Lyotards ästhetische Konzeption
"Um sich zu konstituieren, hat der Rationalismus zwangsläufig den tiefen Sinn der Denkweisen verlieren müssen, die ihn behinderten. Aber wenn wir heute das Mögliche suchen, das vor uns liegt, alles Mögliche, ob wir es gewollt haben oder nicht, dann können wir, die wir nicht mehr das rationale Denken zu errichten haben, die wir mühelos darüber verfügen, nicht umhin, von neuem den tiefen Wert dieser verlorenen Denkweisen wahrzunehmen."[1]
Der postmoderne Diskurs bietet ein schier unerschöpfliches Reservoir an Deutungsmöglichkeiten. Ein kohärentes Interpretationsschema ist daher hier nicht zu erwarten. Vielmehr steht die ganze Diskussion unter dem Paradigma retentionaler und protentionaler Verweisungsschemata. Wenn man einen der Hauptakzente postmodernen Philosophierens aufzeigen wollte, dann wäre es die Kritik am tradierten Identitätsmodell. Die Differenzproblematik[2] und die Fundamentalkritik am alten Kognitionsmodell sind die primär avisierten Spektra der Reflexion. Lyotard plädiert für eine Kunst der Avantgarde. Statt Konsens steht Dissens. An die Stelle des tradierten Normencodes tritt die Vieldeutigkeit als Wahrheit. Die postmoderne Kunst antizipiert, so Lyotard, den Ereignischarakter, ja postmoderne Kunst ist Ereigniskunst. Das Ereignis der Kunst, Kunst als Ereignis impliziert eine Intensivierung des Seinserlebens und der Wahrnehmungsvielfalt. Im Ereignis vollzieht sich der konstruktive Riß mit den tradierten Vorstellungswelten. Kunst ist Subversion. Die Kontinuität der Reflexion soll vielmehr, und dies versteht Lyotard unter Subversion, destruiert werden. Die Kunst fungiert als Reibungsfläche des sich neu formierenden Denkens. Das Denken und die Sinnlichkeit stehen in einer derartigen Konzeption in Korrespondenz. Die postmoderne Kunst indiziert die emotionale Regung des Betrachters. Das Theatralische entzieht sich daher der vollständigen Subsumtion durch die Kognition. Das Theatralische stiftet daher die Ambivalenz von Bedeutung und Sinn. Die Kunst wird somit zum Spiel der Gegensätze. "Es scheint, daß die neue Theatralität der Kunst ihren Ursprung in dem Pathetischen hat. Das Pathetische überfällt die Sinne, aber es läßt sich nicht durch die Vernunft auf Distanz halten."[3] Die postmoderne Kunst ist endgültig aus dem Kodex tradierter Normen getreten, nicht mehr das Religiöse, nicht das Politische wird antizipiert, sondern die Postmoderne versteht sich primär als leere Autonomie. Die von allen restriktiven Positionen losgelöste Kunst verweist nur noch auf sich selbst. Es ist letztendlich die Selbstverweisung der postmodernen Kunst, so Lyotard, die die Postmoderne kritiktabel macht.
