Einleitung
Als Kant seine berühmte
Charakterisierung der Aufklärung als den "Ausgang des Menschen aus
seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" aufstellte, brachte er zugleich
jene Bedingung zum Ausdruck, wodurch der Mut sich des eigenen Verstandes
zu bedienen erst zur Tat voranschreiten kann, dann und nur dann, wenn die
Freiheit "von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen
Gebrauch zu machen" gewährleistet ist (Kant 1975, Bd. 9, 55).
Was heißt "öffentlicher Gebrauch"? Nicht, wie man vielleicht
heute meinen könnte, die Möglichkeit sich mündlich vor einem
Auditorium zu äußern, sondern gemeint ist damit jener Gebrauch
der eigenen Vernunft, "den jemand als Gelehrter von ihr vor dem
ganzen Publikum der Lesewelt macht." (a.a.O.) Das Gegenteil davon,
nämlich der "Privatgebrauch", ist das, was wir wiederum "öffentlich"
zu nennen pflegen, nämlich die Äußerungen, die etwa dieser
Gelehrte im Rahmen eines "ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder
Amte, von seiner Vernunft machen darf." (a.a.O.) Im erste Fall handelt
es sich um die Freiheit zu "räsonnieren" und zwar "durch Schriften",
indem man sich nicht vom politischen oder geistlichen Amte eingeschränkt
(als Bürger oder Geistlicher) weiß, sondern eben als Gelehrter,
als Glied der "Weltbürgergesellschaft", begreift und die Möglichkeit
hat, sich "öffentlich, d.h. durch Schriften, über das Fehlerhafte
der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen" (a.a.O. 58)
Kant verneinte damals die
Frage, ob die Menschen in einem "aufgeklärten Zeitalter" lebten,
er sah aber Anzeichen dafür, dass der Beginn eines "Zeitalters der
Aufklärung", also der freien, öffentlichen, schriftlichen,
kritisch-gelehrten Meinungen seinen Ausgang genommen hatte.
Und heute? Ist nicht dieser
Traum der Aufklärung zumindest in den "westlichen Demokratien" (und
allmählich, aufgrund der sich durch die "Perestroika" anbahnende Liberalisierung
- auch im Osten) zum großen Teil Wirklichkeit geworden? Und ist die
Realisierung dieses Traums von "Öffentlichkeit" im Kantischen Sinne
zunächst durch die Gutenberg-Technik, zuletzt aber, in der
Gestalt der Informationstechnologie in einem früher kaum vorstellbaren
Grad von Universalität "möglich" geworden? Läßt sich
die Informationstechnologie so, also im Sinne einer gesteigerten
Form von Aufklärung durch am Bildschirm flimmernden Mitteilungen deuten?
Oder sind vielleicht die Bildschirme die falschen Propheten unseres Jahrhunderts,
indem sie den Menschen (in Ost und West, Nord und Süd) den Anschein
im "Zeitalter der Aufklärung" zu leben geben, während sie in
Wahrheit Kritik und Pluralität ersticken, ja die Freiheit der
Kritik unter der Herrschaft nicht mehr (bzw. nicht nur) des Fürsten
oder des Geistlichen, sondern eben der Maschine stellen, jenem Menschen,
der, wie Kant am Schluß seiner Abhandlung schreibt, "nun mehr
als Maschine ist"?
Wie steht es also, so lautet
meine Frage, mit der Aufklärung im Zeitalter der Information?
