Georg Christoph Tholen

Der Ort des Abwesenden.

Konturen des Differenz-Denkens bei Derrida, Lacan und Levinas

Unter dem recht griffigen Titel Das Selbe und das Andere1 lässt sich gewiss die Schnittstelle markieren, in der sich das zeitgenössische Denken in Frankreich nach der Phänomenologie Merleau-Pontys und dem Existentialismus Sartres neu zu orientieren begann. Doch philosophiehistorische Einführungen wie die hier zitierte überzeichnen bisweilen den Bruch mit der Tradition und führen zu einer Bipolarität zwischen Altem und Neuem, welche – wie hierzulande in den 80er Jahren – eine bisweilen kurzatmige Lektüre bewirkt haben. So übersieht die Rede vom Ort des Anderen, welcher den des Selben abgelöst habe, den kategorialen Stellenwert dieses Ortes selbst, ohne den nämlich die Alterität des Anderen unterbestimmt bliebe. Aus dem Platzverweis, der das Subjekt dezentriert, würde so – unter Beibehaltung der gewohnten Platzanweisung gründender Subjektivität - eine bloss gespiegelte Wiedererkennung des Anderen im Selben.

Im heutigen Rückblick auf die deutschsprachige Rezeption der Theorien von Deleuze, Foucault und Derrida, aber auch von Levinas und Lacan, sind es vor allem die drei letztgenannten Denker, deren Theoreme der uneinholbaren Differenz und der ursprungslosen Alterität im gegenwärtigen Wissenschaftsverständnis und -betrieb singulär und marginal blieben - trotz ihrer allmählich sich durchgesetzt habenden Anerkennung im vornehmlich literaturwissenschaftlichen Kontext. Diese auch institutionell wirkmächtige Randständigkeit oder Singularität wiederum verweist - indirekt zumindest - auf die Schwierigkeit, das Subjekt von einem Ort des Anderen aus zu denken, dessen Besonderheit darin sich zeigt, kein verfügbarer, sich selbst präsenter Ort sein zu können. Anders gesagt: Die Heteronomie des Subjekts, von dem je verschieden Lacan, Levinas und Derrida sprechen, duchkreuzt die Fiktion der Autonomie, die dem im Nachkriegsdeutschland geradezu weltanschaulich verordneten Bekenntnis zur ‚geistigen‘ Identität (U. Sonnemann) zugrunde liegt. Vielleicht trug daher in der deutschsprachigen Rezeption ein bestimmte neuhumanistische (d.h. raum- und zeitenthobenes) Identitätssuche der Geisteswissenschaften dazu bei, nicht nur die Frage nach den traumatischen Einschnitten und Brüchen in der eigenen Ideen- und Theoriegeschichte (Nietzsche, Freud, Heidegger) sondern auch die nach dem epochalen Einschnitt als solchem auszublenden. Doch ohne eben diese Bestimmung der raumzeitlichen Zäsur ist die Heterotopie des Subjekts nicht zu situieren.2

Bestätigt findet sich diese Vermutung über die Abwehr traumatischer Schocks und ihrer Singularität im Denken bereits in dem schlichten Sachverhalt, dass in der deutschsprachigen Rezeption der Schriften Jacques Derridas ein wegen seiner zeit- und zeichentheoretischen Bedeutung so grundlegender (und gewiss schwieriger) Text wie Ousia und Gramme3 kaum gelesen bzw. zitiert wurde und ein anderer, nämlich Fines hominis4 , als Ende des Humanismus missverstanden und somit in einen anthropologischen Horizont heimgeholt wurde, den dieser Text gerade zu dekonstruieren beabsichtigt. Kurzum: Es gilt, allererst den Ort des Abwesenden als weder negativ-theologischen noch positiv-anthropologischen Horizont zu situieren. Denn jeder Anthroplogismus verbleibt in der Logik des Selben, Eigenen oder gar Eigentlichen, gerade dann, wenn man - wie nicht selten in der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung der letzten beiden Jahrzehnte – in einer geschichtsphilosophisch aufgespreizten Geste den Abschied oder das Ende des Menschen und der Geschichte beschwört und sich - beispielsweise - einer vermeintlich subjektlosen oder den Menschen ersetzenden Technik- und Mediengeschichte verschreibt.5 Doch ich möchte mich hier auf die Grundzüge des Differenz-Denkens beschränken.

In seiner Hommage an Jacques Derrida von 1975 fragt Emmanuel Levinas: “Zerteilt Derridas Werk die Entwicklung des westlichen Denkens durch eine Demarkationslinie, wie das Kantsche Denken die dogmatische Philosophie vom Kritizismus trennt?”6 Was wäre diese Demarkation einer - so Levinas weiter - ‚neuen Denkweise‘, die von eben diesem Zwischenraum handelt, der weder bloss abwesend noch vollständig anwesend sein kann. Denn es ist eben diese in der Geschichte der Metaphysik langlebige Denkfigur der Anwesenheit, die von Derrida, Lacan und Levinas in sehr ähnlicher Weise dechiffriert wird als eine prominente Figur der Ausblendung der unverfügbaren Anderheit des Anderen.

Zwischen Ontologie und Phänomenologie, zwischen Heidegger und Sartre, so die vielleicht etwas grobschlächtige Einteilung, die Levinas an dieser Stelle vornimmt, hat sich die Frage nach der ‚Zeitdifferenz‘ der Sprache, d.h. nach der “nicht reduzierbaren Ungleichzeitigkeit des Sagens und Gesagten”7 zugespitzt. Ich zitiere noch eine weitere Passage aus diesem Text, weil sie die Wahlverwandschaft der Denker der Differenz auf den Punkt bringt: “Das Zeichen, wie auch das Sagen, ist - gegenläufig zur Präsenz - das außerordentliche Ereignis der Exposition zum Anderen hin, der Sub-jektion unter den Anderen, d.h. das Ereignis der Sub-jektivität.”8

Hier wird, in zugespitzterFormulierung, der in zeit- und zeichentheoretischer Hinsicht gemeinsame Nenner formuliert, um den es im folgenden gehen soll. Denn die Loslösung oder ‚Befreiung‘ der Zeit (wie Levinas nicht ohne Emphase hervorhebt) von ihrer Unterordnung unter die Gegenwart, für welche die Vergangenheit wie die Zukunft bloße Modi der Gegenwart zu sein haben, hat es in jedem Wortsinne mit einem un-zeitgemäßen Zwischenraum zu tun – mit dem sich selbst aufschiebenden Unterschied zwischen dem Selbst und dem Anderen. Levinas gibt diesem Ort der Differenz den Namen “brüderliches Nicht-Gleichgültigsein”.9 Diese uneinholbare Schuld der Verantwortung markiert ihm zufolge den Vor-Rang des Ethischen vor dem Sein. Bei Lacan ist die Möglichkeit einer solchen Ethik bereits die Wirkung der symbolischen Dehiszenz des Begehrens. Bei Derrida wiederum hat die von Levinas zu einer allgemeinen Ethik besonderte Differance stets die singulären – und das heisst zugleich: vielfältigen - Namen, die sich aus der dekonstruktiven Lektüre des jeweiligen philosophischen, literarischen oder politischen Textes ergeben: Pharmakon, Hymen, Chora und so weiter. So zeigt sich, um eine wohl wenig gewürdigte Bestimmung der Differance im Spätwerk Derridas in Erinnerung zu rufen, die von sich selbst differierende ‚Wahrheit der Malerei‘ in einem genuin ästhetischen ‚Nicht-Ohne‘ des ‚Einschnitts‘, welches bereits in jener ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ insistiert, die Kant in seiner Bestimmung des ästhetischen Urteils einzurahmen versucht hatte.

