und beschreibt seinen Lebensverlauf. Aus kleinen Verhältnissen aus der Bretagne kommend, von wo er mit seinen Eltern in Richtung Paris „emigriert“ ist, bedeutete für ihn der Schulabschluß und die Absolvierung einer Druckerlehre einen sozialen Aufstieg. Vor diesem Erfahrungshintergrund als klassischer Arbeiter bewegt er sich argumentativ auf der apologetischen Ebene der Taverniers.

Mes parents étaient bretons, cétaient des immigrés à cette époque-là à Paris comme les Auvergnats, maintenant ce sont les autres qui ont pris le relais: ils sont dans les mêmes problèmes que nous létions, cest ça le drame. Alors il faut que lon soit plus sociable et plus coopératif. Elle est belle la vie, quand on fait ce quil faut [...] (Le cœur de la cité)

Seiner Ansicht sind es die finanzielle Situation und das Milieu vieler Familien, die ihren Kindern nicht die Möglichkeiten und Zeit einer sorgfältigen Erziehung bieten können. Die viel thematisierte Gewalt versteht er als Resultate davon, reduziert die tatsächlichen Vorkommnisse allerdings auf zertrümmerte Briefkästen, gelegentlich aufgebrochene Autos und Lärm einiger weniger Jugendlicher, wie sie im Anschluß an seine Äußerungen durch Aufnahmen illustriert werden. Sie zeigen einen Hauseingang, dessen Glastür und Gegensprechanlage beschädigt wurde. Diese beschwichtigende und defensive Argumentation macht eine generelle Tendenz des Films deutlich: Trotz der differenzierten und vorsichtigen Herangehensweise an die Banlieue über Einzelportraits geben die Taverniers über die Montage also sehr wohl eine verteidigende Interpretationslinie vor, die uns sagt, wie der Film zu verstehen ist. So wird auch die Zugangsweise der Taverniers als nicht Betroffene, als français de souche zum Thema, die persönlich nicht mit der Alltagserfahrung der Immigration, der kulturellen Assimilation an ein anderes Gesellschaftssystem konfrontiert sind, sichtbar. Diese soziale Argumentation der Gewalt und der Immigration dominiert den Film und ist nicht auf die Français-de-Souche-ProponentInnen reduziert.

Mahati Fofana

Auch Mohati Fofana vertritt als respektierte und assimilierte Repräsentantin der starken Mali-Population der Cité diesen versöhnlichen Ansatz der Taverniers, der die Frage der Kulturdominanz und ethnischen Gettoisierung unthematisiert läßt. Sie folgt der sozialen Argumentation und macht Anleihen an den hoffnungsfrohen Multikulturalismus der frühen Beur-Bewegung. So beschreibt sie den Kindergarten der Cité als Kristallisationspunkt der funktionierenden Integration, der als einziger Treffpunkt, nicht nur für Eltern mit Kindern aller Nationalitäten, eine Art soziales Zentrum der Cité darstelle.

Si le monsieur le ministre venait aux Grands Pêchers - ne serait-ce que pour 5, 10 minutes - mais, il verra une école maternelle aux Grands Pêchers. Cette école maternelle, il y a blanc, il y a noir, il y a jaune, il y a rouge, il y a tout. Quand on se met un petit peu à côté des grilles on voit tenant les mains comment ils sont ensemble. Et je trouve ça mignon. Et à un moment donné, quelques années après, quelques trois ans après, ces mêmes enfants se retrouvent dans une école primaire. Mais ils restent attachés ces enfants-là. (Le cœur de la cité)

Bouba Sangaré

Der Biologiestudent Bouba Sangaré, der als Betreuer Jugendlicher in der Siedlung jobt und hier seit 20 Jahren wohnt, stellt hingegen den Integrationsgedanken, der die Definitions- und Kontrollfunktion wie selbstverständlich bei der Mehrheitskultur beläßt, generell in Frage. Er kritisiert diese Konzeption als ethnische Segregation und Machtinstrument mit dem beliebig Druck auf die Integrations“objekte“ ausgeübt wird. So führt er auch die geringe Anzahl von Polizeiübergriffen auf die Präsenz der Taverniers, also des Fernsehens zurück. Obwohl er sich klar von einer versöhnlichen Argumentationslinie absetzt, ist seine Argumentation dennoch Bestandteil der Tavernierschen Apologetik, nicht nur aufgrund des Verzichts kultureller oder ethnischer Erklärungsmuster im Kontext der Integration, sondern auch durch die Aneignung der „Figur“ Bouba Sangaré, die sich als narrativer Faden durch den Film zieht und z.B. die Polizeieinsätze und die Schulproblematik thematisiert. Er beantwortet Taverniers Frage rhetorisch:

Est-ce que je demande, moi, à Juppé de sintégrer?

Est-ce que je demande à Chirac de sintégrer? Je leur demande rien, je leur demande rien. Ça

existe pas lintégration. Ça cest des conneries qui sont inventées pour faire croire les

immigrés cest des mauvais garçons. Alors, un jour intégration cest ça. Une fois quon se

fixe sur ce moule-là, ils vont nous dire lintégration en effet cest ça. Et chaque fois ils vont

nous manipuler comme ça. Ça nexiste pas lintégration. Quon nous laisse vivre.

(Le cœur de la cité)

4.2 Selbstreferenzialität

4.2.1 Der narrative Rahmen

Le cœur de la cité - Anfang

Dem oben auszugsweise zitierten kritischen Statement Cédrics folgen ein Rundblick der Kamera in der Cité, der uns die HLM-Optik vorführt. Diese Bilder werden mit dem Kommentar Taverniers zur Initiierung des Films durch Raoult unterlegt. Er verbindet diese Bilder mit Archivmaterial von der Pressekonferenz der CineastInnen und unterstreicht so den Effekt der Montage. Parallel zu den jeweiligen Bildern, die z.B. erst mit Weitwinkel den langen Tisch mit den versammelten CineastInnen, dann in Großaufnahme jeweils einzeln Pascale Ferran, Claire Denis, Arnaud Desplechin und schließlich Bertrand Tavernier zeigen, verläuft der entsprechende thematische Off-Kommentar, der die Entstehungsgeschichte des Dokumentarfilms resümiert:

Cédric qui a lair de sortir dun film de Ken Loach a vécu 15 ans à Montreuil, dans une cité qui porte un nom magnifique Les Grands Pêchers. On est en mars 97 et cest dans cette cité que depuis quelques jours nous tournons, mon fils Nils et moi, un film dont lidée nous a été, disons suggeré, cest la première fois que ça marrive, par un ministre, Eric Raoult, enfin quelquun qui était député et ministre au moment du tournage. Tout a commencé le 11 février 1997: à linitiative de Pascale Ferran et dArnaud Despleschin, 66 cinéastes, pour protester contre la loi Debré et notamment contre lArticle Premier, appellent à la désobéissance civique. Le 12 février, je reçois, comme tous les signataires de cet appel la lettre suivante [...]. (Le cœur de la cité)

Es schließt der Vorspann des Films an, der uns in Form eines ironischen Zitats in der Dämmerung von Paris über die Autobahn nach Montreuil bringt, wobei statisch der Blick durch die Windschutzscheibe Richtung Banlieue fokussiert wird. Bertrand Tavernier ist bei genauem Hinsehen am linken Bildrand am Steuer erkennbar, seine Stimme spricht den Brieftext. Es folgen die Reaktionen auf den Brief, das Verlesen eines Antwortbriefes der BewohnerInnen an den Minister und Stellungnahmen der BewohnerInnen zum Brief, beides Synchronaufnahmen vom ersten Treffen im März 1997 in Montreuil. Die Fortsetzung des Kommentars leitet die Interviews ein:

Quelques jours plus tard, je suis contacté par certains habitants des Grands Pêchers qui minvitent à les rencontrer dans leur cité. Je me retrouve face à plus de 250 personnes choquées, blessées, offensées, par la lettre du Ministre. Et cest là quest née lidée dun film qui leur permette de répondre, de parler de leurs problèmes, de leurs luttes, de leur vie, de leur colère. (Le cœur de la cité)

Die Stellungnahmen verteidigen die Cité gegenüber dem Minister und seiner Darstellung, im Falle des Bürgermeisters Jean-Pierre Brard, Kommunist und während der Dreharbeiten mit 76% der Stimmen wiedergewählt, werden nicht nur seine Stadt und ihre BewohnerInnen in Schutz genommen, sondern auch die Filmemacher:

Je connais un peu le ministre. Je sais cest un provocateur. Mais à ce point cest blessant pour la population de Montreuil, puis jimagine pour vous. Parce que cest une manière de vous dire, vous les intellos de gauche vous connaissez rien. Cest vrai que Éric Raoult, on ne peut pas lui faire le reproche dêtre ni de gauche ni intellectuel. Ça se serait déjà remarqué.

(Le cœur de la cité)

Es folgt eine von Bertrand Tavernier geführte fiktive Reise des Ministers durch die Siedlung Les Grands Pêchers, die durch eine ähnliche Autofahrt eingeleitet wird, diesmal bei Tageslicht. Der Kommentar, der den historischen Bogen von der Pfirsichkultur in Montreuil bis zur Gegenwart der Grands Pêchers spannt, führt in die Siedlung und ihre Infrastruktur ein, gibt die wesentlichen Fakten über Entstehungszeit, Größe und Mängel der Cité, stellt aber auch eine Reihe von BewohnerInnen über ihre Reaktionen vor: Die Kamera schwenkt, in der Cité angekommen, über die Betontürme der Siedlung, das Stadion, ein provisorisches Fußballfeld, das foyer africain, den Kindergarten, einen kleinen Spielplatz und ein riesiges leerstehendes Gebäude. Die Stellungnahmen im Synchronton unterbrechen jeweils Taverniers Kommentar. Abschließend werden, gemäß dem oppositionellen Strukturierungsprinzip, wieder in Form von Nachtaufnahmen der Cité die teils mißtrauischen und aggressiven Reaktionen auf Nils Taverniers erste Drehtage erwähnt. Sie werden durch eine anschließende Aufnahme von Cédric in Portraitformat ergänzt, in der er rückblickend seine erste Reaktion auf Nils erinnert. Der Kommentar unterstützt wieder den Kohärenzeffekt der Montage und leitet unmittelbar mit dem Bildwechsel vom Entstehungsprozeß zu den Interviews über.

Au début avec Nils on avance prudemment, doucement. Certains jeunes manifestent une grande hostilité, dautres seulement de la méfiance. (Le cœur de la cité)

Cest pourquoi. Cest pourquoi ton truc. Parce qu il y a plein de caméraman qui viennent dans la cité et se disent: On va filmer, on va montrer tous les mauvais côtés, cest à dire, la zone, les jeunes qui glandent. Ah oui, des jeunes qui glandent il y en a partout. Cest pas le milieu social qui fait des glandeurs parce que ce sont les glandeurs qui sont ce quils sont. Mais là, là-bas on va montrer que des glandeurs, que des gens qui fument des joints alors que dans la population française il y en a des millons qui fument des joints. (Le cœur de la cité)

Kurz: Bevor die eigentliche Interviewdokumentation, die wieder an den Protagonisten Cédric anknüpft und in der Folge anhand von mehreren Personen die Frage der Stereotypisierung der Banlieue thematisiert, beginnt, wird die ZuschauerIn also in den politischen Kontext und die Entstehungsgeschichte des Films eingeführt. Durch diese Rahmen wird ganz klar der Anspruch eines Wirklichkeitsbezuges gestellt. Die Taverniers greifen ein politisches Ereignis auf und intervenieren mit ihren Möglichkeiten als Filmemacher. Über einen Dokumentarfilm sollen die Widersprüche zwischen der vorgelegten Gesetzesinitiative, dem Brief Raoults und der „realen“ Situation vor Ort deutlich gemacht werden. Die Dominanz der Tonspur und die stark strukturierende und perspektivierende Funktion des Kommentars dienen so einer didaktischen Gegenberichterstattung, die sowohl die Klischees über die Banlieue zu revidieren versucht, als auch eine politische Antwort auf die Immigrations- und Integrationspolitik gibt. (Hohenberger 1998: 8-9, 15-16)

Es wird also auf die außersprachliche Realität referiert, indem durch die Bilder der Pressekonferenz, aber auch den Brieftext und die Aufnahmen von der Cité-Architektur dem Dokumentarfilm als nicht-fiktionalem System eine konkrete Zeit und ein konkreter Ort zugeschrieben wird, also auf profilmische Ereignisse, die gesellschaftlichen Zustände der Cité, die politische Lage der sans-papiers, die Protestbewegung und die Solidarisierung in der Cité verwiesen. Den Charakteren der Interviews wird so die Glaubwürdigkeit als gesellschaftliche Handelnde verliehen, sie werden so als Teil der Welt tatsächlicher Ereignisse, der äußeren Realität wahrgenommen. (Beyerle 1997: 50-56)

Gleichzeitig wird an den Übergängen von den thematischen Interviewblöcken zur Rahmenhandlung die Ambivalenz zwischen dem präsentischen Erleben in der Cité und der historischen Thematisierung der Entstehung des Films deutlich.

Le cœur de la cité - Ende

Eine poetische Szene mit einem ehemaligen Mathematiklehrer und Computeringenieur von den Antillen, inzwischen Alkoholiker in Frühpension, der verzweifelt auf der Suche nach seinen eben gekauften feuilles de menthes ist und zur Erheiterung der ihn vorführenden, rund um ihn herum versammelten Kinder beiträgt, beendet den ersten Teil.

Devant le meeting permanent des enfants moqueurs, arrive ainsi un vieil homme qui entreprend une leçon improvisée sur les vertus aphrodisiaques du thé à la menthe. Il doit être une figure du quartier. Il se dit ingénieur en informatique, prof de maths en préretraite. Autour de lui, jaillissent des quolibets familiers. Eh, m`sieur, puisque tu es prof de maths, tu peux nous calculer une racine carrée? Et tout dun coup, à la fin de son cours en plein air, il se rend compte quon lui a volé ses feuilles de menthe. Qui est le coupable, dans ladorable nuée? A-t-il simplement rêvé de ces feuilles de menthe? On ne le saura jamais. Soudain, le voilà tout piteux. Autour de lui, les enfants rient. [...] Le spectacle est terminé. Lessaim se disperse. En guise dadieu, le prof de maths dépité a aussi délivré à son auditoire une leçon de grammaire, leur enseignant que „quand deux verbes se suivent, le second est à linfinitif“. Alors une fillette, devant la caméra, sérieuse et épatée: „Même moi, je savais pas ça.“ Et étrangement, ce „je savais pas ça“ dissipe lamertume de la scène précédente.

(Le Monde 15.12.97: 38)

Diese Szene endet damit, dass sich Mamadou Bambadia endgültig umdreht und abgeht. Mit dem Abschiedszeichen, dem Heben seiner rechten Hand, setzen eine Musik, die an seine karibische Herkunft erinnert, und gleichzeitig ein Standbild ein, nach wenigen Sekunden verwandelt es sich in Zeitlupe und die Kamera dreht sich nach rechts von ihm weg. Dem ganzen wird nun ein Kommentar Taverniers unterlegt, der eine Vorschau des zweiten Teils bietet. Kommentar und Musik, die bis zum Ende des Abspanns des Dokumentarfilms an bleibt, verknüpfen so, begleitend zur Montage, die Bilder dieser Szene, die ein Original der Cité vorstellen, mit jenen der Vorschau, die François Fontaine, Pascal und die Familie Gernot zeigen. Die Bildfragmente werden zu einer logischen Einheit zusammenmontiert.

Et Mamadou Bambadia ne recupera jamais ses feuilles de menthe. Et la cité continue à vivre et nous, nous avons continué à lexplorer, à écouter des gens comme François Fontaine et les habitants du foyer, Pascal et la famille Gerno - à decouvrir le meilleur de lâme. (Le meilleur de lâme)

Dieser in den zweiten Teil des Films überleitende Kommentar erweist der Poetik der Szene mit Mamadou Bambadia noch einmal Referenz und macht über die vertrauliche Verwendung der Namen der BewohnerInnen nicht nur den Solidarisierungseffekt klar, sondern auch die gegenseitige Sympathie zwischen den Taverniers und den BewohnerInnen, die sich innerhalb der fast drei Monate Drehzeit eingestellt hat. Über diese Perspektivierung wird ein kollektives Wir konstruiert, die Taverniers stellen sich zusammen mit den BewohnerInnen in eine Defensivposition und verteidigen die Cité gegen politisch-mediale Stigmatisierung.

Auf dieses kollektive Wir verweisen aber nicht nur Inhalt, Stil und Stimme des Kommentars. Denn in der Szene mit Mamadou Bambadia ist unter der Gruppe von Kindern auch Tavernier, der wie sie für die Kamera als Zuseher von Mamadou Bambadia posiert. Er stellt sich so mit ihnen auf eine Ebene als sozialer Akteur. Durch die nur indirekte Beziehung zur Erklärung und die damit verbundene gewisse außertextuelle Autonomie der Charaktere werden sie allesamt in der Szene als reale Personen wahrgenommen. Sie stehen erst einmal nicht im Dienst einer Erklärung, sondern für sich. Dies wird bei Mamadou Bambadia besonders deutlich. Er erzählt in ein paar Sätzen seinen Lebensverlauf vom Lehrer auf den Antillen zum Alkoholiker in Frankreich. Die Verbindung mit einer direkten Adressierung erzeugt einen narrativen Effekt, der natürlich auf die kurze Szene beschränkt bleibt und nichts daran ändert, dass sich die Referenz außerhalb des Films befindet. (Nichols 1976: 168-170)

Trotz des narrativen Elements einer solchen Szene ist es auf den ganzen Film bezogen die Tonspur, der Kommentar, der strukturiert und verknüpft, also die Argumentationslinie des Dokumentarfilms bildet und die „Chronologie“ der Bilder und der Rahmenhandlung konstituiert. (Nichols 1976: 167-169) Kurz: In der kleinen Szene wird die ZuschauerIn durch den Effekt des zentripetalen looking-in in den Bann der Performanz von Mamadou Bambadia gezogen, allgemein gilt, dass das zentrifugale looking-out des Kommentars, der auf die Einmaligkeit der historischen Drehsituation verweist, daran erinnert, dass es sich hier um keine mimetische Repräsentation handelt. (Beyerle 1997: 58)

Die gleiche Ambivalenz zeigt sich auf der Zeitebene. Die beschriebene Szene stellt aufgrund ihrer Autonomie und narrativ-imaginären Komponente das Geschehen in den Mittelpunkt und erweckt so den Effekt des being there as it happens. Die ZuschauerIn hat folglich den Eindruck, das Geschehen live zu erleben und zu sehen; Beyerle beschreibt dies als beschwörende Vergegenwärtigung. Die dominante Dokumentarfilmstrategie benutzt hingegen das Bild als Evidenz für das Stattgefundenhaben eines Ereignisses und betont die Abgeschlossenheit der profilmischen Realität. Sie wird durch das Vorführen des Films wiederholt und vergegenwärtigt. Dementsprechend zeigt sich die Vergangenheit als die dominante Zeitform des Genres. (Beyerle 1997: 58-61)

Le meilleur de lâme - Anfang

Dieser Rekurs auf die Referenz in der äußeren Realität wird im Einführungsblock des zweiten Teils sichtbar. Er führt in den politischen Kontext, ähnlich wie im ersten Teil, aber verkürzt, ein. Tavernier erwähnt zu den schon bekannten Autobahnbildern die Pressekonferenz und den Brief von Raoult. Anschließend fasst er in wenigen Sätzen die Ereignisse in der Cité und der Politik von März bis Juni zusammen. Dazu sieht mensch Bilder von der Cité, die neben den Gebäuden u.a. auch Wahlplakate zeigen. Sie erinnern mit den Worten „Lois Pasqua basta“ und „sans-emploi, sans-logement, sans-diplôme, sans-droits... Cest pas ça lavenir!“, die vergangenen législatives, die zum Ausscheiden der Minister Pasqua und Raoult aus der Regierung geführt haben. Hier wird also die Abgeschlossenheit von politischen Ereignissen hervorgehoben, die sich unabhängig vom Film ereignet haben. Nichols Verständnis der Sequenz als autonome narrative Einheit, also einem Argumentationsblock, greift in diesem Zusammenhang. Der Kommentar und die Montage strukturieren und verknüpfen die illustrierenden Aufnahmen und erwecken so den Eindruck einer logischen Anordnung, die nahelegt, dass die Wahlen zwischen den beiden Filmteilen stattgefunden hätten, die Interviews dieser „Chronologie der Ereignisse“ also folgen würden. In der Tat sind aber beide Teile zusammen nach den Aufenthalten in Montreuil produziert und gesendet worden, die Interviews wurden nach thematischen und narrativen, nicht chronologischen Schwerpunkten geschnitten. (Nichols 1976: 170-171)

Le meilleur de lâme - Ende

Im Abschlußblock des zweiten Teils wird noch einmal die Ambivalenz des Genres vorgeführt. Synchronaufnahmen von argumentativen Interviews, die den Prozess des Filmens rückblickend reflektieren sowie den damit verbundenen Solidarisierungseffekt und persönliche Wünsche für die Zukunft thematisieren, werden mit einer spielfilmhaften Melodie und Bildern von der Cité, die zusätzlich mit einem Kommentar Bertrand Taverniers unterlegt werden, konfrontiert.

Bouba Sangaré und Marie-Jo Tirat thematisieren ihre anfänglichen Befürchtungen über die Auswirkungen des Briefes und die Anwesenheit des Fernsehteams, insbesondere bezüglich der Reaktion von v.a. jugendlichen ProvokateurInnen, und stellen nun genau das gegenteilige Resultat fest, eine stärkere Solidarisierung unter einem Großteil der BewohnerInnen.

Moi, il me semble, la lettre de monsieur Raoult aurait pu avoir des répercussions graves, type violence par exemple. Et en fait le résultat était inverse. Je crois que de là en est ressortie davantage de cohésion entre les habitants de la cité parce que nous avons été heurtés par cette intervention et que du coup ça nous a beaucoup liés les uns avec les autres. Ça nous a fait nous rencontrer beaucoup plus. Et finalement il y a quelque chose qui sest créée et se poursuivra par la suite. (Le meilleur de lâme)

Es folgen einige Statements Wünsche für die Zukunft betreffend, die die Taverniers mit Portraitbildern der Personen und einer melodramatischen Musik unterlegen, die aus dem Film L. 627 stammt und bis zum Ende des Abspanns weitertönt. Dem schließt sich ein Kommentar an, der noch einmal mit Bildern versehen wird, die von einem der Wohntürme aus einen Panoramablick über die Cité und Montreuil geben. Von unten gefilmt, werden noch einmal einzelne Orte der Cité und am Film mitwirkende Personen gezeigt, bei denen sich Tavernier verabschiedet, indem er sie noch einmal Revue passieren läßt und illustrierend ihre Namen aufzählt. All diese Bilder drücken in gesteigertem Pathos, das v.a. durch die Musik ausgelöst wird, noch einmal die Sympathie für die BewohnerInnen aus. Die direkte Adressierung der ZuschauerIn durch die Interviews wird durch die direkte Adressierung des Kommentars abgelöst, der gleichzeitig den Minister direkt anspricht und noch einmal die Mängel der Infrastruktur kritisiert. Tavernier spielt hier zudem auf die Passage des Briefs Raoults an, die in cinematographischer Diktion das Manifest der FilmemacherInnen kritisiert, und bezieht sie auf den nun beendigten Films. Verbindend wird so nicht nur über die vorausgehenden Bilder, sondern auch durch den Kommentar der Effekt des Präsentischen und einer argumentativen „Chronologie“ der Aufnahmen erzeugt:

Dernier jour de tournage aux Grands Pêchers. Je pense à une phrase de Henry David Thoreau, oui celui de la désobéissance civile, qui dit, je cite de mémoire, „On a su créer des palais, mais on a pas su créer une race dhommes digne de les habiter.“ Ici cest le contraire. On a construit des HLM, mais dont beaucoup dhabitants pourraient donner des leçons de noblesse et de générosité. Monsieur lex-ministre, je suis content que vous mayez envoyé aux Grands Pêchers, non seulement je nai changé ni davis ni de conviction, je ferai toujours les mêmes fautes de scénario et de casting. Mais jai découvert des gens quil valait la peine de les connaître. Je suis fier davoir courtoyé Siaka, Marie-Jo, Faride Aminé et Mahati Fofana. [...] (Le meilleur de lâme)

Am Ende dieser Reihe steht, wie zu Beginn des Films, Cédric, darauf verweist auch Taverniers Kommentar. Er, der erfolgreiche „Aussteiger“, dient auch hier wieder als positive Identifikationsfigur der Cité und als Gegenstück zu den durch den Brief Raoults bestätigten Banlieueklischees.

Der Film schließt mit Aufnahmen vom ersten Treffen Taverniers in Montreuil, die eine Jugendliche zeigen und in Bilder vom Stadion übergehen, dessen Lichter schließlich ausgehen. Über diese Bilder und den Kommentar wird abschließend also noch einmal der kollektive Charakter des Films betont, der gleichzeitig einen Widerspruch aufzeigt: Tavernier verabschiedet sich von den BewohnerInnen und läßt sie zurück. Er fährt nach Paris ab, um den Film zu produzieren, die Mitwirkenden bleiben mit ihren Problemen in der HLM-Peripherie. Trotzdem blendet er über den abschließenden Kommentar diese Realitäten aus und bezieht sich über das kollektive Wir als Betroffener mit ein: Et quant à toi Melanie, tu me demandais lors de la première réunion „Et quand le film sera terminé quest-ce quon fera?“ Le film est terminé quest-ce quon va faire? . (Le meilleur de lâme)

So wird sowohl über das im Abschlußblock verwendete Filmmaterial und seine Montage (die Aufnahmen vom ersten Treffen, die Äußerung von Marie-Jo Tirat zur Solidarisierung, die ein Pendant zu ihrer ersten Reaktion auf den Brief im Einführungsblock des ersten Teils ist), als auch durch dessen Kommentierung über die Tonspur (das Adressieren an Raoult und die Anspielung an Raoults Brief, der Einsatz der Musik etc.) ein Rahmen geschaffen. Seine Elemente knüpfen zum Teil an den Beginn des ersten Teils der Dokumentation argumentativ an, verweisen also auf die profilmische Realität, zum Teil aber auch auf die Entstehung des Films und übernehmen partiell gleichzeitig eine eher narrative als argumentative Funktion. Es zeigt sich also, dass auch die filzige Rahmenhandlung mehrfache Funktionen hat, der zwischen Medienkritik, selbstreflexiven Elementen und narrativem Effekt schwankt.

