1.
Digitaler Weltentwurf
1.1. Das
Seinsverständnis hat umgeschlagen. Im Kontrast zum auf der empirischen
Anschauung basierenden Entwurf der Neuzeit, wonach das Sein der Dinge von
der Anschauung untrennbar ist (Kant), ja sogar mit dem Wahrgenommensein
identisch ist:
"Their
esse is percipi" (Berkeley 1965: 62),
gilt
jetzt esse est computari. Die Welt ist alles, was digitalisierbar
ist.
1.2.
Diese Umkehrung ist eine abermalige Umkehrung von Nietzsches Umkehrung
der platonischen Metaphysik. Die Ewige Wiederkehr des Gleichen bedeutet,
daß ein ewiger Naturprozess sich perspektivisch in und durch uns
manifestiert.
1.3.
Jetzt aber ist weder das Metaphysisch-Geistige noch die Natur, sondern
das Technisch-Geistige das Maßgebende. Daher auch der Vorrang des
Virtuellen vor dem Wirklichen im Gegensatz zum Aristotelischen Vorrang
der energeia vor der dynamis.
1.4.
Metaphysikgeschichtlich sind vor allem Platon und Leibniz zwei Vorstufen
des digitalen Weltentwurfs. Platons Ideen informieren zwar die materielle
Welt, sind aber davon getrennt. Dies zu erkennen, erfordert eine Umkehrung
des gewohnten Blicks in die Sinnenwelt, die Platon vor-bildlich
im Höhlengleichnis als einen kybernetischen Prozeß beschreibt.
Kybernetisch deshalb, weil dieser Prozess nicht von selbst, sondern durch
(Selbst-)Lenkung (kybernein) geschieht. Der Philosoph (Sokrates)
vermag einen Anstoß dazu zu geben.
1.5.
Dieser durch Logik und Mathematik gekennzeichnete metaphysische Weg wird
bei Leibniz empirischer und technischer. Die platonischen Formen werden
in die Sprache eines universalen logischen Kalküls übersetzt.
Dieser wird zur Basis der Rechenmaschine.
1.5.1
Monaden und Körper sind für Leibniz zwei unterschiedliche aber
untrennbare Dimensionen einer Welt:
"Die
Welt ist eine Virtualität, die sich in den Monaden oder Seelen aktualisiert,
aber auch eine Möglichkeit, die sich in der Materie oder den Körpern
realisieren muss. (...) Wie ein chinesischer (oder japanischer) Philosoph
sagen würde, ist die Welt der Kreis, reine "Reserve" an Ereignissen,
die sich in jedem Ich aktualisieren und sich in den Dingen nacheinander
realisieren." (Deleuze 1995, 170-174)
Virtualität
und Möglichkeit haben einen ontologischen Vorrang vor Aktualisierung
und Realisierung. Die Welt ist immer real und aktual, sie ist aber zugleich
virtuell und möglich.
1.5.2
Die materielle Welt ist eine Welt von In-FORM-ationen (Heim 1994).
Das Wort Information kommt aus dem Lateinischen informatio,
was soviel wie etwas eine Form ge- ben bedeutet. Dieses Wort wurde
gebraucht, um die platonischen und aristotelischen Gedanken über den
Zusammenhang zwischen den Wesensformen der Dinge und der materiellen Welt
(im ontologischen Sinne also) sowie um das Verhältnis zwischen Erkennen
und Erkanntem (im erkenntnistheoretischen Sinne also) wiederzugeben. In
der Neuzeit blieb lediglich die erkenntnistheoretische Bedeutung erhalten,
während in der Gegenwart die ontologische Bedeutung wiederentdeckt
wurde (Capurro 1978).
1.6.
So werden die platonischen Ideen in der Neuzeit empirisch faßbarer
und in der Gegenwart, mittels Hard- und Software, technisch konkreter.
Sie werden als Informationen empirisch manipulierbar, ohne aber ihre Allgemeinheit
einzubüßen.
1.6.1
Der digitale Weltentwurf ist eine Fortsetzung des neuzeitlichen, der wiederum
sich vom antik- mittelalterlichen Weltentwurf (Platon, Aristoteles) absetzte.
Letzterer entwarf die sinnliche und übersinnliche Realität mittels
des Substanzbegriffs (Griechisch: ousia, Lateinisch: substantia).