Das Erhabene
Lyotards ästhetische Konzeption entpuppt sich somit als gravierende Polemik an der postmodernen Kunst. Die dezidierte Kritik Lyotards richtet sich gerade gegen die "anything goes" Strategie der Kunst. Nicht so sehr die Postmoderne als "Eklektizismus"[4], als Mehrsprachencode wird von Lyotard affirmiert, sondern die Moderne wird zum eigentlichen Ort der philosophischen Spekulation. Gegen die Postmoderne setzt Lyotard auf die eigentliche Leistung der Moderne. Der zynistische Eklektizismus, der die Verantwortungslosigkeit des Künstlers kultiviere, wird von Lyotard als Primärverfallsprodukt deklariert. Die Kunst, so Lyotard, wird somit zu ihrer bloßen Konsumierbarkeit degradiert. Das kreative Potential der Kunst wird geradezu vom postmodernen Kunstverständnis destruiert. Die Systemhaftigkeit der postmodernen Kunst, ihr formaler Gebrauchscharakter, verfehlt die Eigentlichkeit der Kunst. So richtet sich Lyotards Aversion gegen das marktorientierte Interesse der Kunst. Die postmoderne Kunst degeneriert zu einem bloßen Spielball globaler Politik, zur Magd des Marktes. Lyotard postuliert dagegen eine Kunst des Unspektakulären, eine Kunst als Nichttransformation. Jegliche Systemhaftigkeit, jede Normierung der Kunst wird strikt abgelehnt. Vielmehr insistiert Lyotard auf dem aporetischen Charakter einer Kunst der Vernutzung. Lyotards Ästhetik scheint sich dadurch auszuzeichnen, daß sie dem Künstler geradezu die Anpassung an das Publikum versagt. Die Integration und Involvierung der Kunst in ein System vernutzter Eigentlichkeit degradiert die avantgardistischen Potentiale der Kunst. Die Dignität der Kunst, die Freiheit der Interpretation und Kreativität gewinnen erst dann ihre absolute Funktionalität, wenn sie dem öffentlichen Geschmack entsagen. Lyotard identifiziert mit der postmodernen Malerei die Mentalität des Spießbürgers, der nicht nach der Reflexion, sondern nach einem Gefühl verlangt. Weil, so Lyotard, die postmoderne Malerei das Gefühl kultiviert und damit dem Verständnis nach Erklärbarkeit der Kunst Zuspruch leistet, verfehlt sie ihren eigentlichen Ort. Im Begriff "Experiment" sieht Lyotard den einzigen Weg vor der Verödung der Kunst. Eine adäquate Theorie des Ästhetischen muß den permanenten Neuanfang kultivieren, muß das Gewonnene immer wieder destruieren, um sich als lebendiger immerwährender Anfang zu artikulieren. Nicht das alte Spiel gilt es zu spielen, vielmehr muß sich die Kunst immer neu produzieren. Kunst, derart interpretiert, wird nie zum Spielball rationaler, normativer Vernetzungen, sondern sie bleibt, und dies ist ihr eigentlicher Geltungsbereich, immerwährender Anstoß. Eine Ästhetik der Kunst, die bloß gefällt, wird somit ad absurdum geführt. Wenn die Kunst sich nicht immer wieder neu setzt, dann wird die Kunst zur bloßen Reproduktion der Wunschgesellschaft, zu einem bloßen, uneigentlichen Organ der Erklärungsbedürftigkeit. Die Kunst ist nur dann aktuell, wenn sie nicht in der Reflexion, sondern im permanenten Vollzug erfahren und erlebt wird. Kunst heißt Destruktion der tradierten Regeln. Die Kunst - und dies ist ein ästhetischer Imperativ Lyotards - darf nicht dem allgemeinen Wohlgefallen entsprechen. Die Kantische Maxime - "schön ist, was gefällt" - wird zum eigentlichen Anstoß der Reflexionsbemühungen Lyotards. Die Aufgabe der modernen Malerei ist allein die Darstellung des Nichtdarstellbaren. Die Malerei wird dabei selbst nicht durch das Publikum, die Massengesellschaft korrumpierbar, sondern sie ist losgelößt von jener zu denken. Die Malerei wird stattdessen nichtrepräsentativ, sie etabliert sich als eigene Wirklichkeit. Die moderne Kunst kann das Unvorstellbare nicht mehr mit den Mitteln der überlieferten Methodik darstellen. Die Eigentlichkeit der modernen Malerei sieht Lyotard in der Revolte gegen die traditionellen Darstellungsmöglichkeiten. Anstatt einer Ästhetik des Schönen rekurriert Lyotard auf eine Ästhetik des Erhabenen als treibende Kraft. Das Erhabene entzieht sich permanent dem Geschmack, ja die Darstellung des Erhabenen als Undarstellbarkeit[5] wird zum unhintergehbaren Topos der Ästhetik stilisiert. Das "Erhabene"[6] entzieht sich dem kollektiven Konsensus, es ist ein anderes Gefühl. Es hat statt, wenn die Einbildungskraft nicht vermag, einen Gegenstand darzustellen, der mit einem Begriff, und sei es auch nur im Prinzip, zur Überseinstimmung kommen könnte. Die Kunst erhält ihre Signifikanz durch die Darstellung des Nichtdarstellbaren. Lyotard postuliert hier sozusagen eine rein negative Darstellung des Unendlichen. "Der Kunst wird - im Rahmen einer pessimistischen Meta-Erzählung, so könnte man fast sagen - die Aufgabe zugeschrieben, vom Unbestimmten, vom Nichtdarstellbaren, vom prinzipiell Unverfügbaren Zeugnis abzulegen."[7] Das Erhabene als das Terroristische desturiert das Schöne. Ja, das Erhabene entfesselt in der Realität den Terrorismus. "Dem positiven Vielheitspol wird das Erhabene, dem negativen Einheitspol das Schöne zugeordnet."[8]
Das Erhabene verweigert sich der Transparenz, es ist das unendlich Unversöhnliche, Provokante. Das Erhabene ist der produktive Riß, der unendliche Abgrund, der sich im Augenblick ereignet. "Es macht nicht das Verborgene sichtbar, sondern hebt die gewohnte Sichtbarkeit auf."[9] So wird allein das Erhabene zum Synonym der Realität einer Gesellschaft.
