Gerhard Budin:
Sprache und Erkenntnis in den Kulturwissenschaften.

Zur Dynamik und Komplexität ihrer Terminologien

 

1   Sprache und Terminologie, wissenschaftliche Erkenntnis, und Kultur

Das interaktiv-komplex-dynamische Verhältnis zwischen Sprache und Erkenntnis war immer schon eines der Grundprobleme der Philosophie (nicht nur der Sprachphilosophie) und ist konstitutiv für die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Die genaue Bestimmung dieses Verhältnisses fällt aber innerhalb der Wissenschaften von Disziplin zu Disziplin unterschiedlich aus. So gilt Sprache (in der Form einer Meta-Sprache) als das Instrument wissenschaftlicher Erkenntnis schlechthin in den meisten Geistes- und Sozialwissenschaften, in denen Sprache (als Objekt-Sprache, als konkrete Diskurse) analysiert wird.

Gleichzeitig gab es aber in der Wissenschaftsgeschichte zahlreiche Anläufe, die ‚natürliche‘ Sprache bzw. die Alltagssprache aus der Wissenschaft zu verbannen, da sie zu wenig ‚exakt‘ sei und mit ihr wissenschaftliche Erkenntnisse nicht präzise genug dargestellt werden könnten, und sie durch eine möglichst formalisierte Kunstsprache zu ersetzen. Die sprachreformerischen Vorschläge von Leibniz etwa waren weder der erste noch der letzte Versuch, auf der Suche nach einer ‚vollkommenen Sprache‘ eine mathematisierte Wissenschaftssprache ohne Vagheit und Ungenauigkeit zu schaffen. Doch musste dieser Ansatz ebenso scheitern, wie die Sprachphilosophie des Logischen Positivismus des Wiener Kreises, die darin bestand, die Wissenschaftssprache nach dem Vorbild der Physik zu formalisieren, um so alle (sogenannten) metaphysischen und (möglicherweise) inhaltsleeren Wörter aus ihr zu eliminieren.

Dieser Widerspruch verschärfte sich einerseits durch den ‚linguistic turn‘ der Philosophie, der mancherorts in einem radikal-konstruktivistischen Pan-Linguizismus gipfelte, wonach die ganze Welt eigentlich nur Diskurs sei und somit Wissenschaft primär aus sprachlichem Handeln bestünde; andererseits wird die ‚Entsprachlichung‘ naturwissenschaftlicher und technischer Diskurse und die ständig steigenden Anteile von Visualisierungen und multimedialen Repräsentationen wissenschaftlichen Wissens begleitet durch die konsequente Algorithmisierung wissenschaftlicher Theorien.

Dass eine solche vereinfachende Polarisierung weder zutreffend noch hilfreich sein kann, liegt auf der Hand, doch wie können wir diese erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Abgründe zwischen diesen beiden ‚Kulturen‘ im Snowschen Sinne überwinden?

Dafür ist eine möglichst differenzierte Sichtweise von Wissenschaft bzw. von Wissenschaftskommunikation notwendig. Komplexität, Diversität und Dynamik wissenschaftlicher Kommunikationsprozesse können kaum überschätzt werden. Die ständig wachsende Spezialisierung des wissenschaftlichen Wissens ist untrennbar mit der Herausdifferenzierung neuer Fachsprachen, insbesondere neuer Fachterminologien, verbunden. Neue Termini werden geprägt oder existierende werden metaphorisch aus anderen Fachgebieten übernommen und ihre ursprüngliche Bedeutung dabei verändert. Somit sind Verständigungsprobleme schon inhärent in der wissenschaftsinternen Kommunikation angelegt, die vor allem bei interdisziplinären Dialogen virulent werden.

