Frank Hartmann: Online-Texte

 

 Under Construction 

Architektur, Virtualität und Cyberspace

Gastvortrag an der
Akademie für bildende Künste Wien
April 1997


    "Buildings will become computer interfaces and computer interfaces will become buildings. Architects of the twenty-first century will still shape, arrange, and connect spaces (both real and virtual) to satisfy human needs . . . But commodity will be as much a matter of software functions as it is of floor plans and construction materials."
    - William Mitchell, City of Bits

       

      Eintritt in den Cyberspace

      Wir stehen mitten in einer Transformation der Kommunikationskultur, für die es viele Metaphern gibt: die des virtuellen Raums ist eine davon. Die Frage der Änderung ist mit den gewohnten kulturkritischen Mitteln nicht leicht zu fassen: indem etwa die Vorteile der alten Medien verteidigt werden. Neue Kommunikationsstrukturen ersetzen nicht die alten Medien:wir haben nach Erfindung des Buchdrucks schließlich uch nicht zu sprechen aufgehört. Wir sprechen aber anders als in einer schriftlosen Kultur. Es handelt sich um eine Verlagerung, eine Verschiebung – eine Transposition, mit der sich die Topographie der postmodernen Gesellschaft radikal ändert.

      ‘Cyberspace’ ist eine zunächst literarische Metapher für neue Orte des Bewußtseins. Sie entspricht der postmodernen Stimmung, als Entgrenzung der modernen Stimmungslage, die ‘kritisch’ (im Sinne einer Grenzbestimmung) definiert war. Aus Angst vor den Neuerungen der Medientechnik, die sie um ihre privilegierte Stellung bringen könnte, thematisierten Intellektuelle wie George Orwell die Überwachungsgesellschaft, das elektronisch ausgestattete Panoptikon. Ausgerechnet im Jahr 1984, in das jene Anti-Utopie projiziert wurde, prägte William Gibson mit dem Begriff ‘Cyberspace’ als einer consensual hallucination die Vorstellung einer schillernden, coolen neuen Datenstruktur, einem neuen Kontinent aus räumlich gewordener Information, den die Welt zum Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts dazugewonnen hat.

      Der Cyberspace ist jedoch nicht einfach die Welt der bunten Videogames, sondern der expandierende Datenraum, den wir über elektronische Verbindungen betreten und in welchem wir mit anderen Menschen interagieren können, der aber gewissermaßen ortlos ist. Schon bei einem Telefonat fällt es uns schwer anzugeben, wo es eigentlich stattfindet: die Verbindung erzeugt einen virtuellen Ort der Begegnung, wir handeln durch dieses Sprechen telematisch. Je mehr Menschen daran teilnehmen, desto mehr erhebt sich die Frage nach den Gestaltungskriterien dieses telematisch erzeugten Raumes. Die Interaktion ist vorerst eine mit Daten. Der augenscheinliche Modifikation zum herkömmlichen Umgang mit Informationen und Daten ist der, daß diese uns nicht mehr äußerlich sind und daß unsere Verfügbarkeit über sie eine immens gesteigerte ist. Wir glauben vielleicht noch, der Bildschirm beschränke diesen Raum im Sinne eines Terminals. Es geht jedoch um mehr, da bei der Virtualisierung des Raums und der wachsenden Verräumlichung der Datenwelt vollkommen neuartige Interface-Strukturen entstehen.

      Wie die Schnittstellen zu einer quasi-intelligenten Umwelt gestaltet werden, ist eine genuine Frage der Architektur. Der Punkt dabei ist: es geht nicht nur um eine Simulation realer Räume, sondern um die Ko-Evolution von elektronischen und realen Räumen; nicht also Rechenleistung und CAD sind entscheidend, sondern neue ästhetische Beziehungsformen. Kommunikationstheoretisch gesprochen befinden wir uns inmitten einer kulturtechnischen Revolution: Computing, schreibt Nicholas Negroponte dazu, is not about computers any more. It is about living.