Die Postmodene
Der Begriff Postmoderne und die damit verbundene Konzeption wird erst vom französischen Philosophen und Ästhetiker Lyotard in seiner 1979 veröffentlichten Schrift "Das postmoderne Wissen"[10] für die Philosophie erschlossen. "In äußerster Vereinfachung könnte man sagen: `Postmoderne' bezeichnet, daß man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt."[11] Jedoch ist die Negativ-Bestimmung der Postmoderne nicht die eigentliche Intention Lyotards. Vielmehr sucht Lyotard nach einer Neubestimmung postmoderner Reflexion, um sie vor der Verödung leerer Autonomie, als lediglich negierende Strömung zu bewahren. Die Postmoderne allein verbleibt ein destruktiver Korpus, wenn sie allein in der Negation tradierter Identitätsmuster verharrt. Der eigentliche Ort der Postmoderne findet sich im Spiel der Perspektiven, im kontinuierlichen Verschieben, Aufheben, mithin in einer Philosophie der Pluralität. Das Heterogene, das Kontingente wird nicht mehr systematisch unter Universalbegriffe subsumiert, sondern das Heterogene verbleibt in seiner Nicht-Integrierbarkeit. Für den Postmodernebegriff Lyotards bleibt die Moderne weiterhin maßgeblich.
Die moderne Kunst etabliert sich jenseits formaler Abbildlichkeit. Die Repräsentation wird zugunsten der Präsentation detaillierter Elemente und Momente aufgegeben. "Gerade durch ihre Zerstreung kommt die Kunst jedoch dem Sein als Vermögen des Möglichen gleich, oder der Sprache als Vermögen der Spiele."[12] Die Kunst als Experiment stiftet daher immer neue Horizonte, sie fungiert als permanenter Möglichkeitssinn. Durch die Kategorie der Möglichkeit treibt die Kunst immer wieder über sich selbst hinaus. Das (nunc stans) mit seinem Regelcode wird somit immer wieder, zugunsten eines penetrierenden Jetzt durchbrochen. "Das einzige unveränderliche Kriterium, dem das Werk heute unterliegt, ist nun aber, ob sich darin etwas Mögliches zeigt, womit noch nicht experimentiert worden ist, das also noch keine Regeln hat - etwas Mögliches für die Empfindung oder die Sprache."[13] Lyotard attackiert das tradierte Wesen der Kunst, ohne auf ein bloßes "alles ist erlaubt" zu rekurrieren. Der Philosoph Lyotard sieht vielmehr in dem Postulat "alles ist erlaubt" die eigentliche Verantwortung der modernen Kunst. Das "alles ist erlaubt" indiziert nicht bloß eine kontinuierliche Sinnverschiebung, sondern es nimmt den Künstler in die Pflicht einer affirmativen Ästhetik. Die postmoderne Kunst bleibt für Lyotard nur dann en vogue, wenn sie sich nicht allein an eine l'art pour l'art Kunst vergeudet. Wenngleich die postmoderne Kunst - und Lyotard insistiert immer wieder darauf, daß die postmoderne Kunst nur durch die moderne Kunst ihre Eigentlichkeit ausschöpft - von einer Subversion und "Auflösung der Objekte, der Zustände, der Konfiguration, der Orte, der Arten herrührt, welche bis jetzt die Institution Malerei ausmachten"[14], so setzt sie doch auf ein kritisches Reflexionsmodell. Die Kunst, derart ihrem funktionalistischen Überbaus entmächtigt, wird zum Torso individuellen Anstoßes. "Vielmehr muß man damit beginnen, die Malereiregion aufzulösen, und mittels einer Art Lyse vorgehen, die eben keine Analyse ist, weil absolut nicht gewährleistet ist und auch nicht aus sich heraus verständlich, daß man schließlich elementare Konstitutionsprinzipien herausbekommt."