Einleitung
Die
Meinungen über den sozialen und epochalen Sinn des Cyberspace gehen
weit auseinander. Die einen sind begeistert und verkünden eine neue
Ära für die Menschheit. Die anderen sehen darin das Ende der
Aufklärung und den Beginn einer beispiellosen kulturellen Barbarei.
Die Massenmedien schwanken zwischen Fusion - man denke an AOL/Time Warner
- und pauschaler Verurteilung. Eine deutsche Illustrierte brachte Letzteres
in der folgenden Gleichung auf dem Punkt: Internet = Kinderpornographie.
Die zum Teil sehr aggressive und feindliche Internet-Berichterstattung
in den Massenmedien läßt die Vermutung aufkommen, dass die dezentrale
und aktive Struktur des Internet als eine Bedrohung für das Informationsmonopol
durch die Massenmedien angesehen wird. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist
ein neuer "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (J. Habermas) im vollen
Gange, dass nicht weniger grundlegend ist als die Veränderungen durch
Rundfunk und Fernsehen im 20. Jahrhundert. Manfred Faßler drückt
diese Veränderungen folgendermaßen aus:
""Medien"
sind nicht mehr das, was sie waren, und sie werden es nie mehr sein.
Schon
länger geht es nicht mehr nur um den gerne zitierten Strukturwandel
der Öffentlichkeit. Es geht um den Strukturwandel des Erhalts von
Produktions-, Wissens- und Lebensbedingungen, global und lokal.
Publizistisch
reservierte Medien werden nicht mehr das Monopol feinsinniger oder propagandistischer,
aufklärerischer oder wissenschaftlicher Meinungsbildung besitzen,
nicht mehr (nur) die hohe Lese-Kultur oder die massenmediale Berichterstattung
prägen." (Faßler 2000: 8)
Da diese
Prozesse sich nicht nur im globalen Ausmaß, sondern auch in atemberaubende
Geschwindigkeit vollziehen, ist es kaum möglich eine distanziere und
ruhige Reflexion, jenseits von Kassandrarufen oder prophetischer Euphoriestimmung,
zu vollziehen. Eins ist aber sicher: Das ist nicht die erste umwälzende
Medienrevolution in der Menschheitsgeschichte.
Die
folgenden Ausführungen wollen in diese Problematik einführen
indem sie drei Medienbrüche thematisieren, nämlich den Bruch
von der Oralität zur Schriftlichkeit, den der Schriftlichkeit oder,
besser gesagt, von der Handschriftlichkeit zur Drucktechnik und schließlich
den Bruch von der Drucktechnik zur elektronischen Vernetzung. Diese Brüche
sind, historisch betrachtet, von einer ungemeinen Komplexität und
Vielschichtigkeit, worauf im Folgenden aber nur angedeutet werden kann.
Gewöhnlich
wird der Bruch durch die Gutenberg-Technik als Entstehung der Buchkultur
angesehen. Dies ist aber insofern zu relativieren, als schon in der Antike
aber auch im Mittelalter und in der Renaissance eine hochentwickelte Buchkultur
gab, so dass die moderne Industrialisierung der Buchproduktion vorhandene
Strukturen verstärkte ohne sie aber zunächst grundlegend zu verändern.
Dies geschah erst durch eine geistige Revolution, die wir mit dem Titel
Aufklärung zu kennzeichnen pflegen. Die Aufklärung brachte eine
Revolution innerhalb der medialen Evolution von der manuellen zur maschinellen
Vervielfältigung von Schriften. Diese Revolution bestand in der Umkehrung
des antiken Öffentlichkeitsbegriffs, der auf der Mündlichkeit
basierte. Sie läßt sich anhand von Kants Begriff von Öffentlichkeit
verdeutlichen, worauf ich in zweiten Teil dieses Beitrags eingehen werde.
So
wie die maschinelle Vervielfältigung von Schriften zunächst alles
beim alten zu lassen schien, so auch, wenngleich nur für eine sehr
kurze Zeit, die Computertechnologie in bezug auf die Buchkultur. Unsere
digitalen Bibliotheken sind zunächst eine Verlängerung der klassischen
Buchkultur. Aber ihre globale Zugänglichkeit, die mühelose Verteilung
von Texten über geographischen und zeitliche Grenzen hinweg, sowie
die Entwicklung der Multimedialität verknüpft mit den Kommunikationsfunktionen
des Internet zeigen deutliche Brüche gegenüber der traditionellen
Buchkultur, wie im dritten Teil zu zeigen ist.
I.
Sokratische Öffentlichkeit
Fangen
wir mit einem kleinen Exkurs über das antike Buchwesen an. In der
griechischen Welt konnten vermutlich die Athener Bürger seit dem frühen
5. Jahrhundert v.Chr. lesen und schreiben, zumindest so weit, um die Namen
von ungeliebten Politikern auf Vasenscherben (ostrakon) zu schreiben
(Blanck 1992: 29). Das trifft auch für die Etrusker sowie für
die Römer zur Zeit der späteren Republik und der Kaiserzeit zu.
Zugleich ist festzuhalten, dass im Mittelpunkt des Hochschulstudiums die
Rhetorenschulen, also die Ausbildung in der Redekunst, als Voraussetzung
der politischen Karriere stand (Blanck 1992: 30 ff).
Das
Thema des Menschen mit einer Buchrolle taucht in griechischen Vasenbildern
im 5. Jahrhundert v.Chr. auf. Im antiken Griechenland haben zwar die Rhapsoden
die Ilias und die Odyssee vorgesungen, sie führten aber
ein schriftliches Handexemplar mit, das ihnen erlaubte, an der Stelle fortzusetzen,
wo der vorherige Rhapsode aufgehört hatte (Blanck 1992: 113). Plutarch
berichtet, dass Alexander der Große immer zwei Dinge unter seinem
Kopfkissen hatte, ein Dolch und ein von Aristoteles durchgesehenes Exemplar
der Ilias, das er als Lehrbuch militärischen Könnens faßte.
(Plutarch 1994: Alexandros 8). Sokrates erwähnt in der Apologie,
dass die Schriften von Anaxagoras für eine Drachme auf der Agora zu
kaufen waren (Apol. 26 d). Zum Vergleich: Ein Schaf kostete damals zwischen
12 und 17 Drachmen (Blanck 1992: 114).
Ein
kulturell bedeutender Vorgang der antiken Schriftkultur, vergleichbar mit
dem Sieg des Buchdrucks über die Handschrift, war das Aufkommen des
Kodex, zunächst auf Papyrus später auf Pergament, der allmählich
seit dem 3. Jahrhundert die Rolle verdrängte. Ein berühmtes Beispiel
dafür sind die gnostischen Schriften von Nag Hammadi. Mit der Übertragung
der auf Rollen geschriebenen Schriften des klassischen Altertums in Kodex-Form
fand ein bedeutendes und folgenreiches mediales Ereignis statt. Es wurden
nämlich nur bestimmte Schriften nach dem Geschmack der Zeit ausgewählt,
so dass zum Beispiel von 44 Komödien des Aristophanes nur 11 erhalten
blieben. Der Kodex war zugleich das Medium für die Verbreitung
der christlichen Schriften aber auch eine Art note-book für
die Aufzeichnung von alltäglichen Texten. Er setzte sich nur allmählich
als Medium für die Klassiker durch.
Roger
Chartier und Guglielmo Cavallo haben in einem von ihnen herausgegebenen
Band mit dem Titel Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm
(Chartier/Cavallo 1999) die Spannungen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
in der abendländischen Kultur seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. dokumentiert.
