Dr. Stefanie Diekmann
Europa-Universität Viadrina (Frankfurt / Oder)

 
Das Album, das Museum: Über Chris Markers „La Jetée“

 
Anmerkung: Als Vorschau auf meinen Beitrag schicke ich drei Ausschnitte aus den Überlegungen, die ich zu Markers Filmessay vortragen möchte. Insgesamt werden es wohl sieben oder acht Abschnitte werden.

 

I. Sich sterben sehen.

 

Von LA JETÉE erzählen heißt zwangsläufig auch: sich mit einer paradoxen Erzählstruktur befassen.

Das Paradox: nicht, daß einer zum selben Zeitpunkt an zwei Orten gewesen zu sein scheint (ein klassisches Rätsel der Kriminalliteratur), sondern daß sich an einem Ort zwei Zeitebenen verschränken, genauer: daß einer diesen Ort als Kind und als Mann aufgesucht hat, und daß der Moment, in dem das Kind und der Mann sich dort befanden, ein und derselbe war. Das Rollfeld von Orly, an das der Protagonist von LA JETÉE zurückkehrt, ist der Ort,  a n  d e m  e r      s i c h  s t e r b e n  s a h. Das Setting dieser allerersten Erinnerung wäre dann eines, an dem - zugleich - gleichzeitig - simultan - das Letzte geschieht, geschehen ist, denn der Tod wird hier ebenso in die Zukunft wie in die Vergangenheit gesetzt.

Ich wurde geboren und Ich starb. Louis Marin nannte dies einmal die zwei letztlich unmög-lichen Aussagen eines jeden autobiographischen Textes. Wenigstens die zweite - ich starb, und zwar: hier (auf dem Rollfeld) - ist jedoch eine, die von dem Mann, der sich am Ort seines längst vergangenen Todes wiederfindet, getätigt werden könnte, und antizipiert würde sie durch jene Reminiszenz, die Marker etwa in der Mitte seines Film-Essays ansiedelt.

Die Reminiszenz: Hier wurde ich geboren sagt Madeleine zu Ferguson in Hitchcocks Film VERTIGO, und hier bin ich gestorben, wobei sie die Zeitpunkte ihrer Geburt und ihres Todes, hier und hier, auf den Jahresringen eines jahrhundertealten Baumes markiert. In LA JETÉE wird sich diese Szene wiederholen, nur ist es diesmal der Mann, der die zeitliche Bestimmung vornimmt, und diese wird auch ein wenig anders formuliert: Von hier komme ich, sagt der Protagonist. Dem ersten Teil von Madeleines Erklärung, Hier wurde ich geboren, wäre das so fern nicht; den zweiten kann er nicht paraphrasieren, da er über den Zeitpunkt seines Todes noch nicht orientiert ist. Wäre er es, würde er zweimal auf dieselbe Stelle deuten, anders als Madeleine, die die Daten des geboren und gestorben so einträgt, daß dabei ein gewisser Abstand, eine zeitlich-räumliche Distanz, erkennbar bleibt.

Dort sterben wollen, wo man geboren wurde, auch: dort sterben, wo man als Kind war. Der Wunsch ist in literarischen und filmischen Erzählungen häufiger formuliert worden, LA JETÉE versteht ihn aber ein wenig anders als gewöhnlich. Der Unbekannte, der statt einer Flucht in die Zukunft die Rückkehr auf das Rollfeld von Orly (und damit den Tod) wählt, tut dies nicht nur, um einen Ort wiederzusehen, den er als Kind besucht hat. Er stirbt auch in der vergangenen Gegenwart seiner Kindheit, das heißt: zu einer Zeit, als er noch Kind war, nur ereilt ihn der Tod eben nicht als Kind, sondern vor den Augen des Kindes, als Mann. Die Erinnerung daran begleitet ihn sein Leben lang und ganz am Ende veranlaßt sie ihn, dorthin zurückzukehren, diesmal endgültig.

Zweimal wird der Ort des Todes übrigens auch in VERTIGO aufgesucht, ebenso wie sich der Tod selbst in diesem Film zweimal ereignet, auch vor den Augen eines Zeugen, jedoch ist dieser nicht identisch mit der Person, die zu Tode kommt. Die, die stirbt und der, der dies boebachtet, sind zwei verschiedene in diesem Film; ähnlich lassen sich auch die beiden Tode in einen vorgetäuschten und einen wirklichen trennen. Der Schwindel, den der Titel VERTIGO verspricht und den die Wiederholung erzeugt, ist so groß nicht, oder jedenfalls geringer als in LA JETÉE, wo das zweimal erlebte Ereignis ein Rätsel bleiben wird, ein Vorfall, der in die Strukturen der Sequentialität nicht einzufügen ist.

Die Autoren Bierce, Blanchot, Borges, Golding haben übrigens aus dem Moment des Todes vergleichbar paradoxe Konstruktionen entwickelt: Geschichten von seltsamen Aufschüben oder Reprisen, für die die zeitliche Ordnung des Erzählten eigentlich keinen Platz bereithält; Tode, die überlebt, übersprungen, rückgängig gemacht oder mehr als einmal in Szene gesetzt werden; Bewegungen durch Zeit und Raum, die sich auch retrospektiv nicht ordnen lassen. Selten nur sind die Narrative so klar strukturiert wie jenes allzu bekannte, in dem im Augenblick des Todes vor den Augen des Sterbenden sein Leben noch einmal in ein paar Bildern oder Bildausschnitten vorbeizieht. LA JETÉE hat etwas von diesem Muster, aber eben nur etwas, genauer noch: es hat etwas zuviel. Im Defilee der Bilder vor den Augen des Sterbenden ist der Tod, durch den das Defilee doch erst in Gang gesetzt wird, im allgemeinen nicht enthalten, und schon gar nicht steht er dort am Anfang.