      Der weite Begriff einer Kulturtechnik soll bedeuten, daß das Kriterium der Digitalisierbarkeit von Daten allein nicht entscheidend ist. Nicht nur die Maschine hat sich geändert, sondern unsere Beziehung zu und unser Umgang mit ihr. Und das in kurzer Zeit. War – noch vor einer Generation – der Computer ein bloßer numbercruncher, und als ein ‘Elektronengehirn’ vielleicht gut genug, mit großen Datenmengen umzugehen, so wurde die Maschine durch die neue Chip-Technologie zum PC, dem personal computer mit neuen Funktionen. Hatten zuvor mehrere Personen sich eine raumfüllende Maschine geteilt (mainframe computing), so stand sie jetzt individuell zur Verfügung und mutierte zum brauchbaren wordprocessor. Neue Software und neue graphische Benutzeroberflächen wurden entwickelt. Die globale Vernetzung der Computer ist ein weiterer Entwicklungsschritt, ein signifikanter kultureller Wandel. Der NC (net computer) könnte schon bald den PC ersetzen; das heißt das Gerät wird jetzt zu einem unbedeutenden Teil eines größeren Ganzen, zu welchem Internet und Intranets derzeit konvergieren. Schon wird der Computer als thoughtprocessor (Michael Heim) erkannt, der simple Dinge wie Haushaltsgeräte und Schuhsohlen ‘intelligent’ macht. Unsere Kultur bewegt sich auf den Zustand eines allgegenwärtigen Computing zu (ubiquitous computing), mit dem die Maschinen zur quasi-biologischen Umwelt wird, bzw. wir selbst Teil dieser Maschine werden, mit der wir interagieren.

      Nicht nur werden künftige Generationen unsere derzeitigen Interface-Strukturen belächeln (während die Computer in der uns bekannten Form verschwinden), sondern auch über neue Formen der Sozialintegration verfügen, neue Lebenswelten, die unsere moderne Ästhetik – unsere gewohnte Auffassung von Zeit und Raum – distanziert: als Entgrenzung derzeitiger Auffassungen von Mensch/ Maschine/ Natur/ Umwelt. Das bedeutet im weiteren Sinn der Eintritt in den Cyberspace, welcher sich derzeit freilich als ein virtuelles Niemandsland ‘under construction’ präsentiert.

      Cyberfaschismus?

      Wenn wir uns daran erinnern, daß Medien bereits seit geraumer Zeit mit unserem sozialen Umfeld untrennbar verbunden sind, dann gilt es auch zu bedenken, daß wir über diese Mensch/Maschine-Interfaces keineswegs eine virtuelle Realität betreten, indem wir aus dem herkömmlichen Wirklichkeitsrahmen heraustreten: wir können im Cyberspace handeln wie in jedem anderen sozialen Feld, dem realen wie dem symbolischen. Widerstand gegen diese Entwicklung ist ebenso verständlich, wie er auf seine realen Motive hin zu dechiffrieren bleibt.

      So ist es beispielsweise nicht einsichtig, warum die Klage über den Zerfall ganz bestimmter literarischer Werte unserer westlichen Gesellschaft einer Logik des Zerfalls sämtlicher Kulturideale gehorchen sollte. Eine bestimmte Gestalt der Kulturkritik ist gegenwärtig alt geworden, wofür ich zwei Beispiele anführen möchte. Das eine ist eine gegen die „Entmündigung der Gesellschaft" geschriebene Kritik der Macht von Technologien. Neil Postman versteigt sich mit der Befürchtung, die Medien würden unsere politische Urteilsfähigkeit beeinflussen (was sie freilich tun, wie der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant vor zweihundert Jahren bereits festgestellt hat), zu der Behauptung, wir wären mit einer Art von „kulturellem Aids" befallen, das uns alle Widerstandskraft gegen diesen Zerfallsprozeß raubt. Im Gegensatz dazu bleibt es mit der Hoffnung auf eine kommunikative Erneuerung der Demokratie via Internet angesichts der realen Medienpraxis bei bloßen Behauptungen; allein Postman und diese Form der Argumentation verfällt einem irrationalen Glauben an die Allmacht der Technik, deren Struktur tatsächlich jede Art und Weise ihres letztlichen Gebrauchs bestimmen soll. Die Entwicklung des Internet als einem sozialen Phänomen zumindest zeigt das genaue Gegenteil dieser Annahme, die ihrerseits auf die technologische Struktur fixiert ist.