4.2.2 Reflexive mode

Funktion des Rahmens

Zweifelsohne gibt es Ansätze, die Produktions- und Entstehungsbedingungen sichtbar zu machen. Dazu zählen u.a. die selbstreferentiellen Elemente, die immer wieder auf den Standpunkt der FilmemacherInnen hinweisen. In der Rahmenhandlung sind dies v.a. das Reuters-Bildmaterial von der Pressekonferenz der CineastInnen, das statt mit Originalton mit einem Kommentar von Tavernier versehen wird, ebenso zählt das Verlesen des Brieftextes dazu. An zahlreichen Stellen wird zudem über Text sowie Stimme des Kommentars und Bilder von den Taverniers das kollektive Wir betont, also die Solidarisierung und Identifizierung der Taverniers mit der Cité aufgezeigt. Einzeln betrachtet wirken viele dieser Elemente auf den ersten Blick wie ein deutliches Kennzeichen des reflexive mode, da sie ja die Entstehung des Films vor Ort thematisieren, auf den politischen Kontext verweisen sowie die Positionierung der Filmemacher sowohl in Bezug auf die Politik als auch die dominante mediale Darstellung der Banlieue und die Perspektivierung des Films deutlich machen. Bei genauerer Betrachtung dieser gesamten Rahmenhandlung zeigt sich aber, dass sie weniger die Authentizitätswirkung der Berichterstattung bricht und hinterfragt, sondern in den Film einleitet und sich wie ein roter narrativer Faden durch beide Teile des Films zieht. Ergänzend zu den Interviews, die von Natur aus deskriptiv sind, also die alltägliche Lebenssituation der BewohnerInnen beschreiben, bildet die Selbstreflexion hier eine Metallene, die über Bilder der Filmemacher, Einblendungen und Autorenkommentare das Interviewmaterial zusammenhält und über die eingestandene subjektive Perspektive und Argumentation der Taverniers eine Art Erzählung erst konstituiert, die Chronologie der politischen Ereignisse rekonstruiert und eine Chronologie der in den Handlungsverlauf eingebundenen Interviews schafft. Aufgrund des starken Kohärenzeffektes der Rahmenhandlung steht insofern weniger die Relativierung der in den Interviews getätigten Aussagen oder eine Zurücknahme des Repräsentationsanspruchs des Films im Zentrum. Der politische Kontext und das Drehen des Films in Montreuil sind vielmehr Ausgangspunkt und Handlungsträger der Tavernierschen Geschichte und ihrer Schreibung.

Selbstreferentialität als kohärenzstiftender Faktor

Abgesehen von der Rahmenhandlung enthält die Dokumentation zahlreiche weitere selbstreferentielle Elemente. Auffallend ist hier z.B. die Einblendung der schon mehrfach erwähnten Briefzitate. Auch sie dienen der Thematisierung des politischen Kontextes, indem sie den ersten Teil des Films nach vier Themenbereichen strukturieren, die gleichzeitig die Mängel der Cité und die Stigmatisierung der Cité ansprechen. Die Zitate verweisen so auf das profilmische Ereignis der Auseinandersetzung zwischen Raoult und den CineastInnen und dessen Repräsentation im Einführungsblock und geben somit die Argumentationslinie vor und halten dem Einzelcharakter der Interviews und Personenportraits eine Filmlogik und -chronologie entgegen. Die Einblendung des Brieforiginals, die im Anschluß an die vom Brief „vorgeschlagenen“ drei Themenbereiche (Wohnung, Arbeit, Kindergarten/Schule), eine Zusammenfassung bietet, macht diesen Effekt deutlich. Während des Kommentars Résumons: classes fermées, logement social stoppé, pas dtravail. Dans le match cité contre ministre ça fait du 3 : 0. (Le cœur de la cité) fokussiert die Kamera eine Wand mit Graffitis. Gegen Ende des Textes schwenkt sie zum Brief, den Tavernier im Freien sitzend in seiner linken Hand hält. Die Kamera nähert sich über die linke Schulter immer mehr dem Brief bis er das ganze Bildformat einnimmt. Taverniers linke Hand auf der einen Seite und Teile seines Kopfes und der Brille auf der anderen Seite des Bildrandes sind sichtbar. Anschließend folgt ein Schnitt, das Bild wird schwarz und das Zitat Lintégration, ce nest pas du cinéma, das über mehrere Interviews die Erörterung des Themas Integration einleitet, wird eingeblendet.

Diese Verweise auf den eigenen Textcharakter durch die ständig rekapitulierten politischen Versäumnisse und die Entstehung des Films werden also neben dem Brief durch ein weiteres selbstreferentielles Element ergänzt, die Thematisierung des Filmemachens durch Einstellungen, die auch die Filmemacher oder Versatzstücke der Filmapparatur zeigen, wie z.B. Mikros. Diese Motive ziehen sich unregelmäßig aber konstant durch beide Teile des Films hindurch, bedeuten aber im Gegensatz zu Nichols Vorstellung der Selbstreferentialität keinen Verzicht auf den Repräsentationsanspruch. Die geschlossene Form läßt es vermuten, der Dokumentarfilm hat auch hier sehr wohl den Anspruch, die "reale" Situation in der Cité Les Grand Pêchers vor Ort nicht nur über Interviews aufzuzeigen, sondern sie mit der des Ministers zu konfrontieren. (Nichols 1988: 49-50) So greift der Film zwar die Thematik des Filmemachens auf, aber hier stehen v.a. das Aufzeigen allgemeiner Mechanismen der Fernsehberichterstattung und Medienkritik im Zentrum, die nicht den Repräsentationsanspruch der Taverniers auflösen oder den Konstruktaspekt in den Vordergrund stellen. Es wird lediglich der Standpunkt der Filmemacher klar gemacht. Ein Beispiel hierfür ist die schon angesprochene Szene mit Henri Olivier, der während der Dreharbeiten gestorben ist. An die „letzten“ Bilder von ihm wird ein Rundblick durch die Cité in der Abenddämmerung angeschlossen, der mit einem Kommentar unterlegt wird: Il est difficile de faire une minute de silence à la télé, on risque le zapping et puis une minute de silence ça serait trop triste [...] pour quelqu un comme lui. Je prefère lui offrir une minute de vie. (Le cœur de la cité) Dem Kommentar schließt sich eine fröhliche Musik an und mensch sieht spielende und Sport treibende Kinder auf der Straße, im Kindergarten und im Stadion. Die Bilder des kranken Henri Olivier dienen als Evidenz für seinen nahen Tod, der im Kommentar erwähnt wird, die Glaubwürdigkeit des Geschilderten beruht so auf der Verknüpfung von Evidenz und Argument. (Nichols 1988: 52) Die dem Tod gegenübergestellte minute de vie, die den lebendigen Aspekt der Cité-Jugend zeigt, dient dazu, zum nächsten Thema, der Gewalt, überzuleiten. Der Kommentar spricht so zwar abstrakt die Mängel und Mechanismen des Fernsehens an (Aktionismus statt Reflexion, Quotensoll), aber er stellt keine Zäsur dar. Wie an den Übergängen hier sichtbar wird, sind die selbstreferentiellen Elemente auch hier nicht in diesem Sinn Brüche, sondern sie verweisen auf den kollektiven Aspekt des Projektes, die Vertrautheit zwischen den InterviewpartnerInnen. Diesen immer wieder hervorgehobenen Punkt der Solidarisierung, der gleichzeitig auf der Ebene der filmischen Repräsentation einen Authentizitätsanspruch nach sich zieht, spricht auch Nicolas Petitjean, der Verantwortliche der Dokumentarfilmreihe Lignes de vie von France 2, an:

[...] je prenais conscience que quelque chose de profondément authentique se révélait. De lécran surgissaient une parole juste, une réelle émotion, une vraie complicité entre les témoins et les auteurs... De vrais moments de grâce. [...] „Lignes de vie“ cherche sa matière dans la vie et son moteur dans la curiosité et le désir de donner à comprendre; celle qui pose son regard sur la réalité, la capte et la transpose. (Dossier de presse 1997: 4)

Nur an ganz wenigen Stellen werden so die konkreten und organisatorisch-technischen Bedingungen des eigenen Filmens, der Ausübung ihrer Profession sachlich angesprochen: Tavernier kommentiert beiläufig im Themenblock über das Verhältnis von Polizei und Cité das Konfiszieren einer Videokassette, die er am nächsten Tag zurückerhält. Sie enthält Aufnahmen von Sicherheitskontrollen und der Räumung einer Wohnung durch die Polizei. Zu diesem Kommentar wird das entsprechende Filmmaterial eingeblendet. Tavernier betont hier, im Gegensatz zum Schulbereich, habe ihm die Polizei trotz seiner Ablehnung der Debré-Gesetze ansonsten (auch auf dem Polizeirevier) völlig frei filmen lassen.

Ein anderes Beispiel: Nils wird von Jugendlichen gerufen, um bei Nacht einen Polizeieinsatz zu dokumentieren, bei dem gerade jemand verhaftet wird. In der an die Szene anschließenden Diskussion wird die Präsenz des Filmteams zum Thema: Sérieux Bouba, le jour où Nils sera parti, il y a un achat comme ça, ils arrêtent tous.“ (Le cœur de la cité)

Diese selbstreferentiellen Elemente dienen nicht in erster Linie der Verknüpfung von Einstellungen und Themen, also dem Vorantreiben der Handlung und dem Erzeugen eines narrativen Effektes, sie dienen viel mehr der Unterstützung der Argumentationslinie des Dokumentarfilms über Evidenz. Beide Beispiele kommentieren so die Rolle der Polizei in der Cité, üben Kritik an der Praxis der Polizeieinsätze, ohne sie völlig zu stigmatisieren. Die Selbstreferentialität betont die zum Teil wohl verunsichernde und einschüchternde Wirkung des Mediums, der Präsenz der Kamera auf die Polizei, verteidigt also die Situation der Jugendlichen. Diese Beispiele thematisieren zwar das Filmemachen, stellen aber den Repräsentationscharakter des filmischen Schauplatzes und des Standpunktes der Filmemacher, sowie ihr Recht auf Repräsentation der Belange der Jugendlichen nicht in Frage. So bleibt der Anspruch des Films, nicht nur ein Dokument für das historisch reale Aufnehmen einer Situation, sondern auch für historische Realität zu sein, selbst hier konstant. (Beyerle 1997: 55-59; Nichols 1993: 176)

Die Selbstreferentialität ist also als zwiespältig zu betrachten. Einerseits thematisiert sie zweifelsohne die Entstehung des Films und verweist in diesem Kontext nicht nur auf den Standpunkt der Filmemacher und die politische Perspektivierung des Films, sondern vereinzelt auch auf die Produktionsbedingungen. Andererseits werden diese Elemente im Vergleich zur Rahmenhandlung und Entstehungsgeschichte nur minimal thematisiert und in die Argumentationslinie eingebunden, so dass nicht ihr selbstkritisches Potential, sondern der Kohärenzeffekt im Vordergrund steht. Die starke Selektion des in drei Monaten gefilmten Materials und eine einschlägige Montage verleihen der Rahmenhandlung zusätzlich ihre dominante Stellung. Die so verursachte Vereinheitlichung der Perspektive und des Interviewmaterials tritt als immanente Filmchronologie auf, die Tatsache der Wahl von qualitativen Interviews, die aufgrund der so reduzierten Anzahl von InterviewpartnerInnen den narrativen Effekt unterstreichen, wird nicht thematisiert, ebenso wenig werden die ihr und der Selektion des Materials bei der Montage zugrundeliegenden Kriterien erörtert. Es bleibt unklar, ob die Taverniers bei den verwendeten Interviews eine subjektive und ideologische Wahl vorgenommen haben oder sie den Anspruch auf Repräsentativität stellen sollen, ob der Großteil der BewohnerInnen die Situation wie im Film dargestellt sieht, ob Interviews mit z.B. entschieden rassistischen oder gewalttätigen Positionen tendenziell selektiert wurden oder solche Leute mehrheitlich Interviews verweigert haben. Letztendlich stützt sich der Modus zudem allein auf die Glaubwürdigkeit der mündliche ZeugInnenschaft, die einfach vorausgesetzt wird. Das Hauptproblem stellt sich so auf einer ästhetischen Ebene im Kontext des Umgangs der Stimmen der Interviewten in Bezug auf die Stimme des Textes, also den Gesamteindruck der Cité, den die Taverniers über die Montage herstellen. Der Film greift also auf Ansprüche des expository mode wie die Dominanz der Tonspur und das Argument als leitendes Prinzip zurück und konstruiert über die Aneignung der Interviews durch die Montage eine Logik und Chronologie der Argumentation, die als Evidenz der äußeren Realität gilt.(vgl. S.17-18) So werden z.T. die traditionellen Ansprüche, die über die Interviewtechnik vermieden werden sollten, implizit wieder erfüllt. Denn der Film stellt sehr wohl den Anspruch, die Realität vor Ort authentisch (-er als der Brief des Ministers) wiederzugeben und eine repräsentative Selektion des während drei Monaten gefilmten Material darzustellen.

Zu diesen Fragen bekommt mensch im Dokumentarfilm keine Antwort, es liegt lediglich eine Äußerung von Nils Tavernier im Pressedossier vor, die den Verdacht einer tendenziell positiven Berichterstattung allein aufgrund eines ideologisch begrenzten Spektrums von Leuten, das dem Filmen zugestimmt hat, zu bestätigen scheint:

Tourner dans un appartement avec un rendez-vous, facile. Difficile par contre dêtre accepté,

caméra à lépaule dans la cité par les mômes. „Si tu tournes ici, on te casse la gueule...“.

Javais beau leur expliquer quon ne filmerait pas ceux qui nen avaient pas envie, quon

ne les filmerait pas pour démontrer que ce sont des sauvages... Et cétait là le problème.

(Dossier de presse 1997: 9)

Statt den Prozess des Filmens während der Monate zu zeigen, wird über die Montage eine Chronologie des Filmverlaufs und so auch der Interviews konstruiert und in den Rahmen von der Exposition Cédrics, von den Archivaufnahmen der Pressekonferenz bis zur abschließenden Frage Le film est terminé, quest-ce quon va faire? integriert. Die soziale und formale Konstruiertheit des Wissens und des Selbst der Filmemacher wird also nur bedingt in den Filmtext integriert. Denn die eigentlichen Produktionsprozesse werden nicht gezeigt bzw. über die Filmchronologie verzerrt. Kurz: Die Bedeutungskonstruktion bleibt im Verhältnis zur konstruierten Bedeutung nur schwach sichtbar. (Nichols 1988: 60-61)

Ein Beispiel dafür ist, dass die Reflexionen zur Produktion des Dokumentarfilms im Pressedossier zur Sendung im Film selbst gänzlich fehlen. Die Dokumentation gibt z.B. den Eindruck wieder, dass die Taverniers dort alleine zu zweit gedreht und den Film organisiert haben, Bertrand Tavernier derjenige war, der den Film letztlich alleine organisiert und verwirklicht hat. Der MitarbeiterInnenstab wird nur über den Abspann klar, die Rollenverteilung verschwiegen. Nils Taverniers Bemerkungen im Dossier lassen das erahnen:

Une semaine denquête avec Rosanne, des coups de téléphone pour connaître et rencontrer les personnages de la cité, cest pas difficile. Rosanne est extrêmement organisée et mon père bénéficie dun capital sympathie dans la cité. Les adultes voulaient ce film. (Dossier de presse 1997: 9)

Diese „Versatzstücke“ legen die Mechanismen des Filmens und Dokumentierens also nur insoweit offen, als sie den Verdacht eines Objektivitätsanspruchs, einer pseudo-objektiven Fokussierung der Banlieue betreffen. Der so immer wieder hervorscheinende Produktionsprozess relativiert aber nicht den Repräsentationsanspruch des Dokumentarfilms, sondern macht neben der politischen Vorgeschichte und der Entstehungsgeschichte vor Ort eine soziale Funktion des Films deutlich, die drei Monate lange Zusammenarbeit der BewohnerInnen mit den Cineasten, und seine Bedeutung und (befürchteten) Folgen für die Cité. So entsteht eine Ambivalenz zwischen sozialer Subjektivität der Interviewportraits und kollektivem Bewußtsein, das über den Rahmen konstruiert wird. In diesem Sinn kann insgesamt eine klare Dominanz des interactive mode festgestellt werden, der aber mit Elementen des reflexive mode vermischt wird. Der Zwiespalt zwischen Interviewblöcken und Rahmenhandlung, Selbstreferentialität und deren kollektiver Wirkung, der Konstruktion der Narration durch den Rahmen und seine Selbstreferentialität durch die Thematisierung der Entstehung des Films zeigt aber auch eine einseitige Betrachtung des reflexive Modus durch Nichols auf. (Nichols 1988: 60-61; Nichols 1994: 95, 105)

Denn seine Privilegierung des reflective mode geht, obwohl er das nicht thematisiert, von einer widersprüchlichen Repräsentation der Produktionsbedingungen eines Films aus, als ob selbstreferentielle Elemente im Produkt Film per se stilistische und narrative Brüche darstellten. Er bedenkt aber nicht, dass sie genauso der Selektion und der Montage unterliegen wie alle anderen Elemente bzw. inszeniert werden können. Letztendlich können also diese Elemente genauso als Stilmittel eines Films für ästhetische Zwecke oder zur Selbststilisierung der FilmemacherInnen eingesetzt werden, also den „wahren“ Produktionsprozeß verschleiern. Gerade die Bildbrechungen bei den Taverniers sind in diesem Sinn eine Komponente der Kontinuität, nicht des Bruches, d.h. sie erinnern einerseits die Entstehung und den politischen Kontext und stellen gleichzeitig die Solidarisierung dar. Neben dem Ziel der politischen Kontextualisierung hat die Selbstreferenz bei Tavernier so die Rolle eines Stilmittels, das im Film einerseits die subjektive Perspektivierung der Autoren bekennt, aber ebenso den Effekt der „Chronologie der Ereignisse“ konstituiert. Sprich: Die Verwendung von selbstreferentiellem Material sagt noch nichts über ihren Effekt aus.

So trifft auf die Praxis eines breiteren Dokumentarfilmemachens wohl die Feststellung Beyerles zu: Viele Dokumentationen verwenden reflexive und realistische Strategien in einem, es ist so vielmehr die Ambivalenz zwischen Abbild und Konstrukt, die das Genre auszeichnet. (Beyerle 1997: 45, 49)

Die im gefilmten Material anwesende Chronologie wird in einem Akt des Diskurses von der Bearbeitung der Dauer begleitet: Man muß schneiden, weglassen, verbinden, mit anderen Worten, Vollständigkeit vermeiden. Wenn man sich der Logik der Zeit anschließt, kann man die Logik der Vollständigkeit von Ereignissen nicht berücksichtigen, oder noch besser sollte man sagen, weil es keine Logik der Ereignisse gibt. Das Empirische ist per definitionem nicht eindeutig. Deshalb ist die Chronologie einerseits schon eine Erzählung an sich, andererseits ist sie nicht zwangsläufig eine Fiktion, denn sie organisiert die Beziehungen zwischen Individuen und Objekten nicht in einer bestimmten und autonomen Weise. Also ist der Gegenstand der Fernsehnachrichten eine Erzählung wie manche Sender in ihrem Abspann verdeutlichen, aber sie ist nicht zwangsläufig fiktiv. Sie besitzt die Subjektivität, die dem Diskurs innewohnt, aber nicht die Erfindung der Fiktion [...]. Die Fiktion wird nur dann wirklich Teil des Dokumentarischen, wenn letzteres versucht, eine kohärente und logische Welt zu bilden: d.h. wenn alle Ereignisse zum Aufbau einer einzigen Bedeutung beitragen [...]( Jost 1986: 224-225)

Vergleichende Literaturwissenschaft, Komparatistik, die Nationalphilologien und ihre Literaturgeschichten sind - ihrem traditionellem Selbstvertständnis gemäß - symbolische Orte der Inszenierung dieser rhetorischen Trennung von Kulturen. Kulturelle und literarische Entwicklungen machen nun - den Konzepten der Nationalliteratur zuliebe - vor Ländergrenzen nicht halt; die koloniale Expansion Europas hat die Welt nicht allein politisch verändert, und die Literaturgeschichte beginnt nur zögerlich und mit bemerkenswerter Verspätung, diese Veränderungen auch in ihrem Diskurs zu reflektieren. (Arend 1998: 142)

Die maghrebinischen Literaturen tragen die Pluralität des Maghreb in sich, sie artikulieren diese - allen Homogenisierungstendenzen zum Trotz -; insofern sind sie in exemplarischer Weise Gegenstände einer neubestimmten „interkulturellen“ Vergleichenden Literaturwissenschaft. (Arend 1998: 141)

  1. TAHAR BEN JELLOUNS ERZÄHLUNG LES RAISINS DE LA GALÈRE IM LICHTE VON DE LAUTRE CÔTÉ DU PÉRIPH

5.1 Vorbemerkung: Die Banlieue zwischen zwei Medien und zwei Genres

5.1.1 Dokumentarfilm v/s literarischer Text

Vergleiche zwischen Filmen und ihren literarischen Vorlagen gehören zum vertrauten komparatistischen Repertoire. Ein Vergleich zwischen einem Dokumentarfilm und einem literarischen Text mutet hingegen seltsam an. Hier stellt sich viel dringlicher die Frage, was die Grundlagen und der Sinn eines solchen Vergleichs sein können.

Sowohl der Dokumentarfilm De lautre côté du périph (1997) von Bertrand und Nils Tavernier als auch Tahar Ben Jellouns Roman oder Erzählung (er selbst verwendet beide Termini) Les raisins de la galère (1996) beschreiben einen Vorort der Pariser Banlieue Rouge und eine dort angesiedlte HLM-Siedlung sowie die dort anzutreffenden sozialen Schwierigkeiten in den 90er Jahren. Aber trotz des gemeinsamen thematischen Rahmens drängt sich die Frage auf, ob zwei so unterschiedliche Medien ohne weiteres vergleichbar sind. Vor einem inhaltlichen Vergleich (Thematisierung der Banlieue), der sich bei den beiden Texten fast von alleine aufdrängt, ist so eine Auseinandersetzung mit der Form und Ästhetik (Film versus Buch, Dokumentation versus Literatur) nötig, um die generelle Vergleichbarkeit abzuklären.

5.1.2 Authentische Dokumentation, dokumentarische Ästhetik

Bei der Berücksichtigung des der Filmanalyse vorangestellten theoretischen Repertoires der neueren (amerikanischen) Dokumentarfilmtheorie läßt sich ein derartiger Vergleich auf der formalen Ebene zwischen einem „dokumentarischen“ und „fiktiven“ Text argumentieren. Denn Bill Nichols und die anderen zitierten TheoretikerInnen sehen auch den Dokumentarfilm als Konstrukt, nicht als „Fenster zur Welt“. So wird auch der Repräsentationsanspruch der Textsorte Dokumentarfilm in Zweifel gezogen. Für den Film der Taverniers bedeutet dies, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass die nach der Montage übriggebliebenen Interviewausschnitte und -partnerInnen in Bezug auf das aufgenommene Material oder gar die Situation vor Ort „repräsentativ“ sind. Zudem machen der politische Kontext und die Entstehungsgeschichte der Dokumentation die Motivation des Filmes klar. Anders ausgedrückt, die Intention der politischen Stellungnahme der Filmemacher und der mit den BewohnerInnen gemeinsam gehegte Wunsch, die vorwiegend negative und sensationsorientierte Berichterstattung über "die“ Banlieue durch ein positives, wenn auch um Differenzierung bemühtes Bild zu ergänzen, impliziert auch eine gewisse „Inszenierung“ der HLM-Siedlung Les Grands Pêchers. (vgl. Kapitel 1., 2. und 3.)

Es soll hier aber nicht im Zuge dieses dekonstruktivistischen Ansatzes eine komplette Auflösung (der Unterschiede) der Medienspezifika und eine Negierung der verschiedenen Gattungen gepredigt werden. Als fundamentaler Unterschied bleibt, dass der Dokumentarfilm per se - und sei er noch so selbstreflexiv - den Anspruch auf Darstellung (wenn schon nicht auf Authentizität) der Siedlung Les Grands Pêchers erhebt und (medien-) politisch motiviert ist, wie die in den Film integrierte Entstehungsgeschichte deutlich macht.