Diese lassen sich am Leitfaden der Frage nach dem leisen Lesen verfolgen.
Auch wenn das leise Lesen sich schon im frühen Griechenland nachweisen
läßt, zeigt die lang anhaltende Vorherrschaft des lauten Lesens,
die Indienstnahme der Schrift für eine Kultur der gesprochenen Sprache.
Der argentinische Schriftsteller Alberto Manguel hat in seiner schönen
Geschichte des Lesens hervorgehoben, dass die Art des stillen Lesens
in der westlichen Welt vor dem 10. Jahrhundert kaum üblich war. Augustinus
Beschreibung des immer leise lesenden Ambrosius (Augustinus 1989, VI, 3)
ist ein berühmtes Beispiel dafür (Manguel 1998: 57).
Bücherbesitz
und Bücherverbreitung, Buchhandel und Bibliotheken sind also keine
Erfindung der Neuzeit, auch wenn es unbestreitbar ist, dass der Buchdruck
die soziale Funktion des Buches, die Methoden seiner Vervielfältigung,
die Institutionen seiner Verbreitung, Speicherung und Vermittlung und somit
letztlich die Produktion, die Kontrolle und die Wirkung des Wissens in
einer Gesellschaft grundlegend veränderte. Die Grenzen, die durch
die Methode des Diktats und des Abschreibens dem antiken Buch gesetzt waren,
wurden durch den Buchdruck gesprengt.
Wenn
von der griechischen Antike im Sinne einer oralen Kultur die Rede ist,
steht dies also keineswegs im Widerspruch zur sozialen Bedeutung der Schrift.
Freilich erkannte die griechische Antike die revolutionäre Bedeutung
des Mediums Schrift gegenüber der Oralität, wie dies Platon im
Mythos der Erfindung der Schrift zum Ausdruck bringt.
Platon
war ein Freund des Buches. Er gab, wie Diogenes Laertios berichtet, zehn
Tausend Drachmen für die Schriften des Philosophen Philolaos aus (Diog.
Laert. 3,9). Aristoteles besaß eine umfangreiche Bibliothek, die,
wie die des Platon oder des Epikur, privaten Charakter hatte. Eine der
wohl bedeutendsten öffentlichen Bibliotheken der Antike war das vom
Ptolemaios I. Soter gegründeten Museion von Alexandria. Zu
den Zielen dieser Forschungsstätte zählten: die Literatur aller
Zeiten und aller Völker zusammenzubringen, alle fremdsprachige Bücher
ins Griechische zu übersetzen, - wie das Beispiel der Septuaginta-Übersetzung
des Alten Testaments zeigt - sowie die formale und inhaltliche Erschließung
der Werke als Basis für die Erstellung einer Literaturgeschichte.
Die alexandrinische Bibliothek ging aber nicht, wie die Legende es will,
durch einen von Iulius Caesar mit verursachten Brand im Winter 48/7, sondern
erst zur Zeit des Kaisers Aurelian (ca. 270 n.Chr.) sowie durch spätere
Zerstörungen zugrunde (Blanck 1992: 144; Canfora 1998: 92).
Platons
Mythos über die Erfindung der Schrift durch den ägyptischen Gott
Theut gehört zu den loci communes der heutigen Medientheorie.
Der Gott tritt im Totengericht als Protokollführer mit Ibiskopf, Pinsel
und Palette auf. Er ist, wie der griechische Hermes und der spätere
Hermes Trimegistos, auch Götterbote. Die Geschichte erzählt vom
König Thamus aus Theben, dem der Gott Theut seine Künste, nämlich:
Rechnen, Geometrie und Astronomie, Brett- und Würfelspiel und eben
auch die Schrift, vorführt. Der König fragt jeweils nach dem
Nutzen und äußert sich anschließend kritisch über
die Vor- und Nachteile. Theut preist die Schrift mit folgenden Worten:
"Dieser
Lehrgegenstand, o König, wird die Ägypter weiser und gedächstnisfester
machen; denn als Mittel für Gedächtnis (mnémes (...)
phármakon) und Weisheit ist er erfunden worden." (Phaidr. 274
e)
Worauf
der König antwortet:
"O
Du Meister der Kunstfertigkeit, Theut: der eine ist imstande die Künste
hervorzubringen, ein anderer, zu beurteilen in welchem Verhältnis
Schaden und Nutzen sich verteilen werden für die Leute, die sie brauchen
sollen. Auch du hast jetzt, als Vater der Schrift, aus Voreingenommenheit
das Gegenteil von dem angegeben, was sie vermag. Denn diese Kunst wird
Vergessenheit schaffen in den Seelen derer, die sie erlernen, aus Achtlosigkeit
gegen das Gedächtnis (mnémes), da die Leute im Vertrauen
auf das Schriftstück von außen (éxothen) sich
werden erinnern lassen durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus (éndothen)
durch Selbstbesinnen (anamimneskoménous). Also nicht ein
Mittel zur Bekräftigung, sondern zur Stützung des Gedächtnisses
(hypomnéseos phármakon) hast du gefunden. Und von
Weisheit gibst du deinen Lehrlingen einen Schein, nicht die Wahrheit: wenn
sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie auch viel zu verstehen
sich einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und
schwer zu ertragen sind im Umgang, zu Dünkelweisen geworden und nicht
zu Weisen." (Phaidr. 275 a-b)
Der König
betreibt Technikfolgenabschätzung. Seine Kritik richtet sich nicht
gegen die Schrift als solche, sondern gegen falsche Versprechungen. Diese
bestehen darin zu behaupten, sie sei ein Mittel zur Stärkung des seelischen
Vorganges des Erinnerns (mnémes), während sie in Wahrheit
diesen Vorgang nur stützt. Die Schrift ist also ein Mittel um sich
zurückzuerinnern (hypomnéseos phármakon), dessen,
was man vorher selbst verstanden und im Gedächtnis hat. Dieser Unterschied
ist für Sokrates entscheidend. Seine Vernachlässigung führt
dazu, die eigene Anstrengung des erinnernden Verstehens (anámnesis)
zu vergessen, um sich nur "von außen" helfen zu lassen. Man vergißt
dann selbst die Sachen und mit ihnen auch sich selbst zu prüfen. Sokrates
setzt die Schriftkritik des Königs folgendermaßen fort.
Die
Schrift schweigt, wenn man sie befragt und sie weiß nicht zu wem
sie sich richtet. Sie ist hilflos gegenüber demjenigen, die sie nicht
betrifft. Man beschimpft sie dann aber ungerechterweise, denn sie bedarf
immer "ihres Vaters" Hilfe. Platon plädiert für den Vorrang des
face to face im Sinne des lebendigen Dialogs. Der logos prägt
sich in der Seele des Wissenden (eidotos) ein, wovon dann das Geschriebene
eine Nachbildung (eidolon) ist. Das Medium der philosophischen Aufklärung
ist das gesprochene Wort. Die Schrift allein schafft nur eine Scheinaufklärung.
Sie vermag nicht in einer konkreten Dynamik von Frage und Antwort die gegenseitigen
Vorurteile zur Sprache zu bringen und so zur selbstkritischen Erkenntnis
zu kommen. Erst wenn dieser Prozeß vorausgesetzt ist, vermag sie
Abhilfe für das Gedächtnis "des schon Wissenden" zu schaffen.