Ohne die eigensinnige Bestimmung des zeiträumlichen Moments dieses Zwischenraums würde das Differenz-Denken - so meine erste These - zu einem fixen Standpunkt oder gar geschlossenem Modell, zu dem manche Philosophie-Lexika die Dekonstruktion gerne machen würden.10

Dass es jedoch vielmehr darum geht, Heideggers Kritik der Verräumlichung der Zeit bei Hegel aufzunehmen und zu modifizieren, um die Spur einer Schrift freizulegen, die weder Sprache noch Wort noch Zeichen ‚ist‘, betont Derrida schon in seinen früheren Einlassungen zur Rezeption seines Werkes: “Weder An- noch Abwesenheit, jenseits der binären, dialektischen Logik der Gegensätze. Von da an heisst es nicht mehr, die Schrift dem gesprochenen Wort entgegen zu setzen, und es geht auch nicht um einen Protest gegen die Stimme; ich habe bloß die Autorität, die man ihr zugesprochen hat, und die Geschichte einer Hierarchie analysiert.”11 Der ‘Bruch’ mit der Metaphysik ist, wie ich nun zeigen möchte, kein Sprung über sie hinaus, vielmehr eine Verschiebung, ein Abstand, der der Opposition von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt, sich entzieht. Der Ein-bruch des Signifikanten, von dem nun in einem ersten Abschnitt die Rede sein soll, markiert weder einen neuen Ursprung noch ein anderes Zentrum.

1. Sprache und Sprechen oder: Die Geschlechterdifferenz.

An der Sprache – so ließe sich mit und nach dem Strukturalismus verallgemeinern - scheiden sich die Geister. Vor allem der Geist, d.h. sein bewusstseinsphilosophischer Begriff von ihm, hält es bei ihr nicht aus. So gilt die Sprache als vom Geist verlassen. Und doch will der Abschied von ihr - genauer: von der ambivalenten Imago der uns vorgängigen Sprache - nie so ganz gelingen, seit den Anfängen des spekulativen Denkens, das sich über sie erhaben wähnte. Es scheint, als wollten wir der Sprache die Trennung von ihr, die sie, gebieterisch und uns vorausgehend, eröffnet, nicht verzeihen. Wir beantworten folgerichtig ihre Ab-geschiedenheit, die uns auf die Suche nach ihr wie ein verlorenes Objekt umhertreibt, mit einer zwiespältigen ‚Mutterimago’, die den anthropologischen Riß von Sprache und Sein heilen soll - onto-logisch metaphorisiert als entbergendes ‘Haus des Seins’ (Heidegger), onto-logisch eher als negative Kraft ‘toter Buchstaben’ perhorresziert, da diese den ‘lebendigen Geist’ (Hegel) von seiner angestammten Heimat abtrenne.12

Es ist der Bruch mit der absoluten Referentialität der Sprache, genauer: der repräsentativen Hochzeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem , die den Ausgangspunkt des Differenz-Denkens markiert. Ferdinand de Saussures Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, genauer: ihre keineswegs nur paraphrasierende Wiederlektüre bei Derrida13 und Lacan14 bedenken diesen Bruch oder Einschnitt in der Sprache selbst.

Meine hier nur kursorisch mögliche Rekonstruktion trennt das, was bei Saussure gleichsam vor-saussureanisch blieb, von dem, was das eingangs erwähnte zeiträumliche Moment der Heterotopie zu konturieren hilft.

Das Zeichen hat nach Saussure eine unauflösliche Zwitternatur – so wie ein Blatt Papier als solches zwei Seiten haben muss. Das Zeichen verweist, um Zeichen zu sein, auf etwas, welches wiederum, um als Bezeichnetes überhaupt vorstellig werden zu können, eben dieser Verweisung bedarf. Saussures Formel hierfür heißt: Zeichen gleich Signifikat (Bezeichnetes, Vorstellung, Begriff) über Signifikant (Bezeichnendes, Lautbild, Phonem).15 Die Beziehung zwischen den beiden Seiten des Zeichens ist weder natürlich noch konventionell, sondern arbiträr. Diese Arbitrarität der Zeichen jedoch (und dies wird in der Lektüre Saussures bisweilen übersehen) verdankt sich als solche einer ihr vorgängigen Differentialität, die für beide Seiten des Zeichens - für das Signifikat wie für den Signifikanten - gleichermassen gilt. An der dieser Bestimmung folgenden Frage, was denn nun diese Differentialität des Signifikanten ‘sei‘, beginnt die Wissenschaft der Sprache sich von ihrer metaphysischen Einklammerung zu lösen – in der Lektüre Derridas und Lacans. Denn das Irritierende des Signifikanten als Gegenstand seiner eigenen Theoretisierung liegt eben darin, daß er im strikt ontologischen Sinne nicht ‘ist’, vielmehr (so Samuel Webers brilliante Pointe) als Nicht-Sein dem Sein widersteht, anders gesagt: seine Identität mit sich versetzt bleibt, ausbleibt.16

Dieser paradoxale Charakter des Signifikanten wird gerade wegen des Entzugs des Abwesenden bzw. Undarstellbaren im Bild einer urquellenden oder göttlichen Abwesenheit, im angenommenen Da-Sein eines Fort-Seins, als imaginäre Gestalt einer ursprünglichen Kraft vorstellbar und folglich theologisch besetzbar.