Der literarische Text Ben Jellouns hingegen ist keine realistische Dokumentation und nicht durch ein nachvollziehbar konkretes Ereignis motiviert. Selbst bei Literaturtexten mit einer stark realistischen und dokumentarischen Ästhetik stellt sich also die Problematik der Dokumentation aufgrund des qua Genre nicht vorhandenen Anspruchs auf Authentizität nicht. Hier dient Feldforschungsmaterial o.ä. allenfalls als Ausgangsbasis, die verarbeitet wird oder auch lediglich zu einem Thema inspiriert. Denn an der Stelle des dokumentarischen Anspruchs der authentischen Repräsentation von gesellschaftlicher „Wirklichkeit“ steht hier die Erzeugung von realistischen Effekten im Dienste der Glaubwürdigkeit einer fiktiven Erzählung. An der Stelle der (authentischen) Repräsentation von realen Ereignissen steht die Glaubwürdigkeit der fiktiven Charaktere im Text, d.h. im Kontext der erzählten Geschichte. Denn trotz der realistischen Wirkung und der Verarbeitung soziologischer Quellen erzählt der Text eine Geschichte, bleibt fiktiv, was schon über den Untertitel roman angedeutet wird, und fokussiert auch eine fiktive Banlieue von Paris namens Resteville aus der Perspektive der Beurette-Figur Nadia, die gleichzeitig die Protagonistin und Ich-Erzählerin des Textes ist. Und trotz autobiographischer Einflüsse ist, im Gegensatz zum Film, eine formal klare Trennung zwischen Autor und ErzählerInnenfigur gegeben. Diese Figurenperspektive Nadias wird den ganzen Text, bis auf die letzten eineinhalb Seiten, durchgehalten. Dies ist wohl nicht nur eine ästhetische Wahl des Autors, der somit dem Text einen testimonialen Charakter verleiht, die Beurette Nadia legt also Zeugnis über ihre Jugend in der Banlieue ab, sondern dies ist auch ein Medien- und Genrespezifikum. Eine einheitliche ErzählerInnenfigur ist ein klassisches Charakteristikum traditioneller literarischer Texte und dient der Identifikation der LeserInnen mit der Protagonistin und so dem Spannungsaufbau. Auf der Ebene der Autorenschaft stellt dies bei diesem Genre weder technisch noch inhaltlich ein Problem dar. Anders verhält es sich beim Dokumentarfilm. Hier ist eine durchgängige, einheitliche Perspektive schwer durchhaltbar. Das Medium und das Genre leben von der Berücksichtigung der Repräsentation der Erinnerung und Blickweise verschiedener Personen, die zu einem Thema befragt werden. Selbst bei sehr traditionellen Formen, die eine Art allwissende ErzählerIn, z.B. in der Form einer auf Ton- und Bildebene stark intervenierenden ReporterIn, einsetzen, ergeben sich über die aufgenommenen Personen andere Blickweisen, die die Perspektive der KommentatorIn brechen. Ansatzweise eindimensionale Ausnahmen sind lediglich traditionalistische Produktionen im Stile des observational und expository modes (vgl. Kapitel 1.2.2) wie Tierfilme und ethnographische Dokumentationen, die auf Interviews verzichten und so nur aus der beobachtenden Perspektive der FilmemacherIn berichten, die zudem den Film strukturiert, oder Interviewdokumentationen von Prominenten. Denn v.a. seit dem Einfluß der oral history auf das Filmschaffen, ist die Inerviewtechnik das den Dokumentarfilm bestimmende Element. Sie wird zwar wie im Theoriekapitel ausführlich dargelegt, in Form des reflective oder performative mode (vgl. 1.2.2) zunehmend durchbrochen, aber mit dem Ziel der Verfremdung und des Bewußtmachens des Konstruktionscharakters, also der Multiplikation der Perspektiven.

Im Dokumentarfilm kommt zudem die Bildebene hinzu, die traditionell die Aufgabe hat, die Authentizität der Tonspur zu belegen. So ergibt sich zusätzlich die Tendenz, Informationen durch die bildliche Referenz zu belegen, was oft heißt, Bilder von ZeugInnen mit unterlegtem Synchronton zu zeigen. So ergibt sich von selbst eine andere textliche Dramaturgie. Hinzu kommt, dass das Fernsehen kein interaktives Medium ist und eine reine Konsumation am Stück vorsieht, also traditionell ein Film im Gegensatz zum Buch nicht unterbrochen werden kann. Diese Rezeptionsrealität ist also wesentlich weniger selbstbestimmt und stärker mit Konzentrationsproblemen konfrontiert, d.h. es benötigt Strategien diesen abzuhelfen. Abwechslung auf der Bild- und Tonebene, Perspektivenwechsel sind nötig, um Spannung zu erzeugen und zu überraschen. Dies impliziert viele Schnitte, spannungsreiche Einstellungs- und Tonwechsel, oppositionelle Strukturen. Eine durchgehende Figurenperspektive verbietet sich so fast von selbst.

5.2. Die Perspektive der „Texte“

5.2.1 Autorenschaft: Innen- v/s Außenperspektive?

5.2.1.1 Parallelen und Differenzen

Die Beschreibung der Banlieue, dem Handlungsort beider Texte, und der mir ihr verbunden gesellschaftlichen Fragen und Topoi wie der sozialen Situation in den HLM, der verfehlten Integrationspolitik, der Remigration, dem Rassismus und der medialen Berichterstattung wirft zwar Probleme auf, die zum klassischen Repertoire der Banlieue gehören, die also bei den Taverniers wie bei Ben Jelloun thematisiert werden, dies geschieht jedoch in einer unterschiedlichen Gewichtung und v.a. aus unterschiedlichen Perspektiven.

Bei Ben Jelloun ist es die (fiktive) Intertextualität, die dem Buch dokumentarische Züge verleiht, während die Entsprechung im Film, die Selbstreferentialität, den Konstruktcharakter der Dokumentation betont und die Kohärenz des Werkes unterstreicht. Das ist eindeutig auf ein Medienspezifikum zurückzuführen. Der Film erzählt keine geschlossene, durchgehende Geschichte, sondern baut auf einer politischen Situation, dem Protest gegen eine Gesetzesinitiative, auf. Er beklagt über biographische Interviewgeschichten die sozial- und wohnungspolitischen Defizite, stellt die HLM-Siedlung Les Grands Pêchers aber aufgrund der Verschiedenheit der BewohnerInnen und ihrer Solidarität als sympathischen, aber geschlossenen Kosmos dar.

Doch trotz der unterschiedlichen Perspektivierung und der Medienspezifika zeigen sich auf der formal-ästhetischen Ebene Gemeinsamkeiten zwischen dem Film De lautre côté du périph und dem Buch Les raisins de la galère. Beide haben eine (fiktiv) testimoniale Ästhetik und einen fragmentarischen oder montagehaften Textcharakter. Zwar stehen der stringenten Figurenperspektive bei Ben Jelloun lediglich die immer wieder eingreifende Erzähl- und Interviewstimme Bertrand Taverniers und gewisse selbstreferentielle Elemente auf der Bildebene (Einblendungen von Tavernier, Mikrophone etc.) gegenüber, aber diese übernehmen zusammen mit der immer wieder thematisierten Entstehungsgeschichte des Films ebenso eine Art Rahmenerzählung, die wesentlich zur textuellen Kohärenz beiträgt und die Interviewfragmente zusammenhält.

5.2.1.2 Bertrand und Nils Tavernier

Bei den Taverniers stehen der geschlossene Raum der HLM-Siedlung Les Grands Pêchers und die sozialen Probleme, die sich hier im Zusammenleben ergeben, im Vordergrund. Die Migrationsfrage ist zwar in Form der Verschärfung der Aufenthaltsgesetzgebung der Anlaß des Protestes der CineastInnen, der der Dokumentation vorausgeht, die konkrete Initiierung des Films geschieht aber durch die Stigmatisierung der Banlieuesiedlung durch den Brief des Ministers Raoult. So thematisiert der Film die politischen Marginalisierung der zentralen Defizite dieser Banlieuesiedlung (Wohnungsbau-, Bildungs- und Integrationspolitik) sowie die stigmatisierende Repräsentation der Banlieue im Fernsehen. Die Taverniers versuchen unter starker Einbeziehung der BewohnerInnen, die Situation vor Ort möglichst differenziert aufzuzeigen, verfolgen aber gleichzeitig das Ziel einer Gegenberichterstattung. Sie soll das mediale Klischee der Banlieue als einer Ansammlung von radaumachenden Jugendlichen dominierten ImmigrantInnensiedlungen korrigieren und die Normalität zeigen. Folglich stehen nicht die génération beur und ihre spezifischen Probleme im Vordergrund, sondern exemplarische Biographien von MigrantInnen und FranzösInnen jeglicher Herkunft, welche allerdings weder näher problematisiert wird noch für die Argumentation des Films eine größere Rolle spielt.

Diese Fokussierung der sozialen Probleme einer französischen Banlieue, die auch als wunschartiges Herbeireden von gesellschaftlicher égalité zwischen allen BewohnerInnen betrachtet werden kann, wird durch die Autorenschaft der Taverniers, also zweier nicht Betroffener, unterstrichen. Es kann hier von einer doppelten Außenperspektive gesprochen werden: Die Taverniers nehmen als français de souche, also von ihrer Herkunft her, als auch aufgrund ihres Status als privilegierte und berühmte Cineasten eine Außenperspektive ein. Auch die Solidarisierung mit den BewohnerInnen und das Schaffen eines kollektiven Wir im Film kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sie von Außen kommen, sich drei Monate zur Arbeit an ihrem Projekt in Montreuil niederlassen und den Ort schließlich wieder verlassen und in ihren „mondänen“ Pariser Cineastenalltag zurückkehren.

5.2.1.3 Tahar Ben Jelloun

Überblick

Bei Ben Jelloun verhält es sich anders: Der Autor ist selbst Migrant und lebt zwischen zwei Kulturen, sogar wörtlich genommen. Ben Jelloun residiert die eine Hälfte des Jahres im marokkanischen Tanger, die andere in Paris. Er ist zwar weder wie seine Protagonistin und Ich-Erzählerin Nadia ein EinwandererInnenkind noch als Intellektueller wie deren Vater ein typischer Arbeitsimmigrant, aber er hat sehr wohl selbst die Erfahrung des Exils durchlebt. (Röhrig 1999: 163) 1971 ist der aus Fes gebürtige Ben Jelloun im Alter von 33 Jahren nach Paris gegangen. Heute ist er einer der erfolgreichsten marokkanischen MigrantInnen und der auflagenstärkste Autor des frankophonen Maghreb. Als Mitglied des Haut Conseil de la Francophonie nimmt er an der französischen Sprach- und Kulturpolitik teil und auch sein Wechsel zum renommierten Verlag Seuil Ende der 70er Jahre und der Erhalt des Prix Goncourt sind Zeichen der Integration in den französischen Literaturbetrieb. Sozial also ebenso privilegiert wie die Taverniers, hat er aber aufgrund seiner Herkunft zweifelsohne eine Innenperspektive auf die Situation von MigrantInnen. (Spiller 1998: 1, 7) Diese durch die eigene Emigration, aber auch durch seine Ausbildung geprägte Außenperspektive auf die französische Gesellschaft zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk:

Freilich stellt sich die Überwindung des Eurozentrismus von Marokko aus anders dar als von Frankreich aus. Ben Jellouns Interesse an den Problemen des Kulturkontakts in Frankreich schlug sich nicht nur theoretisch nieder, sondern vor allem auch praktisch. Seit seiner Ankunft in Paris bewegten ihn die Lebensumstände der maghrebinischen Arbeitsmigranten, für die er sich im Rahmen seiner sozialpsychiatrischen Tätigkeit, politisch und eben auch literarisch einsetzte. (Spiller 1999: 148-149)

Dies hat zur Folge, dass Ben Jelloun nicht nur aus der Perspektive von ImmigrantInnen auf die französische Gesellschaft blickt, was sich an der Wahl der ProtagonistInnen und der Erzählperspektive vieler Texte ablesen läßt, sondern dass sich auch seine autobiographischen Erfahrungen fast dokumentarisch ihren Niederschlag finden. So ist sein Werk durch einen starken Realismus gekennzeichnet, der die soziale Herkunft und Lage seiner Charaktere sprachlich wie inhaltlich umsetzt.

Sprache und Sprachwahl

Eine wichtige Rolle bezüglich dieser Fremdheitserfahrung und der Perspektive seiner Texte spielen die Sprache und die Sprachwahl. Denn er schreibt nicht in seiner Muttersprache, dem Arabischen, sondern auf Französisch. (Röhrig 1999: 159)

Seine Texte sind so durch eine sprachliche und kulturelle Spannung, ständige kulturelle Übersetzungsprozesse gekennzeichnet. Die Komparatistin Samia Mehrez spricht in diesem Kontext von a language in between (Mehrez 1992: 120). Dies bedeutet, daß maghrebinische AutorInnen grundsätzlich mit einer Sprachhierarchie, einer (erzwungenen) Mehrsprachigkeit und ständigen sprachlichen und kulturell-institutionellen Übersetzungsprozessen konfrontiert sind: Das Französische, das im Lycée gelehrt wird, erfordert eine westliche Akkulturation, das klassische Arabisch ist die Hochsprache der Koranschulen und die marokkanische Varietät ist die Sprache des Alltags. Diese Vielfalt zeigt sich auch bei Ben Jelloun: Mit der arabischen Herkunft verbindet er die Populärkultur und auch aufgrund des Analphabetismus seiner Mutter die mündliche Erzähltradition. Gleichzeitig ist ihm aufgrund seiner Wohnsituation auch die aktuelle arabische Kultur präsent. (Spiller 1998: 3) Die Entscheidung für das Französische als seine Literatursprache war für ihn sehr früh klar. Gründe dafür sind das Aufoktroyieren der Sprache durch die Schule, die Größe des so erreichbaren Publikums und der stark reglementierte klassisch-hocharabische Charakter des Arabischen, dem die größeren Ausdrucksmöglichkeiten im Französischen und seine persönliche Verwurzelung im arabischen Dialekt, der nicht als literaturtauglich gilt, entgegenstehen. (Spiller 1998: 2)

Auch Mehrez führt an, dass es paradoxerweise nun wieder die ehemaligen Kolonialsprachen sind (Mehrez 1992: 120-122), die -auch aus wirtschaftlichen Gründen- es den AutorInnen ermöglichen, ihren persönlichen Entkolonialisierungsprozess zu verschriftlichen. Einerseits war es natürlich die französische Kolonialherrschaft, die ihnen eine fremde Sprache und Kultur auferlegt, und damit ihre eigene indigene marginalisiert hat, andererseits ist es im postkolonialen Kontext das kreative Benützen genau dieser Sprache für die Literatur, das es erlaubt, die westlichen (auch die indigenen) literarischen Modelle und Standards zu brechen und sie der eigenen hybriden Identität anzupassen.

Biographie und Werk

Ben Jelloun hat in den 60er Jahren in Rabat Philosophie studiert und von 1968 bis 1971 in Tetouan und Casablanca gelehrt. Nach seiner Emigration in den 70er Jahren nach Paris hat er Sozialpsychiatrie an der Pariser Ecole des Hautes Etudes studiert. Seine Abschlußarbeit, die später unter dem Titel La plus haute des solitudes (1977) publiziert wurde, beschäftigt sich mit der Situation maghrebinischer ImmigrantInnen in Frankreich. Basis dafür waren Beratungsgespräche mit ImmigrantInnen, die er im Rahmen seiner Ausbildung drei Jahre lang durchgeführt hat. Für Le Monde und andere internationale Zeitungen hat er regelmäßig über den Maghreb geschrieben, der Band Hospitalité française (1984) behandelt diesen Themenkomplex unter besonderer Berücksichtigung des Rassismus in Frankreich. Aber auch die Texte, die sein Renommee ausmachen, seine literarischen Werke, beschäftigen sich vornehmlich mit der Situation von EinwandererInnen, wie z.B. La réclusion solitaire (1973), sein erster längerer literarischer Text, ein Roman, der die Geschichte eines in Frankreich entwurzelten und vereinsamten Einwanderers erzählt. Spiller zufolge basiert diese Geschichte wesentlich auf den Analysen seiner Dissertation, ihm zufolge bilden beide Werke eine Einheit. (Spiller 1999: 151) In zahlreichen Paratexten macht Ben Jelloun auf die literarische Qualität des Textes aufmerksam, verweist aber auch auf seine Abschlußarbeit und seine subjektive maghrebinische Perspektive auf die Immigrationsthematik. So stehen der literarische Textcharakter und eine stark dokumentarische Ästhetik gleichberechtigt nebeneinander:

Dem Titel ist zu entnehmen, daß die Methode nicht rein psychologisch oder soziologisch ist. Die literarische Qualität wird in Widmung, Danksagung, „Présentation, „Remarque“ und „Introduction“ bestätigt, die den subjektiven Zugang zur Erkenntnis unterstreicht. (Spiller 1999: 153)

Spiller fasst die Ähnlichkeiten (Themen, Perspektive, Auflösung des Autorensubjekts in Stimmen anderer ) und Unterschiede (frontalere Thematisierung der „neokolonialen Formen der Ausbeutung“ in der Studie) der beiden Werke zusammen und verweist so auf die bei Ben Jelloun oft unscharfe Grenzziehung zwischen literarischen und wissenschaftlich-essayistischen Texten. (Spiller 1999: 154) Die ist für die Analyse von Les raisins de la galère besonders interessant, weil dieses Konstruktionsprinzip auf diesen Text ebenso zutrifft.

Aber auch seine modernen, weniger realistischen Romane, die nicht im Kontext von wissenschaftlichen Untersuchungen stehen, wie Les yeux baissés (1991) und La nuit de lerreur (1997) behandeln die Thematik der Arbeitsimmigration und des sich anschließenden Integrationsprozesses. Die Konflikte zwischen der maghrebinischen und französischen Kultur werden hier über Perspektivenwechsel und andere Narrationsverfahren anstatt über dokumentarische Verweise umgesetzt. Die resignative Erkenntnis, dass es kein Zurück mehr in die Heimatkultur gibt, steht im Zentrum der durch Rassismus in Frankreich und Traditionalismus im Maghreb geprägten Existenz. (Spiller 1998: 1, 6-7, 12; Spiller 1999: 149-161) Nach seinen besonders breit rezipierten Romanen (Lenfant de sable (1985), La nuit sacrée (1987), Jour de silence à Tanger (1990)), die alle in Marokko angesiedelt und so wesentlich von arabischen Kulturen bestimmt sind, nimmt er mit Les yeux baissées (1991) zum ersten mal eine Doppelperspektive ein und fokussiert über die Protagonistin, die Tochter eines marokkanischen Gastarbeiters, der seine Familie nach Frankreich nachgeholt hat, von Marokko und Paris aus die Charaktere. Die Ambivalenz der Identität spielt hier eine zentrale Rolle. Dies zeigt sich an der Protagonistin, die zwar den liberalen gesellschaftlichen Werten Frankreichs gegenüber dem Fundamentalismus als Frau einiges abgewinnen kann, sie lernt aber ebenso den Rassismus kennen. Letztendlich wird sie in beiden Kulturen zur Fremden und muß feststellen, dass es kein Zurück vom Leben zwischen den Kulturen gibt. (Spiller 1999: 156-157) Diese Frage der Perspektive und der durch die kulturelle Ambivalenz geprägten Identität steht auch im Mittelpunkt von Les raisins de la galère.

Laut Spiller sind alle seine Texte, ob schwerpunktmäßig literarisch oder dokumentarisch, durch ein großes gemeinsames Anliegen geprägt, die Menschenwürde, das in der Thematisierung der Integrations- und Immigrationskomplexe und Ben Jellouns Selbstverständnis als literarischer Stimme der „Sprachlosen“ ihren Ausdruck findet:

Sein ganzes literarisches Werk und seine journalistischen Arbeiten sind im Grunde Variationen dieses Anliegens. In La nuit de lerreur (1997) ist die heimliche Einwanderung zwar nur ein Nebenmotiv, doch der Blick und die Auswanderung von Marokko nach Europa ist vom ersten Gedicht bis zu diesem Roman ein Leitmotiv des Gesamtwerks. (Spiller 1999: 148)

Zusammenfassend kann mensch sagen, dass Ben Jelloun in seinen Werken zwar aus der ImmigrantInnenperspektive berichtet, aber gleichzeitig v.a. in den neueren Texten über die Identität seiner Protagonistinnen wesentliche valeurs républicaines vermittelt. Allen voran sind das die Grundprinzipien der französischen Demokratieauffassung, insbesondere der égalité und der Menschenrechte. Sein aufklärerischer Universalismus (Spiller 1999: 155) enthält aber gleichzeitig eine klare Kritik an der Immigrations- und Integrationspraxis Frankreichs sowie dem Rassismus, diesen Diskriminierungsformen setzt er die orientalische Gastfreundschaft und die generelle Menschenwürde entgegen. So fokussiert er trotz seines Anknüpfens an den postkolonialen Diskurs die gesellschaftlichen Realitäten. Spiller weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass Ben Jelloun Derridas Différence-Begriff korrigiert, um ihn den Lebensrealitäten anzupassen: (Spiller 1999: 155, 159)

Die Neupositionierung im kulturellen Feld erfolgte aus einer Perspektive, die an der gesellschaftlichen und politischen Praxis orientiert ist. Die Betonung der Unterschiede trägt wenig zur Integration bei, diese Erkenntnis steht im Mittelpunkt von Les raisins de la galère und Le racisme expliqué à ma fille, eine als Kinderbuch verfaßte Abhandlung über den Rassismus, die die in Hospitalité française aufgenommene ethische Fundierung der Gastfreundschaft fortführt. (Spiller 1999: 155)

5.3 Dokumentarische Qualitäten des roman-récit Les raisins de la galère

5.3.1 Einführung in die dokumentarische Ästhetik

Überblick zu Les raisins de la galère

Schon der Titel, der auf John Steinbecks Roman Grapes of Wrath von 1939 anspielt, gibt über diesen intertextuellen Verweis eine prägnante Inhaltsangabe. Analog zu Steinbeck handelt der Roman über eine Person, die trotz widriger Umstände ihren Weg macht. Die beiden Titel zusammengenommen lassen einen zornigen und bitteren Bericht über das Schicksal der ArbeitsimmigratInnen vermuten. Im Zentrum steht aber die nächste Generation. Denn Ben Jelloun hat den Roman als Ich-Erzählung und (fiktive/s) Bekenntnisschrift oder Tagebuch der Protagonistin Nadia, einer in Frankreich sozialisierten Jugendlichen algerischer Herkunft, angelegt. Durch die Technik der cross gender narration ergibt sich fast von selbst eine kritische Sicht nicht nur auf die Ausbeutung der ArbeitsimmigrantInnen durch die französische Industrie, sonder ebenso auf das eigene Milieu, die traditionalistische bis fundamentalistische Männerwelt der Banlieue von Resteville. Sie dient ihr als abschreckendes Beispiel: Ihre Brüder, die es nicht schaffen, sich emporzuarbeiten und sich in die französische Gesellschaft zu integrieren, ihr machistischer Schwager sowie ein Cousin, der bei den Fundamentalisten landet und ihre Mutter, die sich über ihren Aberglauben von den hiesigen gesellschaftlichen Realitäten abschottet. Nadia schafft trotz dieser Umgebung mit Hilfe ihres aufgeklärten, aber zurückgezogen lebenden Vaters den Anschluß an die französische Gesellschaft. Sie lebt selbstbestimmt und rebelliert gegen rassistische Diskriminierungen einerseits und religiöse Unterdrückung andererseits.

Der Verweis auf Steinbecks Titel charakterisiert aber ebenso den realistischen Stil des Romans. Die lineare Ich-Erzählung Nadias, die im Sinne von Ben Jellouns Innenperspektive eine klare Blickweise auf die Banlieue vorgibt, wirkt zuweilen wie ein langer innerer Monolog. Neben den Erlebnissen, Beobachtungen und Reflexionen Nadias enthält der Text Portraits von BewohnerInnen, die zu einem Gutteil aus Zitaten bestehen, die aus der Perspektive Nadias kommentiert und verbunden werden. Ebenso sind andere Textfragmente wie Briefe, die Nadia erhalten hat, Tagebuchaufzeichnungen oder lange Zitate und Dialoge anderer Charaktere, die z.T. eigenständige Geschichten darstellen, in die Bekenntnissschriftästhetik integriert. All diese Elemente werden über die Erzählung Nadias, die zwar weitgehend chronologisch, aber assoziativ über das Leben der génération beur, also der Kinder der ArbeitsemigrantInnen in der Banlieue von Resteville berichtet, zusammengehalten. So unterstützen diese Versatzstücke zwar teils den Fortgang der Handlung und die Spannung durch das Hinzufügen anderer Perspektiven, insgesamt verleihen diese Durchbrechungen der fiktiven Bekenntnisschrift Nadias aber eine intertextuelle und dokumentarische Ästhetik. Spillers Feststellung für Les yeux baissés, dass diese Ästhetik eine formale Entsprechung für den inhaltlichen Identitätskonflikt ist, kann so auf Les raisins de la galère übertragen werden:

Das Romanschema ist durchdrungen von dem der orientalischen Erzählung. Die Spannungen zwischen Fiktion und Biographie äußern sich in der Einflechtung von Tagebuch, Brief und Bekenntnis. Entscheidend dabei ist, daß die Protagonistin den Status der Erzählerin erhält und ihren eigenen Standpunkt zwischen Entwurzelung und Akkulturation darstellen kann. (Spiller 1998: 13)

5.3.2 Ein erstes Beispiel aus dem Text: Die orale Ästhetik Ben Jellouns

Der Roman erzählt vom Heranwachsen der Beurette Nadia, von ihren Erlebnisse sowie Reflexionen über die Banlieue Resteville und den Aufenthalte in Algerien und Italien. Dem vor allem über die Erzählstimme Bertrand Taverniers erzeugten kollektiven Wir der multiperspektivischen Interviewdokumentation seht die fiktive Erzählung Nadias gegenüber, die nicht nur über die assoziative Form und Verweise auf reale Orte, Institutionen und Personen (Tizi Ouzou, SOS-Racisme, Cheb Rami (Ben Jelloun 1999: 10, 105, 146)), sondern auch über sprachliche Anlehnungen an die Mündlichkeit Realitätseffekte erzeugt. Das Vokabular enthält viele Termini, die um das Milieu der Banlieue und die Immigration kreisen (le bled, la zone, la cité de transit (Ben Jelloun 1999: 10, 14)), so auch einige arabische Wörter (la baraka (Glück), le marabout (weiser islamischer Einsiedler), la djellaba (Kapuzenmantel) (Ben Jelloun 1999: 22, 31, 52, 54)). Wesentlich auffälliger sind aber Elemente der Banlieuesprache, der Umgangssprache der Jugendlichen mit Merkmalen wie unvollständigen Sätzen und einzelnen Vokabeln, die dem français populaire oder familier entstammen.