Was
tut die Schrift allein auf sie gelassen? Antwort: Sie rollt nur so herum
(kylindeitai). Der griechische Ausdruck, von dem sich unser Zylinder
ableitet, steht im scharfen Gegensatz zum sammelnden logos. Die
Schriftrollen drehen sich herum oder rollen dahin in allen Richtungen,
für jedermann zugänglich. Was geschieht, wenn man sie stimmlich
verlautbaren läßt? Dann sind sie "beleidigt" (plemmeloúmenos)
(Phaidr. 275 e). Chartier und Cavallo bemerken, dass dieses Wort so viel
wie "falsch klingeln" (melos) bedeutet. Wann klingeln die laut gelesenen
Schriften falsch? Dann, wenn sie nicht mit der Absicht des Autors übereinstimmen
(Chartier/Cavallo 1999: 17). Demnach ist die Gegenüberstellung Mündlichkeit
vs. Schriftlichkeit ungenügend, denn Mündlichkeit kann sich auf
die gesprochene Rede oder auf die stimmliche Wiedergabe des Schriftlichen
beziehen. Auch das Schweigen der Schrift ist von einer anderen Art als
das Schweigen desjenigen, der nicht bloß leise liest, sondern in
einem Dialog eintritt, bei dem der logos, wie Platon schreibt (!),
"mit
Sachkenntnis in der Seele des Lernenden, fähig zur Selbstverteidigung
und kundig des Redens und Schweigens, je nach Umständen, eingeschrieben
wird (gráphetai)." (Phaidr. 276 276 a)
An diesem
Zitat läßt sich auch ermessen, warum eine vordergründige
Auffassung Platons und wohl auch Sokrates' als Vertreter einer mündlichen
gegenüber einer schriftlichen Kultur zu kurz greift. Denn der wahre
logos soll in der Seele des Lernenden "eingeschrieben werden" (gráphetai).
Dabei handelt es sich um eine für Platon höhere Form von Schriftlichkeit
auf die er hinzielt, wenn er die Zwecke des philosophischen Dialogs
im Blick hat.
Das
späte 5. Jahrhundert v. Chr. ist die Zeit, so Chartier und Cavallo
(Chartier/Cavallo 1999: 19), in der das Buch beginnt benutzt zu werden
nicht mehr nur zur Aufbewahrung von Texten, sondern auch für Ausbildungszwecke.
Damit beginnt auch, zusammen mit dem stillen Lesen, ein Moment der Individualität.
Was Platon vom Standpunkt des philosophischen Dialogs aus negativ beurteilt,
nämlich die Möglichkeit der freien Deutung eines Textes durch
beliebige Leser, stellt sich aus der Sicht der sozialen Alphabetisierung
sowie der Bildung des Selbst als eine entscheidende Neuerung innerhalb
einer Kultur dar, deren Öffentlichkeit, allem voran in der politischen
agora, zwar durch das Primat der Mündlichkeit aber in immer
stärkerem Maße auf die Unterstützung der Schrift orientiert
war. Das kommt deutlich in Sokrates' Schlußbemerkung über Schriftstücke
und ihre Verfasser zum Ausdruck:
"Ist
der Verfasser im Besitz des Wissens um die Wahrheit der Sache, versteht
er nachzuhelfen, wenn er ins Verhör kommt über den Inhalt des
Geschriebenen und ist fähig, selbst, indem er spricht (légon),
die geschriebenen Texte als minderwertig (faula) zu erweisen, dann
soll man ihn nicht mit einem Namen bezeichnen, der von diesen hergenommen
ist, sondern vielmehr von dem, was er als ernste Beschäftigung getrieben
hat." (Phaidr. 278c-d)
Sokrates
will, dass der Mensch sich nicht von den für besondere Zwecke verfaßten
Schriftstücken bestimmt, sondern die Freiheit des logos über
diese stellt und bewahrt. Es geht ihm also letztlich nicht um Schriftlichkeit
oder Mündlichkeit, sondern um Selbst- oder Fremdbestimmung und um
die Allgemeinheit und Unbestimmtheit des logos gegenüber seiner
Verfestigung und Verdogmatisierung in einzelnen logoi, sowie um
ihre Instrumentalisierung für Machtzwecke. Man sieht an dieser Stelle
deutlich wie hoch der Rang und die Macht der Schrift in der griechischen
Gesellschaft, in Kunst, Wissenschaft und Politik, war. Die Bezeichnung
für denjenigen, der über Sinn und Grenzen der Schrift und mit
ihr der Gefahr der Fremdbestimmung aufgeklärt ist, soll dann, so Sokrates,
nicht "Weise" (sophós), sondern "Freund der Weisheit" (philósophon)
lauten. Der Philosoph wird von Sokrates dem Dichter (poieten), Schriftsteller
(lógon syngraphéa) und Gesetzesschreiber (nomográphon),
als Repräsentanten der Schriftkultur, gegenübergestellt (Phaidr.
278e). Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, dass der Phaidros
mit dem lauten Vorlesen der schriftlich verfaßten Rede von Lysias
über die Liebe begonnen hatte.
Thomas
Szlezák hat überzeugend dargelegt, inwiefern Platons Schriftkritik
im Sinne einer selbstkritischen Haltung gegenüber jenem Wertvolleren
(timiotera) zu verstehen ist, das sich jenseits der geschriebenen
und wohl auch der gesprochenen Sprache, außerhalb der Seele also
befindet. Die Dialektik ist der Weg, das Ziel ist die reine Anschauung
(Szlezák 1985). Auch wenn der lebendige Logos des Vaters Hilfe nicht
in derselben (!) Weise bedarf wie die Schrift, steckt auch er, sofern er
inkarniert ist, d.h. sofern die Seele sich nicht von den lebensweltlichen
und veränderlichen Bedingungen des Diskurses losläßt und
die Anschauung eines qualitativ Höheren erreicht, in einer Sackgasse
(aporia) und bleibt deshalb philósophos. Das sokratische
Nichtwissen drückt letztlich eine Überbietung des logos
aus, ohne aber die "mühsame Fahrt" (Polit. 441 c), die auch die der
Deutung des schriftlichen logos ist, auszuschließen (Capurro
1991).
Platons
Schüler Aristoteles wird eine freiere und weniger voreingenommene
Haltung gegenüber der Schrift einnehmen, die in gewisser Weise die
Buchkultur der Aufklärung vorwegnimmt. Aristoteles' Bibliothek, seine
eigenen Schriften, die von seinen Schülern gemachten Vorlesungsnotizen
und die von ihm gesammelten Bücher, war in der Antike eine heiß
begehrte Ware. Neleus, Freund und Schüler des Aristoteles, wird in
dessen Testament als Erbe der aristotelische Bibliothek bestimmt (Diog.Laert.
