Vortrag im Rahmen der interdisziplinären Ringvorlesung des Instituts für Informatik und des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig: "Kommunikation in der Informationsgesellschaft: Vom digitalen Buch zum computergestützten Lernen"  am 19. April 2000. Erschienen als CD-ROM in: S. Gerber, B. Debatin, Hrsg.: Vom digitalen Buch zum computergestützten Lernen. Universität Leipzig, 2000. 

 

 
 

MEDIEN (R-)EVOLUTIONEN

Platon, Kant und der Cyberspace

 
 
Rafael Capurro
  
 
 
 

Inhalt

Einleitung   

I. Sokratische Öffentlichkeit  
II. Das Forum der Leserwelt  
III. Aufklärung im Cyberspace  

Rückblick und Ausblick  

Literatur  
  
 

 
    
  

Kurzfassung

Die Meinungen über den sozialen und epochalen Sinn des Cyberspace gehen weit auseinander. Die einen sind begeistert und verkünden eine neue Ära für die Menschheit. Die anderen sehen darin das Ende der Aufklärung und den Beginn einer beispiellosen kulturellen Barbarei. Die Massenmedien schwanken zwischen Fusion (AOL/Time Warner) und pauschaler Verurteilung (Internet = Kinderpornographie). Die europäische Neuzeit träumte von einem zensurfreien Raum im Medium der "Schriften" für die "Leserwelt" (Kant). Die potentielle universelle Verbreitung des gedruckten Wortes sowie seine Fixierung, die eine kontrollierte Kritik ermöglicht, entsprach den idealen einer sich universal wähnenden Vernunft. Dieses Ideal setzte sich vor allem vom Medium der Oralität ab. Mit dieser Absetzung kehrte die Neuzeit den antiken Begriff der Öffentlichkeit um. Freilich kannte die griechische Antike die revolutionäre Bedeutung des Mediums Schrift gegenüber der Oralität, wie dies Platon im Mythos der Erfindung der Schrift zum Ausdruck bringt. Mit dem Cyberspace scheint sich alles abermals umzukehren. Im Gewand der Cyber-Schrift leben wir in einer Zeit flüchtiger Botschaften, die den Charakter der Oralität besitzen. Vor diesem Hintergrund klingt der Begriff "digitales Buch" eher wie ein Oxymoron. Vollendet und übertrifft der Cyberspace die Ideale der Aufklärung? Wo liegen die Brüche gegenüber der Kultur der Massenmedien des 20. Jahrhunderts? Welche Formen von Universalität sind im Cyberspace möglich? Welche wünschbar? Welche inakzeptabel? Und wie sieht die Zukunft der "Gelehrtenrepublik" im Cyberspace aus?  
 
 
    
  

Einleitung

   
Die Meinungen über den sozialen und epochalen Sinn des Cyberspace gehen weit auseinander. Die einen sind begeistert und verkünden eine neue Ära für die Menschheit. Die anderen sehen darin das Ende der Aufklärung und den Beginn einer beispiellosen kulturellen Barbarei. Die Massenmedien schwanken zwischen Fusion - man denke an AOL/Time Warner - und pauschaler Verurteilung. Eine deutsche Illustrierte brachte Letzteres in der folgenden Gleichung auf dem Punkt: Internet = Kinderpornographie. Die zum Teil sehr aggressive und feindliche Internet-Berichterstattung in den Massenmedien läßt die Vermutung aufkommen, dass die dezentrale und aktive Struktur des Internet als eine Bedrohung für das Informationsmonopol durch die Massenmedien angesehen wird. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist ein neuer "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (J. Habermas) im vollen Gange, dass nicht weniger grundlegend ist als die Veränderungen durch Rundfunk und Fernsehen im 20. Jahrhundert. Manfred Faßler drückt diese Veränderungen folgendermaßen aus:    ""Medien" sind nicht mehr das, was sie waren, und sie werden es nie mehr sein.   
Schon länger geht es nicht mehr nur um den gerne zitierten Strukturwandel der Öffentlichkeit. Es geht um den Strukturwandel des Erhalts von Produktions-, Wissens- und Lebensbedingungen, global und lokal.  
Publizistisch reservierte Medien werden nicht mehr das Monopol feinsinniger oder propagandistischer, aufklärerischer oder wissenschaftlicher Meinungsbildung besitzen, nicht mehr (nur) die hohe Lese-Kultur oder die massenmediale Berichterstattung prägen." (Faßler 2000: 8)
Da diese Prozesse sich nicht nur im globalen Ausmaß, sondern auch in atemberaubende Geschwindigkeit vollziehen, ist es kaum möglich eine distanziere und ruhige Reflexion, jenseits von Kassandrarufen oder prophetischer Euphoriestimmung, zu vollziehen. Eins ist aber sicher: Das ist nicht die erste umwälzende Medienrevolution in der Menschheitsgeschichte.   