[15] Die Wirklichkeit als Sujet der Darstellung wird als der eigentliche Ort der Malerei entmachtet. Indem die moderne Kunst die Gegenständlichkeit degradiert, eröffnet sie die Perspektive auf eine Analytik des Erhabenen. Die Gegenständlichkeit eines Kunstwerks, das den Betrachter sinnlich affiziert, wird zugunsten der Transparenz der Transzendenz, des Unbedingten aufgegeben, welches das Individuum in seiner festgefügten Erlebniswelt erschüttert. Die moderne Malerei systematisiert die Gegenständlichkeit als den Ort mißlungener Realität. Die Kunst und das Kunstwerk werden somit zu Reflexionszonen, die die Pluralität der Deutungshorizonte in ihrer Offenheit belassen. Die Kunst akzentuiert somit die Disparatheit der scheinbaren Wirklichkeiten. Sie fungiert als die Grenze, die das Kontinuierliche ständig in das Kontingente überführt. "Alle Definitionsversuche der `Avantgarden' sind von einer Frage geleitet: Was ist Malerei? Was ist dazu nötig: Farbe, Zeichnung, Perspektive, Formgebung, Rahmung, das Bedecken eines Trägers mit Farbsubstanzen, ein besonderer Austellungsort, Beständigkeit an einem Ort oder Transportierbarkeit, z. B. die Unabhängigkeit vom Körper des Künstlers etc.? Jede Form der Malerei hat versucht, am einen oder anderen jener Zwänge etwas zu ändern, die seit drei Jahrhunderten als konstitutive Regeln der Malerei gegolten haben. Die Malerei ist wesentlich reflexiv geworden."[16] Die Kunst revoltiert gegen jeden Typus einer Analytik des Schönen im Sinne der Kantischen "Kritik der Urteilskraft". Sie überschreitet die sinnliche Regression zu Gunsten einer Interpretation mit reflexivem Gestus. Somit ist sie im Diesseits "nicht faßbar."[17] Wenn jedoch Kant schreibt, "Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft"[18], so scheint dies der Intention Lyotards zu entsprechen. Das Postulat der Darstellung des Nichtdarzustellenden fungiert nicht als Darstellung einer "Entität"[19], sondern es kultiviert das Unzureichende, der Darstellung. "Lyotard vertritt keine Metaphysik der Transzendenz, sondern eine Ontologie der unabsehbaren Möglichkeiten, und das Erhabene ist nicht vertikal, sondern horizontal zu deklinieren und gewinnt genau dadurch kritische Funktion."[20] Das Erhabene, wie es Lyotard versteht, verweist nicht auf ein absolut unendliches Transzendentes, das Erhabene indiziert vielmehr eine Pluralität von Verweisungen und Möglichkeiten. Es defunktionalisiert somit den Positivismus der Realität zugunsten eines florierenden und perforierenden Bedeutungsprozesses. Weder das Aristotelische Modell von Wirklichkeit und Möglichkeit, noch die Umkehrung des Modells durch Heidegger in "Sein und Zeit" werden von Lyotard avisiert, sondern die Möglichkeit wird zum primären Indikator. In der Kunstinterpretation werden somit die Heterogenität und Inkommensurabilität zu Ausdrucksweisen der Deskription. Wie für Derrida, so wird auch für Lyotard, der Begriff der Differenz zum intellektuellen Superbegriff. "Die `differance' als originäre Erschließung ist weder Existenz noch Wesen, vielmehr eröffnet sie den Raum, in dem alle Philosophie ihre Bestimmungen des Seins des Seienden qua Natur und Geschichte vornimmt - Bestimmungen, die ja das Seiende der Herrschaft und Verfügung zugänglich machen."