Bleiben wir noch für einen Augenblick bei Saussure: Arbitrarität ist nicht nur gegeben im Verhältnis zwischen Zeichen und dem im klassischen Zeichenverständnis zugrunde liegenden Referenten, sondern zwischen Signifikat und Signifikant. Erst die Sprache als gliedernde Artikulation bringt buchstäblich (in jedem Wortsinne) die simultane Aufteilung von Vorstellungen und Lautbildern, die phonetischen Einheiten der Wörter, hervor. Hiermit aber ist die Beziehung von Signifikant und Signifikat nicht mehr als abbildende Re-Präsentation zu denken. Dass es vielmehr in der Sprache “nur Verschiedenheiten [...] ohne positive Einzelglieder”17 gibt, bedeutet nunmehr: es gilt, die rein relationale Differentialität und Stellenwertigkeit des gleitenden Signifikanten zu beachten, eine Relationalität (nicht Funktionalität), welche jede ‘volle’ Präsenz einer a priori anwesenden Bedeutung aufschiebt. Sinnwirkungen sind mithin – wie Lacan stets betont hat - nachträgliche Effekte eines differentiellen Stellungsspiels, Symptome also metaphorisch und metonymisch zugleich. Die Differenz oder der Bruch-Strich, der das Signifikat vom Signifikanten trennt, ist ein Unterschied, der seine als Identität bestimmbare Wahrheit unterbricht und so erst Unterscheidungen zu setzen erlaubt – als vorläufige. Diese Vorläufigkeit oder Unabschliessbarkeit der differentiellen Topik des Signifikanten und der Spur ist – um an einen frühen Text der Dekonstruktion zu erinnern – die Entdeckung der “Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats”, dank der erst “das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Un-Endliche”18 erweitert werden kann. Unvordenklich aufgeschoben wird so jede markierte Grenze zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit innerhalb der Endlichkeit selbst. Folglich ist auch die Ankunft der Zukunft als einer politischen ein dekonstruktives Gebot, das jedwedes utopisches Angekommen-sein-Können unterbindet. Es ist ein Gebot, das die endgültige Ankunft verbietet und insofern ein unzugängliches Gesetz bleibt.19 Dieses Ankunft wie Zukunft durchkreuzende Gebot des Unverfügbaren erlaubt - wie Derrida in seinen Levinas-Lektüren stets betont – den Zweifel daran, ob eine Ethik des Anderen als prima philosophia begründet werden kann.

Die symbolische Atopik der Geschlechterdifferenz ist nun jener Ort, der für Lacan, Levinas und Derrida gleichsam das Schibboleth des Differenzdenkens darstellt. Was hat nun, um einen anschaulichen Umweg in der Bestimmung dieser Atopik zu wählen, die Nicht-Identität des Signifikanten mit der in sich haltlosen Geschlechterdifferenz zu tun? Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud ist jener Text von Lacan, in der das Begehren, d.h. seine inter-sistierenden Verschiebungen und Verdichtungen, als Zwischenraum bestimmt wird. Die Formeln bzw. ‚Graphen‘, die sich in diesem Text finden, sind Vorzeichen der die Metaphysik der Tiefe vermeiden wollenden topologischen Verschlingungen des Imaginären, Symbolischen und Realen, die das Spätwerk Lacans entfaltet und doch rudimentär geblieben sind. Ich fokussiere hier die Art und Weise, wie und warum Lacan den oben erwähnten Algorithmus Saussures aufnimmt und radikal verschiebt. Saussures Formel, welche die Einheit des Zeichens garantierte, lautete: Zeichen gleich Signifikat über Signifikant. Metaphorisch übersetzt heisst dies: Die Vorstellung, wenngleich vom Lautbild auf arbiräre Weise geschieden, gibt den Ton an, die Suprematie des Zeichens bleibt gewahrt. Lacan kehrt diese Suprematie scheinbar bloss um, indem er ein Beispiel Saussures (das unter dem Bruchstrich plazierte Lautbild “Arbor” trägt die oben stehende Vorstellung “Baum”) aufnimmt und vertauscht: Der Signifikant “arbre” re-präsentiert und effektuiert die Vorstellung “Baum” als ein Signifikatseffekt für einen anderen Signifikanten. Der Algorithmus des Unbewussten lautet also: Signifikant über Signifikat.20

Der einheitsstiftende Parallelismus des Zeichens wird durchquert, indem der Saussure’sche Trennungsstrich zwischen Lautbild (arbre) und Vorstellung - nicht ohne eine spielerische Verwendung der Vertauschung von Buchstaben - zur die Bedeutung ausschließenden Sperre (barre) der Differenz wird, die jeglicher Selbstidentität entzogen bleibt. Und eben diese anagrammatische Ver-Wendung, mit der Lacan dem Versuch Saussures, die poetelogische Natur der Anagramme aufzuspüren, ebenso eine Referenz erweist wie den wortwitzigen Assoziationen in Freuds Traumdeutung und Psychopathologie des Alltagslebens, ist ein ‘Einfall’, welcher die Heterotopie des Signifikantenspiels im Unbewussten darstellt. Dieses Spiel, das uns seit den Bilderätseln der Traumsprache bekannt ist, verweist auf die fundamentale Metaphorizität der Sprache und die Möglichkeit des Subjekts, gegenstrebig zu seiner bewussten Intention, “alles andere als das damit zu bezeichnen, was [die Sprache] besagt.”21 Dem Nicht-bei-sich-selbst-Sein des Subjekts korreliert das des Signifikanten, wie Lacan in einem anderen grundlegenden Text betont hat: Es ist “eine Eigenschaft des Signifikanten, nicht sich selbst bezeichnen zu können, ohne dass ein logischer Fehler entsteht.”22

Dass der Sinn, oder nach Levinas genauer: dessen Ipseität ausfällt bzw. - als Wirkung der assoziativen Verknüfung - abfällt, zeigt sich im Gleiten des Signifikanten, welches Zug um Zug in Bedeutungen (bzw. neurotischen Symptomen) sich zwar verdichtet, ohne doch das Begehren als solches anhalten zu können. Um nun eben dieses Begehren als einen Ort zu situieren, der die Geschlechter ebenso wie die Signifikate in der Trennung verbindet, wählt Lacan der Anschaulichkeit halber eine scheinbar einfache Illustration aus dem Alltagsleben:


[Graphik : Hommes – Dames hier in den Text montieren, abgedruckt in J. Lacan, Das Drängen des Buchstabens, in: Schriften II, S. 24]


An dieser mehrdeutigen Zeichnung läßt sich die Ek-sistenz des Signifikanten darstellen und zeigen “wie der Überraschungseffekt aus dem plötzlich unerwarteten Niederschlag des Sinns entsteht: im Bild nämlich von zwei identischen Türen, welche mit dem einem abendländischen Menschen für die Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse außer Haus zur Verfügung stehenden geheimen Örtchen den Imperativ symbolisieren, den dieser Mensch mit der großen Mehrheit der primitiven Gesellschaft zu teilen scheint und der sein öffentliches Leben den Gesetzen der urinalen Segregation unterwirft.”23 Zunächst besagt diese enigmatische Graphik schlicht, dass es zweier unterschiedlicher Schriftzüge oder Wörter bedarf, damit die völlig gleich aussehenden Toilettentüren ihre unterschiedliche Bedeutungen erhalten und als lesbare Signifikate die Individuen in die adäquate Toilette führen - auch wenn es die ‘falsche’ sein sollte, wie die folgende kleine Geschichte erzählt. Lacan wählt sie, weil sie die beiden Aspekte der Arbeit des Unbewußten - Verdichtung und Verschiebung, Metapher und Metonymie - zugleich verdeutlicht: Es handelt sich um einen Traum: ”Ein Zug läuft in einen Bahnhof ein. Ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen, Bruder und Schwester, sitzen in einem Abteil an der Fensterseite, und zwar einander gegenüber. Nun sehen sie eine Kette von Gebäuden vorübergleiten an einem Bahnsteig, an dem der Zug hält: “Schau, wir sind in Frauen!”, sagt der Bruder. “Dummkopf!”, erwidert daraufhin seine Schwester, “siehst Du nicht, daß wir in ‘Männer’ sind.”24