V, 52-56). Neleus soll dieses Erbe an Ptolomaios II. Philadelphos - seit
283 v.Chr. Alleinherrscher Ägyptens und Sohn des Gründers der
Bibliothek zu Alexandria, Ptolomaios I. Soter (geb. 367/66) -, verkauft
haben. In Wahrheit machte sich Neleus mit dem Boten des Königs einen
Spaß, er verkaufte ihnen nämlich, so Canfora,
"einige
Kopien von Traktaten von geringerer Bedeutung, zahlreiche Traktate des
Theophrast, bei denen es sich nicht gerade um ausgesprochene philosophische
Leckerbissen handelte, und vor allem Bücher, die sich "im Besitz"
des Aristoteles befanden hatten. Er spielte dabei mit den Worten, in dem
er bestätigte, daß er im Besitz der "Bibliothek des Aristoteles"
sei - wie die Boten des Königs vermuteten -, aber eben seiner persönlichen
Bibliothek, jener Bücher, die der Meister besessen hatte. Von ihnen,
fügte er hinzu, sei er bereit, sich, wenn auch nur mit Schmerzen,
zu trennen. In Alexandria wurde der Betrug nicht sogleich aufgeklärt,
und so verzeichnete man in den Katalogen der königlichen Bibliothek:
"Der Regent Ptolemaios Philadelphos erwarb von Neleus aus Skepsis die Bücher
des Aristoteles und des Theophrast." (Canfora 1998: 38)
Die bei
Neleus gebliebenen "Bücher des Aristoteles" wurden von dessen Erben
an Apellikon von Teos, der in Athen lebte, verkauft. Als Sulla im Jahre
86 Athen eroberte nahm er die Bibliothek des Apellikon als persönliche
Beute nach Rom, wo, so Canfora, "unter den Reichen die Manie ausgebrochen
war, sich das Haus mit Büchern zu füllen." (Canfora 1998: 65)
Nach dem Tode Sullas wurde die Bibliothek von dessen größenwahnsinnigen
und von Schulden geplagten Sohn Faustus verkauft, um für immer zu
verschwinden.
Die
alexandrinische Bibliothek führt uns den antiken Traum von der Universalität
des Wissens auf der Basis der Konzentration aller Schriftrollen an einem
Ort und womöglich auch deren Übersetzung in einer Sprache,
nämlich der griechischen, vor. Diese universale Sammelleidenschaft
hat nichts gemeinsam mit dem vom platonischen Sokrates praktizierten aporetisch
bleibenden und mündlich geführten philosophischen Dialog. Die
Neuzeit wird den antiken Traum einer universalen Bibliothek überbieten,
indem sie eine Technik erfindet, die eine leichtere Vervielfältigung
der Schriften ermöglicht, so dass zugleich eine Vervielfältigung
von Sammlungen möglich wird.
II.
Das Forum der Leserwelt
Die potentielle
universelle Verbreitung des gedruckten Wortes sowie seine Fixierung, die
eine kontrollierte Kritik ermöglicht, entsprach den aufklärerischen
Idealen einer sich universal wähnenden Vernunft. Dieses Ideal setzte
sich vom Medium der Oralität ab. Mit dieser Absetzung kehrte die Neuzeit
den antiken Begriff der Öffentlichkeit um. Immanuel Kant fordert in
seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung?
eine universale zensurfreie Vernunft im Medium der gedruckten Schriften.
Und dennoch blieb Kant, in derselben Schrift, in der er das Medium Buch
aufklärerisch verklärte, dem Sokratischen Leitspruch des Selbstdenkens
treu und faßte ihn gleich zu Beginn mit den bekannten Worten:
"Aufklärung
ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne
Leitung eines anderen zu bedienen." (Kant, Beantwortung, AA VIII, A 481).
Einige
Zeilen weiter sagt er noch ausdrücklicher wie dieses "sich seines
Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen" zu verstehen ist, nämlich:
"Habe
ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für
mich Gewissen hat, eine Arzt, der für mich Diät beurteilt u.s.w."
(Kant, Beantwortung, a.a.O. A 482)
Man glaubt
Sokrates in seiner Fortführung der Technikfolgenabschätzung von
König Thamus zu hören: Das Buch als Substitut für das eigene
Denken, darin liegt die Gefahr dieses Mediums. Mit dem 'eigenen Denken'
oder mit dem "eigenen Verstand" ist aber nicht, wie Karl-Otto Apel uns
immer wieder glauben machen will, die solipsistische neuzeitliche Subjektivität
gemeint, die erst in eine kommunikative Vernunft auf der Basis der Peirceschen
Semiotik transformiert werden müßte (Apel 1976). Nein, Kant
denkt von Anfang an sozial, und auch, was Apel nicht aufgefallen ist, medial.
Das "Apriori der Kommunikationsgemeinschaft" stellt sich demgegenüber
als ein abstraktes Konstrukt dar.
Wie
kann aber Kant für das Primat des Mediums Buch plädieren, wenn
er gleich zu Beginn dieses Primat in Frage stellt? Antwort: Was Kant in
Frage stellt ist jenes Verhältnis zum Buch, was schon in der Sokratischen
Kritik deutlich ausgesprochen und von Platon niedergeschrieben wurde (!),
nämlich, die Möglichkeit dieses Mediums, sich anstelle des denkenden
Subjekts zu setzen. Während aber für Sokrates, und wohl auch
noch für Platon, eine veränderte Einstellung zum Buch zugleich
das Primat der Mündlichkeit bedeutete, möchte Kant das Buch oder
die gedruckten "Schriften" zum öffentlichen universellen zensurfreien
Raum der Vernunft erheben. Nicht die Schriften sollen uns aber sagen, wie
wir denken sollen, sondern wir, als selbständig Denkende, haben in
diesem Medium die Möglichkeit nicht nur der Veröffentlichung,
sondern zugleich auch, dank der Drucktechnik, der universellen Verbreitung
unserer Gedanken. Letzteres meint zugleich die Möglichkeit, die Gedanken
der anderen kritisieren zu können und die eigenen Gedanken zum Gegestand
der Kritik aller werden zu lassen. Diese Möglichkeit, die eigenen
Gedanken schriftlich - und gemeint ist damit: gedruckt - äußern
zu können, nennt Kant den "öffentlichen Gebrauch" der Vernunft.
Er schreibt:
"Ich
verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft
denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum
der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den
er in einem gewissen ihm anvertrauten Posten oder Amte von seiner Vernunft
machen darf." (Kant, Beantwortung, a.a.O., A 485)
Kant schreibt
"aber" wohl wissend, dass gewöhnlich unter "öffentlichem Gebrauch"
genau das Gegenteil verstanden wird, nämlich, den Gebrauch, den wir
von der Vernunft machen, wenn wir von ihr bei einem "anvertrauten Posten
oder Amte" machen. Mit einem Schlag kehrt Kant nicht nur die herkömmlichen
Verhältnisse von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in bezug auf
die Herstellung von Öffentlichkeit um, sondern auch die Vorstellung,
die amtlich konditionierte Vernunft, sei es durch die Regeln eines politischen,
religiösen, militärischen oder bürgerlichen Amtes, sei die
eigentliche öffentliche Vernunft. Um die beschränkte Reichweite
des Mediums Mündlichkeit zu betonen, stellt Kant diese, am Beispiel
eines Geistlichen, gegenüber den "Schriften". Denn der Geistliche
ist, sofern er als Geistlicher spricht, nicht nur konditioniert
im Gebrauch seiner Vernunft durch die Vorschriften seiner Kirche, sondern
auch durch die Reichweite dieses Mediums, denn seine Gemeinde ist
"immer
nur eine häusliche, obzwar noch so große, Versammlung" (Kant,
Beantwortung, a.a.O. A 487)
Der Gelehrte
dagegen,
"der
durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht,
mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft,
genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen
Vernunft zu bedienen und in seiner Person zu sprechen." (Kant, Beantwortung,
a.a.O. A 485) (meine Hervorhebung)
Demnach
sollte also jeder der ein Amt bekleidet, zugleich die Möglichkeit
haben, von seiner Vernunft öffentlich zu gebrauchen. Nur diese Öffentlichkeit,
die zugleich schriftlich-medial und ämter-frei ist, ist universal.