Deutlich wird das besonders in Passagen der Ich-Erzählung, in denen mit „Zitaten“ angereicherte Portraits von BewohnerInnen der HLM-Siedlung in den Monolog eingebaut sind. Sie heben sich deutlich von der eher normierten Sprache der Protagonistin, die Klassik literarische Kennzeichen wie den passé simple aber auch Ausdrücke der oben skizzierten Sprachkategorien aufweist, ab; so wird auch eine inhaltliche Aussage getroffen.

Denn Nadia, die sich von ihrer Herkunft und ihrem Beur-Milieu eben nicht nur sprachlich abgrenzt, beschreitet erfolgreich den Integrationskurs, die anderen Charaktere sind zu einem typischen Banlieueschicksal verdammt. Diese sprachlichen Mischungen und Zuordnungen verleihen dem Bericht Nadias noch mehr Glaubwürdigkeit, indem sie eine dem Milieu und den Charakteren entsprechende Sprache wiedergeben, die, wie bereits in dem Zitat von Spiller angemerkt, auch die gespaltene Identität der EinwandererInnen wiedergeben.

Das sich über viereinhalb Seiten erstreckende Portrait des 13jährigen Rezki ist hierfür ein Beispiel. In seinem Bericht, der durch Erläuterungen der Erzählerin immer wieder ergänzt wird, erzählt er sein Leben als banlieusard. Er gehört einer Bande an, die eine Kasse im Rathaus von Resteville geklaut hat, aber dabei erwischt wurde. So schildert er nicht nur seine generelle Sicht auf das Leben, sondern rechtfertigt über seine Träume auch seine Tat. Entsprechend der intertextuellen Ästhetik der Ich-Erzählung weist diese Passage einen deutlichen dokumentarischen Charakter auf, was stark mit der Sprachwahl zusammenhängt. Der zitierte Ausschnitt wirkt wie einem Interview entnommen, mensch ist sich nicht schlüssig, ob Rezki sich an die Protagonistin oder die LeserInnenschaft wendet:

[...] Cest la vie, et la vie, cest de la merde. [...] Tas une clope? Interdit. OK. Interdit. Et pisser, cest interdit? Tas vu ma gueule? Pas confiance. J ai des cicatrices. Tu les vois pas? Normal, sont à lintérieur. Si tu grattes, tu les trouveras. Jen fais pas une maladie. On ma toujours dit: Tas une sale gueule. Les Arabes ont des gueules, de sales gueules. Mais ils peuvent pas se la refaire, comme Michael Jackson. Prince aussi a une sale gueule, mais il est pourri de fric. Cest ce que je voudrais. Pour le moment je suis pourri, mais sans fric. Jai un plan: en sortant dici, je prendrai un bateau, un très grand paquebot pour aller loin, le plus loin possible de Resteville. Quand elle me verra en uniforme, Agnès mépousera...“ (Ben Jelloun 1999: 44-45)

Nadia kommentiert:

Quelques jours plus tard, les enfants furent présentés au juge et un avocat fut commis doffice. (Ben Jelloun 199: 45)

5.3.3 Beispiel 2: Zwei Perspektiven auf die Banlieue Rouge

Die Parallelen zum Film beschränken sich aber auf die Ebene der dokumentarisch- fragmentarischen Ästhetik, die den literarischen Text im Hinblick auf seinen Handlungsort und seine Charaktere realistisch und glaubwürdig erscheinen lassen. Die Perspektive des Textes steht durch die Ich-Erzählerin der Dokumentation der Taverniers völlig entgegen. Hier zeigt sich die oben geschilderte Opposition von Außen- versus Innenperspektive der Taverniers und Ben Jellouns. Ein Beispiel hierfür ist die Darstellung und Beurteilung der kommunistischen Stadtpolitik, die in beiden Texten über die (bei Ben Jelloun fiktive) Figur des Bürgermeisters repräsentiert wird.

Im Gegensatz zur Perspektive der Taverniers auf Jean-Pierre Brard wirft Ben Jelloun kein gutes Licht auf den kommunistischen Bürgermeister M. Bourru. Während sich Brard im Film mit den BewohnerInnen solidarisiert und gemeinsam mit ihnen gegen die Stigmatisierung der Banlieuesiedlung durch Regierung und Medien auftritt sowie er sich gegen die Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich wendet, ist Bourru der Inbegriff der Parteibuchwirtschaft. Nadia erschleicht sich unter dem Vorwand, Lehrerin in einem Lycée zu sein, einen Termin bei ihm und fordert ihn auf, sich als Kommunist für die Sache eines Arbeiters, ihres Vaters einzusetzen, und etwas gegen den geplanten Abriß seines Hauses zu unternehmen. Dieses soll einer Maison de la Culture weichen. Die Verteidigungsrede des Bürgermeisters persifliert sich und die Mentalität des Parteiapparats selbst. Sie verkleidet den kommunistischen Kollektivzwang, der jegliche Einzelinteressen ignoriert und statt ihrer oft Parteiinteressen durchsetzt, als Prinzip der Demokratie und versucht die gigantomanische Zersiedlungspolitik der 60er und 70er Jahre als Errungenschaft anzupreisen. Das Schicksal der Familie Nadias interessiert ihn nicht weiter:

Les communistes se sont toujours battus pour que lintérêt du plus grand nombre passe avant celui des particuliers. Cest cela, la démocratie! On rase votre maison. On vous lachète au prix du marché, puis on vous propose un grand appartement dans une superbe HLM. (Ben Jelloun 1999:17)

Während bei den Taverniers die konservative nationale Regierung für eine verfehlte Wohnungs- und Integrationspolitik verantwortlich gemacht wird, sind es hier der lokale Bürgermeister und seine Partei. Mit dem Abreissen des Hauses und der Umsiedlung in eine HLM-Siedlung, die Nadia Val-de-Nulle-Part nennt und so die oft schönfärberischen Namensgebungen solcher Siedlungen, wie z.B. Les Grands Pêchers, ironisiert (Röhrig 1999: 166), werden die räumliche Gettoisierung der MigrantInnen und das Fehlen von Integrationsmaßnahmen thematisiert, eine Kritik, die auch bei den Taverniers dominant ist. Ben Jelloun zeigt allerdings eine trostlosere Situation auf und thematisiert nicht nur den Aspekt der Korruption, die maison de la Culture entpuppt sich letztlich als Supermarkt, sondern auch den Rassismus. So konstatiert Nadia nach dem Scheitern ihrer Bemühungen: Pour moi, laffaire était politique et teintée de racisme. Le Parti communiste français entendait démontrer quil était lui aussi capable den faire voir aux immigrés. (Ben Jelloun 1999: 19)

Die „linke“ Politik, die ihre Ideale verraten hat, wird bei Ben Jelloun so zumindest Mitverantwortliche der gesellschaftlichen Radikalisierung: Im Roman löst die politische Rechte die linke Stadtregierung ab, Bourru zieht nach seiner Amtszeit von Resteville weg und wird vom Parteiapparat umgeschult. Gleichzeitig wird berichtet, dass Kamel Mellou, ein Jugendlicher algerischer Herkunft von 18 Jahren, in Resteville umgebracht wird. Aus diesem Schockerlebnis heraus wird die Association des Jeunes de Resteville gegründet, der Nadia vorsitzt. Sie versucht ihrer diskriminierten génération beur durch Beratungstätigkeit zu helfen, Kamel Mellou wird von der Vereinigung ein Denkmal gesetzt.

So steht der Sympathie der BürgerInnen und Filmemacher mit dem Bürgermeister bei den Taverniers eine sehr distanzierte und kritische Haltung bei Ben Jelloun bzw. Nadia gegenüber. Hier zeigen sich noch einmal die unterschiedliche Perspektive und Motivation der beiden Texte. Bei den Taverniers stehen der politische Protest gegen die konservative Regierung Juppé und ihre Immigrations- und Integrationspolitik sowie die Stigmatisierung der Banlieue im Zentrum. Diese Haltung findet im Film in Form der Solidarisierung der Mitwirkenden und einer positiven Gegenberichterstattung über die Banlieue von Montreuil ihren Ausdruck. Ben Jelloun geht es hingegen viel mehr darum, die tägliche Diskriminierung der ImmigrantInnen, den Rassismus aufzuzeigen, der vor Parteigrenzen und politischen Ideologien nur auf rhetorischer Ebene halt macht. Er betont, dass die Kinder dieser ImmigrantInnen, obwohl französische StaatsbürgerInnen, nicht nur mit einer sozialen Marginalisierung in der Banlieue, sondern zusätzlich mit einer rassistischen Stigmatisierung und der eigenen multiplen Identität konfrontiert sind.

5.3.4 Der Paratext als Schlüssel zum Text

Neben dieser dokumentarischen und intertextuellen Ästhetik gibt es in Text und Paratext aber auch Verweise auf ganz reale dokumentarische Quellen. In einer Art Danksagung (Ben Jelloun 1999: 154), die im Anschluß an den Romantext abgedruckt ist, nennt Ben Jelloun einen soziologischen Bericht, dessen Titel er auch für seinen literarischen Text, den er hier récit und nicht wie im Untertitel roman nennt, gewählt hat. Er richtet die Dankesworte u.a. an die équipe de chercheurs sur le terrain, die den Bericht verfasst hat, und seinen Freund Adil Jazouil, dem aus Marokko gebürtigen Soziologen, Gründer und Leiter von Banlieuescopies, einem soziologischen Institut und programme dobservation et dévaluation des politiques publiques dans les banlieues, das die Studie Les raisins de la galère erarbeitet hat. Das 1991 gegründete Institut wird gänzlich durch öffentliche Gelder finanziert und hat zwischen 1991 und 1994 um die 40

Berichte, die sich zumeist recht kritisch mit der offiziellen Banlieuepolitik auseinandersetzen, erstellt. (Le Monde 2.5.95: 1, 9; 14.12.95: 13)

Durch die Lektüre von Ben Jellouns Nachbemerkung wird klar, dass Les raisins de la galère nicht nur eine realistische Ästhetik aufweist, sondern auch auf Forschungserkenntnissen und so realen menschlichen Schicksalen basiert und, wenn auch anonymisiert, verfremdet und literarisiert, Teile davon dokumentiert. Das kurze „Nachwort“ beginnt mit einem Satz, der auf den Titel anspielt und deutlich macht, dass Saadia, deren Name auch im Roman erscheint, eine reale Person ist. Spiller schließt daraus, dass Ben Jelloun von Saadia „die“ Geschichte erzählt bekommen hat. (Spiller 1999: 160) Je tiens à exprimer ma reconnaissance à Saadia, celle qui ma parlé plus des raisins que de la galère. (Ben Jelloun 1999: 154) Mit diesem Wissen wird insbesondere eine Passage des Romans, in der Nadia ihre Pressearbeit im für ihre Kandidatur auf der Liste der Verts für die Législatives schildert, klarer. Hier spielt der Autor deutlich auf die genannten realen Personen an. In einem langen Ein-Satz-Monolog Nadias heißt es u.a.: donner un coup de main à Sadia qui fait une enquête pour Banlieuescopies [...] me concerter avec Adil qui a plein dinformations à me refiler (Ben Jelloun 1999: 130)

Der Paratext Ben Jellouns verweist also sowohl auf den Romantext als auch auf reale gesellschaftliche Verhältnisse in Form des Berichtes. So wird deutlich, dass entsprechende Vorarbeiten Ben Jellouns, also die Lektüre des Berichts, aber auch, wie die Danksagung ebenso verrät, Gespräche mit Kontaktpersonen und Betroffenen, die Grundlage für den récit waren. In diesem Zusammenhang ist auch der ein Jahr vor Erscheinen der Erzählung Les raisins de la galère von Ben Jelloun und Jazouli gemeinsam erstellte soziologische Band über die soziale Situation in der Banlieue zu nennen. Alles zusammen genommen läßt sich also nicht nur von einer intertextuellen Ästhetik, sondern von Intertextualität im eigentlichen Sinn sprechen. Trotz der durchgehaltenen Figurenperspektive und der Linearität des Textes enthält Les raisins de la galère aufgrund der vielfältigen Auskunftsquellen der Vorstudien eine Breite an Blickweisen, die im Text selbst über die fragmentarischen Textelemente und deren Komposition im Bericht Nadias angedeutet wird. Spiller resumiert den Roman im Kontext von Ben Jellouns Œuvre wie folgt:

Damit liegen auch diesem linearen und realistisch geschriebenen Text die Konstruktionsprinzipien der komplexeren Romane zugrunde. Wieder ist die Ich-Erzählerin die mündliche Quelle für die schriftliche Überarbeitung eines Erzählers; wieder entsteht durch die Einbeziehung anderer Informanten Mehrstimmigkeit; wieder tritt der Autor als Zeuge einer ihm vertrauten Wirklichkeit auf, um durch persönliche Anteilnahme seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen. (Spiller 1999: 160)

5.3.5 Intertextualität: La misère du monde

Dokumentarische Form und Ästhetik

Aufgrund dieser Bekenntnisse im Nachwort erscheint es sinnvoll auch noch einer weiteren Anspielung im Roman nachzugehen. Relativ zu Beginn des Textes schildert Nadia ihr politisches Engagement in der Schule als langjährige Klassensprecherin, das bis zur Organisation eines Streiks führt, der aufgrund der überfüllten Klassen eine zusätzliche vierte Wirtschaftsabiturklasse (terminale B) forderte und erreichte. In diesem Kontext beschreibt sie ihre schulischen Probleme, die sich aus dem politischen Engagement und ihrer intellektuellen Orientierung an Lebensrealitäten ergeben. So ist ihr erstes theoretisches Aha-Erlebnis auch ein Buch, das nicht nur für ein breites (nicht wissenschaftliches) Publikum geschrieben ist, sondern sich zusätzlich auf ihr eigenes Lebensumfeld, die Banlieue, bezieht, ihre Beurette-Identität anspricht und auch ihre berufliche Zukunft bestimmen wird:

Mais le cours de philo ménervait: je ne retenais pas les idées, javais limpression quelles me traversaient comme une passoire. Trop abstrait pour moi. Un jour, ma prof me donna à lire un livre de B. Tout à coup, les choses commencèrent à séclaircir dans ma tête. Ce quécrivait ce sociologue renvoyait à des situations que javait connues. Je retrouvais là-dedans de quoi expliquer la vie mal faite de mon père, de mon grand-père. B. exprimait avec des mots précis des sentiments que nous avions éprouvés, comme lhumiliation, le rejet. (Ben Jelloun 1999: 23-24)

Ben Jelloun verweist hier auf den von Pierre Bourdieu zusammen mit Patrick Champagne und anderen verfassten und 1993 herausgegebenen Band La misère du monde, in dem sich Analysen und Kommentare über die Situation von und Interviews mit gesellschaftlich marginalisierten Gruppen abwechseln. Dieses Opus Magnum, das VertreterInnen sozial und gesellschaftlich ausgegrenzter Gruppen zu Wort kommen läßt und typische Großstadtprobleme unserer Zeit thematisiert, ist eine Art Reaktion auf den oft zitierten „Rückzug des Staates“. Es enthält zahlreiche Schilderungen verschiedener gesellschaftlicher Probleme, die in der Banlieue besonders stark zum Ausdruck kommen. Neben dem Wohnungsproblem wird genauso der zunehmende Neoliberalismus auf dem Arbeitsmarkt und die damit verbundene Entsolidarisierung thematisiert. Gleichfalls sind die Schulen und die dort auftretenden Probleme wie Desinteresse, mangelnde (Aus-) Bildung, Drogen und Kriminalität ein Thema. Kurzen Einleitungen von wenigen Seiten schließen sich in der Regel Interviews mit StreetworkerInnen, SchülerInnen oder HausbesorgerInnen von HLMs an. Manchmal sind die Kommentare oder Analysen länger, selten haben sie mehr als 10 Seiten. Die Interviews sind im Verhältnis stets länger, nicht kürzer als sechs, selten fast 20 Seiten.

Die Anspielung Ben Jellouns ist nicht nur als Quellenstudie und inhaltlicher Verweis zu verstehen, sondern auch in Hinblick auf die Kompositionstechnik seiner Erzählung interessant. (Röhrig 1999: 164-165) Die einführenden Artikel, die von der Form her zwischen essayistischen Kommentaren und wissenschaftlichen Analysen variieren, stellen meist die im anschließenden Interview befragten Personen vor und fassen deren Situation zusammen. Sie erinnern so an Portraits in Ben Jellouns Text, die auch durch an Interviews gemahnende Zitate angereichert sind, wie das von Rezki. Dazu kommt, dass der soziologische Band für ein breites Publikum gedacht ist und auf wissenschaftliche Normen, z. B. im Sinne von Verweisen, weitgehend verzichtet. Er enthält zwar einen längeren Anhang zur Methodik der Untersuchung, die Artikel selbst sind, nicht zuletzt aufgrund der Anzahl und der Verschiedenheit der AutorInnen, eher Sozialreportagen, Portraits, zusammenfassende und kommentierende Einführungen in die Interviews oder essayistischen Analysen. Mensch kann also hier zwar nicht analog zu Les raisins de la galère von Fragmenten, aber von einer Aneinanderreihung von verschiedenen Texttypen sprechen, und zumindest die Interviews sind nur Ausschnitte aus den tatsächlich geführten Gesprächen. Es gibt allerdings Ausnahmen. Die beiden Aufsätzen Über Amerika als verkehrte Utopie und The Zone von Loïc J.D. Wacquant (179-183) und ein Artikel von Bourdieu sind formal als klassisch wissenschaftlich zu charakterisieren. Sie enthalten nämlich alle drei einen Fußnotenapparat, der nicht nur inhaltliche Vertiefungen, sondern auch viele Literaturangaben enthält. V.a. The Zone ist aber auch aus einem anderen Grund interessant. Der Aufsatz baut ebenso wie die anderen Texte auf ein Interview auf, spielt aber gleichzeitig mit weiteren Textsorten. Das Interview wird durch zwei bibliographisch belegte Ausschnitte durchbrochen. Einmal handelt es sich um einen soziologischen Text, beim zweiten um einen Extrakt aus der Autobiographie von Malcolm X. Hier zeigt sich also ganz intensiv eine Parallele zur Erzählung Ben Jellouns, einmal in Hinblick auf den Ausschnitt aus Nadias Tagebuch und die über Nadias Reflexionen breit thematisierte Identitätsfrage, zum anderen in Hinblick auf die Intertextualität an sich. Wacquant verweist wie Ben Jelloun über den Bourdieu-Band und den Bericht von Banlieuscopies auf andere soziologische Quellen und hat aus ihnen Informationen für einen eigenen Text bzw. ganze Passagen in Zitatform übernommen. Bei Ben Jelloun ist dieses Verfahren zumindest was die behandelten Thematiken und den Titel betrifft belegbar.

Auch was die Perspektivierung betrifft, drängt sich eine Parallele auf. Während die anderen AutorInnen über die Banlieue von Paris oder von anderen französischen Städten berichten (die Ortsnamen sind nicht immer angegeben), sind Wacquants Artikel interkulturell angelegt. Sie berichten über die „Banlieue“ von Chicago. Indem der Autor seine Beobachtungen immer wieder auf Frankreich umlegt, ergibt sich eine doppelte Blickweise auf die thematisierten sozialen Fragen. Hier steht also nicht nur das Thema der sozialen Marginalisierung im Vordergrund, sondern ganz stark auch die Frage der Alterität und der Perspektive, zwei Grundthemen des Romans. Ben Jelloun wie Wacquant, als Forscher in den USA, nähern sich sozusagen von außen der Pariser Gesellschaft und übernehmen eine Brückenfunktion zwischen zwei Kulturen.

Ein inhaltlicher Exkurs: Die Medien

Eines der Kernthemen des Bandes ist die Wohnsituation in den HLM-Siedlungen, die ja auch bei den Taverniers und bei Ben Jelloun im Mittelpunkt steht. In diesem Kontext wird u.a. die fragwürdige Rolle des Fernsehens bei der medialen Inszenierung der Banlieue in einem Interview thematisiert. Kritikpunkt ist v.a. das Nichteinhalten von Abmachungen zwischen den BewohnerInnen und den Fernsehverantwortlichen. Erstere hatten dem Filmen unter der Bedingung zugestimmt, dass ihre Siedlung endlich einmal realistisch dargestellt würde. Im Anhang eines Interviews ist allerdings ein offener Brief der BewohnerInnenvertretung an den Fernsehjournalisten, der vor Ort war, abgedruckt, der vom Gegenteil zeugt. Letztendlich wurde die Sendung gestrichen und statt ihrer wurden einige Ausschnitte der Aufnahmen, insgesamt sieben Minuten, in eine Sendung über die Gymnasiastenbewegung integriert, allerdings ohne die BewohnerInnen zu informieren. Nicht einmal BewohnerInnen der Siedlung waren demnach in die Sendung eingeladen worden, noch wurde eine ihrer Aussagen in die wenigen Minuten integriert. (Bourdieu 1993: 138-139)

Ähnlich negative Erfahrungen mit dem Medium Fernsehen werden bei Ben Jelloun geschildert. Nadia versucht im Kontext ihrer Arbeit in der Association des Jeunes de Resteville drei Mädchen zu helfen, die von ihrem Vater, in der Absicht ihre „Ehre“ zu retten, nach Algerien entführt worden sind und dort bei dessen Bruder abgeschottet von jeglichem Außenkontakt und ohne persönliche Freiheiten leben müssen. Nachdem sämtliche anderen Versuche gescheitert sind und sich auch die algerische Botschaft nicht für den Fall interessiert, wendet sich Nadia bereits mit einiger Skepsis an die Medien. Allerdings wird diese bei weitem durch die Realität übertroffen. Hier werden ebenfalls die Anliegen der Initiatorin, über das Einschalten der Medien zu helfen, pervertiert. (Ben Jelloun 1999: 92)

La presse a évoqué ce drame avec des mots malheureux, mélangeant tout: la folie dun père, le crime dun oncle, lislam, la situation en Algérie, limmigration, la délinquance, le seuil de tolérance, etc., etc. Mon père avait raison de remarquer quon ne parle jamais de nous quen cas de malheur. [...] Nul besoin de mobiliser des équipes de télé pour faire savoir à la France que la famille Belaïde porte bien, que le père travaille normalement [...] (Ben Jelloun 1999: 94-95)

Dies entspricht wiederum den Feststellungen, die Boyer/Lochard über die gängige mediale Repräsentation der Banlieue treffen, und genau dieser Aspekt wird auch von Champagne in dem Band von Bourdieu angesprochen, die mediale Konstruktion der Banlieue bzw. einer fiktiv-negativen Banlieue. Er macht deutlich, dass die malaises sociaux (Champagne 1993: 161) eben nur sichtbar werden und damit gesellschaftlich existent sind, wenn die Medien über sie sprechen. Hier spielt die mediale Konstruktion, sprich die Selektion der behandelten Themata gemäß den Interessen der Medien, des Erzeugens von Sensation und der Einschaltquote eine zentrale Rolle. Champagne zufolge sagt die Art und Weise der Selektion und Berichterstattung demzufolge über das Journalistenmilieu und dessen Arbeitsweise mindestens ebensoviel aus wie über die sozialen Gruppierungen, über die berichtet wird. Er spricht von einem Prozeß der Konstruktion der sozialen Repräsentationen durch den außen stehenden Reporter, der die Blickweise auf die Themen zumindest noch bestimmen kann. Trotzdem gilt: Das Thema wird deshalb überall behandelt, weil andere davon sprechen. Letztendlich handelt es sich um eine permanente Reproduktion von Klischees und ihrer Dramatisierung, die dem Prinzip der Marktwirtschaft gehorchen. (Champagne 1993: 61-62, 68, 74) Les médias fabriquent ainsi, pour le grand public, qui nest pas directement concerné, une présentation et une représentation des problèmes qui met laccent sur lextra-ordinaire. (Champagne 1993: 67)

Auch bei Ben Jelloun wird über die Reflexionen Nadias deutlich, dass das Fernsehen über eine Außenperspektive die ImmigrantInnen stigmatisiert und diese wie automatisch den jeune Maghrébin (Ben Jelloun 1999: 124) mit der Banlieue und Schlagworten wie Gewalt, Kriminalität, Drogen und Prostitution assoziiert. Daneben läßt Ben Jelloun Nadia aber in Form des Modells einer Gegensendung in ihrer Reflexion eine wünschenswerte alternative Berichterstattung entwerfen, die die durchschnittliche, „normale“ Realität der MigrantInnen präsentiert. Im Prinzip stellt Taverniers Film genau ein solches Projekt eines respektvollen und positiven Blicks auf eine HLM-Siedlung dar. Dieses Modell bleibt aber fiktiv, da solch eine Sendung Nadias skeptischer Perspektive entsprechend von den Fernsehanstalten nie produziert und gesendet würde. Nadia fordert:

Pourtant ça ferait une excellente émission: Mesdames et messieurs, nous sommes heureux de vous présenter une famille maghrébine heureuse au sein de laquelle il ny a ni drogués, ni chômeurs [...] Une famille respectée et aimée dans son quartier, qui donne envie de considérer autrement le Maghreb, lIslam et jusquà lensemble du monde arabe. Une famille comme il y en a sans doute des milliers, mais dont on ne parle jamais, parce quon ny pense pas, parce que les mentalités restent vissées aux habitudes et aux préjugés. Or cette famille idéale existe; nous lavons rencontrée. Dailleurs, la fille aînée, Nadia, se présente aux élections sous létiquette des Verts...!“ (Ben Jelloun 1999: 96)

Palimpseststruktur und Gattungszuschreibung

Hier wird über den Wunschtraum Nadias, der schließlich in einer Selbststilisierung der eigenen Familie als Idealbeispiel der Integration und Assimilation endet, ihr Bedürfnis nach möglichst guter Integration in die französische Gesellschaft deutlich und somit die Frage ihrer Identiät aufgeworfen. Ebenso wird über diese Sendungsfiktion Nadias wieder der fragmentarische und dokumentarische Charakter des Textes auf der formalen Ebene deutlich. Anknüpfend an die intertextuelle Ästhetik Ben Jellouns durch die Anspielungen an soziologisches Quellenmaterial wie den Bericht Les raisins de la galère und die Sammelstudie Bourdieus La misère du monde kann zumindest für Einzelpassagen die im Hinblick auf das Gesamtwerk und insbesondere La réclusion solitaire getroffene Feststellung der Überlappung von Wissenschaftsessayistik und Literatur bei Ben Jelloun auf Les raisins de la galère übertragen werden. In diesem Sinne kann mensch nicht nur von soziologischen Textspuren, sondern auch von palimpsesthaften Zügen der Erzählung sprechen. Denn vordergründig wirkt der Text wie ein „normaler“ fiktiver realistischer Roman, bei Entschlüsselung der Anspielungen und der Hinzuziehung von Ben Jellouns Werk sowie seiner Erfahrungen als Sozialpsychiater, Wissenschaftler und Journalist werden die verschiedenen Textschichten, die in Ben Jellouns Werk immer wieder durchscheinen, zunehmend deutlich. Genette umreißt dieses Phänomen der Mehrschichtigkeit mit dem Begriff palimpsestes und spricht von einer littérature au second dégré, ein Literaturverständnis, das Pfisters Auffassung der Intertextualität und der Prätexte sehr ähnlich ist. Beide beschreiben mit diesen Begrifflichkeiten ein textuelles Phänomen, das nicht punktueller, sondern struktureller Natur ist. In diesem Sinne räumt auch Spillers formale Analyse von Ben Jellouns Lhomme rompu (1994) der Verweisstruktur einen zentralen Stellenwert ein. Sie ist so allgemein gehalten, dass sie auch auf Les raisins de la galère umgelegt werden kann. Er umreißt das hier als palimpsestes bzw. Intertextualität bezeichnete Phänomen mit dem Begriff der réécriture:

Wie Rachid Boudjedra, ein anderer Meister der réécriture und des Selbstzitats, setzt auch Ben Jelloun auf die vielfältigen Möglichkeiten der Intertextualität bei der Aufarbeitung eigener und fremder Texte. Die Collage von Versatzstücken der eigenen Biographie, Wiederholungen, Redundanzen, Metamorphosen, echte und falsche Zitate sowie Pastiche und Parodie sind die technischen Hilfsmittel einer solchen maschinellen Schreibweise. (Spiller 1999: 14)

Bezüglich der Gattung scheint so die von Ben Jelloun in der Nachbemerkung verwendete Bezeichnung récit wesentlich angebrachter als der im Untertitel enthaltene Begriff roman, der womöglich nicht einmal von ihm stammt und aus verkaufsstrategischen Gründen mit Rücksicht auf das europäische Publikum und die hier gebräuchlichen Gattungsnormierungen gewählt wurde. Hier sei noch einmal auf Spiller verwiesen, der die dokumentarische Ästhetik, die Stimmenvielfalt und die Erzählweise Ben Jellouns, die die klassische Romankonzeption sprengen, mit dessen maghrebinischen Wurzeln erklärt. Ihm zufolge gestaltet der Autor seine ErzählerInnenfiguren nach dem Modell des Geschichtenerzählers, der um sich herum einen ZuschauerInnenkreis versammelt. In diesem Zusammenhang betont Spiller die performative Komponente von Ben Jellouns Texten und charakterisiert seine traditionell als Romane bezeichneten Texte als im Grunde erzählerisch inszenierte Sprechakte.