Der kreuzverkehrte Blick der Kinder bestätigt nun, wie Lacan präzisert, das chiastische Kreuz der Differenz, das die Geschlechter trennt, und zwar notgedrungen in der Form eines nicht enden wollenden, imaginär rivalisierenden Streits, der die konfliktuöse Urszene darstellen soll, welche wiederum – im Schema infantiler Sexualtheorien zunächst - vom je narzißtischen Standpunkt der Kinder ichgerecht zurechtgebogen und umgedeutet sein will. Doch das Entscheidende in dieser Traumgeschichte des Dissens der Geschlechter ist der gedoppelte Bruchstrich selbst, der im Bild der Gleise metaphorisiert, d. h. imaginär ins Bild gesetzt wird: Die Gleise nämlich, die die Kinder in der Traumgeschichte buchstäblich tragen und zu rollenvertauschten Annahmen über das je andere Geschlecht verleiten, metaphorisieren den Geschlechtsunterschied bzw. die sinnaufschiebende Sperre, der den Algorithmus Saussures vertauschte und verstärkte. Die Gleise, genommen als doppelter Bruchstrich, metaphorisieren so erst die Leerstelle oder den Zwischenraum der Signifikanten, der die differentielle Verknüpfung und Verweisung ‘Männer’ und ‘Frauen’ erlaubt und die normative (d.h. hier vor-bildliche) Bedeutung generiert, welche die Geschlechter zu scheiden vermag. Anders gesagt: Der spielerische Streit der Kinder um die Signifikate ist - auf der Ebene des Imaginären - unentscheidbar, gerade weil die hiermit notgedrungen labile bzw. flexible geschlechtliche Identifikation, entweder Mann oder Frau zu sein - zunächst oder zumeist nach der Vorgabe des mütterlichen bzw. väterlichen Vorbilds - als Effekt des Signifikanten zutage tritt. Der Traum symbolisiert also die Interferenz von Imaginärem und Symbolischen, insofern letzteres die Welt der ab-gesperrten Bedeutung, den Entzug der Bedeutung artikuliert: Der Ab-Ort dieser rein stellenwertigen Signifikanten also sind die Ur-Sache davon, dass überhaupt phanatsmatisch divergierende Vorstellungen und Vorbilder von Frauen und Männern zirkulieren können, in historischer wie systematischer Hinsicht.

Das Begehren als Begehren des Anderen – so der Sinn dieser Parabel - finden wir in dem ‚Intervall zwischen den Signifikanten‘ selbst, ein - wie Laurence Bataille es formuliert hat – ‚geschmeidiges, dehnbares Gesetz‘, welches das Genießen nicht verbietet, aber die Lust unterbricht und dadurch erst offenhält: Mehr-Lust als Mehr als bloss Lust.25 Deren Ort wiederum umkreist das hysterische Symptoms, insofern es von der haltlosen Dynamik des Begehrens ‚spricht‘. Doch indem die Hysterika dieses Sprechen wie ein körperliches Begehren beansprucht bzw. dieses mit jenem verwechselt, glaubt sie, die Sprache des Begehrens als ein rastloses, unbefriedigtes Sprechen verkörpern zu wollen. Die Frage also nach dem Anderen, der das Begehren zu befriedigen habe, zeigt im hysterischen Konversionssymptom gleichsam ihre unmittelbare Evidenz: Die unbefriedigte bzw. unbefriedigbare Hysterie artikuliert sich als Gegenwunsch oder Unlustwunsch, d.h. als Wunsch, die Nichterfüllbarkeit des Wunsches zu imaginieren.

Die Überschneidung dieser Frage nach dem Anderen mit Derridas Konzept der Differance ist offensichtlich: “ [Jede Vorstellung], jeder Begriff ist [...] in eine Kette [...] eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf [...] die anderen Begriffe verweist [...]. Ein solches Spiel, die differance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit [...] überhaupt. Aus dem gleichen Grund ist die differance, die kein Begriff ist, auch kein einfaches Wort, das sich als ruhige und gegenwärtige, auf sich selbst verweisende Einheit eines Begriffs und eines Lauts vergegenwärtigen läßt [...] Die Differance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr der Name ‘Ursprung’ nicht mehr zu.”26 Ich kann hier aus Platzmangel nicht das im strengen Sinne an-archische, oder wie Derrida es später selber nennt, an-archivalische Moment der Dissemination metaphysischer Begriffe nachzeichnen. Nur soviel sei zum Verhältnis Derrda - Lacan hier vermerkt: Es scheint mir das Intervall zwischen Imaginärem und Symbolischen zu sein, das Derridas Reflexionen über den Status der Differance im Archiv der Psychoanalyse stets von neuem motiviert, beginnend mit dem Text Freud und der Schauplatz der Schrift, fortgeführt in der Postkarte, und wiederaufgenommen in den jüngeren Arbeiten wie Dem Gedächtnis verschrieben und Vergessen wir nicht - die Psychoanalyse!

Vorbereitet ist nun der zweite Aspekt des ‚Ortes des Abwesenden‘, den ich am Beispiel des ‚Dialogs‘ zwischen Derrida und Levinas rekonstruieren möchte.

2. Die Alterität des Anderen

Für Emmanuel Levinas ist in seinem umfangreichen Werk ( u.a. Totalität und Unendlichkeit, Die Zeit und der Andere, Die Spur des Anderen, Wenn Gott ins Denken einfällt, Ethik und Unendliches und nicht zuletzt Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht) die Frage entscheidend, warum und wie die in der philosophischen Tradition unerhört gebliebenen Begriffe des Traumas, der Verfolgung, der Besessenheit und auch der Psychose neu zu bestimmen sind. Die immer schon zäsurierende Frage nach dem Verhältnis zum Anderen ist also für Levinas wesentlich, mag dieser unbestimmte oder (im Denken bisher) unterbestimmte Andere sich im Du, im Sohn, in der Frau, in der Liebkosung, im Gespräch, ja sogar im Tod ‘bekunden’.