Die Problemlage ist aber noch weitaus komplexer, sobald wir den Begriff der Kultur sowohl als Untersuchungsgegenstand wie auch als Bedingungskontext von Wissenschaft selbst in die Betrachtung einbeziehen: wie in der Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie gibt es auch hier extreme Gegenpositionen:

In der Wissenschaftspraxis gilt es, zwischen diesen Extremen Stellung zu beziehen. Je nach Disziplin muss aber diese Positionierung sehr unterschiedlich ausfallen, nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Untersuchungsgegenstände: während in der Physik davon ausgegangen wird, dass die untersuchten Prozesse (etwas Gravitation) im ganzen (uns bekannten) Universum gültig sind, sind die Unterschiede zwischen Sprachen und Kulturen so augenscheinlich, dass bei diesen erst mühsam nach abstrahierbaren Gemeinsamkeiten gesucht werden muss. Die Schnittstelle zwischen universeller Gültigkeit und lokaler Diversität liegt vielleicht bei der menschlichen Kognition: während die biologische Grundlage der Kognition, das Gehirn, bei allen Menschen auf der Welt im Prinzip gleich gebaut wird, ist die Kognition selbst, also Denkprozesse als Anwendung dieses Organs in der individuellen Lebenswelt, bereits durchaus kulturell, also von gruppenspezifischen Bedeutungs- und Handlungskonventionen geprägt. Die Analyse der Dialektik zwischen Individualität von Kognition und kommunikativem Handeln einerseits und der Kollektivität der identitätsstiftenden Standardisierung von Symbolsystemen, Handlungsschemata und sozialen Wissensvorräten (Hansen 1995, Hitzler 1988) ist eine Voraussetzung für das Verstehen von Kulturprozessen.

 

2   Wissenschaftstheoretische Probleme der Kulturwissenschaften

Dieser Dialektik sind auch die Kulturwissenschaften ausgesetzt. Was Habermas für die Sozialwissenschaften (gesammelt in Habermas 1982) herausgearbeitet hat, gilt auch für die Kulturwissenschaften: während unserer kulturwissenschaftlichen Forschungstätigkeit müssen wir uns stets der Tatsache bewusst sein, dass wir selbst immer in bestimmte kulturelle Bedingungsgefüge eingebettet sind, die unsere kulturwissenschaftlichen Vorstellungen und Begriffe nachhaltig beeinflussen - eine totale Abstraktion von der Empirie im Sinne wissenschaftlicher Objektivität ist für uns nicht möglich, wir sind vielmehr dazu verpflichtet, über unsere eigenen Wertbeziehungen zu reflektieren und diese in der Wissenschaftskommunikation zu explizieren.

Kulturwissenschaftliche Forschungsansätze haben sich ebenso unterschiedlich entwickelt wie die ihnen eigenen Begriffe von Kultur. Dies gilt nicht nur im interlingualen Vergleich, was allein am terminologischen Unterschied zwischen ‚cultural studies‘ und ‚Kulturwissenschaft‘ schon sehr deutlich wird, sondern auch innerhalb einer Sprache. Der theoretische, methodische, und somit auch sprachlich-terminologische Pluralismus ist bisher in den Kulturwissenschaften aber kaum reflektiert worden.

Ein weiteres Problem der Kulturwissenschaft ist in ihrer einzeldisziplinären Verfangenheit zu sehen. Die inflationäre Verwendung des Terminus ‚Kulturwissenschaft‘ in letzter Zeit lässt sich auf die vielzitierte Krise der Sozial- und Geisteswissenschaften zurückführen: philologische Fächer etwa sehen den Ausweg aus ihrer Krise darin, sich fortan als Kulturwissenschaft zu bezeichnen. Instituts- oder Fakultätsbezeichnungen werden entsprechend geändert. Doch Namenskosmetik führt nicht aus Krisen; dies kann man nur erreichen, wenn (z.T. längst überkommene) Strukturen geändert bzw. neue Strukturen geschaffen werden.

Aber auch für die angelsächsischen ‚cultural studies‘ werden krisenhafte Zustände konstatiert. So beklagt Douglas Kellner die mangelnde Reflexion von Kunst in den britischen cultural studies sowie eine einseitige Ausrichtung auf ‚popular culture‘ der amerikanischen Forschungstradition. Auch er fordert, zwar aus anderen Gründen wie europäische Forschergruppen, eine transdisziplinäre Kulturwissenschaft.