Deren Inbegriff ist der „*ama al-Fna“-Platz, der, längst ein literarischer Topos, auch am Ende des 20. Jahrhunderts noch die alltägliche Schaustätte jener theatralischen Erzählaufführungen ist, in deren Stimmengewirr Ben Jelloun die Identität seiner Erzähler auf- und untergehen läßt. An die Stelle der monologischen tritt eine mehrstimmige Erzählweise. Dabei handelt es sich um ein tiefenstrukturelles Leitmotiv des Gesamtwerks, das über die Dichotomie von Schriftlichkeit und Mündlichkeit hinausweist. (Spiller 1998: 11)

Wie sich aber im Kontext der Verweise auf die beiden soziologischen Prätexte Ben Jellouns gezeigt hat, geht der Autor wesentlich weiter. Denn die Verwendung von diesen Feldforschungsquellen führt nicht nur zu einer intertextuellen, mehrstimmigen und oralen Ästhetik, sondern verleiht der Erzählung einen dokumentarischen Charakter, der eine Spannung zwischen Fiktion und Dokumentation erzeugt.

5.4 Identität im Kontext der condition postcoloniale

5.4.1 Postkoloniale Verweise

Der Begriff der Intertextualität kann hier aber nicht nur auf konkrete Textspuren und -schichten angewendet werden, also auf mehr oder weniger versteckte Verweise auf andere Bücher, sondern auch auf globalere theoretische Zusammenhänge, die im Roman thematisiert werden. Neben vielen schon in La misère du monde angesprochenen soziologischen Fragestellungen, die die Ereignisse der Erzählung prägen, ist hier die Identitätsproblematik, die politics of location (Bachmann-Medick 1996: 278) im Kontext der Postkolonialismusdebatte zu nennen. Im Zentrum stehen hier nicht stabile und klassische politische Kategorien der Immigrationsthematik, die auf der Handlungsebene in allen Texten Ben Jellouns im Zentrum stehen, wie der Rassismus, die allgemeine Diskriminierung und die Integrationsfrage. Die Verortungen der Kultur (Bhabha 1997) rücken auf der Reflexionsebene im Verlauf von Nadias Bericht immer mehr in den Mittelpunkt. Hier stehen im Kontext ihrer eigenen Befindlichkeit und Suche nach einer kulturellen Positionierung in einem Experimentierfeld zwischen ihrer Herkunft und ihrer aktuellen Umgebung Fragen der kulturellen Ambivalenz und Differenz im Mittelpunkt. (Bachmann-Medick 1996: 278-279)

Über diese Perspektive schließt der Text an die internationale Kultur- und Literaturdebatte der postcolonial studies und des postkolonialen Romans an und weist so über die konkreten französischen (Banlieue-)Verhältnisse, die u.a. in der behandelten Frage der dokumentarischen Ästhetik thematisiert wurden, klar hinaus. Folglich geht es im Kontext der postkolonialen Identität nicht um eine Intertextualität, deren konkrete Textspuren aufgespürt werden sollen, sondern um das Aufzeigen zentraler Fragestellungen, die in der Erzählung umgesetzt wurden. Im Zentrum des Postkolonialismus stehen Texte, die, wie oben in Bezug auf Nadia thematisiert, sich zwischen Kulturen verorten, kulturelle Perspektiven reflektieren und in deren Zentrum bikulturelle Identitäten stehen. Klassisch sind also in Metropolen angesiedelte Romane, die die Mischung von Kulturen in den Metropolen zum Thema haben. In diesen Texten wird deutlich, dass Ideen oder Denkweisen, die sich an einem spezifischen Ort manifestieren, eigentlich internationale Großstadt-Phänomene sind. Gleichzeitig machen sie deutlich, dass Multikulturalität auch immer Kulturkonflikt bedeutet, d.h. dass hinter kultureller Vielfalt auch immer konkrete und reale Schicksale und politische Konflikte stehen. (Bachmann-Medick 1996: 271, 173) Grundlage solcher Texte ist mehr denn je die Verarbeitung von wirklich erfahrener Alterität und selbst durchlebten Kulturkonflikten, die weit hinausgeht über eine bloße literarische Imagination fremder Welten (Bachmann-Medick 1996: 273).

5.4.2 Une Arabe qui nest pas arabe mais kabyle, qui est française mais qui se sent aussi algérienne

Indem der zwischen Tanger und Paris pendelnde Migrant Ben Jelloun seinen Roman als Bericht und Ich-Erzählung Nadias anlegt, knüpft er genau hier an. Denn so eignet er sich nicht nur die Stimme einer starken Frau an, sondern er erzählt auch die Geschichte aus der Perspektive einer mehrfach Marginalisierten. Nadia ist Französin algerischer Herkunft, genauer gesagt stammt sie aus der Kabylei, ist Berberin und gehört als gebürtige Französin der génération beur an. Aufgrund dieser mehrfach marginalisierten „Identität“ nimmt Nadia eine Perspektive ein, die von Haus aus vielstimmig ist und, wie Bachmann-Medick es formuliert, aus der Perspektive der „heimatlosen“ Zwischenexistenz postkolonialer Subjekte (Bachmann-Medick 1996: 279) berichtet.

Retourner au pays... Ah, la bonne promesse! Mais quel pays? Le mien est irrigué par mon sang, sa carte est mon visage. Cest même pas la France, cest le Val-de-Nulle-Part, ses provinces portent le nom de mes souvenirs denfance [...] (Ben Jelloun 1999: 136)

Ihr Selbstverständnis und ihre Lebensrealität sind mit klassisch binären Modellen nicht fassbar, sondern von Instabilität und Desorientierung geprägt. Zentral in ihren Reflexionen ist so das von Homi Bhabha in seinem Aufsatz Verortungen der Kultur (Bhabha 1997) geforderte ständig neue Ausverhandeln von kulturellen Differenzen. An Stelle von allgemeinen und klassischen Identitätskategorien wie Klasse und Geschlecht steht nun die bewußte Position des Subjekts im Zentrum. Insbesondere sind nicht mehr lineare Geschichten von Interesse, sondern jene Momente und Prozesse, die bei der Artikulation von kulturellen Differenzen produziert werden, sogenannte „Zwischen“-Räume. (Bhabha 1997: 123-124, 142-143) Sie sind ein Phänomen der Massenemigration und dadurch ausgelöste bizarre interethnische Beziehungen (Bachmann-Medick 1996: 285).

Ein solcher Ort wird durch die Perspektive Nadias fokussiert, die als Frau und Französin arabisch-algerisch-berberischer Herkunft aus der Banlieue berichtet und zudem aufgrund ihrer Integrationsambitionen auch in ihrem Milieu eine Außenseiterrolle einnimmt. Eine eindeutige Positionierung kann aufgrund der komplexen Identitätsstruktur nicht erfolgen.

Einerseits nimmt Nadia als Arbeitertochter und Französin eine klassische Banlieueblickweise ein, andererseits ist diese durch ihre vielschichtige kulturelle Herkunft so wie ihre Identität in einer solchen Männerwelt gebrochen.

Si, au réveil, je me retrouve dans un autre pays qui ne sera ni la France ni lAlgérie, dans un autre lit ou une maison flottante voguant sur un cours deau inconnu, cest que la lucidité maura prise en pitié. Cest que je me serai exilée dans une contrée anonyme où je serais moi-même enfin nimporte qui, ni plus ni moins quune personne sans signe distinctif, affublée dun nom quelconque rappelant un arbre ou bien un animal, avec un visage au type indéfinissable, un corps qui ne trahit pas ses racines, une voix sans aucun accent... (Ben Jelloun 1999: 139-140)

Diese komplexe Identitätsstruktur Nadias wird in Frankreich üblicherweise mit dem Begriff Beur(ette) belegt. Laut Hargreaves ist dieser stark in den 70er Jahren verankert, v.a. als Signifikat der Selbstdefinition und Emanzipation, im Hinblick auf eine Abgrenzung dieser Generation von ihren Eltern. Es ist ebenso der Versuch, so der kulturell-religiösen Stigmatisierung als Fremde zu entkommen. (Hargreaves 1999: 116)

Bhabha und Medick-Bachmann verwenden verschiedene Termini, die ebenso der Bezeichnung solcher fragiler und widersprüchlicher Lebensrealitäten dienen, die keine fixe Identität erlauben, sondern ständig neue kulturelle Übersetzungs- und Aushandlungsprozesse erfordern. Allerdings bezeichnen diese im Gegensatz zum Beur-Begriff kein länder- und kulturkreisspezifisches Phänomen und sind so global für den Prozess der kulturellen Verschmelzung in der postkolonialen Debatte einsetzbar. Bhabha spricht von einem Leben an den Grenzen der „Gegenwart“ (123), von „Zwischen“-Räumen (124), von transhistorischen Schauplätzen (137), Häusern ethnischer Erinnerung (140) und De-plazierungen der Erinnerung (Bhabha 1993: 123, 124, 137, 140, 148), Bachmann-Medick in Anspielung an Bhabha von einem „hybriden“ Überlappungsraum oder einem dritten Verständigungsraum, einer dritten Sprache und einem neuen Spannungsraum kultureller Auseinandersetzung („third space“) (Bachmann-Medick 1996: 278, 285).

Die Entlehnung der meisten Metaphern aus dem Wortfeld des Raumes erlaubt aber keine direkte Lokalisierung der Identität (Nadias). Die Bezeichnungen sind eher abstrakt zu deuten, die Verortung von Nadias Identität ebenso. Diese Begriffe bezeichnen nach Bhabha und Bachmann-Medick so einen Ort, der Raum zum Experimentieren gibt und Neupositionierungen erst ermöglicht:

Der Schlüsselbegriff der Hybridität kennzeichnet eine Sphäre, in der man sich innerhalb des Geflechts der Kulturen dem kulturell Anderen aussetzt, was bedingt, daß die zähen Traditionen, an denen das eigene Selbstverständnis jeweils festgemacht wird, gleichsam verflüssigt werden können. (Bachmann-Medick 1996: 279)

Um eine solche Neupositionierung und Verflüssigung der Identität geht es in Nadias Reflexionen. Hier werden teils traumartige alternative Orte und Länder entworfen, die sich durch die Begriffe Bhabhas und Bachmann-Medicks umreissen lassen und ein Leben abseits von Stigmatisierungen erlauben und so gleichzeitig nicht zu einer Verleugnung der eigenen Herkunft verleiten. Dieses hybride Selbstverständnis durch die tagtägliche Konfrontation mit der kulturell hybriden Banlieue, einerseits der französischen ArbeiterInnenkultur und dem KleinbürgerInnentum, andererseits dem ImmigrantInnenmilieu, zwingen Nadia zu einer selbstbestimmten Positionierung. Diese zwingt sie im Verlaufe des Textes immer mehr zu einer Auseinandersetzung, nicht nur mit den realen alltäglichen Kulturkonflikten ihrer Umgebung, sondern auch mit der Vergangenheit ihrer Familie und somit ihrer eigenen Herkunft. Diese Erinnerungsarbeit, die u.a. in ihren inneren Monologen ihren Ausdruck findet, wird auch über die zitierten Raummetaphern Bhabhas und Medick-Bachmanns angesprochen. Diese stehen so nicht nur für den Prozeß der Internationalisierung und des métissage, sondern rufen gleichzeitig die (Familien-) Geschichte und (ethnische) Herkunft der AkteurInnen der Metropolen wach. D.h. also, dass diesen hybriden kulturellen Orten, wie sie Nadia entwirft, über kulturelle Erinnerung und politisches Handeln die Überlebensakte von MigrantInnen eingeschrieben sind und hier verhandelt werden. (Bhabha 1997: 132) Nadia spricht so von sich als Arabe qui nest pas arabe mais kabyle, qui est française mais qui se sent aussi algérienne (Ben Jelloun 1999: 129) Folglich sind auch in diesem Kontext die klassisch binären Oppositionen wie privat und öffentlich, Vergangenheit und Zukunft, Psyche und Gesellschaft obsolet, da die Identität eine so komplexe historische Angelegenheit ist, dass sie nicht auf den rein persönlichen Raum begrenzt werden kann, die reale soziale Erfahrung der MigrantInnen steht dieser Trennung entgegen. (Bhabha 1997: 140-141) Bedeutend dabei ist auch, dass sich die Bedingungen kultureller Bindung performativ ergeben, d.h., dass die Repräsentation von Differenz nicht automatisch eine Widerspiegelung vorgegebener, also vererbter ethnischer oder kultureller Merkmale ist. Einerseits hängt also (das Recht auf) die gesellschaftliche Artikulation von Differenz aus der Minderheitenperspektive nicht vom Fortbestand der Tradition ab, andererseits beinhaltet die Tradition von Minderheiten auch die Erfahrung, durch widersprüchliche und zufällige Ereignisse in der majoritären Umwelt, die ihr Leben bestimmt, umgeschrieben zu werden.

Die Anerkennung, die Tradition gewährt, ist eine partielle Form der Identifikation. Indem sie die Vergangenheit neu inszeniert, führt sie andere, inkommensurable kulturelle Zeitlichkeiten in die Erfindung von Tradition ein. Dieser Prozeß läßt jeglichen direkten Zugang zu einer originären Identität oder einer „überkommenen“ Tradition zum entfremdeten Akt werden. Die verbindenden Grenzbeziehungen der kulturellen Differenz mögen gleich oft von Konsens oder von Konflikt geprägt sein; sie mögen unsere Definitionen von Tradition und Moderne durcheinanderbringen; die gewöhnliche Grenzlinie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, dem Hohen und dem Niedrigen neu ziehen; und normative Erwartungen in bezug auf Entwicklung und Fortschritt in Frage stellen. (Bhabha 1997: 125)

      1. Eine Familienchronik der Immigration: Großvater - Vater - Enkelin

Überblick

Diese Frage der Wandelbarkeit von Identität und Tradition, also die Umschreibung der eigenen Geschichte ist zentrales Thema im Roman. Sie werden in den Identitätsmonologen Nadias im Kontext der Thematisierung der familiären Migrationserfahrung und -chronologie deutlich. Aufgrund der Komplexität ihrer Identität stellt sich für sie nicht das Problem des Heimatloswerdens, wie es sich für ihre Elterngeneration stellt, sondern sie verhandelt die Frage nach ihrer eigenen Identität und ihrem „zu Hause“ stets neu in einem dritten Verständigungsraum (Bachmann-Medick 1996: 278) aus. Die Banlieue von Resteville stellt für sie so einen transhistorischen Schauplatz (Bhabha 1997: 137) dar, der ihre eigene Familiengeschichte mitreflektieren, aber nur schwer den im oben zitierten Monolog geäußerten Wunsch nach unbefangener und eigenständiger Identität realisieren läßt. Ihre Identitätssuche impliziert so die permanente Konfrontation mit der Familienchronik, die einerseits einen Generationenkonflikt und eine Art Steigerung der Integrationserfolge innerhalb von drei Immigrationsgenerationen aufzeigt, also unterschiedlich intensive Ausprägungen dieses Identitätsmodells des „hybriden“ Überlappungsraum deutlich macht, andererseits ein Lossagen Nadias von der Familiengeschichte nicht zuläßt. Dies wird in einem ihrer inneren Monologe deutlich:

Algérie de mon père: 1925-1961, France de mon père: 1961-1991. Et tout le reste sera à toi, rien qu à toi. Tu pourras le partager avec ceux que tu as aimés. Mais es-tu seulement capable de classer tout cela? Tu ne vis bien que dans le mélange. Tu a horreur de la purèté. Dailleurs, existe-elle? Tu mélanges la vie de ton père à la tienne? Quoi de plus naturel? Tu es contre loubli, même si tu sais aussi avoir besoin de lui. (Ben Jelloun 1999: 103)

Das Scheitern der Integration des Vaters

Nadias Großvater, der bereits 1932 aus der Kabylei nach Frankreich emigriert ist, ist klar in der arabischen Kultur zu Hause. Ihm ist die Integration in Frankreich nicht geglückt. Nach 30 Jahren Arbeit als Mechaniker bei Renault ist er, ausgebeutet als billige ausländische Arbeitskraft, kraftlos nach Algerien zurückgekehrt. Sein Sohn nimmt daraufhin seine (berufliche) Stellung in Resteville ein, später wird wiederum dessen Sohn seinen Arbeitsplatz übernehmen. Nach seiner Emigration aus Marokko hat Nadias Vater, eigentlich Analphabet und Maurer, in Frankreich eine Familie gegründet und, im Gegensatz zu seinem Vater, zumindest etwas Lesen und Schreiben gelernt. Er bleibt allerdings, obwohl es Remigrationsüberlegungen gibt, bis zu seinem Tod in Frankreich, lediglich die Beerdigung findet in Algerien statt. Er stellt den typischen aufgeklärt-assimilierten travailleur immigré dar, der es zwar geschafft hat, sich mit viel Integrationswillen einen gewissen Status zu erarbeiten, v.a. seine Familie zu ernähren, letztendlich aber durch die permanente Stigmatisierung als Immigrant gescheitert ist. So stellt er ein Art Gegenmodell zu den muslimischen Traditionalisten und Fundamentalisten dar, nimmt also als maghrebinische Männerfigur durchaus eine emanzipierte Rolle ein. So vertritt er gesellschaftspolitische Vorstellungen, die völlig den valeurs républicaines françaises entsprechen. Er glaubt zwar an Gott, legt aber keinen Wert darauf, in die Moschee zu gehen und befindet im Übrigen, dass Religion eines jeden Menschen Privatsache sei, was dem Prinzip der laïcité entspricht. (Ben Jelloun 1999: 53-54) Nadia schildert ähnlich liberale Positionen ihres Vaters bezüglich Geschlechteremanzipation und weltlichem Bildungsanspruch:

Aussi préférais-je deviser avec mon père. Lui au moins me voyait fort bien en mécanicienne. Il ne me contrariait pas, se montrait attentif à tout ce que je disais et faisais. [...] Il disait que si ma sœur avait pu poursuivre ses études, elle aurait été aujourdhui plus heureuse [...] (Ben Jelloun 1999: 8)

Allerdings verweigert er auch eine völlige Assimilation an Frankreich, er bleibt als travailleur-immigré Algerier, hängt der Kultur seiner Heimat an. Dies verstärkt sich mit dem Alter und negativen Integrationserfahrungen, die ihn resignieren lassen. Er wird v.a. nach der Pensionierung zunehmend inaktiv und verläßt das Haus kaum noch. Statt dessen flüchtet er sich gedanklich in die arabische Welt, erzählt der Tochter von der arabischen Geschichte und der Ankunft des Islams. Von ihr läßt er sich aus Mille et Une Nuits vorlesen und untermalt die Szenen pantomimisch. Symbol für das letztendliche Scheitern seiner Integration, das er selbst auch auf seine mangelnde Durchsetzungskraft im „Gastland“ zurückführt, ist der Abriß seines Hauses, das er nach seiner Ankunft im Frankreich der 60er Jahren in einjähriger Arbeit nach dem Vorbild der traditionellen Architektur von Tadmaït, seinem Herkunftsort, geplant und gebaut hat. Dieses weiße Einfamilienhaus, semblable à ces constructions du Péloponnèse que vantent les agences de voyage (Ben Jelloun 1999: 14), steht mitten in der Stadt Resteville und stellt die Integrationsleistung des Vaters dar. Unter den anderen ImmigrantInnen aus dem Maghreb, die ausschließlich in HLM-Wohnungen „zu Hause“ sind, ist es ein viel beneideter Identifikationspunkt und kultureller Import. Die orientalische Architektur in Kombination mit der modernen Ausstattung macht für den Vater Nadias aus dem Haus das Identifikationsobjekt schlechthin, als Symbiose seiner kabylisch-arabischen Herkunft und seiner französischen Lebensrealität wie Nadia berichtet:

Cétait son rêve: donner un toit à ses enfants. Il avait dû refaire plusieurs fois le plan à cause des objections de la mairie. Il y avait là quelquun qui ne supportait pas lidée quune famille dAlgériens puisse sinstaller en centre-ville; à ses yeux, un immigré devait habiter la zone, au mieux une cité de transit ou un „logement social“. (Ben Jelloun 1999: 14)

Notre maison faisait figure derreur dans un ensemble grisâtre, rationnel et étriqué. Une maison avec dix-sept fenêtres, deux portes, une terrasse, des patios, et surtout une grande salle de bains équipée de toilettes non pas à la turque, mais à leuropéenne! Mon père tenait beaucoup à ces détails-là. Tout en édifiant une demeure traditionnelle, il se voulait moderne. (Ben Jelloun 1999: 15)

Nach acht Jahren beschließt der kommunistische Bürgermeister Bourru unter dem Vorwand, eine maison de la Culture zu errichten, den Abriß des Hauses; die Familie muß in eine der üblichen HLMs umziehen. Dieses Ereignis stellt einen klaren Einschnitt in der Familienchronik dar und macht die unterschiedliche Ausprägung der hybriden Identität deutlich. Während der Vater daran zerbricht - die Remigration nach Algerien scheitert nur an seiner mangelnden Entschlusskraft und dem dortigen BürgerInnenkrieg - stellt es für die 13jährige Tochter den Auslöser ihrer politischen Aktivität dar. Denn bei dem Versuch, den Abriß des Hauses zu verhindern, macht sie, trotz ihrer französischen Staatsbürgerinnenschaft, die ersten Erfahrungen mit dem Alltagsrassismus und der politischen Korruption der „linken“ Lokalpolitik. Während sie, trotz aller Unsicherheit und Selbstzweifel, das Potential des multikulturellen Erbes nutzen kann und letztendlich ein Beispiel einer geglückten Integration abgibt, führt bei ihrem Vater die hybride Lebensrealität am Ende zur Resignation. Er kann den Verlust seines Identitätsobjektes nicht verkraften und zieht sich aus dem französischen Gesellschaftsleben zurück. (Röhrig 1999: 164-167) Er sieht aber auch in seiner arabischen Identitätsfacette keine Alternative:

Mon père nest pas mort de solitude, mais des suites de très profondes blessures. Son corps était en bonne santé; pas son honneur ni sa fierté. Tout le travail dune vie avait été balayé dun revers de main par un maire qui avait gardé en lui la haine de lAlgérie. (Ben Jelloun 1999: 51)

Mon père aurait été plus heureux sil était né sous dautres cieux. Il nen finissait pas dénumérer nos tares nationales: manque de ponctualité, manque de sérieux, manque dordre, manque de sens de la liberté. (Ben Jelloun 1999: 71)