Deutlich wird bei dieser Fragestellung die Nähe und die Differenz zu Heidegger insbesondere in den letzten beiden Vorlesungen von Levinas, die er 1975/76 an der Sorbonne gehalten hat. In Gott, der Tod und die Zeit, der Vorlesung vom 9. Januar 76, die dem Thema Das Sein-zum-Tode als Ursprung der Zeit gewidmet ist, findet sich der emblematische Satz: “Ich bin für den Anderen verantwortlich, insofern er sterblich ist.”(S. 52) Dieses unüberholbare Sich-vorweg-sein des Todes ist “die Möglichkeit der radikalen Unmöglichkeit des Daseins.”(S. 53). Die hieraus resultierende Ethik - so der Anspruch, den Levinas formuliert - stellt nicht ein ‚Moment des Seins‘ dar, sonder sie sei “anders und besser als Sein”(S. 236). Levinas bemüht sich, die Differenz zur traditionellen Theologie zu betonen: Gott oder die ‚Anderheit des Anderen‘ ist vorgängig bzw. transzendent “bis hin zur Abwesenheit, bis hin zur möglichen Verwechslung mit dem Lärm des Es gibt.” (S.236). Das Verhältnis zum Anderen ist also kein reziprokes, dialogisches, kein unendliches Gespräch, das sich ausrichten liesse am normativen Konsens einer vermeintlich kommunikativen Kompetenz. Vielmehr ist das Geschiedensein zwischen mir und dem Anderen ein desinteressiertes, ein in Differenz gesetztes ‘von Angesicht zu Angesicht’. Doch verdankt sich diese Differenz einem ähnlichen Riss im Zeitgefüge, den wir schon bei Lacan und Derrida nicht übersehen durften: Das Antlitz oder Angesicht des jeweils anderen zeigt sich, bevor es gesehen wird. Anders gesagt: zwischen dem Ich und dem Du interveniert der unerreichbare Ort der mit-teilenden, das heißt die unmittelbare Gemeinschaft teilenden Begegnung.

Diese Begegnung ist ein gleichsam unmögliches Rendez-Vous, eine Nicht-Übereinstimmung, die sich durch die Zeit hindurch wiederholt: Dia-Chronie statt Diachronie, so Levinas. Die Abwesenheit des Anderen ist uneinholbar stets mit-gegenwärtig; sie ist das rätselhafte ‘Bei-Werk’, das in jeder intentionalen Appräsentation des Alter Ego im Ego entzogen bleibt. Der Andere - so Levinas - “ist vorübergegangen, aber auch: er überlebt, er lebt weiter, er ist in diesem Sinne die Zukunft. Er ist nicht vorbeigegangen in seine Vergangenheit. Er kommt immer aus einer Vergangenheit, die nie meine Gegenwart war.”27 Der zeitliche Modus dieses Dia-Logs artikuliert sich expressis verbis in der vokativischen Befragung, d.h. in der Anrufung an den Anderen, die den ‘Sang’ der Sprache im Gesagten vor dem Gesagten als Bedeutetem meint. Dieser Sachverhalt ist zunächst rein phänomenologisch zu verstehen: “Das Sagen bezeichnet die Tatsache, daß ich dem Antlitz gegenüber nicht einfach dabei verbleibe, es zu betrachten, sondern ihm antworte. Das Sagen ist eine Art, den Anderen zu grüßen, aber ihn grüßen meint bereits, ihm zu antworten - unabhängig davon, was das Gesagte ist.“28 Es geht hier Levinas darum, Soziabilität und Alterität nicht mehr in den Figuren der Assimilation, der Selbsterhaltung durch Ausschluß des Fremden zu denken. Levinas begründet sein Textverständnis in unmitelbarer Nähe zur talmudischen und kabbalistischen Tradition, von der er sagt, daß ihr stets wiederholtes und als Widerstreit hin-genommenes Wiederbeginnen der Textauslegung ein nie ursprünglichesTextgewebe ergeben, in dem sich der dia-chrone Riß der Zeit bekundet: Der Andere, dem ich passiv verantwortet bin, und der Repräsentant der ‘absoluten’ Abwesenheit Gottes ist, bewahrt seine irreduzible Alterität - eine Definition, die Derridas eigene Levinas-Lektüre (Gewalt und Metaphysik) povoziert hat.

In seinem Apell - so Levinas - bezeugt der Andere die Un-Endlichkeit als ein Mehr-als-Sein. Das Ethische erscheint als Riß in der Einheit der Apperzeption, den mein auf Selbsterhaltung ausgerichtetes Ego durch die Zuwendung des Anderen im Antlitz erleidet. Doch dieses Antlitz ist strenggenommen kein phänomenalisierbares Gesicht. In einer stets singulären Komplementarität entspricht das expressive, an den Anderen gerichtete Sagen der Verwundbarkeit, dem Trauma, der Empfänglichkeit und Passivität des Leibes.

Jacques Derrida hat nun, dem dekonstruktiven Ethos einer genauen Textlektüre gemäß, Satz für Satz die Voraussetzungen dieser Ethik von Levinas befragt - insbesondere in seinem schon 1967 veröffentlichten Beitrag Gewalt und Metaphysik (1967) und , thematisch leicht verschoben, in seinem Jerusalemer Vortrag von 1987 veröffentlicht unter dem Titel Wie nicht sprechen? Nähe und Differenz zur Negativen Theologie erweist sich in eben der Bestimmung des Ortes des Abwesenden: So zeichnet Derrida in dem erstgenannten Beitrag zu Levinas, durchaus sympathetisch mit dessen Frage nach einer ethischen Ekzendenz, die Bewegung der Verzeitlichung des Levinas’schen ‚Jenseits des Seins’ nach. Denn ohne diese Temporalisierung verbliebe das Jenseits in unmittelbarer Nähe zur platonischen Sonne, und der von Levinas apostrophierte ‚unendliche Andere’ in deren Resonanz. Derrida rekonstruiert im weiteren den Symmetriebruch mit dem oben erwähnten Begriff der Kommunikation als Übereinstimmung bei Levinas, den er - wie auch Levinas schon - nicht ohne Referenz zu Blanchot und Jabes situiert.