Descartes, Leibniz, Newton, Kant (antike Vorfahren: Pythagoras, die Atomisten)
entwarfen die Natur mathematisch und deterministisch. Quantenmechanik und
Computertechnik bilden wiederum die Basis für einen nicht-deterministischen
und digitalen Weltentwurf.
1.6.2.
Im Rahmen des digitalen Weltentwurfs sind die Dinge - sofern wir
sie aus der Perspektive dieses Seinsentwurfes verstehen -
nur ihr Digitalisierbarsein. Wir unterscheiden sie aufgrund ihres
digitalen Codes. Hier gründet das Primat technischer Virtualität
gegenüber dem Aktualen.
1.6.3
Die Kausalität per informationem ist paradoxerweise eine Form
von Kausalität, die sich nicht gänzlich berechnen oder vorhersagen
läßt. (Zum Verständnis dieser These vgl. Capurro, Fleissner,
Hofkirchner 1999)
1.6.4.
Der digitaler Weltentwurf ist freilich weder der einzig mögliche Weltentwurf,
noch ist ein solcher Entwurf eine pure menschliche Konstruktion. Dies unterscheidet
eine Theorie ontologischer Weltentwürfe, die dem Anderen des Entwurfs
offen bleibt (dem Vor-Wurf des Seins sozusagen) gegenueber dem radikalen
Konstruktivismus, sofern für diesen alle Realität letztlich
nur eine Konstruktion des Gehirns ist (Zerebralismus). Weltentwürfe
sind auch immer soziale Mitentwürfe. Ontologien oder Seinsentwürfe
sind immer Nachentwürfe.
2.
Menschliche Existenz im digitalen Weltenwurf
2.1. Der
Philosoph als Liebhaber himmlischer Weisheit wird zum Freund der Information.
Der Platonische Eros ist jetzt mit Informationsmanagement beschäftigt.
Er wird zu einem cyberspace cowboy oder PC-Reiter, der gelegentlich
dem Traum einer technisch vermittelten Hyperrealität nachjagt.
2.2.
Lichtgeschwindigkeit und digitale Kodierung machen es möglich, daß
wir vom Hier und Jetzt unseres Leibes absehen können und uns virtuell
überall befinden. Die Welt wird zum vielzitierten globalen Dorf
(global village McLuhan 1962), oder, wie Florian Rötzer, der
die Dorfmetapher kritisiert, es formuliert, zu einer Telepolis (Rötzer
1995), zu einem gigantischen Netz virtueller Verbindungen. Die Städte
werden zu digitalen Knoten und der Mensch zu einer Nachricht.
2.3.
Das hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Verhalten des Menschen:
2.3.1
Während die Neuzeit den Menschen als Subjekt bestimmte und im Subjektsein
die Basis moralischen Verhaltens erblickte, wird jetzt diese Basis zum
Durchgang oder zum Boten. Bei der Bestimmung des Menschen als Sprachwesen
(Griechisch: zoon logon echon = ein Lebewesen, der die Fähigkeit
der Sprache besitzt, Aristoteles) liegt jetzt der Akzent auf das echon
(haben oder besitzen) im Sinne von Übertragung eines lógos,
der sich dadurch als Mitteilung oder Botschaft (Griechisch angelía)
versteht. Information kann sich zu Wissen (lógos) verfestigen.
Information ohne Wissen ist leer, Wissen ohne Information blind (Capurro
1995a).
2.3.2
Das führt zu einer Umwandlung sowohl der klassischen (aristotelischen)
als auch der neuzeitlichen Tugenden:
Die Tugenden
des Verstandes (die dianoetischen Tugenden) (Griechisch: dianoia
= Verstand) betreffen jetzt vor allem die Ausbildung zum vernetzten Denken,
d.h. zum Beispiel zur Fähigkeit Zusammenhänge zu erfassen, Übergänge
zu schaffen, Komplexität ohne tödliche Verluste zu reduzieren.
Die Tugenden
des Charakters (die ethischen Tugenden) (Griechisch: ethos
= Gewohnheit, Charakter) verwandeln sich ebenfalls, beispielsweise: Besonnenheit
(oder Selbstbeherrschung) wird zur Fähigkeit sich dem Anderen zu öffnen,
zur Offenheit also. Tapferkeit wird nicht vom Angriff oder Opfer her verstanden,
sondern von der Fähigkeit der Durchlässigkeit. Gerechtigkeit
bedeutet nicht nur Fairness der Chancenverteilung, sondern vielmehr aktives
solidarisches Handeln.