Die folgenden Ausführungen wollen in diese Problematik einführen indem sie drei Medienbrüche thematisieren, nämlich den Bruch von der Oralität zur Schriftlichkeit, den der Schriftlichkeit oder, besser gesagt, von der Handschriftlichkeit zur Drucktechnik und schließlich den Bruch von der Drucktechnik zur elektronischen Vernetzung. Diese Brüche sind, historisch betrachtet, von einer ungemeinen Komplexität und Vielschichtigkeit, worauf im Folgenden aber nur angedeutet werden kann.  

Gewöhnlich wird der Bruch durch die Gutenberg-Technik als Entstehung der Buchkultur angesehen. Dies ist aber insofern zu relativieren, als schon in der Antike aber auch im Mittelalter und in der Renaissance eine hochentwickelte Buchkultur gab, so dass die moderne Industrialisierung der Buchproduktion vorhandene Strukturen verstärkte ohne sie aber zunächst grundlegend zu verändern. Dies geschah erst durch eine geistige Revolution, die wir mit dem Titel Aufklärung zu kennzeichnen pflegen. Die Aufklärung brachte eine Revolution innerhalb der medialen Evolution von der manuellen zur maschinellen Vervielfältigung von Schriften. Diese Revolution bestand in der Umkehrung des antiken Öffentlichkeitsbegriffs, der auf der Mündlichkeit basierte. Sie läßt sich anhand von Kants Begriff von Öffentlichkeit verdeutlichen, worauf ich in zweiten Teil dieses Beitrags eingehen werde.  

So wie die maschinelle Vervielfältigung von Schriften zunächst alles beim alten zu lassen schien, so auch, wenngleich nur für eine sehr kurze Zeit, die Computertechnologie in bezug auf die Buchkultur. Unsere digitalen Bibliotheken sind zunächst eine Verlängerung der klassischen Buchkultur. Aber ihre globale Zugänglichkeit, die mühelose Verteilung von Texten über geographischen und zeitliche Grenzen hinweg, sowie die Entwicklung der Multimedialität verknüpft mit den Kommunikationsfunktionen des Internet zeigen deutliche Brüche gegenüber der traditionellen Buchkultur, wie im dritten Teil zu zeigen ist.  
  

I. Sokratische Öffentlichkeit

Fangen wir mit einem kleinen Exkurs über das antike Buchwesen an. In der griechischen Welt konnten vermutlich die Athener Bürger seit dem frühen 5. Jahrhundert v.Chr. lesen und schreiben, zumindest so weit, um die Namen von ungeliebten Politikern auf Vasenscherben (ostrakon) zu schreiben (Blanck 1992: 29). Das trifft auch für die Etrusker sowie für die Römer zur Zeit der späteren Republik und der Kaiserzeit zu. Zugleich ist festzuhalten, dass im Mittelpunkt des Hochschulstudiums die Rhetorenschulen, also die Ausbildung in der Redekunst, als Voraussetzung der politischen Karriere stand (Blanck 1992: 30 ff).   

Das Thema des Menschen mit einer Buchrolle taucht in griechischen Vasenbildern im 5. Jahrhundert v.Chr. auf. Im antiken Griechenland haben zwar die Rhapsoden die Ilias und die Odyssee vorgesungen, sie führten aber ein schriftliches Handexemplar mit, das ihnen erlaubte, an der Stelle fortzusetzen, wo der vorherige Rhapsode aufgehört hatte (Blanck 1992: 113). Plutarch berichtet, dass Alexander der Große immer zwei Dinge unter seinem Kopfkissen hatte, ein Dolch und ein von Aristoteles durchgesehenes Exemplar der Ilias, das er als Lehrbuch militärischen Könnens faßte. (Plutarch 1994: Alexandros 8). Sokrates erwähnt in der Apologie, dass die Schriften von Anaxagoras für eine Drachme auf der Agora zu kaufen waren (Apol. 26 d). Zum Vergleich: Ein Schaf kostete damals zwischen 12 und 17 Drachmen (Blanck 1992: 114).  