Zentrum seiner behutsamen Polemik aber ist dann eine Kritik der Levinas’schen Husserl-Kritik, unter Rückgriff auf Husserls eigene Bestimmung des phänomenologisch immer schon konstituierten Verhältnisses von ego und alter ego, dessen Aporetik wiederum Derrida ja grundlegend in Die Stimme und das Phänomen nachgewiesen hat. Einige Argumente der Levinas-Kritik jedoch sollen hier nicht unerwähnt bleiben, zeigen sie doch, wie man die Singularität des Anderen noch genauer fassen kann: “Der unendlich Andere, die Unendlichkeit des Anderen ist nicht der Andere als positive Unendlichkeit, Gott oder Abbild Gottes. Das unendlich Andere wäre nicht, was es ist, nämlich anders , wäre es positive Unendlichkeit und enthielte es nicht in sich die Negativität des Un-bestimmten, des ‘apeiron’. ‚Unendlich anders’, ist das nicht in erster Linie das, dem ich trotz einer endlosen Arbeit und Erfahrung nicht beikommen kann? Kann man den Andern als Andern achten und gleichzeitig die Negativität, die Arbeit aus der Transzendenz vertreiben, wie Levinas dies möchte? Das positive Unendliche (Gott), gesetzt, diese Worte haben einen Sinn, kann nicht unendlich anders sein. Ist man wie Levinas der Ansicht, daß das positive Unendliche die unendliche Andersheit toleriert und sogar erfordert, dann muß man auf alle Sprache, auf das Wort unendlich und auf das Wort anders zunächst verzichten [...] Von dem Augenblick an, wo man das Unendliche als positive Fülle zu denken sucht (Pol der nicht-negativen Transzendenz Levinas) wird der Andere undenkbar, unmöglich und unsagbar.”29

Die Bestimmung dieser Eigenart der Alterität wiederholt sich in den späteren Fallstudien Derridas zur Unsichtbarkeit des Sichtbaren (insbesondere in den Werken Recht auf Einsicht, Die Wahrheit in der Malerei, Aufzeichnungen eines Blinden) , aber auch in den Analysen über die Alterität der Gerechtigkeit und ihrer Distanznahme gegenüber der Positivität des Rechts (vgl hierzu insbesondere die Texte Vor dem Gesetz, Gesetzeskraft und Das andere Kap). Ein Passage aus dem frühen Text Gewalt und Metaphysik soll hier diese Bestimmung der Alterität nochmals verdeutlichen: “Der Horizont [in seiner phänomenologischen Bestimmung] kann nicht selber Gegenstand sein, da er den nicht-objektivierbaren Quellpunkt jedes Gegenstandes im allgemeinen darstellt [...] Die Wichtigkeit des Begriffs des Horizonts liegt eben darin, nie zum Gegenstand irgendeiner Konstitution werden zu können und die Arbeit der Objektivationen unendlich zu eröffnen [...] In der Phänomenologie gibt es keine Konstitution der Horizonte, sondern Konstitutionshorizonte [...] Es ist dieses Erscheinen des Andern als das, was ich nie sein kann, diese ursprüngliche Nichtphänomenalität, die [bei Husserl] als intentionales Phänomen des ego befragt wird [...] Die Andersheit des Fremden ist also durch einen doppelten Unbestimmtheitsgrad irreduzibel. Der Andere ist unendlich anders, weil keine Anreicherung der Profile mir wesensgemäß das subjektive Antlitz seiner Erlebnisse [...] zu geben vermag.“30

Derridas Vorsicht gegenüber der Transzendenz-Annahme von Levinas ist zugleich als seine Sorge darum zu verstehen, dass die differance - wie unfreiweillig auch immer - in die Metaphysik der Präsenz zurückübersetzt werden kann, gerade dort, wo sie sich programmatisch hiervon in einer ‘absoluten Negation’ absetzt - wie bei Levinas. Um nun, abschließend, die Heterotopie des Zwischenraums, von dem die drei skizzierten Positionen des Differenz-Denkens handeln, zu konturieren, möchte ich versuchen, die Chora bzw. den Chiasmus zwischen Raum und Zeit zu skizzieren – eine weitere Nuance oder Dissonanz im Begriff der Differance, der erlauben wird, das Singuläre als das, was seinem Begriff widersteht (Th. W. Adorno) zu situieren. Negativ formuliert heisst dies: Es gilt - so Derrida – zu vermeiden ”von der chora zu sprechen als von ‘etwas’, welches ist oder nicht ist, welches anwesend oder abwesend wäre, oder beides zugleich, aktiv oder passiv, das Gute [...] oder das Schlechte, Gott oder der Mensch, das Lebendige oder das Nicht-lebendige. Jedes theomorphe oder anthropomorphe Schema müßte auf diese Weise vermieden werden.”31

3. Raumzeit versus Zeitraum

Daß niemand mehr Zeit habe, ist eine vertraute Geste der Kulturkritik. Ihre Rhetorik ist die der Klage. Der Fragehorizont solcher Zeitdiagnostik ist ein genuin melancholischer:Imaginiert wird ein verlorenes Objekt, welches als ein gleichsam unendlich halluzinierbarer Verlust beständig festgehalten werden soll. Die Literatur ist reich an kulturhistorischen Belegen für diese Form der Introjektion. Ihr phantasmatischer Kern jedoch - die unversöhnliche Gegnerschaft von zyklischer und linearer Zeit - wurde bisher unterbelichtet. Der Schutzschirm vor der (in jedem Wortsinne) Ab-Gründigkeit der Zeit ist das Schema ihrer Selbstgegenwart.

Diese Selbstgegenwart oder Präsenz, von Augustinus bis Hegel im Begriff der Zeit stets mitgedacht, grundiert unbemerkt die kulturkritische oder gar apokalyptische Klage, dass niemand mehr Zeit habe. In dieser Aussage ‚Niemand hat Zeit’ resistiert jedoch ein gegenstrebiger Impetus im Zeitverständnis, den Derrida gerade in seiner Politischen Philosophie des Zukünftigen an dem (allzu) bekannten Hamlet-Ausspruch Die Zeit ist aus den Fugen herausgearbeitet hat: Die Zeit kommt, unverfugt, aus den Fugen her, aus der Nicht-Koinzidenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Die bisherige Antwort der philosophischen Tradition auf die von ihr selbst gestellte Frage, ob nicht bereits die Frage nach der Zeit immer schon in die Zeit falle, bzw. in ihr ablaufe (wie es bei Norber Elias heisst), hat die in jeder Zeitvorstellung mitgegebene Metaphorik des Zeitlichen selbst – also den Ablauf, den Fluß, den Strom oder die Zeitstrecke usw. - unbedacht gelassen. Denn die zeitliche Form solcher Vorgängigkeit der Zeit - als einer ewig währenden Substanz der Zeit - ist ihrerseits unlösbar an die Zeitgestalt der Präsenz gebunden. Gleichviel nämlich, ob wir - gemäß der nach Mc Taggert klassisch genannten Unterscheidung der beiden Zeitbegriffe - die relationale Dimension der quantitativen Zeitvorstellung, d.h. die homogene Linie ‘früher - jetzt - später’, oder ihre modale Variante, d.h. die Form ‘Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft’, zum Maßstab unseres Zeitbegriffs nehmen: in beiden Zeitbegriffen, sowohl im Schematismus der linearen Abfolge indifferenter Zeitpunkte wie in dem einer von Gott gestifteten oder bloß lebensweltlich verankerten Anwesenheit des Zeitverllaufs, - ist die ‚Anwesenheit des Schematismus’ selbst, die Form der Zeit-Vorstellung, bereits gesetzt. Die zeitlos währende Gabe der Zeit sei eine - so der heilige Zeitdenker Augustinus - die uns vorenthalten, Gott hingegen vorbehalten sei. Anders gesagt: der Selbstzweifel, der Augustinus plagt, wenn er nach der Zeit fragt, ist ein im Bekenntnis zu Gott als dem ewig währenden Geist ein immer schon aufgehobener, also ein nur scheinbarer. Denn Gottes Allmacht bleibt es vorbehalten, das in sich haltlose Vergehen der Zeit als solches im lückenlosen Feld der Präsenz festzuhalten: in der All-Gegenwart Gottes fließen die vergänglichen Momente der Zeit (Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft) zusammen. Sie sind das Derivat einer ursprünglichen Stiftung. Und es macht, wie bereits erwähnt, keinen radikalen Unterschied, ob dieses Privileg der Gegenwart einer göttlichen Instanz zugesprochen oder in der Metaphorik der beharrlichen Zeitfolge oder des stehend-strömenden Flusses situiert wird. Das Schema der Zeit - als quantitative Sukzession wie als qualitative Dauer - ist die Fiktion der sich selbst anschauenden Präsenz.