Inwiefern kündigt sich in unseren elektronischen Speichern und Netzwerken
das Ende im Sinne von Vervollkommnung und/oder Zerstörung der Aufklärung
bzw. ihrer wesentlichen Bedingung - die "Öffentlichkeit" kritischer
Mitteilungen - an? Oder, anders gefragt, inwiefern liegt hier unsere, wie
der italienische Philosoph Gianni Vattimo schreibt, einzige "Chance",
vorausgesetzt wir finden die Perspektive, von wo aus wir am "Ende"
der Moderne zugleich eine alte Botschaft vernehmen, die uns helfen kann,
Herkunft und somit auch Zukunft unseres Zeitalters zu entziffern? (Vattimo
1990, 188)
Im Folgenden möchte
ich einige Thesen Gianni Vattimos zur Diskussion stellen, der, wie mir
scheint, für die Beantwortung dieser Frage, also der Frage nach dem
Sinn von Aufklärung am Ende der Moderne, ein Weg vorschlägt,
welcher fern von jedem kabarettistischen Effekt mancher "postmoderner"
Autoren, zu einer Chance werden kann, um ein zumindest schwaches
Licht in unseres Jahrhundert zu werfen. Um diesen Punkt zu verdeutlichen,
scheint mir zunächst nützlich, auf eine Gegenposition, die Wolfgang
Welsch in seinem Buch "Unsere postmoderne Moderne" einnimmt, hinzuweisen
(Welsch 1987).
1. Postmoderne
versus Informationstechnologie
Eine Kernthese Welschs ist die
Aussage, dass der die Postmoderne kennzeichnende Pluralismus "als
Möglichkeit sogar schon vor der Moderne entdeckt" wurde, aber "nicht
zum Tragen" kam (Welsch 1987, 83). Die Moderne verwirklichte sich von den
"Einheitsprogrammen des Idealismus", über den Szientismus bis hin,
und darauf kommt es meiner Meinung nach heute an, zu den "neuen
Kommunikations-Technologien", im Sinne einer "Weltuniformierung", d.h.
also eines einebnenden den Pluralismus verneinenden Denkens und Tuns (Welsch
1987, 84) Die Postmoderne rettet sozusagen diesen ursprünglichen Zug
der Moderne, sie ist deshalb "unsere postmoderne Moderne". Welsch spricht
von "transversaler Vernunft", um die postmoderne Vernunftform im Sinne
eines "interrationalen Vermögens" zu bestimmen: Sie bewegt sich zwischen
verschiedenen Rationalitäten, ohne sich aber auf einen "höheren
Verstand" berufen zu können. Dennoch ist sie nicht einer absoluten
Heterogenität der Perspektiven, so Welsch gegen Lyotard, unterworfen,
sondern sie kann stets "ästhetisch", etwa mit Hilfe von Analogien,
auf eine Verbindung der Diskurse hin arbeiten, ohne sie in einer Totalität
aufheben zu wollen bzw. können (Welsch 1987, 304-318).
Die so verstandene Postmoderne
stellt Welsch dem "technologischen Zeitalter" gegenüber, und beruft
sich dabei auf Lyotards "Das postmoderne Wissen" (1986). Welsch wörtlich:
"Die Informatik
filtert nach den ihr eigenen Kriterien und macht diese so zu den effektiven
Wahrheitskriterien der Gesellschaft. Nuancen werden hinfällig, Wortspiele
sinnlos, Dunkelheiten inexistent. Widersprechendes braucht nicht erst widerlegt
zu werden. Es hebt sich schon von selbst auf, indem es eigentlich sagbar
nicht mehr ist: Was nicht programmierbar ist, darüber muß man
schweigen. - So wirken die neuen Technologien - indem sie "postindustriell"
zu Steuerungszwecken und zur Leistungssteigerung des Systems eingesetzt
werden - als Medien der Uniformierung." (Welsch 1987, 219)
Dabei steht bei Lyotard die
Sache viel nuancierter. Am Schluß seines "Berichts" schreibt er,
dass die "Informatisierung der Gesellschaft" sich auf "das 'erträumte'
Kontroll- und Regulierungsinstrument des Systems des Marktes" hin entwickeln
kann, dass sie aber auch den "diskutierenden Gruppen" dazu dienen
kann, um ihnen die Informationen zu geben, die sie für ihre Entscheidungen
benötigen. Worauf kommt es dabei an? Lyotards Antwort ist denkbar
einfach:
"Die Öffentlichkeit
müßte freien Zugang zu den Speichern und Datenbanken erhalten."