      Das zweite Beispiel stammt von Paul Virilio, dem rastlosen Kritiker der medialen Beschleunigung, für den die politisch-moralischen Konsequenzen der Medien- und Informationstechnologie jetzt gar in einen "Cyber-Faschismus" münden. Wiederum sieht man „unsere" Gesellschaft einer fundamentalen Bedrohung ausgesetzt, die von einer Industrialisierung des Hörens und Sehens ausgeht und „unser" Weltbild via Kommunikationsmittel angeblich „überfremdet". Diese These ist in ihrer Rhetorik (wie alle Biologismen und andere Fundamentalismen) abstoßend, könnte aber doch einen richtigen zeitdiagnostischen Kern enthalten. Nur hapert es da mit der Begründung: wenn Virilio die „Scheinwelt" der Informationstechnologien angreift, die reales Leiden und Gewalt in unserer Gesellschaft nur überdecken, dann spielt er mit der alten und unglaubwürdig gewordenen Dichotomie von Sein und Schein, die hier wirkliche Bildung setzt und dort nur Trug und Verblendung (Virilio: „virtuelle Kunstrealität") zu sehen vermag.

      Wie schon bei Postman regt sich auch bei Virilio der begründete Verdacht, ihre Diagnose habe weniger mit der gegenwärtigen Medienrealität zu tun als vielmehr mit einem romantischen Blick auf überkommene Kultureliten. Mit den neuen Informationstechnologien ändert sich die Form der gesellschaftlichen Kommunikation, und ebenso ändert sich in der neuen Kommunikationskultur (dessen Vorbote das Internet ist) die Rolle der Information. Eine Zeit des Übergangs produziert Unsicherheiten, die ihrerseits das Vertrauen in Technologien nährt und zu deren teils maßloser Überschätzung führt.

      Dem ist die Frage entgegenzuhalten, warum sich die bekannten menschlichen Eigenschaften sich unter Benutzung neuer Technologien denn nun grundlegend ändern sollten. Eine technologiegesättigte Informationsgesellschaft wäre das Zerrbild der neuen Kommunikationsverhältnisse, in der nicht der Mensch, sondern die Relation zwischen Kultur, Gesellschaft und Medien vollkommen neu bestimmt wird. Der emotional geladene Diskurs um das Für und Wider dieses Prozesses erinnert an eine Beziehungsdiskussion, aus der glücklich nur entrinnt, wer sich nicht am Bild des Vergangenen festklammert und damit das Ende einer Perspektive auch als Öffnung eines neuen Horizonts zu interpretieren vermag.

      Neue Kommunikationsästhetik

      Verschiedene Paradigmen der Kommunikation sind in Veränderung begriffen: Vilém Flusser nennt es den qualitativen Sprung vom linearen Text zum Technobild, einen Umbruch der Kommunikationsstrukturen unter den nicht länger nur deskriptiven Bedingungen einer neuen Einbildungskraft. Herbert Marshall McLuhan nannte es den Abschied von der Gutenberg-Galaxis. Die Kommunikationsstrukturen lassen andere als die bekannten Funktionen (wie Übertragung von Nachrichten) zu, was sich letztlich auf die menschlichen Beziehungen auswirkt und eine potentiell „neuartig kodifizierte Welt" (Flusser) ermöglicht, ein „planetarische Netzwerk technologischer Sinnlichkeit" (Derrick de Kerckhove). Damit wird das lineare Kommunikationsschema der ‘Vermittlung’ gebrochen. Linearität wird als Funktion eines Codes erkannt, als ein kulturtechnischer Effekt des phonetischen Alphabets, von Sprache und Schrift, der sich auf allen anderen Ebenen als abstraktes Prinzip durchsetzt.

      Noch im neunzehnten Jahrhundert bedeutete Kommunikation die Bewegung von Gütern. An die Stelle der materialen tritt nun die digitale Bewegung:die Steuerung von Datenflüssen statt dem Transport von Materie. Die diskursiven Medien werden zunehmend durch dialogische Medien ersetzt, das Rundfunkprinzip durch ein Vernetzungsschema (Networking anstelle von Broadcasting). Das Sender-Empfänger Modell der Massenkommunikation wird durch die vernetzte Kommunikation ersetzt. Diese ermöglicht eine neue Nutzung digitaler Ressourcen: nach dem Prinzip des uneingeschränkten Zugriffs statt der bislang herrschenden Ökonomie der Knappheit.

      Ob sich damit wirklich ein neuer „anthropologischer Raum des Wissens" (Pierre Lévy) öffnet, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur, daß die technische Entwicklung des Cyberspace die Chancen zur Nutzanwendung eines gesellschaftlichen Machtpotentials neu verteilt, dessen Erschließung bisher an langwierige Sozialisationsprozesse und elitär geschützte Wissensreservate gebunden war. Durch die Interaktivität ist es aber auch vorbei mit der Haltung des distanzierten Beobachters: die als nicht nur ästhetisch, sondern auch technisch bedingt zuerkennen ist; d.h. der kulturelle Habitus ändert sich insgesamt, seit die ‘Apparatur’ eine ‘Replik’ ermöglicht. Wir verlieren sicher nicht die Sprache, sind aber dabei, neue Codes zu implementieren und damit ein anderes Sprechen zu erfinden. Das wirkt wiederum auf alle anderen Kulturproduktionen zurück.