Jeder Schematismus der Zeit als ein bereits vollzogener setzt ein Bild oder Schema voraus, dem der Begriff der Zeit nachgebildet ist und auf das er verwiesen bleibt: So sind der Kreis (Metapher der zyklischen Zeit) und die Linie (Metapher der Zeitfolge) ohne das Ziehen einer Linie, in der die Momente der Zeit bereits zusammengezogen präsentiert werden, nicht vorstellbar: So übersieht aufgrund der mangelnden Aufmerksamkeit gegenüber dem Schema der linearen wie zyklischen ‘Zeitlinie’ die kulturkritische Klage über den fremdbestimmten Verlust der Zeit, daß die Idee des unentfremdeten Eigenen, die Idee einer verfügbaren, selbstgegenwärtigen Gemeinschaft mit der Zeit gerade deren Spiel- und Distanzraum tilgt, ohne den es die aus sich heraustretenden Momente der Zeit - ihre Ek-Stasis - nicht gäbe.

Der ek-statische Schnitt oder die Zäsur, die die Linie des Zeitablaufs, um sich als gegebene einzuzeichnen, voraussetzt, ist der Entzug des Abwesenden, das als solches nicht vorkommt. Die Zäsur ist ein Vorkommnis, das mit seinem Auftritt als ein fixierbares Datum notwendig verschwindet. Vor Derrida nannte bereits Heidegger diese eröffnende Zäsur der Zeitlichkeit eine Gabe der Zeit, die den homogenen Zeit-Raum der Anwesenheit gewährt und zugleich durchkreuzt: " [...] sie nähert Ankunft, Gewesenheit, Gegenwart einander, indem sie entfernt. Denn sie hält das Gewesene offen, indem sie seine Ankunft als Gegenwart verweigert [denn die Zeit bleibt selbst die Gabe eines Es gibt, dessen geben den Bereich verwahrt, in dem Anwesenheit gereicht wird."32

Fraglich geworden ist also seit Heidegger der temporale Status des Da-Seins selbst, insofern es im anschauungsfixierten Bild einer transparenten Selbstgegenwart des Subjekts eingerahmt blieb. Der Verlust dieser Evidenz zeigt sich in den Einschnitten, Abschattungen und Zäsuren, deren epistemologische wie lebensweltliche Spuren in den Texten der Phänomenologie wie der Lebensphilosophie um 1900 sich häufen. In der von Husserl analysierten Krise, die sich als neue Suche nach der 'urquellenden Gegenwart' des Bewußtseins verstand, tauchen die Anzeichen einer irreduziblen Abwesenheit auf. In der genauen Beschreibung dessen nämlich, was die phänomenologische Analyse des Zeitbewußtseins lebendige Gegenwart nennt, muß, wie Husserl eingesteht - eine Abwesenheit angenommen werden, die wie ein unheimlicher Begleiter weder von der Zukunft noch von der Vergangenheit sich abtrennen läßt. Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins kommt daher trotz seiner Absicht, die vorrangige Gegenwärtigkeit intentionaler Bewußtseinsakte zu begründen, nicht umhin, einen blinden Fleck zu konstatieren, der die vermeintliche Evidenz der Selbstgegenwärtigkeit des Bewußtseins unterläuft und zugleich ermöglicht: Will man nach Husserl die Dauer einer Wahrnehmung von der Wahrnehmung der Dauer unterscheiden, so ist es unabdingbar, innerhalb der vergegenwärtigenden Wahrnehmung zugleich einer Form der primären Erinnerung zu begegnen, die als reproduktives Moment allen Formen de sgegenwärtigen Erinnerns vorausgeht: die Spur der Retention.

Weit entfernt davon, eine bloße Aneinanderreihung von Gegenwartspunkten zu sein, ist der Bewußtseinsstrom eine widersprüchliche Bewegung aus Ur-Impressionen, Retentionen und Protentionen. Mit bzw. in dieser Bewegung zerspringt die Fiktion einer bei sich bleibenden oder gar urquellenden Selbstgegenwart. Das retentionale Moment läßt die Präsenz erst zur Erscheinung kommen: Die Gegenwart des Erscheinens eines Objekts der Wahrnehmung muß also, um möglich zu sein, über ein 'ursprünglich’ re-produktives Erinnerungsvermögen erst anwesend gemacht werden. Nahm Husserl noch an, die Retention käme zur Urimpression nur als ein ergänzendes, vergegenwärtigendes Erinnern einer schon gegebenen Präsenz hinzu, so erweist sich nun, daß der retentionale Aufschub die Voraussetzung des Erscheinens von Gegenwart überhaupt ist: “Im Augenblick waltet eine Dauer, die das Auge verschließt. Diese Andersheit ist die allen daraus sich möglicherweise ergebenden Dissoziationen vorausliegende Bedingung der Präsenz, der Präsentation und damit der Vorstellung überhaupt.”33