Entwurzelter Vater, politisierte Tochter

Für die in Frankreich sozialisierte Nadia stellt sich die Frage der Remigration ebenso wenig wie die der Assimilation oder Akkulturation, sondern die des Ringens nach gesellschaftlicher Anerkennung und Gleichberechtigung in Frankreich. Ganz im Gegenteil bereitet für sie der kulturelle und sprachliche Anschluß an das „Erbe“ ein größeres Problem, was anhand von ihren beiden Aufenthalten in Algerien besonders deutlich wird. Nadia schildert ihren ersten Besuch im Alter von 13 Jahren mit ihrem väterlichen Bruder Arezki und seiner Tochter Saadia. Nicht nur die Tatsache, dass das Dorf ihrer VorfahrInnen Tadmaït wie ausgestorben wirkt und die zurückgebliebenen alten Frauen wie Statistinnen wirken, schreckt sie ab. V.a. das Beispiel der Remigranten, die durch das Arbeiten in Frankreich leblos und kraftlos geworden in die „Heimat“ zurückgekehrt sind, macht ihr schnell klar, dass ihr zu Hause in Resteville ist. (Ben Jelloun 1999: 10-13) So schließt sie mit der Beerdigung ihres Vaters einige Jahre später endgültig mit dem „Land der Väter“ ab:

Lenterrement eut lieu par une belle journée calme et blanche. Il y avait des gens qui lisaient le Coran; les autres pleuraient. Je dormis dans la maison de mon grand-père, seule en compagnie de deux vieilles qui ne savaient parler que le kabyle. Je me sentais en terre étrangère. Le lendemain, je navais plus rien à faire dans ce pays. Je mis une journée pour rejoindre la capitale. (Ben Jelloun 1999: 58-59)

Während sich bei ihrem Vater im Zweifelsfall der Blick nostalgisch nach Algerien zurückrichtet, blickt Nadia nach vorne in eine Zukunft. Der Entwurzelung des exilierten Vaters steht der binäre Kategorien ablehnende Kosmopolitismus der Tochter gegenüber, die keine Nationengrenzen, dafür auch keine „Heimat“ kennt. So bezeichnet sich der Vater Nadia zufolge als vieux dattier transplanté sur le balcon dune cité de banlieue, sie sieht sich als plutôt du genre herbacée, sans doute de la mauvaise herbe, celle qui pousse nimporte où (Ben Jelloun 1999: 136). Spiller spricht bezüglich der Ausrichtung von Nadias Selbstverständnis auf einen dritten Verständigungsraum (Medick-Bachmann 1996: 278), der sich nicht konkret lokalisieren läßt, sondern mehr die durch ihre Geschichte bedingte mehrfache kulturelle Fremdheit und die dadurch erlernten Anpassungskompetenzen beschreibt, von einer veränderten kulturellen Konstellation. Er macht den Generationenunterschied an den Begriffen der Moderne, an die die ImmigrantInnengeneration Anschluß suchte, und der Postmoderne, in die die génération beur hineingeboren wurde, fest. (Spiller 1999: 159-161) Positiv wird diese grundlegende Differenz zwischen den beiden Generationen und ihrer Lebensrealität in Les raisins de la galère von einem Freund Nadias formuliert. In Anspielung an den Titel heißt es:

Arrête-toi un peu, regarde-toi dans la glace, pose tes fesses sur une chaise, pense à la douceur et à la légèreté de léxistence! Tes pas dans la galère. Profit-en! Des raisins, il en a. Tu as mérité de les cueillir. Sors de ta réserve, oublie tes préjugés. Tous les Arabes ne sont pas comme le mari de ta sœur! [...] Toi, tu as choisi: tu te bats tout le temps. Tu ne veux surtout pas quon tassimile à cette génération perdue. (Ben Jelloun 1999: 76-77)

Flucht vor der kollektiven Identität: Arioule v/s génération beur

Neben ihrer Position im Verhältnis zur Elterngeneration wird hier aber auch Nadias Selbstpositionierung innerhalb ihrer Generation deutlich. Sie versucht allen Stigmatisierungen zu entkommen, was ihr v.a. von der eigenen Seite, der génération beur viel Kritik einbringt. So grenzt sie sich nicht nur rhetorisch von der eigenen Herkunft ab, indem sie den Terminus Beurette für sich ablehnt, sondern sie legt auch Wert darauf, keinen Beur-Freund zu haben. So heißt es in dem fiktiv intertextuellen Ausschnitt aus ihrem Tagebuch: Mon premier flirt est un Français. Je suis contente que ce ne soit pas un Arabe... (Ben Jelloun 1999: 21) Sie grenzt sich also sowohl von ihrer Herkunft und den Traditionen ab, als auch von ihrer Generation und radikalisiert so den Weg, den ihr Vater schon ansatzweise beschritten hat. Seiner Mutlosigkeit setzt Nadia allerdings Courage und Konsequenz entgegen.

Nadias Abgrenzung spielt auf die realen intensiven gesellschaftlichen Debatten des letzten Jahrzehnts um die Aktualität bzw. Obsoletheit des „Beur“-Begriffs aufgrund der mit ihm verbundenen Ethnisierung und Gettoisierung der ersten - inzwischen auch zweiten - Generation von FranzösInnen maghrebinischer Herkunft an. Viele von ihnen sind mit dieser Zuordnung nicht einverstanden und beurteilen sie als vielleicht gut gemeinte, aber sie letztendlich doch aus der französischen Gemeinschaft ausschließende Praxis. Denn inzwischen ist der Emanzipationsbegriff zu einem eher negativen, kollektiven medialen Schlagwort geworden, das in enger Verbindung mit der Banlieuedebatte steht. Die Figur des „Beur“ wird in der Banlieuedebatte der 80er und 90er Jahre zur Symbolgestalt der Banlieue und ihrer Probleme. (Boyer/Lochard 1998: 15) Diese mediale Stigmatisierung, die dem Generationenetikett Beur gesellschaftliche Probleme eingeschrieben hat, kritisiert auch Nadia und stellt dieser medialen Identitätskonstruktion die Realität ihrer AltersgenossInnen gegenüber:

Tout ce que médias et spécialistes ont trouvé à faire, ça été de donner un numéro à cette génération: la deuxième! Ainsi classés, nous étions forcément mal partis. On oublie que nous ne sommes pas du tout des immigrés: nous navons pas fait le voyage, nous navons pas traversé la Grande Bleue, nous sommes nés ici, en terre française, avec des gueules dArabes, dans des banlieues dArabes, avec des problèmes dArabes et un avenir dArabes. (Ben Jelloun 1999: 85-86)

Eine kritische Position vertritt in diesem Zusammenhang auch der französische Schriftsteller algerischer Herkunft Azouz Begag. (Begag 1999: 21-25). Ähnlich wie Nadia vermeidet Begag den Begriff „Beur“ und kritisiert ebenso die politische Diskriminierung dieser FranzösInnen als ImmigrantInnen, indem er von FOC: Français dorigine colorée und FOV: Français dorigine visible spricht. Nadia spricht zwar nicht von FOV oder FOC, sondern von enfants qui vont naître aujourdhui avec une petite étoile cassée sur le front (Ben Jelloun 1999: 137), spielt aber auf diese Weise ebenso auf die visuelle Stigmatisierung an. Begag charakterisiert so wie Nadia auch die Wut und das Selbstbewußtsein dieser stigmatisierten Generation. Gleichzeitig macht er die starke Akkulturation der Elterngeneration im Vergleich zu anderen ImmigrantInnengruppen bewußt. Denn die Mehrheit versucht im Exil in der Regel nicht, wieder an ihre Referenzgemeinschaft anzuknüpfen, mit der sie Sprache und kulturelle Werte teilt, und führt so kein Sprachinseldasein, sondern lebt einen doppelten Ausschluß: von Frankreich und ihrem Herkunftsland. (Fielder 1999: 98) Dies zeigt sich auch deutlich an den Äußerungen Nadias, in denen ganz klar auf die postkoloniale Ästhetik angespielt wird. So entwirft Nadia z.B. ein Portrait ihrer Generation in Form eines imaginären Dialoges, der an eine Verhörsituation erinnert, vermeidet dabei aber ebenso den Beur-Begriff:

Ils sont français, vous dites? Pas vraiment. Pas de sous? Nous non plus. Retour à lenvoyeur. Retour au bled. Quils aillent soccuper des chèvres et des boucs! Ils parlent pas la langue? Cest la faute aux vieux. Pourquoi ils sont là? Cest la faute à de Gaulle. Tu dis quils sont un demi-million? Ca fait une grosse ville de province ou trois arrondissements de Paris. On les mettrait tous ensemble dans un grand stade, ils seraient bien entre eux. Sympa, non? (Ben Jelloun 1999: 62)

In ihrem Endmonolog, in dem sie noch einmal ihr eigenes Selbstverständnis verortet, legt sie diesen politisch-satirischen Dialog in Form eines inneren Monologes kreativ auf sich um. Hier setzt sie allen Stigmatisierungen als Araberin oder Berberin und Etikettierungen als Beur(ette) eine für sie stimmige eigene Identitätskonstruktion entgegen, die insbesondere über ihre wortsymbiotischen Neologismen an hybride Identitätskonzeptionen und -metaphern wie dem der dritten Sprache (Bachmann-Medick 1996: 278) anknüpft. Über Wortspiele schafft sie sich ein eigenes Kreolisch (créole) , das hier lautmalerisch wiedergegeben wird, und mit dem sie alle binären Kategorien ablehnt, sich aber gleichzeitig über ihren Identitätsmonolog lustig macht:

Je ne savais pas quune tête dArioule pouvait peser ainsi des tonnes. Arioule! DArabe et de Bougnoule, qui sont kif-kif! Avec ça, on fait plus court et on rigole. Je ne suis pas beur, mais arioule. Ou kaboule, qui rime avec maboule! Mais ma Kabylie est bien loin. Elle ma sans doute oubliée. Je reste pourtant la fille dune tribu qui sest déplacée il y a des siècles à dos de mulet à travers le monde pour sarrêter un jour devant Paris; dans ses faubourgs, la tribu campe toujours. Cest elle que jentends, la nuit, ranimer ses feux et ses chants. (Ben Jelloun 1999: 144)

    1. Schluss: Banlieuedokumentation v/s Beur-Erzählung

5.5.1 Les Grands Pêchers und der Val-de-Nulle-Part

Zusammenfassend kann mensch feststellen, dass beide Texte einen Ort bzw. eine Siedlung in der Pariser Banlieue thematisieren. Hier werden über die ErzählerInnen Tavernier und Nadia verschiedene Biographien aufgerollt und anhand von ihnen verschiedene Thematiken, die das soziale Banlieueleben betreffen, erörtert. Dem realen Montreuil mit seiner HLM-Siedlung Les Grands Pêchers steht bei Ben Jelloun das fiktive Resteville mit dem Val-de-Nulle-Part gegenüber. Während die Dokumentation der Taverniers sich im geschlossenen Rahmen der Siedlung abspielt, der nicht aufgebrochen wird, zeigt Ben Jelloun einen weiteren Kosmos.

An dem Raum der der Identitätsdebatte gewidmet wird, die bei den Taverniers weitgehend durch soziale Erklärungsmuster ersetzt wird, zeigt sich eine unterschiedliche Motivation der Texte. Während bei den Taverniers im Zusammenhang mit der medialen und politischen Stigmatisierung der Banlieue eine möglichst „normale“ und positive Darstellung der Banlieue beabsichtigt wird, ist der Text Ben Jellouns eine literarische Kritik mit stark dokumentarischer Ästhetik am mangelnden politischen Willen zur Integration und am Alltagsrassismus. Im Zentrum der Debatte der Banlieueprobleme stehen so nicht die sozialen Erklärungsmuster, sondern die kulturell und ethnisch spezifischen Lebensprobleme der MigrantInnen und die daraus resultierenden Identitätskonflikte, die in den Kontext der condition postcoloniale gestellt werden. Trotz der Integrations-„Karriere“ Nadias beschreibt dieser fiktiv-testimoniale Text die Situation in der Banlieue als trostlos und negativ. Den Perspektivierungen und Schwerpunktsetzungen entsprechend unterschiedlich schließen die beiden Texte auch. Die Taverniers resumieren die Situation in der HLM-Siedlung und lassen ihre InterviewpartnerInnen noch einmal Revue passieren. Deren Lebenswillen und Solidarität im alltäglichen Leben stehen im Mittelpunkt. Bertrand Tavernier spielt in seinem Endkommentar noch einmal auf den Brief des Ministers Raoult und so den politischen Kontext an, das kollektive Wir wird bis zum Ende durchgehalten: Et quant à toi Melanie, tu me demandais lors de la première réunion „Et quand le film sera terminé quest-ce quon fera?“ Le film est terminé quest-ce quon va faire? . (Le meilleure de lâme) (vgl. Kapitel 4.2.1)

Der Roman hingegen wechselt auf den letzten beiden Seiten die ErzählerInnenperspektive, der abschließende lange Identitätsmonolog Nadias bricht ab, der Roman endet mit einer Passage aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers. Nadia blickt auf ihre Erlebnisse zurück und hört die Stimme ihres Vaters, hinter der laut Spiller die des Autors steht (Spiller 2000: 264):

Limportant est que tu restes décidée à te battre. Pas de répit. Pas de repos. Là où je me trouve, tu me fais du bien. On dirait que tu prends la revanche de toute la famille. Mais pense à ta vie, à ton avenir. Je ne minquiète pas trop pour toi, je te connais, je sais que tu es une femme libre. On naime pas beaucoup ça chez nous, mais moi, je tai toujours voulue ainsi. Quitte ce pays-ci, voyage, va à la découverte du monde. Mais, où que tu ailles, noublie jamais qui tu es, dou tu viens. Un jour ou lautre, le village de tes ancêtres taccueillera et te fera la fête. (Ben Jelloun 1999: 152-153)

Noch einmal wird die Frage nach der Identität gestellt, d.h. die in ihren Reflexionen oft geäußerten Fragen und Zweifel nach ihr werden nun prägnant von der Stimme ihres Vaters beantwortet. Sie macht eine Art Bestandsaufnahme ihres Lebens und gibt ihr den Ratschlag, ihren kämpferischen Weg weiter zu gehen, aber trotz aller Emanzipation und Mobilität, trotz allen Universalismus, der ein Zeichen des geglückten Lebens zwischen den Kulturen ist, die eigenen Wurzeln nicht zu vergessen. Letztendlich wird Nadia aber von ihrer Lebensrealität eingeholt und richtet den Blick nach vorne:

Le facteur sonne; il apporte un paquet recommandé. Elle signe en arabe. Cela paraît amuser le préposé qui, du coup, lui tend une feuille et réclame une autographe: „Cest beau, lécriture de droite à gauche!“ (Ben Jelloun 1999: 153)

Das gelieferte Packet verspricht Hoffnung, die Reaktion des Postboten zeigt, dass es neben dem Rassismus auch einen für das Andere offenen und interessierten Teil der französischen Bevölkerung gibt, der ein produktives und respektvolles Zusammenleben möglich machen könnte. Als einzige Parallele zum Film der Taverniers bietet sich dieses offene Ende an, das im Vergleich zum Großteil des Textes eher versöhnlich gestaltet ist.

5.5.2 Littérature beur als Privileg der génération beur?

Im Zusammenhang mit dem über das Ende noch einmal deutlich werdenden Perspektivenkontrast stellt sich die Frage der Klassifizierung der beiden Texte. Während der Film, der auch am Ende auf dem kollektiven Wir besteht und jede kulturelle Problematisierung vermeidet, klar als Banlieuefilm bezeichnet werden kann, trifft diese Bezeichnung beim Roman nun auf den Ort des Geschehens und die Kritik an seiner Stigmatisierung zu. Allerdings bleiben damit die Perspektive, die der Roman einnimmt, und die Tatsache, dass es hier ausschließlich um die Situation von MigrantInnen und Beurs geht, ausgespart. So drängt sich die Frage auf, was für Alternativen zu einer Zuschreibung zum Banlieuegenre sich hier anböten. Die Bezeichnung Beur-Erzählung läge angesichts der Thematik und Perspektive des Textes durch die Protagonistin nahe, aber es zeigt sich, dass viele LiteraturwissenschaftlerInnen sehr strenge Kriterien für dieses Genre anlegen.

Was die Verwendung des Etiketts Beur für künstlerische Produkte betrifft, ist allgemein ein weit verbreiteter Essentialismus festzustellen. So wird z.B. bezüglich des Terminus cinéma beur als Kriterium die Zugehörigkeit der Charaktere, aber auch der an der Produktion Beteiligten, zur génération beur gefordert. Eine solche Konzeptualisierung, wie sie von Hargreaves nachvollzogen wird, erscheint v.a. wegen ihres Dogmatismus im Hinblick auf die Valorisierung der ethnischen Herkunft der partizipierenden KünstlerInnen problematisch. Denn diese stellt ein altbekanntes Muster ethnischer und kultureller Ausgrenzung und Stigmatisierung dar. (Hargreaves 1999: 116, 120-121) Inhaltliche Kriterien stehen so eher im Hintergrund, so dass Hargreaves hier von einem demeaning view of personal creativity and a quasi-racist model of social and cultural reproduction (Hargreaves 1999: 115) spricht.

Die strikte Beschränkung des Beur-Literaturbegriffs auf in Frankreich geborene oder als Kleinkinder immigrierte maghrébins kritisiert u.a. Charles Bonn. (Bonn 1994: 98-99) Er und Michel Laronde bevorzugen eine Definition, die inhaltlicher ausgerichtet ist. Ihnen geht es um Texte, die die Lebensrealität der zweiten ImmigrantInnengeneration in Frankreich behandeln.

Quand je parle de roman beur, je dois préciser demblée quil sagit là dun étiquetage dont je tiens à atténuer la valeur historique et dégager la valeur de concept. Ici, je ne rassemble pas sous létiquette beur les seuls romans dont les auteurs sont nécessairement issus de limmigration maghrébine (même si cest souvent le cas) mais tous les romans dont un certain contenu (ingrédients géo-historiques, personnages, situations) donne au terme beur le sens dun esprit particulier à un milieu et à une époque: celui de limmigré dorigine maghrébine dans la ville française [...]. Il ne faut pas restreindre ici le signifié du terme beur au seul sens ethnique et limiter le corpus exclusivement aux romans écrits par les jeunes Maghrébins de France [...] (Laronde 1993: 5-6)

Allerdings sieht auch er den Beur-Roman als klar abgrenzbares Genre mit wenigen AutorInnen. Er verzichtet zwar auf einen rigiden Ethnizismus, besteht aber auf der maghrebinischen Herkunft und der Angehörigkeit zur Generation der Kinder der Emigration. Er nennt einen Korpus von ca. 25 Werken und die AutorInnengeneration der zwischen 1950 und 1979 geborenen und präsentiert eine Liste von 18 AutorInnen. So steht auch hier neben der inhaltlichen Ebene die AutorInnenschaft mit im Zentrum. (Laronde 1993: 5, 11)

Diese Beschränkung ist den meisten Untersuchungen zu diesem Thema eigen. Auch Rothe hängt dieser Konzeption an. Er unterscheidet die SchriftstellerInnen, die er franco-maghrébins nennt, von der seconde génération vivant en France, also den Beurs. So stellt er seit 1950 eine frankophone Literatur zwischen Frankreich und dem Maghreb fest, die er als littérature de va-et-vient bezeichnet, die also z.T. in Frankreich, z.T. im Maghreb entstanden ist, aber fast ausschließlich in Paris publiziert wird. Dieser Gruppierung gehört Rothe zufolge Ben Jelloun an. Was die Beur-Literatur betrifft, spricht er von einem Spektrum an neuen Beur-Büchern von 5 bis 6 Stück pro Jahr und einer AutorInnenzahl von 30 bis 40 Leuten, darunter viele, ca. ein Viertel, die nur ein Buch veröffentlicht haben, meist in Form einer Bekenntnisschrift. (Rothe 1999: 36-37)

Resumierend kann also festgestellt werden, dass das Genre Beur-Literatur so für die meisten LiteraturwissenschaftlerInnen maximal auf eine ganze SchriftstellerInnengeneration angewendet werden kann. Bei der Definition des Terminus bleibt der AutorInnenaspekt gegenüber der inhaltlichen Komponente im Vordergrund. Ben Jellouns Erzählung könnte demnach über einen Genrebegriff nicht genauer inhaltlich beschrieben werden. Sie würde, je nach Perspektive, allgemein der maghrebinischen und marokkanischen Literatur bzw. der Immigrationsliteratur zugerechnet werden.

5.5.3 Spannungsräume kultureller Auseinandersetzung: Die Innenperspektive auf

die communautés marginalisées

Bouchentouf-Siagh macht als eine der wenigen auf die Fragilität des Begriffes Beur-Literatur aufmerksam und verweist darauf, dass sich mit dem Label nicht alle AutorInnen der Generation identifizieren können, darunter auch solche, deren Werke sich schwerpunktmäßig mit der Immigration auseinandersetzen. Bouchentouf-Siagh macht über die Verwendung des Ausdrucks auteurs maghrébins de la langue française die fließende Grenze zwischen der Generation der ImmigrantInnen und der Beurs deutlich. Was die Beur-Generation betrifft, stellt sie die Entwicklung von einer écriture-témoignage à des fictions dune certaine complexité et de formes plus élaborées innerhalb von weniger als 10 Jahren fest. (Bouchentouf-Siagh 1995: 318-319) Bouchentouf-Siagh beschreibt aber trotzdem die Ausdrucksformen und -genres dieser LiteratInnen als zwiespältiger und vielfältiger als andere:

Apparue au début des années 80 dans le sillage dune expression multiple et multiforme qui a émergé à partir des années 70 dans le domaine de la chanson et du théâtre surtout, et qui était le fait de jeunes, Maghrébins ou dorigine maghrébine. Cette littérature, qui ne constitue un corpus ni par la thématique, ni par lesthétique, ni par lorigine et lévolution propre des auteurs, ne constitue davantage une „école“ - lappelation recouvre en fait lappartenance des auteurs à la communauté que nous venons dévoquer plus haut. (Bouchentouf-Siagh 1995: 318)

So ist es ihrer Ansicht nach in erster Linie nicht die Beschreibung einer erlebten Realität, die die Texte bestimmt, sondern ein Gegendiskurs zu den vielfachen Beschreibungen der communautés von außen durch andere, nicht Betroffene. Hier findet dem gegenüber also die Beschreibung der Immigration, des Integrationsprozesses, der Diskriminierung etc. von innen statt.

Zwar stellt sie den Begriff Beur auch in den Kontext einer Generation, aber ihre Beschreibung der Beur-Literatur als einem extrem vielfältigen und stark divergierenden Genre, das sie wesentlich durch die Innenperspektive charakterisiert und dem sie ein einheitliches Thema oder eine solche Ästhetik abspricht, erlaubt eine Einordnung wenn auch nicht Ben Jellouns in die Generation, aber seines Romans Les raisins de la galère in das Genre. Die Banlieue ist ihr zufolge der Ort, in dem der Identitätskonflikt ausgetragen wird, stellt also eine Art soziale Kulisse dar. Sie ist aber nicht das Thema dieser Literatur und bestimmt auch nur bedingt das von ihr beschriebene Milieu, das ja mehrheitlich ein ganz spezifisches Banlieuemilieu ist und so durch andere Faktoren wie eben den Rassismus, die Herkunft o.ä. mindestens genauso stark bestimmt ist. Diese Charakterisierung trifft auf Ben Jellouns Erzählung ziemlich genau zu. Die Perspektive Nadias auf die Banlieue von Resteville zeigt im Wesentlichen einen Ausschnitt von ihr, nämlich den von maghrebinischen ImmigrantInnen geprägten Val-de-Nulle-Part, der ihr tägliches Leben und ihr Selbstverständnis prägt.