(Lyotard 1986, 192)
Mir scheint, dass Welschs scharfe
Trennung von Pluralität auf der einen und einebnende Sprachuniformierung
durch die Informationstechnologie auf der anderen Seite, schief ist. Ich
glaube allerdings nicht, dass bloß mit dem von Lyotard geforderten
öffentlichen Zugang zu Datenbanken die Ziele der Aufklärung im
Sinne eines pluralistischen Denkens gefährdet werden können.
Um es deutlicher zu sagen: Als zu Beginn der Moderne durch die Möglichkeit
des Buchdrucks die Ideen bzw. Ideale der Aufklärung ihren eigentlichen
öffentlichen Weg einsetzen konnten, dann kam es nicht nur
darauf an, das gedruckte Wissen etwa durch die Schaffung von Bibliotheken,
Lesezirkeln usw. verfügbar zu machen. Es musste zugleich
eine gewaltige erzieherische Arbeit geleistet werden, um "den Leuten" "das
Lesen" beizubringen. Die Alphabetisierung bestand ihrerseits nicht nur
darin, die Schriftzeichen zu lernen, sondern das Gedruckte mit kritischem
Blick zu sehen. Es mußte, mit anderem Worten, jedem klar gemacht
werden, dass etwas nicht deshalb wahr ist, weil es gedruckt steht.
Dementsprechend müßte es jetzt heißen: dass etwas deshalb
wahr ist, weil es programmiert wurde. Da der Mensch u.a. ein lügendes
Tier ist, wäre es an dieser Stelle den Unterschied von "mündlich
lügen", "schriftlich lügen" und "programmiert lügen" in
seinen sozialen Auswirkungen zu verfolgen. Wir brauchen, mit anderen Worten,
eine Hermeneutik der Informationstechnologie, d.h. eine kritische
Reflexion über die Bedingungen und Auswirkungen der Einprogrammierung
von "Vorverständnissen", d.h. von sozialen Wissensstrukturen und -inhalten,
die dann und nur dann sich als "postmoderner" Kern jener von Welsch
angesprochenen Pluralität erweisen kann, wenn wir ihr die "starken"
(oder "metaphysischen" Seins-) Charaktere - "Wahrheit" bzw. Allgemeingültigkeit
für "alle" und für "immer", "Grund" etwa des gesellschaftlichen
Seins, neue Stufe des "Fortschritts" usw. - weder in der Theorie noch in
der Praxis zuschreiben, die sie gerade zu sprengen vermögen.
Das setzt wiederum voraus,
dass wir den metaphysischen Weg der Moderne zu Ende denken. Erst dann ist
m.E. der Blick frei, um aus der Sackgasse der von Welsch aufgestellten
Alternative - aut Pluralismus aut Informationstechnologie
- zurück zu einem möglichen Ausweg aus der Krise der Moderne
zu finden.
2. G. Vattimo:
Die "Verwindung" der Moderne
An dieser Stelle möchte
ich die anfangs angekündigten Thesen des italienischen Philosophen
Gianni Vattimo zur Postmoderne erläutern. Es geht Vattimo nämlich
u.a. darum zu zeigen, dass das Denken der Moderne (genitivus subjectivus)
ein im Heideggerschen Sinne metaphysisches Denken ist, d.h. dieses
Denken sucht auf dem Weg fortschreitender Aufklärung nach einem Grund.
Dementsprechend ist die Moderne vor allem durch den Begriff des geschichtlichen
Fortschritts gekennzeichnet, sei es im Hegelschen Sinne eines Gangs
des Bewußtseins bis hin zum "absoluten Wissen", sei es im Marxschen
Sinne der Aufhebung gesellschaftlich-ökonomischer Widersprüche,
bis zur "klassenlosen Gesellschaft".
Das, also, was die Philosophie
der Moderne kennzeichnet ist vor allem der Gedanke eines fortschreitenden
Prozesses etwa als "Aufhebung" bzw. "Überwindung". Es ist gerade an
diesem Gedanken, wo die "Post-moderne", will sie einen philosophisch
ernsten Status gewinnen, über sich selbst im klaren werden muß.