Kant sagt schlicht "die Welt" und meint damit "dem eigentlichen Publikum",
alle Menschen also, zu dem der Gelehrte "spricht". Für Kant war die
Möglichkeit des universellen Sprechens nur im Medium der "Schriften"
gegeben. Das mündliche Sprechen bleibt naturgemäß "häuslich"
und somit beschränkt. Die "Schriften" sind die moderne Form des universellen
Sprechens. Das Subjekt der Kantischen Aufklärung ist der "Gelehrte"
im Sinne desjenigen der versucht, seine
"Erkenntnisse
zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen und überhaupt in der
Aufklärung weiterzuschreiten" (Kant, Beantwortung, a.a.O. A 488)
Der Kantische
"Gelehrte" entspricht dem sokratischen Weisheitsfreund, sofern beide die
Vernunft von ihrer Unterwerfung unter gegebenen Regeln, Ämtern und
Vorschriften, auch im wörtlichen Sinne von 'Vor-Schriften', frei stellen
und ihr den Auftrag geben, alles selbst zu prüfen und das Ergebnis
dieser Prüfung ggf. allen anderen, "der Welt", mitzuteilen.
Kant
schlägt ein duales System vor. Dieses duale System ist so konzipiert,
daß der Privatgebrauch den öffentlichen Gebrauch zwar einschränken
aber nicht hindern darf. Denn die bürgerlichen Systeme sind nicht
autark, sondern "Glied eines ganzen gemeinen Wesens", das wiederum von
der "Weltbürgergesellschaft" umfaßt wird. Diese Weltbürgergesellschaft
ist das Forum, vor dem wir als Gelehrte den Mut haben sollten, uns im eigenen
Namen zu äußern. Kants duales System kehrt nicht nur die Hierarchie
um, so daß die Staatsräson der Welträson unterstellt wird,
sondern es billigt der Staatsräson sowie auch der Glaubensräson
einen eigenen autonomen Machtbereich zu, unter der Voraussetzung, daß
die Möglichkeit sich öffentlich zu äußern, nicht "sonderlich"
behindert wird.
Diese
Kantische Konstruktion, seine "Reform der Denkungsart", die durch keine
"Revolution" zustande gebracht werden kann, da diese 'nur' den "persönlichen
Despotism" abschafft, bringt nicht nur mit sich, daß die übliche
Bedeutung der Ausdrücke 'privat' und 'öffentlich' umgedreht wird.
Wie aber soll konkret dieses Neben- und Ineinander von öffentlichem
und privatem Vernunftgebrauch funktionieren? Kants Antwort: "durch Schriften"
für die "Leserwelt". Wir sollten den Mut haben, uns als Privatpersonen
"frei und öffentlich" auf diese Art und Weise zu äußern
und dies sollte "durch keine Amtspflicht" eingeschränkt sein.
In
der Schrift Was heißt: Sich im denken orientieren? (Kant 1923,
AA VIII) betont Kant, daß die Gedankenfreiheit unlösbar mit
der Freiheit "seine Gedanken öffentlich mitzutheilen" verbunden ist.
Die geistige Unabhängigkeit besteht für Kant nicht darin, dass
die Gedanken, "wie nächtliche Schatten" vorbei fliegen und "frei sind",
so dass "kein Jäger sie erschießen" kann, wie es bei Joseph
von Eichendorff heißt. Wenn die geistige Unabhängigkeit durch
äußere Zwänge eingeschränkt oder sogar bedroht ist,
dann sucht Kant keineswegs einen Trost im stillen Kämmerlein der eigenen
Subjektivität oder hofft, dass der Geist auf wundersamer Weise vorbei
fliegt, sondern er fordert die relative Unabhängigkeit eines äußeren
Mediums, der "Schriften". Diese Forderung hat einen tieferen Sinn, nämlich
den, dass der Ursprung der "Gedanken" nicht im isolierten Denken, sondern
im Gespräch zu suchen ist. Will dieses Gespräch sich prinzipiell
an jedermann richten, also universal sein, so muss es sich mitteilen lassen
können, denn, was wir denken ist immer das, was wir mit anderen
denken und dies läßt sich nur in einem gemeinsamen Medium vollziehen.
In der Schrift Was heißt: Sich im denken orientieren? schreibt
Kant wörtlich:
"Der
Freiheit zu denken ist erstlich der bürgerliche Zwang
entgegengesetzt. Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen, oder zu
schreiben, könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit
zu denken durch sie gar nicht genommen werden. Allein, wie viel und mit
welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam
in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken
mitteilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige
äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich
mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit
zu denken nehme: das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen
Lasten noch übrig bleibt, und wodurch allein wider alle Übel
dieses Zustandes noch Rat geschafft werden kann." (Kant 1923, AA VIII,
A 325)
Kant lehnt
die idealistische Trennung zwischen Denken und Medium ab, gleich ob es
sich beim letzteren um Sprechen oder Schreiben handelt. Kants Öffentlichkeit
ist die wissenschaftliche Öffentlichkeit, die universale Gelehrtenrepublik.
Ihr Medium sind die "Schriften". Diese können potentiell von allen
gelesen und kritisiert werden, ohne daß dabei der Verstandes- bzw.
Vernunftgebrauch (Kant bedient sich in der Aufklärungsschrift beider
Termini ohne nennenswerte Unterschiede) amtlich eingeschränkt und
dadurch 'privatisiert', d.h. von wesentlichen Stücken beraubt wird.
Dieser öffentliche Raum ist ein zensurfreier Raum, in dem die dogmatischen
Grundsätze der Politik und der Religion in ihrer theoretischen Gültigkeit
epochal suspendiert und der öffentlichen Prüfung unterzogen werden.
Die
scheinbare Narrenfreiheit der Gelehrten ist aber gleichwohl nicht anarchisch,
sondern "das ganze Publikum der Leserwelt" reguliert sich selbst. Kant
appelliert deshalb nicht an den, wie er sagt, "hochmütigen Namen der
Toleranz", an eine amtlich verordnete oder erlaubte Gedankenfreiheit, sondern
jeder soll von sich aus lernen dürfen, sich diese Freiheit "aus der
Rohigkeit" heraus zu erarbeiten (Kant, Beantwortung, a.a.O.). Andererseits
droht die Paradoxie, die Kant am toleranten Verhalten seines aufgeklärten
Königs beobachtet: "räsoniert, soviel ihr wollt und worüber
ihr wollt; nur gehorcht!" (Kant, Beantwortung, a.a.O.). Theorie und Praxis
klaffen auseinander. Demgegenüber fordert Kant nicht "einen größere
Grad", sondern "einen Grad weniger" bürgerlicher Freiheit. Er bekämpft
dabei die politische mit einer philosophischen Paradoxie: Wenn die Gedankenfreiheit
um den Preis des politischen Gehorsams erkauft werden muß, dann ist
ihm lieber jene auch in politicis zu besitzen, auch wenn dabei die
"Freiheit zu handeln" nicht unmittelbar "ausgewickelt" werden kann. Nicht
nur Religion, Künste und Wissenschaften, sondern auch die "Gesetzgebung"
sollen also Gegenstand der freien, öffentlichen und das heißt
gedruckten Ausübung der eigenen Vernunft werden. Kants Aufspaltung
von Gedankenfreiheit und Handlungsfreiheit, seine "Reform der Denkungsart",
zielt über den Umweg der gedruckten Schriften auf eine Vermittlung
zwischen Theorie und Praxis, so daß zwar nicht unmittelbar die Regierungen,
wohl aber ihre Grundsätze gewandelt werden können, wodurch dann
letztlich auch ein politisch freieres Handeln zustande kommen mag (Capurro
1995: 110).