Der fehlende internationale Charakter einzelner kulturwissenschaftlicher Aktivitäten hängt auch mit einer mangelnden oder undifferenzierten Beteiligung an der Globalisierungsdebatte zusammen. Lokale Lebenswelten werden mit einer globalen Dynamik (Münch) konfrontiert, daraus ergeben sich zwangsläufig ein neuer Kulturbegriff sowie neue kulturelle Identitäten (Breidenbach/Zukrigl). In eine transdisziplinäre Kulturwissenschaft sind aber auch anthropologische (Arizpe, Wolf, Knutsson, etc.), ökonomische (Hofstede, Trompenaars, etc.), sowie kommunikative, (multi)mediale, kognitive und linguistische Aspekte (Sperber, Kalverkämper, Veltman, Münch, etc.) und viele andere zu integrieren.

Dan Sperbers Kulturtheorie etwa basiert auf der Annahme, dass von einer bestimmten Kultur immer dann gesprochen werden kann, wenn eine Gruppe von Personen bestimmte öffentliche (sprachliche) und mentale (kognitive) Repräsentationen (Meinungen, Bedeutungen, Handlungsnormen, etc.) teilt und tradiert. Ein solcher Kulturbegriff kann somit auf jede Fachsprache und jeden Fachjargon angewendet werden. Die kulturvergleichende Unternehmensforschung untersucht etwa die ‚corporate language‘ (firmeneigene Sprache) eines Unternehmens als Manifestation einer Unternehmenskultur, begrifflich präsentieren sich darin sogenannte In-house Terminologien, die mitunter von einer Abteilung zur nächsten innerhalb eines Unternehmens voneinander abweichen.

Mit einer solchen präzisierenden Diversifizierung des Kulturbegriffes sind wir auch dem verhängnisvollen Kulturrelativismus entkommen, da wir exakt Diskurskontexte und operationalisierbare Untersuchungsparameter angeben können, die Kulturen (am Beispiel der Unternehmenskulturen) sehr wohl vergleichbar machen.

Mit diesen terminologischen Präzisierungen lässt sich auch der Begriff der Transkulturalität genauer fassen, dem wir zuerst auf der Objektebene, etwa in der Bezeichnung ‚Transkulturelle Kommunikation‘ (Reimann 1992) begegnen. Das Benennungselement ‚trans‘ ersetzt dabei das Element ‚inter‘, wie es in der bisher gebräuchlichen Bezeichnung ‚interkulturelle Kommunikation‘ verwendet wird, oder im Englischen ‚cross‘ (‚cross cultural communication‘). Reimanns terminologische Abgrenzung konzentriert sich auf den internationalen, globalen, interaktiven (also reziproken) und grenzüberschreitenden Aspekt transkultureller Prozesse und versucht die Ebene der Interaktion zwischen Kulturen zugunsten einer Ebene kulturübergreifender Interaktion zu überwinden (siehe auch den Unterschied zwischen transnational (staatenübergreifend) und international (also zwischenstaatlich).

Aber auch auf der Metaebene, also der kulturwissenschaftlichen Theorienbildung und Methodendiskussion, ist ‚Transkulturalität‘ von Bedeutung. Dabei dürfen wir uns aber nicht der Illusion hingeben, wir könnten unseren eigenen persönlichen Entkulturationskontext hinter uns lassen, um ‚objektive‘ Forschung zu betreiben. Die seit Jahrzehnten geführte Eurozentrismus-Debatte in Politikwissenschaft und Anthropologie zeigt uns, dass wir die philosophischen, ideologischen, sozioökonomischen (also kulturellen) Grundlagen und Voraussetzungen unserer Forschungstätigkeit und des wissenschaftlichen Diskurses nicht nur nicht leugnen oder ignorieren dürfen, sondern im wissenschaftlichen Handeln explizieren und reflektieren müssen. Nur so kann aus der Kooperation und Interaktion zwischen verschiedensten Wissenschaftskulturen einzelner Disziplinen und innerhalb dieser einzelner Paradigmen, Schulen, Forschungstraditionen, die sich in verschiedenen Sprachgemeinschaften, Nationen und Staaten, etc. gebildet haben, eine ‚transkulturelle Kulturwissenschaft‘ entwickeln, in der die Diversität von Begriffen, Theorien, Methoden und Diskursen bewusst gemacht wird und zur gegenseitigen intelektuellen Anregung dient.