       

      Endogene Architektur

      Wenn Menschen etwas tun, dann geschieht das an bestimmten Orten. Ihre körperlich gebundenen Aktivitäten sind strikt lokalisierbar: Arbeiten, Essen, Schlafen, Entspannung — dies alles erfordert eine gewisse Funktionalität der unmittelbaren Umgebung, als deren Gestalter unter anderem Architekten in Erscheinung treten. Aber vielleicht sind, auf dem Weg in eine endogene Architektur, Architekten die jetzt aussterbende Spezies: schon wenn wir diese Vorstellung ihrer Tätigkeit über die banale technische Gestaltung von Bauteilen und Gebäudekomplexen hinaus ausdehnen, dann stellen wir Ansprüche, denen das klassische Berufsbild nicht mehr entsprechen kann.

      Auch dann nicht, wenn es um ästhetische oder ökologische Komponenten angereichert wird. Ich meine das nicht nur in dem pragmatischen Sinn, daß es immer mehr Architekten gibt, die immer weniger bauen (gebaut wird natürlich weiterhin, und das nicht zu knapp), sondern grundsätzlicher. Worauf die Dialektik von menschlicher Aktivität und architektonischer Funktionalität eigentlich schon hindeutet: es geht im weiteren Sinn um Interface-Design. Stellen wir uns das zunächst so vor, daß die traditionelle, nämlich zunftmäßige Organisation von Berufsgruppen zusammenbricht. Noch vor Jahren wäre unvorstellbar gewesen, daß das Aufgabenfeld von Zünften wie Architekten,Verlegern, Redakteuren etc. auf einer neuen Basis zusammenfällt und zudem noch von den letztlichen Konsumenten unterlaufen wird. Im Cyberspace ist dies, etwas übertrieben ausgedrückt, der Fall: der intelligente Sozialraum kennt keine Baupläne, keine Manuskripte, keine Druckanweisungen, wohl aber Schaltpläne und Software, in der sich Momente von all dem finden. Es handelt sich um eine neue räumliche und soziale Matrix.

      Was uns hier interessiert ist die Tatsache, daß diese kulturtechnische Transformation auf die traditionelle Raumgestaltung zurückwirkt. Liquid architecture, cyberreale Architektur, Transarchitektur und bioelektronische Architektur sind Schlagworte dieser Diskussion. Der letzte Veränderungsfaktor der Architektur war (laut McLuhan) die Elektrizität, nicht nur hinsichtlich Beleuchtung, Heizung, und vertikaler Mobilität, sondern vor allem durch die damit erzielte Aufhebung der Trennung von Innen und Außen. Der Cyberspace als verräumlichte Information vervollständigt diesen Prozeß, indem das Symbolische und das Funktionale in eine neue Relation gesetzt werden.

      Damit verändert sich wie gesagt die Topographie, aber auch die Bewußtseinslage der Gesellschaft. Nicht aufgrund der vermeintlichen Dezentralisierung, sondern aufgrund neuer Konstellationen (das elektronische ‘Zuhause’ gehört sicher auch dazu) und auch im Verhältnis von Produzenten, Distributoren und Konsumenten. So kennt die digitale Stadt beispielsweise keinen Architekten, sondern wird von den Teilnehmern selbst gebaut; allerdings gibt es technische Limits, subjektive Designer und deren kulturell determinierte Gestaltungskriterien. Es handelt sich um eine Ausweitung des gesellschaftlichen Bewußtseinsprozesses durch technische Interfaces in „sozialen Zusatzräumen" (Manfred Faßler).

      Orte werden zu Knoten in einem Netz von Informationsflüssen. Das Haus wird zur intelligenten Maschine. Die virtuelle Architektur formt nicht die Erweiterung von Skelett und Haut, sondern des Nervensystems. Diese Architektur ist die von verflüssigten Relationen zwischen abstrakten Elementen, eine symbolische Notation, womit sie der Musik ähnlich wird, wie Marcos Novak festgestellt hat. Stahl und Glas sind architektonische Zeichen der Moderne, die damit ihre Vorstellung von Leichtigkeit und Transparenz zu realiseren sucht. Diese Bestrebung kulminiert in der Ersetzung von Substanz durch Oberfläche. Danach geht es nicht mehr um diese Entgegensetzung. Algorithmische Kompositionen sind architektonische Zeichen der Postmoderne. Sie schaffen Bewußtseinsräume. „Komplexe dreidimensionale virtuelle Räume", schreibt William Mitchell, „in denen man sich mit Menschen aus der ganzen Welt treffen und mit ihnen interagieren kann, werden zur neuen Architektur des 21. Jahrhunderts."