Ist
dieses duale Konstrukt, Gelehrtenfreiheit auf der einen, Bürgerpflicht
auf der anderen Seite, heute, im Informationszeitalter, zeitgemäß?
Ich möchte einige Gedanken in Anschluß an Jürgen Habermas'
Kritik von Kants Idee des Ewigen Friedens "aus dem historischen Abstand
von 200 Jahren" vorausschicken (Habermas 1995; Capurro 1996), bevor ich
auf die heutige Medienrevolution, auf das Cyberspace also, zu sprechen
komme.
Der
Schlußsatz von Kants Aufklärungsschrift lautet:
"Wenn
denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie
am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien
Denken, ausgewickelt hat; so wirkt dieser allmählich zurück
auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln
nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze
der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen,
der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln"
(Kant 1923, a.a.O. A 493-494).
Im Licht
der Geschichte der letzten zweihundert Jahre kommen aber, so Habermas,
drei Entwicklungen entgegen, die die Kantischen Prämissen fragwürdig
und sein Konstrukt reformbedürftig erscheinen lassen. "Wenn die Natur
unter dieser harten Hülle" schreibt Kant und er traut dabei im Hinblick
auf den Weltfrieden drei natürlichen Tendenzen, nämlich:
-
der republikanischen
Regierungsart,
-
der Kraft
des Welthandels
-
und der
Funktion der politischen Öffentlichkeit.
Zum ersten:
Kant konnte nicht erkennen, daß Republiken sich zu nationalistischen
Staaten entwickeln würden, wo also die Menschen doch nur "als Maschinen"
gebraucht wurden. Zugleich aber tendieren demokratische Staaten sich "weniger
bellizistisch" zu verhalten als autoritäre Regime.
Zum
zweiten: Der freie Handelsgeist mündete in die kapitalistische Ausbeutung,
in Imperialismus und Bürgerkrieg. Erst die Katastrophen des 20. Jahrhunderts
führten zu einer Abschwächung der einzelstaatlichen Interessen
zugunsten "einer eigentümlichen Diffusion der Macht selber".
Zum
dritten: Kant rechnete mit der Möglichkeit einer öffentlichen
freien Diskussion über das Verhältnis zwischen den Verfassungsprinzipien
und den "lichtscheuen" Absichten der Regierungen. Dabei rechnete er, so
Habermas,
"natürlich
noch mit der Transparenz einer überschaubaren, literarisch geprägten,
Argumenten zugänglichen Öffentlichkeit, die vom Publikum einer
vergleichsweise kleinen Schicht gebildeter Bürger getragen wird."
(Habermas 1995: 11)
Kant dachte
an die Öffentlichkeit der "Gelehrten". Was er nicht voraussehen konnte,
war
"den
Strukturwandel dieser bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer von
elektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch degenierten (sic),
von Bildern und virtuellen Realitäten besetzten Öffentlichkeit."
(Habermas a.a.O)
Kant konnte
also nicht mit den Massenmedien rechnen. Der Cyberspace ist aber weder
Kants "Leserwelt" der Gelehrten noch Habermas' transparente Gesellschaft
der rational face to face Argumentierenden.
Die
Massenmedien des 20. Jahrhunderts brachten eine Universalität des
Gesprochenen sowie des Visuellen in Form einer hierarchischen one-to-many
Struktur, die anstatt alles an einem Ort sammeln zu wollen, von einem Ort
aus ihre Botschaften an alle sandte. Die gegenwärtige elektronische
Weltvernetzung stellt sich wiederum als ein Medium dar, in dem nicht nur
die Universalität des Gedruckten, sondern auch die der Massenmedien
abermals, jenseits der bibliothekarischen raum-zeitlichen Schranken und
der hierarchischen Versandstruktur der Massenmedien, revolutioniert wird.
III.
Aufklärung im Cyberspace
Aus dem
historischen Abstand von zweihundert Jahren können wir uns fragen,
ob Kants Aufforderung, uns mutig dazu zu entschließen, den eigenen
Verstand öffentlich zu gebrauchen, heute die besseren Voraussetzungen
hat, nämlich im Cyberspace. Kant konnte nicht voraussehen, dass die
Welt der Gelehrtenschriften sich zu einer unüberschaubaren 'Gutenberg-
Galaxis' des Gedruckten entwickeln würde. Für ihn bestand das
Problem des freien Mitteilungsmediums des Gedruckten darin, die Macht von
Politik und Kirche in theoreticis einzuschränken. Heute hat
sich die Situation teilweise umgedreht: Die Regierungen stehen vor der
Frage, wie sie, angesichts der weltweiten Vernetzung, ihre relative Autonomie
aufrechterhalten können. Die Spannungen zwischen individueller und
kollektiver informationeller Selbstbestimmung wachsen. Wir brauchen eine
Weltinformationskultur. Auch wenn die Diagnose, wir befänden uns auf
dem Weg in eine Gesellschaft der Kommunikationslosigkeit überzogen
erscheinen mag, ist es nicht zu übersehen, daß Herrschaft und
Ausbeutung in Weltpolitik und Welthandel durch die elektronische Informationszirkulation
wesentlich mitbestimmt werden. Information ist eine Ware, welche dem Prozeß
von Angebot und Nachfrage untersteht. Sie ist inzwischen eine diese Prozesse
wesentlich bestimmende Dimension.
Zu
Beginn der siebziger Jahre schien nämlich so, als ob der Computer
als Magd des Buches, als ancilla libri, in den Dienst der Buchkultur
genommen werden könnte. Man benutzte den Computer, um Instrumente
für die schnelle und gezielte Suche in der Masse der industriell reproduzierten
Schriften. Man wollte dadurch die Informationsflut, d.h. die Flut
der industriellen Dokumentenproduktion, beherrschen, eine nautische Metapher,
wie auch die des Surfens. Es war die Geburtsstunde des information
retrieval, das zunächst nur auf das Suchen und Wiederfinden von
Dokumentensurrogaten (Autor, Titel, Quelle, Kurzfassung) in bibliographischen
Datenbasen ausgerichtet war. Diese lösten in einem ersten Schritt
die Frage der Dokumenteninhalte von ihrer physischen Aufbewahrung
und Zugänglichkeit in Bibliotheken und Archiven. Die nächsten
Schritte vollzogen sich mit der CD-ROM-Technik Mitte der achtziger Jahre
und ab Mitte der neunziger Jahre mit der Möglichkeit von dezentralen
und vernetzten Massenspeichern sowie mit den World Wide Web und seinen
verschiedenen Informations- und Kommunikationsdiensten, wie wir seit Mitte
der neunziger Jahre mit dem Internet kennen.
Der
Cyberspace revolutioniert die herkömmliche Trennung zwischen Schriftlichkeit
und Mündlichkeit. Das liegt nicht nur an der Multimedialität,
sondern auch an seiner Fähigkeit zugleich ein Informations- und ein
Kommunikationsmedium zu sein. Das 20. Jahrhundert kannte bis in die 90er
Jahre nur Medien für die Individual- und die Massenkommunikation.