Mit der Deutung des "Post-" steht, so können wir verkürzt sagen,
nichts mehr und nicht weniger als der Bezug zur Vergangenheit und mit ihm
auch zur Gegenwart und Zukunft auf dem Spiel. Vattimo untersucht u.a. die
von Nietzsche und Heidegger beschrittenen Wege zur Deutung dieses "Post".
Während Nietzsche in
der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung in den "überhistorischen"
Mächten Kunst und Religion einen Ausweg aus der historischen Krankheit
der Moderne suchte, führte ihn seine spätere Kritik der Religion
und der Moral nicht zu einer von "ressentiment" geladenen Verwerfung
bzw. "Überwindung" sondern zur "Genesung" von den metaphysischen Ideen
(Wahrheit, Sein, Grund, das Neue usw.) und zwar aufgrund einer Änderung
des Blickwinkels. Er nannte diese Einstellung die des "buon temperamento".
Demnach hatte das Denken der "Morgenröte" nicht etwa ganz neue Inhalte
gegenüber denen der Metaphysik, sondern es waren diese selbst aber
- sie sahen ganz anders aus!
Um diese Einstellung
zu beschreiben greift Vattimo auf Heideggers Begriff der "Verwindung" zurück,
den Heidegger in seinen späten Schriften in Zusammenhang mit der gegenseitige
Herausforderung von Mensch und Sein in der Gestalt der modernen Technik
gebraucht. Heideggers "terminus technicus" für die metaphysische
Konstellation unseres (spätmodernen) Zeitalters lautet "Ge-Stell".
Es geht für Heidegger nicht darum das "Ge-Stell", als Teil eben unserer
metaphysischen Tradition, zu "überwinden", indem wir es etwa "hinter
uns bringen", oder indem wir aus ihm wie aus einem fahrenden Zug "aussteigen",
oder indem wir uns einer "geistigeren" Form menschlichen Tuns widmen usw.;
und es geht auch nicht darum, uns dieses "Ge-Stell" schicksalhaft zu ergeben.
Sondern es geht statt dessen um die Möglichkeit seiner "Verwindung".
Was heißt das? Es heißt
zunächst, dass wir unsere Vergangenheit, in diesem Fall also die Metaphysik,
die sich in der Gegenwart überspitzt und zu dem wird, was Heidegger
das "Ge-Stell" nennt, nicht "einfach" ablegen, sondern, das wir es, wie
bei einer Krankheit oder bei einem Schmerz - und wer wäre so vermessen
zu sagen, dass die moderne Technik uns nicht, gelinde gesagt, täglich
"Schmerzen" bereitet? - nicht "überwinden" sondern eben "verwinden"
können. Wir verwinden etwas indem wir uns einfügen, die Krankheit
etwa als Möglichkeit für eine
Änderung unseres bisherigen
Verhaltens hinnehmen. Wir stellen uns also nicht gegen sie, sondern wir
nutzen ihre Kraft, wie etwa beim japanischen Aikido, um ihre Bewegung in
eine für uns günstige Wende bzw. "Windung" zu nutzen. Vielleicht
ist diese Nebenbedeutung von "Verwindung" im Sinne von "Verdrehen", auf
die Vattimo hinweist, nicht nur eine etymologische Spielerei. So schreibt
zum Beispiel Hegel in bezug auf die Philosophie Platos, dass die in Form
von Dialogen dargestellten Ansichten nicht eine ekklektische Philosophie
zum Ausdruck bringen, sondern "sie bildet vielmehr den Knoten, in dem diese
abstrakten einseitigen Prinzipien jetzt auf konkrete Weise wahrhaft vereinigt
sind." (1) Die Metapher des Knotens weist auf die Einheit
der verschiedenen Linien bzw. Traditionen und das heißt letztlich
auf die Vorstellung von der Geschichte der Philosophie als einer "Linie
des Fortganges", auf der solche "Knotenpunkte" "eintreten müssen",
hin (2). Gegenüber einer solchen festen in einem
System (oder "Gewebe") verankerten Verbindung von Traditionen, scheint
mir Heideggers bzw. Vattimos Auffassung von "Verwindung" insofern eine
freiere Aufnahme der Tradition zu ermöglichen, als das Denken stets
vor einer "endlichen" (d.h. mit einer offenen Vielfalt von "Anfangs"-
und "End"-Möglichkeiten) Verknüpfungsaufgabe steht, diese als
eine solche annimmt, und dabei erst jene "Krankheit" verwindet (!), d.h.