Ein kulturell bedeutender Vorgang der antiken Schriftkultur, vergleichbar mit dem Sieg des Buchdrucks über die Handschrift, war das Aufkommen des Kodex, zunächst auf Papyrus später auf Pergament, der allmählich seit dem 3. Jahrhundert die Rolle verdrängte. Ein berühmtes Beispiel dafür sind die gnostischen Schriften von Nag Hammadi. Mit der Übertragung der auf Rollen geschriebenen Schriften des klassischen Altertums in Kodex-Form fand ein bedeutendes und folgenreiches mediales Ereignis statt. Es wurden nämlich nur bestimmte Schriften nach dem Geschmack der Zeit ausgewählt, so dass zum Beispiel von 44 Komödien des Aristophanes nur 11 erhalten blieben. Der Kodex war zugleich das Medium für die Verbreitung der christlichen Schriften aber auch eine Art note-book für die Aufzeichnung von alltäglichen Texten. Er setzte sich nur allmählich als Medium für die Klassiker durch.   

Roger Chartier und Guglielmo Cavallo haben in einem von ihnen herausgegebenen Band mit dem Titel Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm (Chartier/Cavallo 1999) die Spannungen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der abendländischen Kultur seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. dokumentiert. Diese lassen sich am Leitfaden der Frage nach dem leisen Lesen verfolgen. Auch wenn das leise Lesen sich schon im frühen Griechenland nachweisen läßt, zeigt die lang anhaltende Vorherrschaft des lauten Lesens, die Indienstnahme der Schrift für eine Kultur der gesprochenen Sprache. Der argentinische Schriftsteller Alberto Manguel hat in seiner schönen Geschichte des Lesens hervorgehoben, dass die Art des stillen Lesens in der westlichen Welt vor dem 10. Jahrhundert kaum üblich war. Augustinus Beschreibung des immer leise lesenden Ambrosius (Augustinus 1989, VI, 3) ist ein berühmtes Beispiel dafür (Manguel 1998: 57).   

Bücherbesitz und Bücherverbreitung, Buchhandel und Bibliotheken sind also keine Erfindung der Neuzeit, auch wenn es unbestreitbar ist, dass der Buchdruck die soziale Funktion des Buches, die Methoden seiner Vervielfältigung, die Institutionen seiner Verbreitung, Speicherung und Vermittlung und somit letztlich die Produktion, die Kontrolle und die Wirkung des Wissens in einer Gesellschaft grundlegend veränderte. Die Grenzen, die durch die Methode des Diktats und des Abschreibens dem antiken Buch gesetzt waren, wurden durch den Buchdruck gesprengt.  

Wenn von der griechischen Antike im Sinne einer oralen Kultur die Rede ist, steht dies also keineswegs im Widerspruch zur sozialen Bedeutung der Schrift. Freilich erkannte die griechische Antike die revolutionäre Bedeutung des Mediums Schrift gegenüber der Oralität, wie dies Platon im Mythos der Erfindung der Schrift zum Ausdruck bringt.  

Platon war ein Freund des Buches. Er gab, wie Diogenes Laertios berichtet, zehn Tausend Drachmen für die Schriften des Philosophen Philolaos aus (Diog. Laert. 3,9). Aristoteles besaß eine umfangreiche Bibliothek, die, wie die des Platon oder des Epikur, privaten Charakter hatte. Eine der wohl bedeutendsten öffentlichen Bibliotheken der Antike war das vom Ptolemaios I. Soter gegründeten Museion von Alexandria. Zu den Zielen dieser Forschungsstätte zählten: die Literatur aller Zeiten und aller Völker zusammenzubringen, alle fremdsprachige Bücher ins Griechische zu übersetzen, - wie das Beispiel der Septuaginta-Übersetzung des Alten Testaments zeigt - sowie die formale und inhaltliche Erschließung der Werke als Basis für die Erstellung einer Literaturgeschichte. Die alexandrinische Bibliothek ging aber nicht, wie die Legende es will, durch einen von Iulius Caesar mit verursachten Brand im Winter 48/7, sondern erst zur Zeit des Kaisers Aurelian (ca. 270 n.Chr.) sowie durch spätere Zerstörungen zugrunde (Blanck 1992: 144; Canfora 1998: 92).  