 

3   Methodische Ausgangspunkte für eine Innovation der terminologischen Wissensorganisation der Kulturwissenschaften

In einem kulturökologischen Ansatz zur Beschreibung globaler Kommunikation entwickelt Mowlana einen Forderungskatalog für die künftige Forschung, dabei steht deren epistemologische Neuorientierung im Mittelpunkt: neue Begriffe müssen gebildet, bestehende Begriffe neu definiert werden. Methodologische Begriffe und Untersuchungskategorien müssen überdacht werden Mowlana 1996: 208ff).

Der immer noch zu einseitig positivistische und reduktionistische Wissenschaftsbegriff des ‚Westens‘ kann sich letztlich nur auf der erwähnten transkulturellen Ebene durch (meist telematik-gestützte) Interaktion mit anderen Forschungstraditionen (islamische Tradition, chinesische Tradition, etc.) in globalen Forschungskooperationen entscheidend weiterentwickeln. Einer transkulturellen Kulturwissenschaft kommt dabei eine entscheidende Aufgabe zu.

 

4   Literatur

Arizpe, Lourdes: Scale and interaction in cultural processes: towards an anthropological perspective of global change. In: Arizpe, Lourdes (ed.). The cultural dimensions of global change. Paris: UNESCO, 1996, 89-108.
Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina. Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt. München: Kunstmann, 1998.
Gabriel, Norbert. Kulturwissenschaften und Neue Medien. Wissensvermittlung im digitalen Zeitalter. Darmstadt: Primus Verlag, 1997.
Habermas, Jürgen. Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1982.
Hansen, Klaus P. Kultur und Kulturwissenschaft. Tübingen/Basel: Francke, 1995.
Hitzler, Ronald. Sinnwelten: Ein Beitrag zum Verstehen von Kultur. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1988.
Hofstede, Geert. Cultures and Organizations: Software in the mind. London: McGraw Hill, 1991.
Kalverkämper, Hartwig. Interkulturalität. In: Lundquist, Lita; Picht, Heribert, Qvistgaard, Jacques (eds.). LSP. Identity and Interface, Research, Knowledge and Society. Proceedings of the 11th European LSP Symposium, Copenhagen, August 1997. Copenhagen: Copenhagen Business School, 1998, 69-99.
Kellner, Douglas. The Frankfurt School and British Cultural Studies. The Missed Articulation. http://www.uta.edu/huma/illuminations/kell16.htm.

Knutsson, Karl-Eric. Social field and cultural constellations: reflections on some aspects of globalization. In: Arizpe, Lourdes (ed.). The cultural dimensions of global change. Paris: UNESCO, 1996, 109-134.
Kosellek, Reinhart (Hrsg.). Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart: Klett-Cotta, 1979.
Mowlana, Hamid. Global Communication in Transition. The End of Diversity? London: Sage, 1996.
Münch, Richard. Globale Dynamik, lokale Lebenswelten. Der schwierige Weg in die Weltgesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1998.
Reimann, Horst. Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft. In: Reimann, Horst (ed.). Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft. Theorie und Pragmatik globaler Interaktion. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1992, 13-29.
Sperber, Dan. Explaining Culture. A naturalistic approach. Oxford: Blackwell, 1996.
Trompenaars, Fons. Riding the Waves of Culture. London: Brealey, 1994.
Veltman, Kim. Why is Culture important?.
Wolf, Eric R. Global perspectives in anthropology: problems and prospects. In: Arizpe, Lourdes (ed.). The cultural dimensions of global change. Paris: UNESCO, 1996, 31-44.