jenen Irrweg relativiert, wodurch es nach einem "wahren" Gang -
nach einem Anfang und Ende sozusagen - durch die Fäden der
Geschichte suchen zu müssen glaubte. Damit ist m.E. zugleich die Nähe
und Distanz zwischen der Heideggerschen "Verwindung" und der Hegelschen
"Versöhnung" - im Sinne der Rückführung vom Sich-Unterscheidenden
auf die bestimmte Einheit des Systems - angedeutet.
Das "Ende der Moderne" (oder
vielleicht sollten wir lieber sagen: eine der Möglichkeiten, wie die
Moderne ein, nicht "das", Ende findet) kündigt sich genau in der Auflösung
des Geschichtsbegriffs im Sinne eines "einheitlichen Gangs, ausgestattet
mit Folgerichtigkeit und Rationalität" an, was, Benjamin zufolge,
so nur aus dem Standpunkt der Sieger zu erscheinen vermag (Vattimo 1990,
13-14). Der Ausdruck "Postmoderne" wäre also ein Widerspruch, sollte
das "Post-" so etwas wie eine Überwindung oder "Fort-schritt" gegenüber
einem vorangehenden Stadium, bedeuten. Stattdessen geht es um die Auflösung
der theologisch-metaphysischen bzw. der säkularisierten modernen Vorstellung
eines geschichtlichen Gangs, genauso wie von der Vorstellung der
einen leitenden Rationalität (oder "Partei") bzw. des einen
Diskurses.
Was bleibt, ist gerade nicht
jene Geschichtslosigkeit, die typisch für die Utopien des 18. Jahrhunderts
war, sondern es ist die unpathetische Gebrechlichkeit menschlichen Stiftens.
Dieses Stiften besitzt keine stabile Struktur sondern seine "Wahrheit"
ist ein "Ereignis", das nie voll aufgeblendet bzw. aufgeklärt sondern
stets im Halbdunkel der "Lichtung" (Heidegger) bleibt (Vattimo 1990, 83).
Aufklärung am Ende der Moderne bedeutet dann Einblick in die Ereignishaftigkeit
des Geschichtlichen.
Aus alledem folgt eine Mäßigung
der Ansprüche der Metaphysik und zugleich auch des eigenen relativistischen
Standpunktes, die Vattimo mit dem Ausdruck "pietas" beschreibt.
Das, wie Vattimo es nennt, "schwache Denken", ist jenes Denken, das n der
geschichtlichen Erfahrung von Empfang und Antwort, keine notwendige fortschreitende
Verknotung d.h. "Aufhebung" der Standpunkte vollbringt, sondern die Tradition
je und jäh "verwindet". So hat das Denken weder die Macht die Überlieferung
"hinter sich" zu lassen, noch bleibt es ihr "einfach" "ausgeliefert". Vattimo
betont deshalb, mit Heidegger, dass "Verwindung" zugleich "An-denken" bedeutet.
Und wo wäre ein solches "An-denken" nötiger als bei jener Gestalt
der Metaphysik, die sich geschichts- und somit auch bodenlos darstellt,
nämlich bei der Informationstechnologie und, so möchte ich hinzufügen,
bei ihrem theoretischen Unterbau, der Informatik? Es ist kennzeichnend
genug, dass erst in jüngster Zeit Anzeichen dafür gibt, dass
die Informatik sich allmählich ihres kaum zu ermessenden Bedarfs an
philosophischer Reflexion (an "An-denken" also) bewußt wird. Nur
so läßt sich m.E. erklären, dass ethische, epistemologische
und sogar ontologische Fragen die Gemüter dieser scheinbar geschichtslosen
Wissenschaft (oder eher "Kunst", was aber keineswegs eine Minderung ihres
Status bedeutet!) in und außerhalb der "scientific community"
erregt (3).