Die neuzeitliche
Auffassung von Freiheit als eine Grundausstattung des verantwortungsvollen
Subjekts, wird zur Fähigkeit der Sorge um den Anderen und um die gemeinsame
Welt.
2.3.3
Während die neuzeitliche Ethik eine auf dem lógos basierende
Ethik war (z.B. in Form von Normenbegründung und Normenbefolgung),
beruht menschliche Existenz im digitalen Weltentwurf in der Fähigkeit,
dem digitalen Code so zu 'ent-sprechen', dass die Differenz zwischen diesem
Code und der Existenz sich ereignen kann. Der Biologe Francisco Varela
betrachtet die Fähigkeit von Lebewesen nicht bloß Regeln (oder
Codes) zu befolgen, sondern den Unterschied zwischen System und Umwelt
wahrnehmen zu können als Voraussetzung für Flexibilität
und Kreativität (Varela 1992). Wenn die digitale Vernetzung das Medium
ist, in dem wir uns gegenwärtig entwerfen, dann wird die Wahrnehung
dieser Differenz lebenswichtig. Für Varela ist die Distanzgewinnung
durch den logos nur die eine Seite der Medaille. Wir müssen
auch lernen, auf die Nachricht, die unsere Leiber auch sind, zu achten.
Dieses leiblich-ethische know how für die Ethik (Varela) steht
nicht etwa im Gegensatz, sondern gehört zum Kern einer Ethik im digitalen
Weltentwurf. Es ist auch die Basis für die Kritik einer sich verbreitenden
Cybergnosis. Weder eine Überhöhung des face to face noch
eine technische Erlösung durch das interface sind denkbare
Alternativen zu einem menschlichen Existieren im digitalen Weltentwurf,
das sich von diesem messen läßt, ohne ihn aber zu verabsolutieren.
2.4.
Der digitale Weltenturf hat Wurzeln in der christlichen Theologie sowie
in einem Gipfel neuzeitlicher Philosophie, in Hegel. Wenn, wie Gianni Vattimo
bemerkt (Vattimo 1990: 55), die Welt der totalen Medialisierung wie eine
Parodie des Absoluten Geistes erscheint, dann trifft, vom digitalen Weltenturf
aus gesehen, die Umkehrung dieses Satzes zu: Der Hegelsche Geist ist eine
geistige (geistreiche) Parodie der globalen technischen Vernetzung.
2.5.
Wie ist menschliches Leben im Weltentwurf einer digitalen Ontologie möglich?
Darüber geben Auskunft (Capurro 95a) (Capurro 1998) und (Capurro 99)
Literatur
Berkeley,
G. (1965): The Principles of Human Knowledge. In: ibid.: Philosophical
Writings. London 1965.
Capurro,
R. (1999): Ich bin ein Weltbürger aus Sinope. Vernetzung
als Lebenskunst.
-,
P. Fleissner, W. Hofkirchner (1999a): Is a Unified
Theory of Information Feasible? A Trialogue. In: W. Hofkirchner, Ed.:
The Quest for a Unified Theory of Information. Proceedings of the Second
International Conference on the Foundations of Information Science, Overseas
Publ. Assoc. 1999, S. 9-30.
-
(1998): Beyond Digitality
-
(1995): On Artificiality. IMES-LCA WP-15 November
1995 (Istituto Metodologico Economico Statistico, Univ. Urbino, Italien,
Working Paper, imes@fis.uniurb.it).
-
(1995a): Leben im Informationszeitalter. Berlin
1995.
Deleuze,
G. (1995): Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt a.M. 1995.
Heim,
M. (1994): The Erotic Ontology of Cyberspace. In: Michael Benedikt, Ed.:
Cyberspace: First Steps. Cambridge, Mass. 1994, 59-80.
McLuhan,
M. (1962): The Gutenberg Galaxy. Toronto 1962 (dt. Die Gutenberg-Galaxis.
Düsseldorf 1968).
Rötzer,
F. (1995): Die Telepolis. Urbanität im digitalen Zeitalter. Bollmann
1995.
Varela,
F. (1992): Un know-how per l'etica. Roma/Bari 1992.
Vattimo,
G. (1990): Das Ende der Moderne. Stuttgart 1990.