Platons Mythos über die Erfindung der Schrift durch den ägyptischen Gott Theut gehört zu den loci communes der heutigen Medientheorie. Der Gott tritt im Totengericht als Protokollführer mit Ibiskopf, Pinsel und Palette auf. Er ist, wie der griechische Hermes und der spätere Hermes Trimegistos, auch Götterbote. Die Geschichte erzählt vom König Thamus aus Theben, dem der Gott Theut seine Künste, nämlich: Rechnen, Geometrie und Astronomie, Brett- und Würfelspiel und eben auch die Schrift, vorführt. Der König fragt jeweils nach dem Nutzen und äußert sich anschließend kritisch über die Vor- und Nachteile. Theut preist die Schrift mit folgenden Worten:  

"Dieser Lehrgegenstand, o König, wird die Ägypter weiser und gedächstnisfester machen; denn als Mittel für Gedächtnis (mnémes (...) phármakon) und Weisheit ist er erfunden worden." (Phaidr. 274 e) Worauf der König antwortet:   "O Du Meister der Kunstfertigkeit, Theut: der eine ist imstande die Künste hervorzubringen, ein anderer, zu beurteilen in welchem Verhältnis Schaden und Nutzen sich verteilen werden für die Leute, die sie brauchen sollen. Auch du hast jetzt, als Vater der Schrift, aus Voreingenommenheit das Gegenteil von dem angegeben, was sie vermag. Denn diese Kunst wird Vergessenheit schaffen in den Seelen derer, die sie erlernen, aus Achtlosigkeit gegen das Gedächtnis (mnémes), da die Leute im Vertrauen auf das Schriftstück von außen (éxothen) sich werden erinnern lassen durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus (éndothen) durch Selbstbesinnen (anamimneskoménous). Also nicht ein Mittel zur Bekräftigung, sondern zur Stützung des Gedächtnisses (hypomnéseos phármakon) hast du gefunden. Und von Weisheit gibst du deinen Lehrlingen einen Schein, nicht die Wahrheit: wenn sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie auch viel zu verstehen sich einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und schwer zu ertragen sind im Umgang, zu Dünkelweisen geworden und nicht zu Weisen." (Phaidr. 275 a-b) Der König betreibt Technikfolgenabschätzung. Seine Kritik richtet sich nicht gegen die Schrift als solche, sondern gegen falsche Versprechungen. Diese bestehen darin zu behaupten, sie sei ein Mittel zur Stärkung des seelischen Vorganges des Erinnerns (mnémes), während sie in Wahrheit diesen Vorgang nur stützt. Die Schrift ist also ein Mittel um sich zurückzuerinnern (hypomnéseos phármakon), dessen, was man vorher selbst verstanden und im Gedächtnis hat. Dieser Unterschied ist für Sokrates entscheidend. Seine Vernachlässigung führt dazu, die eigene Anstrengung des erinnernden Verstehens (anámnesis) zu vergessen, um sich nur "von außen" helfen zu lassen. Man vergißt dann selbst die Sachen und mit ihnen auch sich selbst zu prüfen. Sokrates setzt die Schriftkritik des Königs folgendermaßen fort.  

Die Schrift schweigt, wenn man sie befragt und sie weiß nicht zu wem sie sich richtet. Sie ist hilflos gegenüber demjenigen, die sie nicht betrifft. Man beschimpft sie dann aber ungerechterweise, denn sie bedarf immer "ihres Vaters" Hilfe. Platon plädiert für den Vorrang des face to face im Sinne des lebendigen Dialogs. Der logos prägt sich in der Seele des Wissenden (eidotos) ein, wovon dann das Geschriebene eine Nachbildung (eidolon) ist. Das Medium der philosophischen Aufklärung ist das gesprochene Wort. Die Schrift allein schafft nur eine Scheinaufklärung. Sie vermag nicht in einer konkreten Dynamik von Frage und Antwort die gegenseitigen Vorurteile zur Sprache zu bringen und so zur selbstkritischen Erkenntnis zu kommen. Erst wenn dieser Prozeß vorausgesetzt ist, vermag sie Abhilfe für das Gedächtnis "des schon Wissenden" zu schaffen.   