[21] Der Kontinuitäts- und Kohärenzanspruch metaphysischer Superlative wird durch den Differenzmodus strikt destabilisiert. Die Präreferenz und das Sein des Seienden, die ganze abendländische Tradition der Sinnstiftung werden der Verweisung, der Philosophie der Dekonstruktion unterworfen. Die Subsumtion unter regulative Begriffe verliert ihre Relevanz. Sinnstiftung vollzieht sich daher nur noch am Rande des Systems, das als solches schon destruiert ist. Sowohl die Dezentrierung der Subjektivität einerseits als auch transzendenter Idealität andererseits fungieren als spezifische Postulate der Philosophie Derridas. Das avisierte Telos postmoderner Reflexion ist der unendliche Regreß. Das unterstreicht auch Deleuze, wenn er schreibt: "[...] nur wenn das Viele als Substantiv, als Vielheit behandelt wird, hat es keine Beziehung mehr zum Einen als Subjekt und Objekt, als Natur und Geist, als Bild und Welt. Vielheiten sind rhizomatisch und entlarven die baumartigen Pseudo-Vielheiten. Keine Einheit, die im Objekt als Stütze fungiert oder sich im Subjekt teilt. Nicht einmal eine Einheit, die im Objekt verkümmert, um im Subjekt `wiederzukehren'. Eine Vielheit hat weder Subjekt noch Objekt; sie wird ausschließlich durch Determinierungen, Größen und Dimensionen definiert, die nicht wachsen, ohne daß sie sich dabei gleichzeitig verändert [...]."[22]
Die sukzessive Integration und Involvierung des Ungedachten als Konstituens der modernen Wirklichkeit defunktionalisiert und entmächtigt, so Deleuze, die absolute Kognition des "Ich-denke" zugunsten eines sich ereignenden, die Subjektivität infragestellenden Außen.[23] Das "Denken des Außen [...], das in der Selbstgegenwart des Denkens eine irreduzible Alterität und größtmögliche Entfernung zu sich selbst erkennt"[24], wird zum Dekonstruktivum des Denkens, das diesen Anstoß nicht denken kann. Das "Denken des Außen" ist die nichteinzunehmende Objektivität[25], die als absolute Macht mein eigenes Sein relativiert und meine Entwürfe destruiert.
Die Anfänglichkeit des Ursprungs der Philosophie ist faktisch nicht mehr von einem Unbedingten, einem unbewegten Beweger her zu denken, sondern immer schon durch die Differenz[26] stigmatisiert. Die Philosophie[27] tritt somit aus dem Rahmen metaphysischer Begründungszusammenhänge heraus und fungiert nunmehr als Kritik an den Wertsetzungen. So kann denn auch Deleuze[28] dezidiert formulieren: "Die Philosophie läßt sich nicht auf ihre Geschichte reduzieren, weil sich die Philosophie von dieser Geschichte stets losreißt, um neue Begriffe zu erschaffen, die wieder in Geschichte verfallen, aber nicht von ihr herkommen? Ohne die Geschichte bliebe das Werden unbestimmt, bedingungslos, aber das Werden ist nicht geschichtlich."[29]
Für Deleuze gibt es keine Orginale, sondern nur Simulakren, nichtidentische Reproduktionen, die in ein System kontinuierlicher Verweisungen eingeschrieben sind. Gleiches versucht Derrida in "Die Wahrheit in der Malerei", wenn er die Destruktion des Paradigma postuliert. "Titus-Carmel verwandelt das Paradigma in eine Leiche. Indem er es unaufhörlich in effigie verfolgt, indem er fingiert, es in einer Serie von simulierten Reproduktionen zu fingieren, reduziert er es, verwandelt er es in winzige Abfallreste, die in der Serie außerseriell nunmehr außer Gebrauch sind."[30] Es läßt sich somit für eine postmoderne Strategie konstatieren: Sie rekurriert auf eine Fundamentalabsage retrospektiver wie illusionärer Einheitsperspektiven zugunsten einer faktischen Pluralität. Das Dasein als "In der Welt-Sein" wird bedingungslos in seinem ganzen Facettenreichtum, in seiner lebensbejahenden, verschwenderischen und nichtvernutzbarer Mentalität und `multiblen Identität'[31] ressentimentlos affirmiert. Das Spiel der heterogenen Sprachspiele wird nicht mehr unter eine Regel subsumiert, sondern spielt in freier Unübersetzbarkeit. Die Kunst wird für Lyotard zur "Polymorphie".