 

II. Das Album.

 

Trotzdem wird am Prinzip des Ausschnitts festgehalten. LA JETÉE ist ein Film, der in eine Reihe von Momentaufnahmen zerfällt, ein Filmessay, der sich den Anschein des Fotografischen gibt; im Vorspann steht: un photo-roman. Erzählt wird Bild für Bild, das heißt: vorrangig disjunktiv, diskontinuiert. Der Ton löst sich vom Bild, die Bilder voneinander, der halluziniert bruchlose Ablauf, der sonst die filmische Erfahrung kennzeichnet, ist hier zäsuriert und in Standbilder zersetzt, in etwa so, als hätte man Fotos aufgereiht und abgefilmt.

Ein Album, so könnte man es nennen, auch wenn die Nähe zu diesem Requisit der Bildaufbewahrung nur an einer Stelle wirklich deutlich wird. Das Fotoalbum, von dem mythische Erzählungen berichten, daß es gerade in Zeiten der Katastrophe als besonders kostbarer Besitz behandelt wird (das erste, was man aus dem Feuer holt; das letzte, was man aus dem Koffer nimmt), kann dazu dienen, Bilder von einer Zeit in eine andere zu retten. Ähnlich funktioniert allem Anschein nach das Gedächtnis des Protagonisten in LA JETÉE, mit dem einen Unterschied, daß die geretteten Bilder hier weniger umstandslos verfügbar sind, als es beim Fotoalbum der Fall ist. Am zehnten Tag, so die Erzählerstimme, beginnen Bilder aufzutauchen. Es dauert eine Weile, bis dieses Material preisgegeben (zugänglich gemacht) wird, die Freisetzung erfolgt zögerlich und das ändert sich auch nicht, als aus den Bildern etwas wie eine Geschichte und mit der Geschichte etwas wie eine Vergangenheit zu entstehen beginnt.

Ausschnitte aus dem Album des Protagonisten von LA JETÉE: Ein Morgen in Friedenszeiten. Ein Schlafzimmer in Friedenszeiten. Ein wirkliches Schlafzimmer. Wirkliche Kinder. Wirkliche Vögel. Wirkliche Katzen. Wirkliche Gräber. Roland Barthes sagte einmal, jegliche Fotografie sei auch eine Beglaubigung von Präsenz. Mehr noch als für andere, könnte das für die foto-grafischen Standbilder dieser Sequenz gelten, die für den Protagonisten nicht nur Bilder eines vergangenen oder verlorenen Wirklichen sind, sondern Bilder einer Wirklichkeit, von der bis zuletzt unklar bleiben wird, ob es sie je gegeben hat.

 

III. Anagnorisis.

 

Mit der analytischen Tragödie, so wie Sophokles sie in OEDIPUS REX gestaltete, teilt LA JETÉE einen spezifischen Moment der Erkenntnis: die Entdeckung, daß jener Unbekannte kein anderer war als ich selbst. Der, nach dem die ganze Stadt sucht (Sophokles), der, der damals am Rande des Rollfelds starb (Marker), bin ich, niemand anders als ich; aber das wird erst ganz zuletzt begriffen und in jedem Fall zu spät, um etwa in den Ablauf der Ereig-nisse einzugreifen, das Ende abzuwenden, zu verhindern, etc. (Der unausweichliche Ablauf, die Entdeckung, nicht entkommen zu können, gehören bekanntlich zu den Grundmustern tragischer Erfahrung. Am Ende von LA JETÉE steht eine Einsicht, die zumindest vergleichbar formuliert ist: Er begriff, daß es aus der Zeit kein Entkommen gab ....)

LA JETÉE ließe sich auch beschreiben als Erkenntnisprozeß mit tödlichem Ausgang. Der terminus technicus dazu lautet: Anagnorisis, das heißt: Wiedererkennen. In der antiken Tragödie kommt die Anagnorisis in vielen Spielarten vor, aber kaum mehr als einmal so strukturiert, daß der, der zu Beginn als Beobachter auftritt - das Kind, das in Orly den Tod eines Mannes mitansieht; der König, der in Theben die Nachforschungen überwacht -, sich schließlich in demjenigen erkennen muß, auf den der Blick gerichtet war - die ganze Zeit gerichtet war, könnte man sagen, denn auch wenn die Szene auf dem Rollfeld viel kürzer ist als das investigative Drama in OEDIPUS REX , wird dem, der sie angesehen hat, ein dauerhaftes Bild davon bleiben.

Mit dem Moment der Anagnorisis sind die beiden Erkenntnisprozesse beendet, LA JETÉE auf der Stelle, OEDIPUS REX ein paar Seiten später, nachdem sich der König, der die ganze Zeit auf keinen anderen blickte als sich selbst, die Augen ausgestochen hat, auch eine Form von Schwarzblende.