Vattimo gibt drei Kennzeichen
eines "schwachen", d.h. verwindenden Denkens, nämlich ein Denken des
"Genusses", der "Kontaminierung" und des "Ge-Stells". Das erste Kennzeichen
weist auf eine Ethik der "Güter" und des ästhetischen Wiederelebens
gegenüber einer Ethik der Imperative hin. Das zweite bezieht sich
auf die Möglichkeiten des hermeneutischen Denkens, das die metaphysischen
Letztbegründungsansprüche aufgibt, und sich mit allen Formen
des "Logos" vermischt. Das dritte Kennzeichen schließlich, das die
anfangs erwähnte "starke" Gegenüberstellung durch Welsch fragwürdig
macht, stellt einen Bezug zwischen moderner Technologie und abendländischer
Tradition her, wodurch sowohl die "humanistischen" als auch die technokratischen
Ansprüche zu schwingen beginnen, ihre harten Konturen verlieren und
ihren Glanz im "chiaroscuro" dämpfen.
3. Das "Informations-Gestell"
als Chance einer "schwachen" Aufklärung
Es genügt also nicht das
"Zauberwort" "Pluralität" in den Mund zu nehmen, um aus der Postmoderne
"unsere postmoderne Moderne" zu machen. Es genügt meines Erachtens
auch nicht, wenn die Postmoderne im Sinne eines Beliebigkeits"denkens"
im Bausch und Bogen verdammt wird, um sich anschließend auf eine
noch unvollendete Aufklärung zu berufen. Natürlich ist die Aufklärung
unvollendet. Und sie wird es auch immer bleiben! Darüber sollte sie
sich ruhig aufklären lassen. Ihre Ansprüche, zuvor und vor allem
die der europäischen Aufklärung, gehen, nach vielen, vor
allem für die Opfer, leidvollen Erfahrungen, (hoffentlich bald) zu
Ende. Die "reine Vernunft", die vielleicht niemals so "rein" war, ist längst
eine Mestizin geworden (Capurro 1988a).
Es ist, meines Erachtens,
aus dem Blickpunkt einer schwachen, d.h. an ihren "Ver-windungen" stets
"an-denkenden" Vernunft, wodurch wir ihrer maßlosen Ansprüche
gewahr werden, die sich bezeichnenderweise zugleich als Traum und Alptraum
ihrer Verwirklichung in einer total informatisierten Gesellschaft ankündigen.
Der Ruf nach "starken" Lösungen, sei es in Münchhausener Manier
als Rettung der Technik durch die Technik, sei es als Rückgriff nach
einer vermeintlich starken(etwa "ethischen") Vernunft, bieten hier keine
den Prinzipien der Moderne sich entziehende Perspektive. Das "Denken
der Kontaminierung" zeigt uns, so Vattimo, dass wir die durch die Informationstechnologie
gewonnene Dimensionenvielfalt auf keine "starke" dogmatische Einheit
zurückführen sollten indem wir ihr jenen metaphysischen Züge
geben, die dem Denken der Moderne eigen sind. Stattdessen können wir
sie in Rahmen einer gewissermaßen "nach vorne" gerichteten Hermeneutik
betrachten, (4) als Medium zur "Verbreitung" (oder
"Kontaminierung") von Wissenschaft, Technik, Kunst, Nachrichten, Unterhaltung
usw., die sie jeweils zu einer "schwachen" Einheit führt (Vattimo
1990, 195). So gewinnt die Hermeneutik im Vattimos "Denken des Ge-Stells"
jenen "ver-windenden" Bezug zur Wissenschaft und Technik und verliert zugleich
ihre scheinbare "reine" "humanistische" Berufung. Natürlich ist der
hermeneutische Blick "nach vorne", etwa im Sinne der oben angedeuteten
Reflexion über die Bedingungen und Auswirkungen (für eine
Gesellschaft oder auch für die interkulturelle "Kontaminierung") der
Einprogrammierung von Wissensstrukturen, zugleich durch jene "klassische"
"nach hinten" gerichtete Hermeneutik zu "ergänzen", die eine "schwache"
Anknüpfung scheinbare geschichtslose Technologien und Fachgebiete
an die Tradition bewirkt. Eine solche Reflexion muß sich außerdem
der Frage nach der politischen und rechtlichen Kontrolle dieser
Technologie öffnen und dort "emanzipatorisch" wirken, wo sie Macht
und Gewalt zu einem starken modernen Mittel umzukehren versuchen.