Diese Trennung kommt deutlich in Vilém Flussers "Kommunikologie"
zum Vorschein (Flusser 1996). Flusser unterscheidet zwischen "diskursiven
Medien", die der Verteilung von Information dienen und im wesentlichen
eine hierarchische one-to-many-Struktur besitzen, und den "dialogischen
Medien", wodurch neue Information geschaffen wird. Das Fernsehen und das
Telefonnetz können jeweils als Beispiele dienen, obgleich es natürlich
auch vortechnische Medien wie zum Beispiel Kaffeehäuser und politische
Parteien gab und noch gibt. Flusser befürchtete, dass die Massenmedien
die verschiedenen dialogischen Medien unter ihrer Herrschaft nehmen würde.
Er rechnete nicht mit der Möglichkeit eines technischen Mediums, das
zugleich dialogische und diskursive Dispositive vereinte. Ironischerweise
sind jetzt die Massenmedien, die den Verlust ihrer Monopolstellung bei
der Verbreitung von Information befürchten. Denn, nach der Cyberspace-Revolution,
sind die Medien, wie Manfred Faßler mit Recht betonte, und allem
voran die Massenmedien, nicht mehr was sie waren und sie werden es nie
mehr sein.
Wir
müssen nicht, wie noch Kant, um ein Minimum an Mitteilungsfreiheit
kämpfen, sondern wir lernen mit dem Informationsüberfluß
umzugehen. Denn nachdem die politischen und religiösen Vormünder
durch leidvolle Erfahrungen relativiert wurden, wäre es möglich,
daß der Wunsch: "Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat"
(Kant) durch: 'Habe ich einen Netzanschluß, der mich mit Wissen und
Gewissen versorgt' ersetzt wird.
Die
ethischen, rechtlichen und politischen Probleme des Cyberspace liegen offen
zutage. Sie lassen sich am Leitfaden der Brennpunkte des Observatory
on the Information Society der UNESCO wie folgt andeuten:
1)
Globalisierung: Paradoxerweise hat die Weltvernetzung die Chancengleichheit
in bezug auf den Informationszugang im Ansatz verbessert zugleich aber
die Kluft zwischen Informationsarmen und -reichen vertieft. Grund dafür
sind nicht nur die für diesen Zugang benötigten technischen Bedingungen,
bis hin zu Stromversorgung und Telefonleitungen, sondern auch die mangelnde
information literacy. Die globalisierte Ökonomie zeigt immer
deutlicher die Verflechtungen zwischen Kapital, Rohstoffen und Arbeit mit
der Informationszirkulation. So etwas wie eine soziale Informationswirtschaft
im Weltmaßstab ist zwar wünschbar aber unter den gegebenen politischen
und rechtlichen Bedingungen kaum machbar. Das liegt nicht nur am atemberaubenden
Tempo mit dem sich die Informationswirtschaft entwickelt, sondern auch
an den Problemen der politischen Akteure mit ihren nationalen und/oder
internationalen Schranken sowie mit ihren unterschiedlichen Kulturen und
Interessen, das Cyberspace juristisch zu domestizieren. Da dies nicht kurzfristig
zu ändern ist, sind die moralischen Appelle an die Selbstverantwortung
sowie an die freiwillige Einhaltung von Regeln und Codes an der Tagesordnung
der internationalen Medienwirtschaft. Während bisher die Moral in
einem demokratischen Rechtsstaat formal dem Recht unterstellt und somit
auch im gewissen Sinne schwach ist, müsste sie in einer Situation,
in der internationale Regeln sich nicht oder nur teilweise mit legitimierter
nationalstaatlichen Gewalt durchsetzen lassen, stark sein. Als Basis für
eine solche quasirechtliche Moralität im globalen Maßstab, für
ein Weltinformationsethos also, haben wir die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte. Diese in praktische gerechte Politik umzusetzen
ist bekanntlich nicht einfach.
2)
Privatheit und Vertraulichkeit: Die Kehrseite der Globalisierung
ist der steigende Bedarf am Schutz unterschiedlicher informationeller Räume,
die sich zwar im globalen Medium abspielen, aber nicht für alle zugänglich
sein sollten. Das ist die Basis für verläßliche wirtschaftliche
Handlungen aber auch für die private Nutzung dieses Mediums. Wir leben
in einer Kultur die den größten Maß an universaler Distribution
von Information anstrebt, zugleich aber um die größte Sicherheit
bezüglich der Möglichkeit der Informationsverschlüsselung
bemüht ist. Das läßt nicht nur einen offenen Raum für
alle Formen der digitalen Kriminalität, sondern auch für die
Möglichkeit mehr oder weniger legaler Manipulation von personenbezogenen
Daten, die für Marketingzwecke ge- und mißbraucht werden können.
Selbstverantwortung und Vertrauen sind zwei Tugenden, die zugleich für
individuelle und soziale Akteure relevant sind. Der Mißbrauch der
Vertrauensbasis bedeutet nicht weniger das Ende einer zwischenmenschlichen
Beziehung wie einer Beziehung zwischen Anbieter und Kunde. Eine solche
Vertrauensbasis im globalisierten Informationsverkehr herzustellen ist
keine einfache politische und kulturelle Aufgabe.
3)
Inhaltsregulierung: Die Grenzen zwischen Selektion, Kontrolle und
Zensur sind fließend, zumal wenn unterschiedliche moralische Maßstäbe
angewandt werden. Aufgrund der Universalität des Cyberspace sind diese
Fragen besonders brisant. Zentralistische politische Zensurmaßnahmen
kehren den Sinn des Cyberspace um. Die Netzwerkökonomie hat die herkömmlichen
Regeln und Maßstäbe in bezug auf Schutz von Eigentumsrechten
fragwürdig gemacht. Der Prozeß der Hybridisierung zwischen den
verschiedenen Medien und die Veränderung im Verhalten sowohl bei den
Informationsanbietern als auch bei den Kunden stellt eine kulturelle und
wirtschaftliche Herausforderung dar. Der Cyberspace ist ein Medium in dem
sich ein kultureller Austausch mit kaum voraussehbaren Folgen vollzieht.
Wir brauchen so etwas wie eine vergleichende Kulturforschung im digitalen
Bereich, die mit einer kulturvergleichenden Websiteforschung beginnen und
mit der Analyse des kulturellen Austauschs bis hin zu Erforschung der Formen
der Austragung von sozialen lokalen und globalen Konflikten im Cyberspace
führen kann.
4)
Allgemeiner Zugang: Der Cyberspace ist nicht nur ein dezentrales
System zum Informationsangebot, sondern auch ein Weltkommunikationsmedium,
in dem nicht nur eine one-to-one Kommunikation wie beim Telefon,
oder eine one-to-many wie bei den Massenmedien, sondern auch many-to-many,
many-to-one, one-to-many Strukturen möglich sind. Die Vielfalt
des Informationsangebots hat dazu geführt, dass sich so etwas wie
eine polyzentrische Struktur im bezug zum Beispiel auf Suchdiensten, Portalen,
Newsgroups usw. gebildet hat. Unterschiedliche Akteure, wie die National
Science Foundation, das W3-Consortium, die ICANN, die Internet Society
(ISOC), sowie unterschiedliche UN Organisationen wirken an der Gestaltung
mit. Der Cyberspace ist weitgehend durch Englisch als lingua franca
beherrscht. Die Herausforderung der Erhaltung der Multikulturalität
in der entstehenden Weltinformationsgesellschaft ist ein Politikum ersten
Ranges, wozu auch die Frage nach dem Erhalt des kulturellen Erbes in digitaler
Form gehört. Schließlich sei auch das Problem der Nachhaltigkeit
des elektronischen Mediums selbst hingewiesen.