Das Bewußtsein, Folge der Abschattungen, die es als solche nicht sehen kann, konstituiert seine Gegenwart nur, indem es dieses Nicht-Sehen übersieht. Der Chiasmus der Abwesenheit, so Merleau-Ponty, ist der unsichtbare Zwischenraum: “Ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, wo das Unsichtbare nicht nur Nicht-Sichtbares ist [...], sondern wo seine Abwesenheit zur Welt zählt [...], wo die Lücke, die ihren Platz markiert, einer der Übergangspunkte der Welt ist.”34 Für die Bestimmung der Zäsur der Zeit, die die Vergangenheit wie die Zukunft nicht dem zeitlosen Primat der Gegenwart opfert, heißt dies: Wäre nicht Vergangenheit in der Gegenwart zurückbehalten (Retention) und wäre in ihr Zukunft nicht vor-weg-genommen (Protention), so wären Zukunft und Vergangenheit ein leeres Nichts. Damit aber gleichsam die Zukunft in der Gegenwart vorbehalten und Vergangenheit in ihr einbehalten sein kann, kann die Gegenwart nie völlig gegenwärtig sein. In ihr tritt die Differenz mit sich selbst als Gegenwart ein. Doch diese Differenz wiederum, die die Gegenwart von sich selber trennt, ohne doch Vergangenheit oder Zukunft als eine bloß modifizierte Gegenwart zu sein, ist das Intervall des Aufschubs und der Verschiebung: “Wenn aber die différance das ist, [...] was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so gegenwärtigt sie sich nie als solche. Sie gibt sich nie dem Gegenwärtigen hin. [...] In jeder Exposition wäre sie dazu exponiert, als Verschwinden zu verschwinden.”35

In dieser ebenso endlosen wie ortlosen Verschiebung eröffnet die Spur des Aufschubs eine Heterotopie des Abwesenden, die weder Ankunft noch Rückkehr kennt. Als gestaltlose widersteht sie den Metaphern, in denen sie sich gleichwohl verkleiden, imaginieren musst. Ihre Maskerade distanziert sich von den Wünschen und Illusionen, die des Schattens der abwesenden Zeit habhaft werden wollen. Von solcher Schattensuche im Imaginären, den der symbolische Schnitt der Sprache zeitigt, gibt das hier summarisch skizzierte Differenz-Denken Auskunft. Und zwar so, das jewedes Versprechen auf Heil und Heilung unterbrochen, will sagen: als letztlich unerfüllbares offengehalten werden kann. Im Choc, Riß oder Trauma bekundet sich die Zwischenzeit der verfehlten Begegnung, eine Zeit des Kommens ohne Ende.



1Vincent Descombes, Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich (1933-1978), Frankfurt a. M. 1981

2Vgl. hierzu jüngst Werner Hamacher, Entferntes Verstehen, Frankfurt am Main 2000

3Jacques Derrida, Ousia und gramme, in: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 53-84

4Jacques Derrida, Fines Hominis, in. Ders., Randgänge, a.a.O., S. 119-142

5vgl. hierzu meinen Aufsatz Metaphorologie der Medien, in: H.-J. Lenger/J. Sasse/G.C. Tholen (Hg.), Zäsuren-Césures-Incisions. E-Journal für Philosophie, Kunst, Medien und Politik (www.zaesuren.de), Heft 1, Düsseldorf-Hamburg-Kassel, 2000

6E. Levinas, Ganz anders - Jacques Derrida, in: Ders., Eigennamen, München 1988, S. 67

7ebenda, S. 72

8ebenda, S. 75

9ebenda, S. 75

10Die Heimführung der sperrigen Heterotopie der Differance in das vertraute Gefilde von Theologie und Hermeneutik liest sich in dem Artikel von K. Wiegerling über Derrida in der 2. aktualisierten und erweiterten Auflage des Lexikons Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen, hg. Von Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1999, wie folgt: “Sein Stil wirkt zuweilen literarisch, zuweilen theologisch, was sich auch inhaltlich begründen lässt.” (S. 183). Die projizierte Geschlossenheit der Theorie darf ebenfalls nicht fehlen: “Die Kritik an D. konzentriert sich auf folgende Punkte: Erstens gäbe es keinen Ausgang aus D’s Welt der Zeichen.” (S. 186)

11Jacques Derrida, in: Philosophien. Gespräche mit Foucault, Derrida, Lyotard (u.a.), hg. von Peter Engelmann, Wien1985, S. 54

12Vgl. hierzu immer noch grundlegend; Werner Hamacher, pleroma – zu Genesis und Struktur einer dialektischen Hermeneutik bei Hegel, in: Ders. (Hg.), G.W.F. Hegel, Der Geist des Christentums. Schriften 1796-1800, Frankfurt a. M./Berlin 1978

13Vgl. hierzu Jacques Derrida, Grammatologie, Frankgfurt a. M., 1974, passim

14Vgl. hierzu Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Ders., Schriften I, Olten 1973, S. xxx-xxx, sowie ders., Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud, in: Ders., Schriften II, Olten 1975, S. xxx -xxx

15Ferdinand de Saussure, Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft (2. Aufl.), Berlin 1967, S. 78 bzw. 135-137, vgl. hierzu auch meine Lektüre in: Wunsch-Denken. Versuch über den Diskurs der Differenz, Kassel 1986, S. 146-198

16Samuel Weber, Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Entsstellung der Psychoanalyse, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978

17Ferdinand de Saussure, Grundfragen, a. a.O., S. 143

18Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: W. Lepenies/H. H. Ritter, Orte des wilden Denkens. Zur Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt a. M., 1970. S. 390

19Jacques Derrida, Marx‘ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die Neue Internationale, Frankfurt a. M. 1995, sowie ders., Vor dem Gesetz, Wien 1992; mit Bezug zum Begriff des Gesetzes in der Psychoanalyse vgl. auch meinen Beitrag Vom Gesetz des Symbolischen, in: A. Adam/M. Stingelin (Hg.), Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen, Berlin 1995, S. 249-254

20zu den Formeln dieser Verwindung des Saussureschen Algorithmus vgl. die Zeichnungen in Lacans Text Das Drängen des Buchstabens..., a.a.O., S. 21, 23 und 40

21Jacques Lacan, Das Drängen des Buchstabens, a.a.O. S. 29

22Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (DasSeminar, Buch XI), Olten 1978, S. 261-262

23Jacques Lacan, Das Drängen des Buchstabens, a.a. O, S. 24

24ebenda, S. 24/25

25Laurence Bataille, Der Nabel des Traums. Von einer Praxis der Psychoanalyse, Weinheim 1988

26Jacquees Derrida, Die differance, in: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 37

27Emmanuel Levinas, Antlitz und erste Gewalt. Ein Gespräch über Phänomenologie und Ethik, in: Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, Hamburg 1987, S. 34.

28Emmanuel Levinas, Ethik und Unendliches, Wien 1987, S. 67

29Jacques Derrida, Gewalt und Metaphysik, in: Ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1972, S. 174

30ebenda, S. 188-189

31Jacques Derrida, Wie nicht sprechen, a.a.O., S 68

32Martin Heidegger, Zeit und Sein, in: Ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1988 (1962)., S. 16 und 18

33Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichnes in der Philosophie Husserls, Frankfurt a. M. 1979, S. 120

34Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 289

35Jacques Derrida, Die differance, a.a.O., S. 31-32