So könnten die Massenmedien
und die Informationstechnologie mit ihren vielfältigen Kontaminierungsmöglichkeiten
zu jener "Verwindung" von Wissenschaft, Technik, Kunst und Gesellschaft
beitragen, die nicht die Einheit der modernen philosophischen Vernunft
anstrebt sondern eine Verknüpfung von Sprachen und Kulturen möglich
macht, die sich aus ihren jeweiligen Überlieferungen einem gegenseitigen
relativierenden also befreienden Dialog öffnen. Wir haben fortan mit
einer gebrochenen oder, wie wir auch sagen könnten, fraktalen Einheit
des Wissens zu tun (5).
Wenn also Welsch den Informationstechnologien
tout court, "unsere postmoderne Moderne" entgegenstellt, dann übersieht
er m.E., dass wir diese Technologien, dem Motto der Aufklärung "sapere
aude" (Horaz) folgend, im Sinne einer neuen (oder, wie Vattimo sagen
würde, schwach neuen) Herausforderung für die Sozialisierung
unseres Denkens und Handelns, verwirklichen können. Dieses
Motto der Aufklärung steht bei Horaz im folgenden Zusammenhang: angeregt
durch die Lektüre Homers, empfiehlt Horaz seinem jungen Freund Lollius
Maximus sich rechtzeitig dem Studium der Weisheit ("sapientia")
zu widmen und mahnt ihn:
"dimidium facti,
qui coepit, habet: sapere aude,
incipe. vivendi qui recte
prorogat horam,
rusticus exspectat, dum
defluat amnis; at ille
labitur et labetur in omne
volubilis aevum."
"Frisch begonnen, ist halb
gewonnen: Entschließ dich zur Weisheit!
Wage den Anfang! Wer ein
neues Leben antreten will und den ersten
Tag vertagt, der tut
wie jener Bauer: er steht und wartet, bis der
Strom abläuft; der
aber fließt und flutet und wird in Ewigkeit fluten."
(Horaz 1979, Briefe I, 2,
41-43)
Eine postmoderne Übersetzung
dieses Spruches könnte lauten: Habe den Mut, gemeinsam mit anderen
vor- und nachzudenken!
Anmerkungen
1) G.W.F. Hegel:
Vorlesungen über Platon (1979, 70). In seinen "Vorlesungen über
die Geschichte der Philosophie" (Hegel 1971, Bd. 18, 77) verwendet Hegel
die gleiche Metapher. Dort heißt es in bezug auf das Verhältnis
der Philosophie zur "wissenschaftlichen Bildung": "All sein (d.h. des Bewußtseins,
RC) Wissen und Vorstellen ist von solcher Metaphysik durchwebt und regiert;
sie ist das Netz, in welches all der konkrete Stoff gefaßt ist, der
den Menschen in seinem Tun und Treiben beschäftigt. Aber dieses Gewebe
und dessen Knoten sind in unserem gewöhnlichen Bewußtsein in
den vielschichtigen Stoff versenkt; dieser enthält unsere gewußten
Interessen und Gegenstände, die wir von uns haben; jene allgemeinen
Fäden werden nicht herausgehoben und für sich zu den Gegenständen
unserer Reflexion gemacht." In der "Wissenschaft der Logik" schließlich
(Hegel 1971, Bd. 5, 413 sowie 435-442) spricht Hegel von der "Knotenlinie
von Maßverhältnissen" und meint damit die qualitativen
Veränderungen ("Knoten oder Sprünge") innerhalb einer quantitativen
"Skala des Mehr und Weniger" etwa beim Fortgang der Zahlen, Musiktöne,
chemischen Verbindungen, Entstehung der Lebewesen bis hin zum Moralischen
und zur staatlichen Verfassung. Eine solche Aufgabe stellt sich (Hegel)
etwa in bezug auf die "spezifischen Schweren der Körper", wenn man
die "Verhältnisexponenten" "als ein System aus einer Regel"
erkennen würde, "welche eine bloß arithmetische Vielheit zu
einer Reihe harmonischer Knoten (meine Hervorhebung!) spezifizierte."