[32] Immer wieder insistiert Lyotard auf einer mutiblen Identität und rekurriert auf die Irreduzibilität. Permanent attackiert er Identitätsobzessionen zugunsten inkohärenter Pluralitätsmuster. Die Irreduzibilität von Deutungsmustern findet in dieser ästhetisch grundierten Philosophie ihren eigentlichen und unhintergehbaren Topos. Die Begriffe von Heterogenität, Disparatheit und Pluralität, der grundlegende "Abschied vom Prinzipiellen"[33], von Repression und Totalität werden zu den Schemem der Eigentlichkeit postmodernen Jargons. "Daher tritt sie zum einen Retotalisierungen entgegen - sei, es, daß sie in der Architektur das Monopol des Internationalen Stils attackiert oder in der Wissenschaftstheorie mit dem rigiden Szientismus bricht oder politisch sowohl externe wie interne Überherrschungsphänomene angreift. Vor allem nützt sie das Ende des Einen und Ganzen positiv, indem sie die zutage tretende Vielfalt in ihrer Legitimität und Eigenart zu sichern und zu entfalten sucht. Hier hat sie ihren Kern. Aus dem Bewußtsein des unhintergehbaren Wertes der verschiedenen Konzeptionen und Entwürfe (und nicht etwa aus Oberflächlichkeit und Indifferenz) ist sie radikal pluralisitsch. Ihre Vision ist eine Vision der Pluralität."[34] Für eine Option der Differenz plädiert auch Odo Marquard. Gegen eine strikt formulierte sublime "Monomythie" setzt er die "Polymythie"[35]. Die Degradierung der Nichtidentität unter einem konsequent restringierten Monomythos suggeriert die Aufhebung der Freiheitsspielräume von Nichtidentitäten und inhäriert einen herrschaftsmonogamen Diskurs. Die Nichtidentität wird somit zu einem konstitutiven Modus der Gewaltenteiltung, der sukzessiven Dezentralisierung zu einem Dispositiv[36] zur Macht. Auf eine Auflösung der Macht rekurriert auch Foucault. Macht, nicht mehr als absoluter Ort akzentuiert, wird zu einem "Bündel von Beziehungen."[37] Die Macht an sich "gibt es nicht"[38], vielmehr wird `DIE MACHT'[39] als dezentrierte, dezentralisierende interpretiert. "[...] die Macht ist immer eine bestimmte Form augenblickhafter und beständig wiederholter Zusammenstöße innerhalb einer bestimmten Anzahl von Individuen. Die Macht wird deshalb nicht besessen, weil sie spielt, weil sie sich riskiert."[40]
Künstler wie Dubuffet, Newmann und Buren werden für den französischen Ästhetiker zu kreativen Gestalten par excellence. Exemplarisch wird für Lyotard die Kunstauffassung Dubuffets. Die Kunst als sich verschiebende Neuorientierung ist selbst ein Effekt differierender Beziehungen.[41] Der abendländische Anthropozentrismus wird als Logozentrismus[42] entlarvt, diese Reduktion impliziert eine Präsenz des Subjekts. Gegen dieser strikt formulierte Identität des Subjekts revoltiert auch Dubuffet und insistiert auf einer Ästhetik der "Enthumanisierung".[43] Die Logik der Ideen wird zugunsten eines vorrationalen, vorreflexiven Vollzugs aufgegeben. Nicht Monosemie sondern Polysemie werden als primäre Schlagwörter initiiert. "Es gibt für ihn (Duchamp, S. G.) keine vorgefaßte Werthierarchie, keine abgegrenzten Gattungen und Schubladenbegriffe: wie er die Kategorie des Kunstwerks, die Grenzen verwischend, in Frage stellt, kann dafür ebenso als Beipiel diesen wie die Verrätselung des Gattunsbereiches `Gebrauchsgegenstand' im ready made."[44] Für Wolfgang Welsch ist eine Kontinuität zwischen Dubuffets Strategien und ihre Anwendung insbesondere auf die philosophisch-ästhetische Reflexion Lyotards evident. So sieht Welsch[45] in jenen von Dubuffet vorgreifend postulierten Bestimmungen, die Bestimmungen der postmodernen Kunst.