Die Beschreibung dieser Realitäten in den Texten findet oft in Form einer Konfrontation, nämlich der des Generationenkonflikts statt, der die Ambivalenz zwischen der Herkunft der Charaktere und ihrer Einschreibung im gegenwärtigen und alltäglichen Leben, also ihrem konkreten Milieu, zum Ausdruck bringt. Die von den Eltern „angebotenen“ Identifikationspunkte der maghrebinischen Kultur stehen der Alltagskultur dieser Spannungsräume kultureller Auseinandersetzung („third space“) (Bachmann-Medick 1996: 285) der communautés marginalisées gegenüber: La culture des parents devient une culture „étrange“ aux yeux des enfants nés ou arrivés très jeunes en France. Que ce soit la langue, les pratiques religieuses ou la mode vestimentaire [...] (Bouchentouf-Siagh 1995: 319-320)

Hier läßt sich leicht eine Parallele zur Immigrationschronik Nadias bei Ben Jelloun denken, wo dieser Generationenkonflikt zwischen Nadia und ihrem Vater breiten Raum einnimmt. Wie von Bouchentouf-Siagh allgemein beschrieben, empfindet auch Nadia die Kultur Algeriens, konkret der Heimatstadt ihrer Familie, Tadmaït als fremd und stellt ihr ihre vertraute hybride Banlieue gegenüber :

Des jeunes comme Saadia et moi navions rien à faire dans ce mouroir. Après la fête, jai été prise de nausées. Cest fou ce quon mange, dans notre tribu! Et si tu ne tempiffes pas, cest que tu ne les aimes pas. Javais essayé de faire semblant, mais on mavait forcée, gavée. Vivement Resteville! Là, au moins, personne ne poussait à la consommation! (Ben Jelloun 1999: 12-13)

Dieses kulturelle Fremdheitsempfinden verweist letztendlich wieder weit über die Genrefrage hinaus und führt zur anfangs thematisierten Grundfrage des Postkolonialismus, den Verortungen der Kultur (Bhabha 1993) und die diesem Begriff eingeschriebene Zurückweisung klassischer Identitätskategorien zugunsten multipler Identitäten, zurück. Dieser Ablehnung von jeglichen Authentizitätsansprüchen entspricht auch ein Beur-Literaturkonzept, das nicht an fixen ethnischen Identitäten der AutorInnen orientiert ist, sondern eben v.a. die Blickweise auf hybride Kulturen ins Zentrum rückt. Denn diese charakterisieren die kulturelle Schmelztiegelfunktion der heutigen Metropolen sowie auch der postkolonialen Literatur, die freilich immer eine Verarbeitung realer, von Alterität geprägter Schicksale darstellt und darstellen sollte. Denn diese konkrete und lokale „Erdung“ universaler Phänomene ist gerade aufgrund der immer mehr überhand nehmenden (Sprachen der) Globalisierung, die eine zunehmende Angleichung der Lebensrealitäten (von der Wirtschaft bis zur Wissenschaft) deutlich machen und forcieren, um so bedeutender. Hier kommt der Literatur die Rolle zu, über das ihr eigene Mittel der Differenzierung die jeweiligen kulturellen Unterschiede zu betonen, also eine ebenso internationale Gegenstimme zur marktkonformen Vereinheitlichung herauszubilden. (Bachmann-Medick 1996: 290)

Quel pays est le mien? Celui de mon père? Celui de mon enfance? Ai-je droit à une patrie? Il marrive parfois de sortir ma carte didentité - non, on dit: „carte nationale didentité“. En haut et en majuscules: REPUBLIQUE FRANÇAISE. Je suis fille de cette république-là. Nom, prénom(s), né(e) le, à, taille, signes particuliers, domicile, fait le, par, signature du titulaire. Signes particuliers: néant. Il nont rien mentionné. Cela veut-il dire que je ne suis rien? Pas même „rebelle“ ou „Beur en colère“? (Ben Jelloun 1999: 140)

ABBLENDUNG

Die soziale Relevanz der „Texte“

Sowohl die filmischen und literarischen Ausgangstexte, als auch die beiden Theorierepertoires weisen einen starken Kontrast auf. Bei den Primärtexten zeigen sich v.a. bzgl. der Perspektive und des Abstraktions- bzw. Dokumentationsgrades Unterschiede. Bei den Taverniers bleiben konstant eine angemessenere und würdigere Repräsentation der Siedlung in den Medien das zentrale Thema. Damit sind die Forderungen nach einer besseren Infrastruktur und Integrationspolitik verbunden, allen voran die Verbesserung der Arbeitsplatzsituation. So bleiben vom Anfang bis zum Ende des Films die politische Motivation und die sozialen Lebensrealitäten der BewohnerInnen von Les Grands Pêchers präsent. Bei Ben Jelloun hingegen überlagert im Verlauf der Erzählung zunehmend die Identitätsfrage die Schilderung der sozialen Lage der BewohnerInnen vom Val-de-Nulle-Part. Die dokumentarischen Milieuportraits aus der Perspektive Nadias nehmen ab, die Thematisierung der Herkunft und Identität Nadias in Form von inneren Monologen nimmt zu.

Diese Differenz im „Sozialreportagencharakter“ liegt in den beiden Genres und Medien begründet. Wie im Kapitel zur Beur-Literatur schon angedeutet, hat sich diese v.a. in den letzten 15 Jahren immer mehr von einer reinen littérature de témoignage zu einem technisch und formal raffinierten Genre entwickelt. (vgl. Bouchentouf-Siagh 1995) Hier stehen aber automatisch -selbst bei Formen der littérature beur engagée, wozu ich den Text von Ben Jelloun rechnen würde- Fragen der Ästhetik und eines damit korrespondierenden (fiktionalen) Handlungsverlaufs stärker im Vordergrund als das Verlangen nach (scheinbar authentischer) Dokumentation im Stil von Bekenntnisliteratur.

So enthält Ben Jellouns Text zwar Anspielungen an Forschungsberichte und reale Personen, die entsprechenden Textpassagen werden aber weder ausdrücklich hervorgehoben, noch werden die Berichte und Personen im Paratext durch bibliographische Angaben o.ä. explizit belegt. Aufgrund der Verfremdung der dokumentarischen Quellen, also der Dominanz des fiktionalen Handlungsstrangs, stellt sich bei der LeserIn automatisch eine größere Identifikationsmöglichkeit mit der Protagonistin Nadia ein. Die üblichen Charakteristika der traditionellen Bekenntnisliteratur wie relativ enge Perspektive (da es sich um den Erlebnisbericht einer Person handelt), mangelnde formal-ästhetische Raffinessen sowie triviale Handlung fallen hier weg. Allerdings geht damit ein Verlust der dokumentarischen Glaubwürdigkeit einher. Aufgrund der Tatsache, dass der Autor Ben Jelloun, im Gegensatz zu den Taverniers, so nur stellvertretend über seine Protagonistin zu den LeserInnen sprechen kann, geht der „Bekenntniseffekt“ bei einer einfachen Lektüre weitgehend verloren. Denn der dokumentarische Textcharakter wird erst bei weitergehenden Recherchen klar, im Normalfall fällt nur die dokumentarische Ästhetik auf.

Beim Dokumentarfilm stellen sich die Fragen nach der sozialen Relevanz und Glaubwürdigkeit anders. Grundsätzlich ist eine schnellere Reaktionsmöglichkeit aufgrund der in der Regel kürzeren Produktionszeit gegeben. Ein „Antworten“ auf politische Ereignisse, ein „sich Einschalten“ in gesellschaftspolitische Diskussionen, wie dies bei den Taverniers der Fall war, ist so besser möglich. Eine größere Glaubwürdigkeit in den Film wird zudem durch die konventionellen Rezeptionsgewohnheiten gewährt. Als Faustregel gilt: Die Bildspur legitimiert die Tonspur. Auch bei den Taverniers ist dies der Fall. Die grundlegenden Informationen werden alle über die Tonspur geliefert, die Bilder von der Cité bestätigen die Informationen. Wie von Hohenberger u.a. dargelegt, beruht dieser Mechanismus zwar auf einer fragwürdigen Wahrnehmung -ob die gefilmten InterviewpartnerInnen der Taverniers „echte“ BewohnerInnen der Siedlung oder SchauspielerInnen sind, ist intrafilmisch nicht verifizierbar, mensch nimmt die Bilder aber nichtsdestotrotz als Garanten der Authentizität des Geschilderten wahr. (vgl. Hohenberger 1998) Eine Personalunion von Autor, Regisseur, Sprecher, Produzent und Kameramann, wie bei den Taverniers der Fall, unterstreicht diesen Effekt zusätzlich. Ein solches Konstrukt ist in der Literatur undenkbar. Auch die textuelle Mehrstimmigkeit stellt sich bei dokumentarischen Filmen anders dar. Sie ist keine Frage der Glaubwürdigkeit, sondern nur eine der ästhetischen Wahl.

Neben der unterschiedlich starken Repräsentation der sozialen Lebensrealitäten der Banlieue in den Texten stellt sich die Frage, inwieweit die verwendeten Theoriepotentiale zu deren Beschreibung geeignet sind. Hier zeigen sich grundlegende Unterschiede. Bei der vorgestellten Dokumentarfilmtheorie handelt es sich um einen im Wesentlichen narrativen Ansatz, in dessen Zentrum die Debatte um authentische Widerspiegelung der Realität v/s Fiktion steht. Dies zeigt, dass die genrespezifischen Ansätze im Bereich des Dokumentarfilms nocht nicht so ausdifferenziert sind, wie dies im Literaturbereich der Fall ist. Während im literarischen Kontext längst Konsens ist, dass beide Phänomene rhetorische Effekte sind, suchen die meisten DokumentarfilmtheoretikerInnen nach wie vor nach dem Genre eigenen Erzähl- und Repräsentationsformen. Freilich ist der Anspruch, der Dokumentarfilm stelle ein Fenster zur Welt dar, längst fallen gelassen worden, nicht aber ein besonderer bzw. unterschiedlicher Wirklichkeitsbezug im Vergleich zum Spielfilm. (vgl. Beyerle 1997) So geht es auch bei Nichols weiterhin um die Frage des Repräsentationsanspruchs des Dokumentarfilms. Seine Typologie unterscheidet zwar Repräsentationsmodi, die den eigenen Authentizitätsanspruch im Wesentlichen aufrecht erhalten (expository/ observational/ interactive mode), und solchen, die ihn hinterfragen (reflexive/ performative mode), die Debatte um den Wirklichkeitsbezug bleibt aber aktuell. (Nichols 1988/1994) Dieser dominante Diskurs der Dokumentarfilmtheorie geht zwar auf die Frage der sozialen Relevanz nicht direkt ein, aber er hält an einem direkten Realitätsbezug des Genres fest, um sich vom Spielfilm zu unterscheiden. Er bezieht somit aus dieser Eigenschaft seine Legitimation und beansprucht ein höheres Maß an Authentizität und Glaubwürdigkeit, was den Bezug des Gezeigten zur gesellschaftlichen Realität betrifft, als der Spielfilm. Dies beschreibt, zugegebenermaßen auf einer sehr abstrakten Ebene, den Anspruch der Taverniers, die zwar ihre Darstellung im narrativen Sinn auch immer wieder verfremden und durchbrechen, aber ihren Film als, wenn auch subjektiven, Ausschnitt aus der gesellschaftlichen Realität Frankreichs verstehen.

Die postkoloniale Theorie Bhabhas und Bachmann-Medicks setzt auf einer anderen Ebene ein. Denn hierbei handelt es sich um keinen Ansatz, der die textuelle Form analysiert, sondern um einen, der auf die Auswirkungen der weltweiten Migration auf die heutigen Metropolen eingeht. Dies geschieht allerdings auf einer sehr abstrakt-ästhetisierenden Ebene. Bezüglich der starken Wanderbewegungen aus den Ex-Kolonien in deren ehemalige métropoles finden die politisch-ökonomischen Ursachen und die sozialen Realitäten wenig Berücksichtigung. Im Zentrum steht die ethnische Herkunft der MigrantInnen, also ihre kulturell konfliktuöse und multiple Biographie und Identität. Dies wird besonders anhand der Metaphorik (Zwischenräume, third space, métissage) des Postkolonialismus deutlich. Die postmodernen Termini gehen zwar auf die biographisch bedingten kulturellen und ethnischen Ambivalenzen der Identität der MigrantInnen ein, nicht aber auf deren soziale Lebensrealität. Die Beschreibungsmodi des Postkolonialismus können aber nicht nur als selektiv, sondern auch als stark abstrakt und ästhetisierend eingestuft werden. Denn sie gehen nicht nur über die soziale Herkunft und Lage der MigrantInnen hinweg, sondern auch über die realen Auswirkungen der Ambivalenzen, wie sie in Les raisins de la galère beschrieben werden. An der realen Brutalität von Rassismus, Integrationszwängen etc., die zumindest ein bedingt schichtspezifisches Phänomen sind, geht die wertfreie Ästhetik der postmodernen Termini vorbei. Umgelegt auf den Text Ben Jellouns bedeutet dies, dass sich mit diesem Ansatz die von Nadia in ihrem inneren Monolog thematisierten Konflikte mit der eigenen génération beur, also ihr persönlicher Zwiespalt zwischen französischer StaatsbürgerInnenschaft und arabisch-algerisch-kabylischer Herkunft fassen läßt. Die darüber hinaus thematisierte soziale Herkunft der Familie, das Scheitern ihrer Vorfahren (als klassische Arbeitsimmigranten) und Brüder an der Integration aufgrund von Bildungsdefiziten und Gettoisierung im ImmigrantInnenviertel Val-de-Nulle-Part ist mit den Ansätzen von Bhabha und Bachmann-Medicks aber ebenso wenig beschreibbar wie die Milieustudien Nadias über die allgemeine Situation der ImmigrantInnen in der HLM-Siedlung.

Fazit: Ohne zusätzliches Material, das die Lebensrealitäten in der Banlieue berücksichtigt, kann eine ausgewogene Untersuchung von beiden Texte nicht stattfinden. Sowohl die Dokumentarfilmtheorie, als auch die postkoloniale Theorie bedürfen der Ergänzung durch soziologisches Quellenmaterial, wie z.B. die Studien von Boyer und Lochard bzw. von Bourdieu und Champagne. Sie erst liefern den stadtsoziologischen Kontext, der eine Einordnung der Texte in die gesellschaftspolitische Realität der Banlieue, der HLMs, der Arbeitsimmigration, des Rassismus... und die öffentlichen Debatten darüber gestattet.

BIBLIOGRAPHIE

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  1. Sekundärliteratur

2.1 Dokumentarfilmtheorie

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2.2 Entstehungsgeschichte des Dokumentarfilms De lautre côté du périph/ Der Blick auf die Banlieue / Medienkritik und Narration in De lautre côté du périph

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Claude Willard/ José Fort 1982: Montreuil-sous-Bois des origines à nos jours. Bellegarde.

2.3 Tahar Ben Jellouns Erzählung Les raisins de la galère im Lichte von De lautre côté du périph

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Homi K. Bhabha 1997: Verortungen der Kultur. In: Elisabeth Bronfen/Benjamin Marius/Therese Steffen (Hgg.) 1997: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen. S.123-148.

Azouz Begag 1999: La place de limmigré dans la société française. In: Ernstpeter Ruhe (Hg.) 1999: Die Kinder der Immigration/Les enfants de limmigration. Würzburg. S.21-25.

Charles Bonn 1994: Romans féminins de limmigration dorigine maghrébine. En France et en Belgique. In: Notre Librairie. Nr.118. S.98-107.

Zohra Bouchentouf-Siagh 1995: Aspects de la réalité culturelle et linguistique française daujourdhui, à travers quelques romans dits „beurs“. In: Cahiers francophones dEurope centre-orientale. Bd.2. Nr.5-6. S.315-326.

Pierre Bourdieu u.a. 1993: La misère du monde. Paris

Pierre Bourdieu u.a. 1993: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz.

.Pierre Bourdieu 1993: Glückliche Tage. und „Ein junger Einwanderer der zweiten Generation im Gespräch mit Pierre Bourdieu und Rosine Christin.“ In: Pierre Bourdieu u.a. 1993: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz. S.535-538 und S.539-555.

Patrick Champagne 1993: La vision médiatique. In: Pierre Bourdieu u.a. 1993: La misère du monde. Paris. S.61-79.

Gérard Genette 1982: Palimpsestes: La littérature au second dégré. Paris.

Gérard Genette 1987: Seuils. Paris.

Alec G. Hargreaves 1991: Voices from the North African Immigrant Society in France. Immigration and Identity in Beur Fiction. New York/Oxford.

Alec G. Hargreaves 1999: No Escape? From „cinéma beur“ to the „cinéma de la banlieue“. In: Ernstpeter Ruhe (Hg.) 1999: Die Kinder der Immigration/Les enfants de limmigration. Würzburg. S.115-128.

Hélène Jaccomard: French against French: The Uneasy Incorporation of Beurs into French Society. In: www.arts.uwa.edu.au/MotsPluriels/MP297hj.html

Michel Laronde 1993: Autour du roman beur. Immigration et Identité. Paris.

Michel Laronde 1996: Lécriture décentrée. In: Michel Laronde (Hg.) 1996: Lécriture décentrée. La langue de lAutre dans le roman contemporain. Paris. S.7-14.

Samia Mehrez 1992: Translation and the postcolonial experience: The francophone north african text. In: Lawrence Venuti 1992: Rethinking Translation. Discourse, Subjectivity, Ideology. London. S.120-138.

Le Monde: 19.11.92, 3.12.93, 2.3.95, 23.3.95, 14.12.95, 19.7.96, 22.7.96

Manfred Pfister 1985: Konzepte der Intertextualität. In: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hgg.) 1985: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen. S.1-30.

Johannes Röhrig 1999: Nachwort. In: Tahar Ben Jelloun 1999: Les raisins de la galère. Roman. Stuttgart. S.157-175.

Arnold Rothe 1999: Littérature et migration: Les Maghrébins en France, les Turcs en Allemagne. In: Ernstpeter Ruhe (Hg.) 1999: Die Kinder der Immigration/Les enfants de limmigration. Würzburg. S.27-52.

Ernstpeter Ruhe (Hg.) 1999: Die Kinder der Immigration/Les enfants de limmigration. Würzburg.

Abdelmalek Sayad 1993: Der Fluch.und „Ein Gastarbeiter im Gespräch mit Abdelmalek Sayad. Nichts ist so gekommen, wie wir es uns gedacht hatten.“ S.728-752. In: Pierre Bourdieu u.a. 1993: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz. S.725-727 und S.728-752.

Roland Spiller 1998: Tahar Ben Jelloun. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.) 1983: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. München. S.1-D4 (47. Nlg. 11/1998)

Roland Spiller 1999: Blicke aus dem „Entre-deux“. Ben Jellouns Texte zur Immigration als Stationen einer interkulturellen Ethik. In: Ernstpeter Ruhe (Hg.) 1999: Die Kinder der Immigration/Les enfants de limmigration. Würzburg. S.147-161.

Roland Spiller 2000: Tahar Ben Jelloun: Schreiben zwischen den Kulturen. Darmstadt.

Beyerle beschreibt den Konnex der beiden Annahmen wie folgt:

Die Verbundenheit der beiden Vorgehensweisen drückt sich darin aus, daß eine konzeptionelle Positionsveränderung im einen Bereich eine Positionsveränderung im anderen zur Folge hat: Das bis in die 60er Jahre starke Bedürfnis der Filmtheorie, den Dokumentarfilm vom Spielfilm abzugrenzen, rief gleichzeitig die Vorstellung hervor, der Dokumentarfilm böte einen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit. (Beyerle 1997: 20).

Vgl. auch Eco auf den diese semiotische Erkenntnis letztendlich zurückgeht, z.B. seine Bemwerkungen zum Kommunikationsdreieck und zum kinematographischen Code (Eco 1994: 69-74, 250-262).

Wenn sich hier das Dargestellte bzgl. der erzählten Zeit auf einer zeitlichen Ebene bewegt, also ohne Sprünge zwischen verschiedenen Zeitebenen, dann ist dies der Ästhetik gewisser Spielarten des Spielfilms schon sehr nahe, was z.B. beim Direct Cinema der Fall ist. Auf Dokumentarfilme, die viel mit Montage und Archivmaterial arbeiten, trifft dies natürlich nicht zu.

Beschränkt gilt die Feststellung, dass es sich beim Dokumentarfilm um ein Bewußtsein des Dagewesenseins handelt und nicht um eines des Daseins der Sache z.B. für Archivmaterial, da es als Dokument einer Realität wahrgenommen wird, das zum Zeitpunkt der Aufnahme existiert hat. Hinzuzufügen ist, dass Archivmaterial in einem Dokumentarfilm als Erzählung, die eine bestimmte Botschaft übermitteln will, fungiert. D.h. es kann auch in eine mehr oder weniger fiktionale Erzählung, einen Spielfilm eingegliedert werden, um die ZuschauerIn in eine andere Szene oder Zeit zu transferieren. Der Anspruch des Dokumentarfilms, als Dokument oder Evidenz zu gelten, ist folglich letztlich allen faktischen Repräsentationsformen eigen. (Beyerle 1997: 61-62)

Allerdings betont Beyerle, dass diese Tendenz samt der immer skeptischeren Haltung gegenüber filmischen Realismus v.a. von den TheoretikerInnen begründet wurde, die DokumentaristInnen sahen sich weiterhin in Opposition zum Hollywood-Kino, was den Einsatz von Spielfilmstrategien freilich nicht ausschloß. (Beyerle 1997: 43-44)

Dies ist eine wichtige Feststellung, denn sie macht deutlich, daß der Beweis für dokumentarische Authentizität intrafilmisch nicht erbracht werden kann, sondern notwendigerweise über bestimmte filmische Strategien, die einen Eindruck von Glaubwürdigkeit und Authentizität vermitteln, konstruiert oder suggeriert werden muß. Das heißt mit Mitteln, die letztlich denen des Spielfilms ähnlich sind oder sich auf dokumentarische Traditionen berufen (sei es in affirmativer oder distanzierender Absicht). (Beyerle 1997: 53)

Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen: Im manchen Formen des Dokumentarfilms werden SchauspielerInnen eingesetzt oder Szenen nachgestellt. Das gilt insbesondere für neuere Tendenzen. Siehe reflexive und performative mode.

Hohenberger kritisiert: Nichols selbst kann nicht umhin, den „Beobachtenden Modus“ des cinema direct durch seine starke Anlehnung an Verfahren des fiktionalen Films zu charakterisieren, behauptet aber dennoch, der Dokumentarfilm sei generell eine „andere Fiktion“ [...] (Hohenberger 1998: 24)

Carroll ist wohl der radikalste Kritiker von Nichols Herangehensweise an den Dokumentarfilm. Dessen Forderung, die Konstruktionsprozesse der Filme und ihre politischen Kontexte transparent zu machen, also reflexivere Dokumentarfilme zu produzieren, lehnt er ab. Reflexivität ist ihm zufolge ein Standard der modernen Ästhetik, aber keine Bedingung für Objektivität. Er schlägt vor, derartige Filme, da sie statistisch gesehen sicher nur ein Minderheitenprogramm bilden, aber das Hauptaugenmerk der Filmwissenschaft auf sich lenken, unter dem Titel künstlerischer Dokumentarfilm zusammenzufassen. Er resümiert folgendermaßen:

Denn man sollte annehmen, daß, wer Interesselosigkeit zum Prüfstein für Objektivität macht, behauptet, daß Ansichten, die man sich aus institutioneller Sorge um Selbsterhalt, institutionelle Legitimation und andere Formen des Eigeninteresses aneignet, genau jene Ansichten sind, deren objektiver Status durch die interesselose Konzeption von Objektivität in Frage gestellt und kritisiert würde. (Caroll 1996: 55)

Nichols unterscheidet bezüglich des Films drei Arten von „Stimmen“, die Bestandteil der filmischen Bedeutungsproduktion sind:

-das filmische Material: die bereitgestellten Stimmen, Töne und Bilder

-den Filmstil: die textuelle „Stimme“, die die Vielzahl der (kontrapunktuellen) Codes in ein einzelnes, kontrollierendes Muster aneignet

-den umgebenden historischen Kontext, einschließlich des Sehereignisses/der Rezeption selbst, das durch die textuelle Stimme nicht erfolgreich kontrolliert werden kann. (Nichols 1988: 59-60)

Minh-ha hat auch amerikanisches Filmaterial aus dem Vietnamkrieg eingesetzt, das weibliche Gefangene zeigt, die den nordvietnamesischen GegnerInnen auszuweichen versuchen, das von ihr aber ohne den amerikanischen voice-over Kommentar und in slow-motion verarbeitet wurde. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage der Authentizität völlig neu: Filme, die v.a. aus Archivmaterial bestehen, bringen so oft die Notwendigkeit von Neuinszenierungen mit sich, die paradoxerweise eine oft stärkere Wirkung von Authentizität und Wahrheitsgehalt eines so nochmals inszenierten Ereignisses mit sich bringen. (Nichols 1993: 178)

Der Körper kann im Dokumentarfilm aus drei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden, jede von ihnen repräsentiert eine andere Dimension unserer Konzeption des Selbst: Als Körper der sozialen AkteurIn, der Agierender und Subjekt von historischen Ereignissen und Erfahrungen ist, dann als Körper eines narrativen Charakters, der im Mittelpunkt von Handlungen steht, die alle die Handlung Richtung Ende vorwärtstreiben und letzens, als eine mythische ahistorische Person, als Typus oder Ikone, die sowohl als Objekt der Begierde als auch der Identifikation dient. Nichols zufolge gibt es freilich Überschneidungen zwischen den drei Möglichkeiten, wie sich leicht anhand des Beispiels von Marilyn Monroe bzw. eines performativen Dokumentarfilms über sie vorstellen läßt, in dem sie sowohl als Identifikationsobjekt dient als auch ihre historische Opferrolle etc. zum Tragen käme. (Nichols 1993: 184-185)

vgl. Michel Corajoud April 1994: Montreuil-aux-Pêchers. In: Monuments historiques. Nr. 192/ April 1994. Paris S.100-102.

zur Stadtgeschichte vgl. Claude Willard/José Fort 1982: Montreuil-sous-Bois des origines à nos jours. Bellegarde. S.46-150.

In diesen sechs Jahren werden immerhin fast 2000 Sozialwohnungen errichtet. (Montreuil-Dépêche Januar 1983: 6)

Laut einer Statistik von 1990 verteilt sich die Stadtbevölkerung wie folgt: von 95 038 EinwohnerInnen sind 17. 794 AusländerInnen (davon 83% ImmigrantInnen) und 31 994 nouveau arrivants seit 1982. Die stärksten Immigrationsgruppen sind heute: 22,1% AlgerierInnen, 17,4% PortugiesInnen, 7,7% MarokkanerInnen, 6% TunesierInnen, 4,2% ItalienerInnen. (Montreuil 1994: 23, 28)

Der Filmemacher Bertrand Tavernier begründet das Vorgehen der FilmemacherInnen, sich argumentativ auf den ersten Artikel zu konzentrieren, strategisch.

On sest polarisé ensuite sur le premier article de la loi Debré, alors que la remise en cause de lensemble des lois actuelles et à venir était très claire. Mais ce premier article était le seul auquel, à titre personnel, on pouvait désobéir, il était naturel den faire le levier de cette action. Lintelligence de lAppel, et un autre de ses aspects „cinématographiques“, est quil pointe la dérive dun „personnage“, en glissant du clandestin au sans-papiers puis à tous les immigrés pour en faire abusivement les responsables de tous les problèmes. Le mouvement est parti de cette „faute de scénario“ en même temps que dun écoeurement face à lirresponsabilité des politiques. (Le Monde 19.3.97: 24)

zum Regierungswechsel vgl. die Kapitel „Die vierzig Tage, die Frankreich erschüttern.“ und „Jospin-Sisyphus am Werk.“ (Felix Kreissler 1998: 15-64).