      Die virtuellen Orte, an denen sie stattfindet, mögen noch recht einfach strukturiert sein. Die Architektur des kommenden Jahrhunderts ist neu, weil an keinen Ort mehr gebunden. Es geht um Strukturen, um Orte und deren Verbindungen, die dem Bedarf ihrer Benutzer entsprechen. Neu daran ist auch die Überwindung jener ontologischen Zweideutigkeit, die herkömmlichen virtuellen Umgebungen zu eigen ist, von der Fernsehshow bis zum VR-Game, vom dreidimensionalen CAD-Plan bis zum Flugsimulator. Deren Grenze war die Repräsentationsfunktion am Bildschirm.

       

      Neue Kathedralen

      Alle modernen Religionen, sagt Hakim Bey, zeigen die gnostische Spur des Mißtrauens oder gar offener Feindschaft gegenüber dem Körper und der erschaffenen Welt. Eine Überbewertung des Abstrakten ist das schlechte Merkmal jeder Religion, und dagegen hilft kein Verweis auf das Authentische, Außermediale. Unsere Kultur läuft auch wieder Gefahr, mit der neuen Informationsökonomie ein schlechtes metaphysisches Erbe anzutreten: über die stete Aufwertung des Symbolischen im allgemeinen Lebenszusammenhang verabsolutiert sich zunächst das abstrakte Denken als absolutes Wissen (F.W.G. Hegel); über die Absicherung der materiellen Lebensverhältnisse dann die Manifestationen abstrakten Denkens (Mechanisierung) als den Wohlstandssymbolen einer Konsumkultur; über die dominierende Rolle der Medien schließlich erfüllt sich eine weitere Manifestation abstrakten Denkens, durch die lebensweltliche Problemlagen in den Bereich des Symblischen verschoben und Energien aus der realen Welt der sozialen Gestaltung abgezogen werden.

      Die symbolischen Räume begrenzen und umschließen uns, sie können uns aber auch einsperren. Der menschliche Körper galt einst als das symbolische Gewand der Seele, und so wurden für den sozialen Körper ideale Gewänder geschaffen. Dieser spirituellen Herausforderung verdanken wir vermutlich die Kathedralenarchitektur. Der architektonische Idealkörper ist und bleibt auch ein Ordnungssystem, eine Topographie der spirituellen Erfahrung. Er demonstriert den Luxus, den Wohnbau als Wärmekontrollmechanismus des Körpers (McLuhan) überholt zu haben.

      Vielleicht nähern wir uns mit der Herausfordeung des Cyberspace ja wieder einer Kathedraenarchitektur – einer Ausweitung sinnlicher Wahrnehmungsmomente, eines Bewußtseinsraumes ohne Wände. Dann allerdings wäre es auch wieder einmal höchste Zeit für eine entmystifizierende sozialwissenschaftliche Aufklärung.

 

Literatur

Benedikt, Michael: Cyberspace. First Steps, Cambridge Mass: MIT Press 1994
Bey, Hakim: Der Informationskrieg, in: LETTRE Heft 29, 1995
Flusser, Vilém: Kommunikologie, Schriften Band 4, Mannheim 1996
Hartmann, Frank: Cyber-Philosophy. Medientheoretische Auslotungen, Wien 1996
Heim, Michael: The Metaphysics of Virtual Reality, Oxford Univ. Press 1993
Kerckhove, Derrik de: Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer, München 1995
Lévy, Pierre: Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace, Mannheim 1997
McLuhan, Herbert M.: Understanding Media. The Extensions of Man (1964), London: Routledge 1994
Mitchell, William J.: City of Bits, Cambridge Mass.: MIT Press 1996
Negroponte, Nicholas: Being Digital, New York: Knopf 1995
Novak, Marcos: Liquid Architectures in Cyberspace, in: Benedikt 1994, 225ff
Postman, Neil: Technopoly, New York: Knopf 1991
Virilio, Paul: La Vitesse de Libération, Paris: Ed. Galilée 1995


© Frank Hartmann 1998

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