Diese
Fragen sollten nicht nur informationspolitisch, sondern auch informationsethisch
behandelt werden. Wir brauchen dringend die Etablierung der Informationsethik
– die im weiteren Sinne auch die Computerethik und die Ethik der Massenmedien
umfaßt – im Curriculum der verschiedenen Informationsberufen. Ein
internationales Forum für diese Fragen bietet das seit 1999 bestehende
International Center for Information Ethics
(ICIE).
Rückblick
und Ausblick
Schriftrolle
und Bildschirm berühren sich am Anfang und Ende der Buchkultur. Mit
dem Cyberspace scheint sich alles abermals umzukehren oder zu re-volutionieren.
Im Gewand der Cyber-Schrift leben wir in einer Zeit flüchtiger Botschaften,
die den Doppelcharakter von Schriftlichkeit und Oralität besitzen.
Wir leben, mit andern Worten, in einer Botschaftskultur. Das Botschaftsphänomen
sollte Gegenstand einer Wissenschaft werden, für die ich den Namen
Angeletik (Griechisch: angelía = Botschaft) vorgeschlagen
habe (Capurro 2000).
Vollendet
oder übertrifft der Cyberspace die Ideale der Aufklärung? Im
Jahre 1935 hielt der spanische Philosoph José Ortega y Gasset eine
Rede mit dem Titel "Die Aufgabe des Bibliothekars" im Rahmen des Internationalen
Bibliothekskongresses. Dort thematisiert Ortega die Entstehung und Wandlung
des Bibliothekarberufes aufgrund unterschiedlicher sozialer Bedürfnisse.
Ortega setzt den ersten Bruch innerhalb der Schriftkultur zu Beginn der
Renaissance, kurz vor dem Erscheinen des gedruckten Buches. Es ist dann,
dass das Buch an die Öffentlichkeit dringt, so dass es als eine soziale
Notwendigkeit empfunden wird und der Beruf sich zu wandeln beginnt. Welche
soziale Veränderung hat stattgefunden? Warum wurde das Buch zu einem
sozialen Bedürfnis? Für Ortega hängt diese Revolution mit
der Entstehung der modernen Subjektivität zusammen. Der neuzeitliche
Mensch, der mit seiner eigenen Vernunft denkt und schreibt, steht im Vordergrund.
Es ist die Zeit, in der Bibliothekare auf Bücherjagd gehen, oder,
vielleicht sollten wir sagen, wieder einmal auf Bücherjagd gehen,
wenn wir die Renaissance-Bibliothekare mit ihren antiken Kollegen der alexandrinischen
Bibliothek in Berührung bringen. Es ist auch nicht von ungefähr,
so Ortega, dass ausgerechnet in dieser Zeit, wo der soziale Bedarf nach
Büchern steigt, auch der Buchdruck erfunden wird. Dreihundert Jahre
später verändert sich der soziale Bedarf abermals. Nicht die
Suche nach Büchern, sondern die Leseförderung steht im Vordergrund.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Bibliothekarberuf zu einer staatlichen
und nicht nur sozialen Notwendigkeit. Er verliert den Charakter eines sozialen
Brauchtums oder eines Hobbys. Mit dem Buch als sozial-politische Notwendigkeit
entsteht zugleich die Demokratie. Ortega schreibt:
"Die
demokratische Gesellschaft ist ein Kind des Buches, sie ist der Sieg des
von einem Schriftsteller geschriebenen Buches über das von Gott geoffenbarte
Buch und über das von einem Alleinherrscher diktierte Gesetzesbuch."
(Ortega 1962: 66, meine Übersetzung)
Das Buch
wird sozusagen zum Substitut Gottes. Die Gesellschaft kann ohne Wissenschaft
und Technik nicht existieren und auch nicht ohne einen dauerhaften Ideenfluß,
der die neuen demokratischen Ideale unter das Volk bringt. Was aber so
friedlich anfing, gerät, so Ortega, in einem dramatischen Prozeß.
Es kommt nämlich ein Punkt,
"wo
man in Europa den Eindruck hat, dass es zu viele Bücher gibt, umgekehrt
wie in der Renaissance. Das Buch wird nicht mehr wie eine illusorische
Hoffnung, sondern wie eine Last empfunden. Der Wissenschaftler selbst merkt,
dass eine der großen Schwierigkeiten seiner Arbeit darin besteht,
sich in der Bibliographie seines Themas zu orientieren." (Ortega 1962:
73, meine Übersetzung)
Bücher
sind dann keine bloßen Dinge mehr, sondern sie gehören zu den
Lebensnotwendigkeiten. Im letzen Abschnitt von Ortegas Rede, "Das Buch
als Konflikt", weist er auf drei problematische Entwicklungen hin, nämlich:
1)
Es gibt zu viele Bücher,
2)
es werden zu viele Bücher gedruckt, die entweder nutzlos oder gar
schädlich sind, und
3)
der Leser braucht eine Hilfe, um sich in dieser selva selvaggia
in diesem Urwald der Bücher also zu orientieren.
Die
erste Bemerkung führt zu der Entstehung von Bibliographien im 19.
Jahrhundert und fünfundzwanzig Jahre nach Ortegas Rede, zu den ersten
computerisierten bibliographischen Datenbasen. Es ist auch kein Zufall,
dass ausgerechnet in einer solchen Notsituation, der Computer und das information
retrieval erfunden werden. Die Parallele zum 15. Jahrhundert ist evident.
Die zweite Bemerkung darf nicht im Sinne einer verordneten staatlichen
Zensur verstanden werden, sondern es geht um qualitative Selektion. Die
dritte Bemerkung richtet sich auf die aufkommenden Aufgaben der öffentlich
zugänglichen Bibliotheken. In einem nicht vorgetragenen Exkurs mit
dem Titel "Was ist ein Buch?" weist Ortega auf die platonische Schriftkritik,
d.h. auf die Notwendigkeit, das schriftlich Fixierte in einem lebendigen
Zusammenhang mit der jeweiligen historischen oder "vitalen Situation" zu
bringen, hin. Nur derjenige liest richtig, der zuvor für sich selbst
über das Thema nachdenkt.
Es
ist wiederum kein Zufall, dass in dieser Situation, als die Überfülle
des Schriftlichen das Bedürfnis nach dem lebendigen Dialog wachruft,
erneut eine Technik weiterentwickelt wurde, die Mündlichkeit und Schriftlichkeit
miteinander verbindet. Der Cyberspace fing wie eine Spielerei an, und ist
inzwischen zu einer sozialen und globalen Notwendigkeit geworden. Der Beruf
des Bibliothekars verändert sich abermals in dramatischer Weise. Es
entstehen eine Vielfalt von neuen Informationsberufen. Die Institutionen
der Wissensvermittlung, Schulen, Hochschulen und Universitäten, verändern
ihre Strukturen, die weitgehend auf der Basis der mündlichen Vorlesung
und des gedruckten Buches aufgebaut waren. Dabei ist aber zu beachten,
dass so wenig wie das Buch das Gespräch face to face ersetzte,
sondern ganz im Gegenteil, den qualitativen Unterschied zwischen den verschiedenen
Medien von Anfang an, wie am Beispiel Platons ersichtlich, thematisierte,
so auch die sogenannten neuen Medien. Der soziale Bedarf an Kommunikation
und Information im lokalen und globalen Maßstab im elektronischen
Medium ist der Mittelpunkt um den sich die Cyberkultur des 21. Jahrhunderts
aufbaut.
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