Die Komplexität hängt laut Rosello v.a. mit der häufigen Novellierung zusammen, so dass manche Absätze ledglich dazu dienen, einen vorangehenden zu annulieren, dessen Bedeutung nur bei der Lektüre der Originalfassung des Gesetzestextes klar wird. (Rosello 1999: 54-56, 59, 63) Auch Marcé-Sacron betont diesen Zustand: Die zwei entgegengesetzten Prinzipien der politischen Linken und Rechten (mehr Kontrolle versus mehr Rechte) finden sich seiner Ansicht nach im Text wieder. Denn bei der jeweiligen Reform wurden neue Passagen hinzugefügt und alte gestrichen, so dass statt eines kohärenten Textes eine derartige Verflechtung zustande gekommen ist. Die Tatsache des geringen Umfangs der Änderungen im Verhältnis zum Wahlversprechen (regularisation des sans-papiers) führt er auf das zwar gute mediale Netzwerk der PetitionistInnen, aber ihre um so schlechteren Verbindungen zu den politischen Parteien zurück, also v.a. der schlechten Verankerung der PS im intellektuellen Milieu. Hinzu kommen natürlich das Erstarken des FN und die anstehenden Regionalwahlen im März 1998. (Macé-Sacron 1998: 151-152, 154)

Die dem Premierminister übergebenen Berichte tragen die Titel „Pour une politique de limmigration juste et efficace“ und „Des conditions dapplication du principe du droit du sol pour lattribution de la nationalité française“. (Macé-Sacron 1998: 151)

Toulon wurde zum Pfahl im Fleisch der Republik, nachdem es 1995 den Frontisten Le Chevalier zum Bürgermeister gewählt hatte und damit Westeuropas grösste rechtsextrem regierte Stadt geworden war. [...] Le Chevalier wurde in den französischen Medien nicht todgeschwiegen, aber seine oft banalen, unterschwellig jedoch bedrohlichen Eskapaden im kulturellen Bereich wurden nie derart aufgebauscht wie jene Haiders in Österreich. Berüchtigt waren die nationalistische Manipulation und anschließende Abschaffung der einst bekannten Buchmesse in Toulon [...] (Neue Zürcher Zeitung 1.3.01: 5)

In Vitrolles, der zweiten im Midi vom FN dominierten Stadt, die immer noch von ihm regiert wird, sind die Auswirkungen der einschlägigen Kulturpolitik bis heute extrem präsent: Die Musikgruppe Massilia Sound System ist aus der Stadt „emigriert“, das Café Musiques Le Sous-Marin feiert seinen 10jährigen Geburtstag in Marseille, da ihm sein Lokal in Vitrolles entzogen wurde. Viele Kultureinrichtungen wie das Stadttheater, zumal kritische und zeitgenössische, wurden geschlossen bzw. deren LeiterInnen wurden abgesetzt oder die Subventionen radikal gekürzt. (Libération 11./12.11.00: 31-32)

Der Name des Kinos verweist auf die filmgeschichtliche Tradition Montreuils: Zwischen 1896 und 1929 werden in der Zone rund um den Platz Croix-de-Chavaux, wo heute das Kino steht, 1200 Stummfilme produziert, die dem noch bürgerlichen Sommerfrischeort Montreuil in der Phase vor der Industrialisierung sein Renomee verleihen. Federführend ist Georges Méliès, der im Gemüsegarten seiner Eltern 1896/97 das erste Filmstudio der Welt baut und Star Film gründet. 1905 baut er ein zweites Studio und bis 1917 werden von Méliès in Montreuil 500 Filme mit LaienschauspielerInnen produziert und geschrieben, in denen er als Regisseur, Schauspieler, Bühnenbildner und Illusionist mitwirkt. 1900 gründet er ebenfalls die erste Filmproduzentengewerkschaft. Mit dem Zunehmen der amerikanischen Konkurrenz und der Erfindung des Tonfilms ist die Filmära Montreuils allerdings beendet. (Jankowski 1994: 199; Kermabon 1995: 94-95; Willard 1982: 67-71)

Diese verhältnismäßig bescheidene Berichterstattung (vgl. La Croix 6.12.97: 21, 9.12.97: 4; L`Humanité 6.12.97: 25; Le Monde 1.12.97: 2, 15.12.97: 27, 38, 29.12.97: 38, 12.1.98: 38; Nouvel Observateur 4.12.97: 178-179; La Tribune 5.12.97: 31) überrascht, da es sich bei der Produktion doch um ein für einen Ort wie Montreuil eher außergewöhnliches Unterfangen handelt. Denn Taverniers Film ist vermutlich die einzige zeitgenössische Produktion, die ganz in Montreuil spielt.

Darüberhinaus erweist die Filmkomödie Jet Set von Fabien Onteniente der Stadt Referenz: Mike, ein Amateur-Schauspieler aus Montreuil wird von seinen FreundInnen als Prince Alessandro di Segafredi in die Pariser High-Society-Szene geschickt, um die Existenz ihrer Bomba Bar in Montreuil zu retten. Nachdem der High-Society-Guru schon am zweiten Tag von Mikes neuer Existenz dessen Paß mit der Wohnadresse „Cité des Grands Pêchers“ entdeckt und Interesse an ihm als neuen Szene-Sonnyboy gewinnt, managt er ihn von nun an. Via Voici fliegt seine Identität nach einiger Zeit auf, Mike kann aber bis dahin durch sein Starlett-Dasein genug Geld sammeln, um die Bar für seine FreundInnen aufkaufen zu können. Zur Einweihung der im indischen Stil renovierten Bar kommt ein Teil der High Society angereist, in orientalischem Look. Ihre Wahrnehmung der Banlieue ist einerseits von den üblichen (Fernseh-) Klischees geprägt („Wilde“, „Gestank“, „keine Kultur“ ...), andererseits hat für sie der Gedanke, in einer kleinbürgerlichen Banlieue-Kneipe statt im Luxus der Palais zu feiern, den Reiz des Exotischen, so dass in Anbetracht der Langeweile und Saturiertheit der Pariser Szene die Banlieue als Kulisse schon wieder schick ist.

Libération 6./7.12.97: 1-4, 13./14.12.97: 43; Montreuil-Dépêche 26.11.97: 7, 3.12.97: 6, 28.3.98: 1-2; Télérama 3.12.97: 84-88,.123, 10.12.97: 134.

vgl. Sivan 1999, Garbarz 1998,Kelly 1998, Orléan 1998.

vgl. Le Monde 5.3.97: 30; Télérama 3.12.97: 84; 88; Douin 1997; Tavernier 1998; Hay 2000.

Am 3. Oktober erscheint auf der ersten Seite von Le Monde eine Petition, die die Legalisierung aller „illegalen“ ImmigrantInnen fordert. Allerdings gewinnt die Regierung durch diese unpopuläre Forderung Oberwasser, die PetitionistInnen stehen als Linksradikale da. Es folgen zwei Gegen-Petitionen aus dem intellektuellen Umfeld des Innenministers. Mit kleineren Korrekturen fällt es nun aufgrund der Stigmatisierung der PetitionistInnen um so leichter, auch die letzten Abgeordneten von den Grünen und den Kommunisten für den Entwurf zu gewinnen. (Nouvel Observateur 4.12.97: 63)

Trotz all dieser medienkritischen Ansätze bleibt ein zentrales Problem der medialen Repräsentation der Krise der Banlieue ungelöst, nämlich die Tatsache, dass sich das Fernsehen zu dem hegemonialen Medium schlechthin entwickelt hat. V.a. bei Sendereihen, die einem breiten Publikum gewidmet sind, wozu zweifelsfrei das Thema der Banlieue gehört, gilt hier die Einfachheit der Darstellung als Kriterium. Die Vermittlung verschiedener und sich widersprechender Sichtweisen auf die Welt der Banlieue läßt sich schwer mit diesem dominanten Diskurs der Verallgemeinerung, dem Verlangen nach einer möglichst großen Einschaltquote und den konkreten Produktionsbedingungen vereinbaren. Diese Bedingungen privilegieren eher einen eindimensionalen Stil mit simplifizierend-dramatisierenden Bildern vor einer komplexeren Repräsentation. (Boyer 1998: 119)

siehe Raoults Brief

z.B. „Lintégration ce nest pas du cinéma.“ ERIC RAOULT oder: „Réussir lintégration dun étranger en France consiste à lui trouver une crèche, une école...“ ERIC RAOULT (Le cœur de la cité)

Von 96 000 EinwohnerInnen sind laut Bürgermeister Brard 9 000 arbeitslos, darunter ein Viertel „Jugendliche“. Und der Auskunft des OPHLM-Chefs Raphaël Grégoire zufolge sind 1997 die nationalen Subventionen für den Sozialwohnungsbau in Montreuil auf Null gesenkt worden. (Le cœur de la cité)

Diese Argumentationslinie ist aber auch im Kontext der Integrationsdebatten, die den ideologischen Gegenpol zur Linie Pasqua-Debré bilden, weit verbreitet. Sie wird u.a. von Daniel Bensaïd vertreten. Auch er lehnt die Diskussion auf einer kulturellen oder ethnischen Ebene weitgehend ab:

Les lois Pasqua et Debré ne sont pas, comme le prétend M. Giesbert, des lois dintégration, mais des lois de désintégration sociale. Sous couvert de lutte contre limmigration „clandestine“, au lieu de lutter contre les négriers et employeurs professionnels de désobéissance incivique, elle fragilisent et insécurisent tout étranger en tant que tel. [...] Elles accréditent lidée que limmigration est le „vrai problème“ et la cause de bien des maux, alors que la racine de peurs qui hantent la société se trouve dans la crise demploi, dans la crise urbaine, dans la crise scolaire, en un mot dans tout ce qui fait quon ne sait plus où, comment, et à quoi „intégrer“ les déplacés de la mondialisation. En fragilisant les immigrés, elles divisent et affaiblissent les travailleurs français eux-mêmes. (Bensaïd 1997:13)

Tavernier spielt auf den berühmten Aufsatz On the Duty of Civil Disobedience (1849/66) des Praktikers und Theoretikers des gewaltfreien Widerstandes an: Ich mache mir das Vergnügen, mir einen Staat vorzustellen, der es sich leisten kann, zu allen Menschen gerecht zu sein, und der das Individuum achtungsvoll als Nachbarn behandelt; einen Staat, der es nicht für unvereinbar mit seiner Stellung hielte, wenn einige ihm fernblieben, sich nicht mit ihm einließen und nicht von ihm einbezogen würden, solange sie nur alle nachbarlichen, mitmenschlichen Pflichten erfüllten. (Thoreau 1996: 95)

Durch die Perspektivierung und die starke Kohärenzfunktion des Rahmens wird auch die Vielstimmigkeit eingegrenzt. Sowohl inhaltlich als auch vom Material her sind zwar Widersprüchlichkeiten vorhanden, sie werden aber in die Filmlogik eingebaut. So werden rassistische oder sonstige abweichende Äußerungen als Beweis für die Stigmatisierung der Banlieue verwendet. Eine Differenz zwischen der Aussage des Films und der Filmemacher ist aufgrund ihrer Identifizierung mit den BewohnerInnen und der Privilegierung einer sozialen Argumentation nicht gegeben. (Nichols 1988: 56-57; Nichols 1993: 177-178)

So ist Bertrand Tavernier in der Szene in Alexandre Leonardovichs Wohnung z.B. ebenso wie sein Mikro im Spiegel sichtbar, in einer anderen Szene mit François ist er als Gesprächspartner längere Zeit gleichberechtigt im Bild, während die beiden durch die Cité schreiten.

Ohne Zweifel bleibt laut Mehrez die Dominanz der ehemaligen Kolonialsprache also erhalten, aber sie wird zumindest auf der Ebene der Handlung und der literarischen Strategien durch die anderen beiden Kulturbereiche unterminiert und auf der sprachlichen Ebene durch Verbindungen wie Neologismen oder durch Einfügungen und Zitate gebrochen. Das bedeutet einerseits für die AutorIn den Verlust nicht ihrer, sondern der Sprache generell, da Schreiben und Lesen nur noch aus Übersetzungsprozessen, aus dem Schaffen einer neuen, sperrigen Sprache, einem franco-arabischen Kreol besteht und andererseits für die LeserInnen, dass die Texte nur mit Kenntnissen der afrikanisch-arabischen Kultur und Sprache dekodierbar sind. Während also die wirschaftliche Komponente (Absatzmarkt und LeserInnenschaft der Literatur) in der Regel weiterhin vom Westen dominiert wird, bestimmen die afrikanischen Kulturelemente -abgesehen vom ökonomisch-politischen Zensuraspekt, den Mehrez nicht berücksichtigt- zumindest die kulturelle Dominanz, besser: die kulturell-sprachliche Verwirrung eines Textes mit. (Mehrez 1992: 20-22)

Ein Beispiel dafür ist seine folgende Äußerung in der Stadtzeitung von Montreuil:

La mobilisation des intellectuels, cinéastes, écrivains, scientifiques... et bien au-delà de très nombreux citoyens contre la loi Debré est révélatrice dun profond attachement aux valeurs républicaines et aux droits de lhomme en France. Je mopposerai, à lAssemblée nationale, à ladoption dun tel dispositif attentatoire aux droits de lhomme, et, sil devait être adopté par la majorité, cherchant à séduire lélectorat Front national, je massocierais à mes collègues pour saisir le conseil constitutionnel.

En tout état de cause, la mise en oeuvre dune telle loi pose des problèmes moraux et matériels majeurs et je propose à mes collègues maires de préserver les libertés républicaines en en restant à lapplication de la loi actuelle. (Montreuil Dépêche 26.2.97: 4-5)

Als Leitfaden dient hier Gérard Genettes Werk (Genette 1987) über Geschichte und Systematik der Paratexte. Er beschreibt den Paratext als Verlängerung eines Textes. Er ist diesem zum Zweck der Präsentation des eigentlichen Textes untergeordnet. Der Paratext kann aus verbalen und non-verbalen Elementen wie Titel, AutorInnenname, Illustration, Satz, Vorwort etc. bestehen. Er macht den Text zum Buch, durch ihn wird der Text präsentiert und über ihn rezipiert. Der Paratext ist also die "Schwelle" zwischen LeserIn (=Außenwelt) und Buch einerseits, Buch und Text andererseits. So lautet auch der Titel des Originals in Anspielung an den Namen des Verlages, in dem das Buch erschienen ist, Seuils. Genette unterteilt den Paratext in Peritext und Epitext. Der Peritext faßt das Umfeld eines Textes innerhalb eines Buchbandes zusammen. Das beinhaltet z.B. die schon aufgelisteten Elemente. Der Epitext umfaßt alle Informationen, die sich außerhalb des Textes befinden und entweder einem Medium (z.B. Zeitungsinterview) oder der privaten Kommunikation (z.B. Tagebuch, Brief) entstammen. (Genette 1987: 7-11)

Banlieuescopies, 91 bis, rue du Cherche-Midi, 75006 Paris (Le Monde 2.3.95: 9)

Vgl. (Le Monde 3.1.92: 2)

Der Bericht heißt mit vollständigem Titel Les raisins de la galère. Etude exploratoire sur les préadolescents dans les quartiers populaires. Er hat 74 Seiten und wurde 1994 unter der Leitung von Adil Jazouli verfaßt, allerdings nie verlegt. So ist er auch nicht über einschlägige wissenschaftliche Bibliotheken erhältlich. Laut der Homepage des Ministère de lEquipement, des Transports et du Logement befindet er sich im dort angesiedelten Centre de Documentation de lUrbanisme. (Vgl. www.urbanisme.equipement.gouv.fr/cdu) Über Fernleihe war der Bericht nicht zu erhalten.

Ein Teil der Berichte ist u.a. von der délégation interministérielle à la ville in Auftrag gegeben worden. (Le Monde 19.11.92: 14; 2.5.95: 1, 9)

Vermutlich handelt es sich hierbei um Saadia Sahali, die unter der Leitung von Jazouli auch den 1996 erschienen Banlieuescopies-Bericht Les jeunes musulmans en France. Les jeunes Noirs en France. Études exploratoires. mitherausgegeben hat. (Le Monde 22.7.96)

Adil Jazouli/Tahar Ben Jelloun 1995: Une saison en banlieue, courants et prospectives dans les quartiers populaires. Paris.

zum Begriff vgl. (Ulrich Broich/Manfred Pfister 1985). Pfister definiert die Intertextualität als Beziehung zwischen Texten und geht, diese Konzeption einschränkend, davon aus, dass jeder Text auf bereits

vorhandene Texte reagiert. D.h. dass sowohl jeder Gegenstand als auch jedes Strukturelement eines neuen Textes bereits in anderen Texten vorhanden und beschrieben ist. Intertextualität kann so als Oberbegriff für Bezüge in einem Text auf andere Texte, sogenannte Prätexte, oder auf in diesen enthaltenen Codes und Sinnsystemen verstanden werden. Darunter fallen literaturwissenschaftliche Phönomene wie Zitat, Anspielung,

Adaption, Parodie etc. Allerdings wird hier davon ausgegangen, dass die Bezüge auf Prätexte nicht nur punktueller Natur sind. (Pfister 1985: 11-15)

François Maspéro verweist in seiner Besprechung der Erzählung auf ihre „Käpferinnennatur“ und ihre letztendlich erfolgreiche Schulkarriere: Elle se bat, elle est toujours battue: [...] contre les classes surpeuplées de son lycée, elle qui passera sa licence déconomie et deviendra sociologue [...] (Le Monde 19.1.96: 3)

Im ersten Aufsatz werden die Globalisierung in Amerika als Negativbeispiel und die Gefahren der Übernahme dieser Politik für Frankreich thematisiert, im zweiten, dem dann auch ein Interview folgt, steht der Boxer Richy im Mittelpunkt. Dieser wohnt sozusagen in einer HLM in Chicago, die in einem Viertel angesiedelt ist, das aufgrund von Kriminalität, Waffen und Drogen samt Bandenwesen verschrien ist und deshalb The Zone genannt wird.

Sie sind mit den Titeln Unsicherheit im Schwarzenghetto von Chicago und Unter Hustlern versehen.

Er beruht auf dem Chicago Fact Book, einer von Wacquant herausgegeben wissenschaftlichen Studie und der Chicago Tribune.

Vgl. (Boyer/Lochard 1998)

Vgl. dazu (Genette 1982)

Vgl. (Arend 1998: 141)

Vgl. (Ben Jelloun 1999: 129)

Der erste öffentliche Gebrauch des Begriffes ist auf die Gründung des Radio Beur in der Banlieue nördlich von Paris im Jahr 1981 durch Nacer Kettane und andere Jugendliche zurückzuführen. In der Presselandschaft wurde der Begriff erstmals im Jänner 1982 in einem Artikel der Libération verwendet. Eine breite Definition des Begriffs gibt Nacer Kettane, der ihn über eine doppelte orale Inversion etymologisch vom Begriff arabe (arabe - rebe - ber, geschrieben beur) herleitet, ihn aber semantisch von arabe abgrenzt und mit einem gemeinsamen kulturellen und geographischen Raum, dem Maghreb, und einem sozialen Raum, der Banlieue, sowie der Arbeiter-/Unterschicht Frankreichs identifiziert.(Hargreaves 1999: 116, 119; Laronde 1993: 51)

Spiller sieht diese inneren Monologe Nadias eher als Umsetzung eines Dialogs des Autors mit seinem Geschöpf und bezieht diese Interpretation auch konkret auf diese Passage Nadias. (Spiller 2000: 264-265)

Die kulturellen Diskrepanzen zwischen ihr und ihrem Vater zeigen sich auch in Form der Sprachkenntnisse: Während sich beim Vater im Französischen teilweise eine arabische Aussprache einstellt, verhält es sich bei Nadia umgekehrt:

Il roulait alors les r, comme au pays. En temps normal, il ne les roulait pas. Chez lui, cétait une façon de rappeler doù il venait tout en sexprimant dans une autre langue. [...] Son français était truffé de vocables arabes. Jessaie de ne pas tomber dans le même travers. Cest plutôt linverse: je parle assez mal larabe, et du kabyle je nai retenu que quelques mots. (Ben Jelloun 1999: 74)

Der Band La misère du monde enthält allerdings auch je ein Interview mit und einen Kommentar zu einem Gastarbeiter und einem Beur. Die zwei Berichte machen klar, dass es sich bei den Figuren Ben Jellouns um generationsspezifische Typen mit entsprechend allgemeingültigen Problemen handelt. In beiden Interviews werden etliche Themen angesprochen, die auch auf Nadia und ihren Vater zutreffen. Abbas ist als inzwischen pensionierter Arbeiter eines großen Industrieunternehmens der typische Vertreter des travailleur-immigré, wird aber auch als Intellektueller beschrieben. Er betrachtet seine Emigration mit 21 Jahren 1951 aus einer ländlichen Gegend in Algerien im Nachhinein äußerst negativ. V.a. seit seiner Pensionierung hat er sich, auch innerhalb der Familie, stark zurückgezogen. U.a. aufgrund der Erkenntnis, dass die Einwanderer nicht für den eigenen, sondern den Reichtum der anderen arbeiten, hat er resigniert und beklagt den Verlust der „eigenen“ Kultur. (Sayad 1993: 725-727; 728-752)

Malik ist ein 19jähriger Beur algerischer Herkunft, der auch in einer Siedlung aufgewachsen ist. Seine Eltern sind ebenso in den 60er Jahren nach Frankreich gekommen, der Vater ist auch nahezu ohne Schulbildung. Er beschreibt ihn zwar als in seiner Herkunft verwurzelt, sympathisiert aber mit ihm und seiner Integrationsleistung. Andererseits schildert Malik auch seine eigene Orientierungslosigkeit. Bourdieu führt das auf die destabilisierende Logik der trostlosen Vororte (Bourdieu 1993: 537) zurück. Hier zeigt sich, ähnlich wie bei Nadia, das Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber der eigenen Herkunft und Generation. So rechtfertigt Malik im Interview die Tatsache, dass auch seine Freundin algerischer Herkunft ist. (Bourdieu 1993: 535-538; 539-555)

Les enfants de l`immigration maghrébine en particulier, mais aussi les enfants d`origine antillaise, martiniquaise ou ceux de la Réunion, vous savez ce qui nous qualifie en France? La République française crie à tue-tête que nous sommes tous égaux les uns les autres, mais ce nest pas vrai. Parce que la différence entre nous et les indigènes, cest que nous sommes des FOC. Français dorigine colorée. Ou alors des FOV: Français dorigine visible. (Begag 1999: 24)

Ils sont bizarres, les Français: ils passent leur temps à dresser des murs pour se protéger et ils sétonnent de ne plus voir que des étrangers autour deux! Ils pensent que la banlieue ne fait déjà plus partie de lHexagone, mais que cet anneau-là a déjà décroché et dérivé du côté du tiers-monde, des pays non alignés, des régions en voie de sous-développement... (Ben Jelloun 1999: 141)

52 Laronde beschreibt diese Konzeption der Hybridität, alternativ croisement, créolisation oder métissage, als kulturelle und sprachliche Realitäten von Literaturen, die sich abseits von klassischen

Nationalliteruturkonzeptionen sehen. Diese Termini werden hier aber nicht auf die frankophonen Literaturen in den ehemaligen Kolonien, sondern die Beur-Literatur in Frankreich angewandt. Diese Ambivalenz, einerseits eine Literatur zu beschreiben, die anders ist/sein will, sich der Frankophonie zurechnet, andererseits aber im inneren Frankreichs angesiedelt ist und so auch zum literarischen Kanon gehört, beschreibt Laronde als Écriture décentrée. Denn die Beur-Literatur ist die erste Ausrichtung, die zwar kulturell und sprachlich durch die Herkunft der AutorInnen geprägt ist, aber gleichzeitig Manifestation von SchriftstellerInnen in Frankreich ist, die von hier aus gegen das Zentrum und die Norm anschreiben, gleichzeitig aber Bestandteil der französischen Literatur und Kultur sind. (Laronde 1996: 7-8)

So lautet der Titel eines von Ernstpeter Ruhe herausgegebenen Bandes, vgl. (Ruhe 1999).

Ein Großteil dieser SchriftstellerInnen, v.a. der Männer, hat sich in Frankreich fest niedergelassen, ist also exiliert. Die meisten stammen eher aus wohlhabenden Verhältnissen, das französische Schulsystem ist ihnen aufgrund der kolonialen Vergangenheit der Heimat bekannt, und sie haben dort meist auch studiert und zur intellektuellen Elite gehört. Viele von ihnen sind so in Frankreich zu anerkannten AutorInnen geworden und heute Bestandteil des literarischen „Kanons“, also in das kulturelle Leben Frankreichs längst integriert. Die Gruppe der Beurs ist erst gegen 1984 im Kontext des mouvement beur wahrgenommen worden. Viele von ihnen leben heute auch eine bürgerliche Existenz als AnwältInnen, JournalistInnen, LehrerInnen oder ÄrztInnen und haben ein Studium hinter sich. Einige sind auch CineastInnen geworden, oder schreiben Fernseh-Drehbücher. (Rothe 1999: 36-37) Rothe definiert diese Generation kontrastierend wie folgt:

Agés à lépoque de vingt à trente ans, dorigine algérienne modeste, les Beurs étaient venus en France dans leur petite enfance, comme Kettane, ou étaient déjà nés en métropole, comme Begag; ils avaient en tout état grandi pour la plupart dans un milieu de travailleurs immigrés. (Rothe 1999: 36)

Vgl. (Bachmann-Medick 1996: 285)

Da sie ihre Kategorien und Prämissen größtenteils aus der Theorie des fiktionalen Films ableiten und auf den neuen Gegenstand Dokumentarfilm übertragen, kann im eigentlichen Sinne von „Theorien“ des Dokumentarfilms nicht gesprochen werden. [...] Eher denn als Theorien` lassen sich die vorhandenen Texte als Ansätze zu einer Theorie des Dokumentarfilms begreifen, die ein Forschungsfeld konstituiert, [...] Forschung auf mittlerer Ebene, angesiedelt zwischen filmtheoretisch-begrifflicher Explikation und empirischer Befragung des Gegenstands. (Hohenberger 1998: 20)

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