Wider die Repräsentation
Am Werk Newmans verdeutlicht Lyotard seine Konzeption des Augenblicks. Die Zeit wird nicht mehr als die Zeit des Fertigens eines Werkes verstanden, sondern das Bild ist selbst nichts anderes als Zeit. Das Thema der Kunst ist die Epiphanie, das plötzlich sich Ereignende. "Ein Bild von Newman hat nicht das Ziel zu zeigen, daß die Dauer über das Bewußtsein hinausgeht, sondern es will selbst das Ereignis sein, der Augenblick, der geschieht."[46] Das Bild, das nichts verkündet, wird somit selbst zur Verkündigung. Gegen die unendliche Dauer der Konsumtion der Werke Duchamps, die sich als Erzählung der Zeitlichkeit präsentieren, entziehen sich Newmans Werke hingegen, so Lyotard, dem Kommentar. Durch die Präsenz der Überpräsenz ist alles schon vorstruktuiert, nichts ist erläuterungsbedürftig, nichts verweist. Der Augenblick als penetrierendes Jetzt bleibt kommentierungslos. Die einzige Interpretation des Augenblicks findet sich für Lyotard in der Frageform. Der Augenblick wird so zu einer Theorie der Aussagelosigkeit. "Den Augenblick fühlt man nur einen Augenblick lang."[47] Die Aussagelosigkeit, die der Augenblick evoziert, impliziert zugleich auch die Aufhebung einer Komunikationsstruktur. Der Augenblick wird somit zu einer referenzlosen Bezüglichkeit-Unbezüglichkeit. Die triadische Sinnstruktur von Absender-Empfänger-Relation impliziert keine Botschaft mehr. Das Bild als Epiphanie ist die Botschaft selbst. "Die Botschaft ist die Präsentation, aber von nichts, d.h. von der Präsenz."[48] Nicht die Sinnstruktur sondern die Imagination, die Komposition als Ambivalenz von Farben und Linien wird suggeriert. Die Unmittelbarkeit des relationslosen Erlebnisses wird zum eigentlichen Ort der Zeit. Lyotard spricht auch von einer "Beziehung von Angesicht zu Angesicht"[49]. Das Bild wird zur unmittelbaren Verpflichtung. Der Augenblick ist zugleich der Inhalt des Werkes, der proleptisch in das Werk fällt. "Der Blitz ist die ganze Zeit da [...] und er ist nicht da."[50] Die Zeit der Erzählung und die Zeit des Ereignens sind eins. So kann man hier von einer Präsentation der Präsentation, von einem Jetzt-Sein sprechen. "Newman wollte den Betrachter mit seiner Malerei dem festen Gefüge der ihn umgebenden Welt entrücken. Er wollte die Grenzen vernunftgeleiteter Erfahrung durchbrechen, um dem uneingeschränkten Erleben eine Chance zu geben."[51] Es ist vielmehr die Instanz des Erhabenen, auf der Lyotard mit Burke und Newmann insistiert. Die Ambivalenz des Erhabenen fungiert zugleich als die Aufhebung der Zeit. Das Erhabene als negative Empfindung, als Terror des Schmerzes evoziert faktisch die Aufhebung des Seins in der Faktizität und Seinsunmöglichkeit, dem Tod. Die Negativität der Seinserwartung, mithin die Destruktion der Seinsmächtigkeit, induziert über die Erwartung des Nichts ein gesteigertes Seinserlebnis. Die Möglichkeit des Nichts aktualisiert also faktisch die Intensität des Jetztseins. Das Erhabene kündigt das Nichts an, aber so, daß das Erhabene nicht Nichts ist, sondern vielmehr das Ereignis, die Initialzündung, die Präsenz. Eine affirmative Ästhetik muß, so Lyotard, zweierlei leisten: Zum einen darf sie nicht zu einem bloßen Plagiat der Wirklichkeit degenerieren, zum anderen darf sie sich als Malerei nicht zur Vollendung bringen. "Kunst ist kein durch ein Ziel (das Vergnügen des Empfängers) gebundenes Genre, noch weniger ein Spiel, dessen Regeln entdeckt werden sollen, sie erfüllt eine ontologische, d. h. eine `chronologische' Aufgabe. [...] Das Werk erhebt sich im Augenblick, aber der Blitz des Augenblicks entlädt sich auf es wie ein minimaler Befehl: Sei."[52]