(Hegel 1971, Bd. 5, 434).
2) Über
die Metapher der "Knotenpunkte" vgl. auch K. Marx: Aus den Vorarbeiten
zur Dissertation (Marx 1962, 102). Sie bezeichnen die Bildung einer "Totalität",
welche mit "geschichtlicher Notwendigkeit" in ein "praktisches Verhältnis"
zur Wirklichkeit "umschlägt". Was dabei entsteht nennt Marx "Fastnacht
der Philosophie".
3) Vgl.
die Diskussionen um die Kritik Joseph Weizenbaums sowie um den Ansatz von
Winograd/Flores. Dazu (Capurro 1987, 1988, 1990). Richtungsweisend für
eine Neuorientierung der Informatik (Floyd et al. 1991).
4) Vgl.
Anders (1987, Bd. 1, 424 ff), der von "prognostischer Hermeneutik" spricht.
Vgl. (Capurro 1986).
5) Damit
meine ich, dass die Gebrochenheit menschlicher Überlieferungen sich
mit der fraktalen Struktur einer Meeresküste vergleichen läßt:
Sowenig wie die Euklidische Geometrie eine solche Struktur adäquat
beschreiben kann, sowenig bietet das totalisierende Denken der metaphysischen
oder neuzeitlichen Vernunft ein adäquates Mittel, um der Grundlosigkeit
und Unabgeschlossenheit des Geschichtlichen zu entsprechen.
Literatur
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des Menschen. München, 2 Bde.
Capurro, R. (1986): Hermeneutik
der Fachinformation. Freiburg/München.
- (1987): Die
Informatik und das hermeneutische Forschungsprogramm. In: Informatik-Spektrum
10, 329-333.
- (1987a): Die Verantwortbarkeit
des Denkens. Künstliche Intelligenz aus ethischer Sicht. In: Forum
für interdisziplinäre Forschung, 1, 15-21.
- (1988): Die Inszenierung
des Denkens. Künstliche Intelligenz als theatralische Metapher und
Show. In: Mensch Natur Gesellschaft, 5, 18-31.
- (1988a): Der Kongreß.
Eindrücke vom XVIII. Weltkongreß für Philosophie. Brighton,
GB, 21.-27. August 1988. In: Information Philosophie, 4, 74-82.
- (1990): Ethik
und Informatik. In: Informatik-Spektrum, 13, 322-320.
Floyd, Ch., Züllighoven,
H., Budde, R., Keil-Slawik, R. Hrsg. (1991): Software Development and Reality
Construction. Heidelberg.
Hegel, G.W.F. (1979): Vorlesungen
über Platon. Frankfurt a.M.
- (1971): Werke. Frankfurt
a.M.
Horaz (1979): Sämtliche
Werke. München.
Kant, I. (1975): Werke. Hrsg.
W. Weischedel. Darmstadt.
Lyotard, J.-F. (1986): Das
postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz, Wien.
Marx, K. (1962). Frühe
Schriften. Darmstadt.
Vattimo, G. (1989): Das Ende
der Moderne. Übers. u. Einl. R. Capurro, Stuttgart.
Weizenbaum, J. (1978): Die
Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt a.M.
Welsch, W. (1987): Unsere
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Winograd, T., Flores, F.
(1986): Understanding Computers and Cognition. A New Foundation for Design.
New Jersey.
Letzte Änderung:
13. April 2001