Was tut die Schrift allein auf sie gelassen? Antwort: Sie rollt nur so herum (kylindeitai). Der griechische Ausdruck, von dem sich unser Zylinder ableitet, steht im scharfen Gegensatz zum sammelnden logos. Die Schriftrollen drehen sich herum oder rollen dahin in allen Richtungen, für jedermann zugänglich. Was geschieht, wenn man sie stimmlich verlautbaren läßt? Dann sind sie "beleidigt" (plemmeloúmenos) (Phaidr. 275 e). Chartier und Cavallo bemerken, dass dieses Wort so viel wie "falsch klingeln" (melos) bedeutet. Wann klingeln die laut gelesenen Schriften falsch? Dann, wenn sie nicht mit der Absicht des Autors übereinstimmen (Chartier/Cavallo 1999: 17). Demnach ist die Gegenüberstellung Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit ungenügend, denn Mündlichkeit kann sich auf die gesprochene Rede oder auf die stimmliche Wiedergabe des Schriftlichen beziehen. Auch das Schweigen der Schrift ist von einer anderen Art als das Schweigen desjenigen, der nicht bloß leise liest, sondern in einem Dialog eintritt, bei dem der logos, wie Platon schreibt (!),   

"mit Sachkenntnis in der Seele des Lernenden, fähig zur Selbstverteidigung und kundig des Redens und Schweigens, je nach Umständen, eingeschrieben wird (gráphetai)." (Phaidr. 276 276 a) An diesem Zitat läßt sich auch ermessen, warum eine vordergründige Auffassung Platons und wohl auch Sokrates' als Vertreter einer mündlichen gegenüber einer schriftlichen Kultur zu kurz greift. Denn der wahre logos soll in der Seele des Lernenden "eingeschrieben werden" (gráphetai). Dabei handelt es sich um eine für Platon höhere Form von Schriftlichkeit auf die er hinzielt, wenn er die Zwecke des philosophischen Dialogs im Blick hat.   

Das späte 5. Jahrhundert v. Chr. ist die Zeit, so Chartier und Cavallo (Chartier/Cavallo 1999: 19), in der das Buch beginnt benutzt zu werden nicht mehr nur zur Aufbewahrung von Texten, sondern auch für Ausbildungszwecke. Damit beginnt auch, zusammen mit dem stillen Lesen, ein Moment der Individualität. Was Platon vom Standpunkt des philosophischen Dialogs aus negativ beurteilt, nämlich die Möglichkeit der freien Deutung eines Textes durch beliebige Leser, stellt sich aus der Sicht der sozialen Alphabetisierung sowie der Bildung des Selbst als eine entscheidende Neuerung innerhalb einer Kultur dar, deren Öffentlichkeit, allem voran in der politischen agora, zwar durch das Primat der Mündlichkeit aber in immer stärkerem Maße auf die Unterstützung der Schrift orientiert war. Das kommt deutlich in Sokrates' Schlußbemerkung über Schriftstücke und ihre Verfasser zum Ausdruck:  

"Ist der Verfasser im Besitz des Wissens um die Wahrheit der Sache, versteht er nachzuhelfen, wenn er ins Verhör kommt über den Inhalt des Geschriebenen und ist fähig, selbst, indem er spricht (légon), die geschriebenen Texte als minderwertig (faula) zu erweisen, dann soll man ihn nicht mit einem Namen bezeichnen, der von diesen hergenommen ist, sondern vielmehr von dem, was er als ernste Beschäftigung getrieben hat." (Phaidr. 278c-d) Sokrates will, dass der Mensch sich nicht von den für besondere Zwecke verfaßten Schriftstücken bestimmt, sondern die Freiheit des logos über diese stellt und bewahrt. Es geht ihm also letztlich nicht um Schriftlichkeit oder Mündlichkeit, sondern um Selbst- oder Fremdbestimmung und um die Allgemeinheit und Unbestimmtheit des logos gegenüber seiner Verfestigung und Verdogmatisierung in einzelnen logoi, sowie um ihre Instrumentalisierung für Machtzwecke. Man sieht an dieser Stelle deutlich wie hoch der Rang und die Macht der Schrift in der griechischen Gesellschaft, in Kunst, Wissenschaft und Politik, war. Die Bezeichnung für denjenigen, der über Sinn und Grenzen der Schrift und mit ihr der Gefahr der Fremdbestimmung aufgeklärt ist, soll dann, so Sokrates, nicht "Weise" (sophós), sondern "Freund der Weisheit" (philósophon) lauten. Der Philosoph wird von Sokrates dem Dichter (poieten), Schriftsteller (lógon syngraphéa) und Gesetzesschreiber (nomográphon), als Repräsentanten der Schriftkultur, gegenübergestellt (Phaidr. 278e). Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, dass der Phaidros mit dem lauten Vorlesen der schriftlich verfaßten Rede von Lysias über die Liebe begonnen hatte.   

Thomas Szlezák hat überzeugend dargelegt, inwiefern Platons Schriftkritik im Sinne einer selbstkritischen Haltung gegenüber jenem Wertvolleren (timiotera) zu verstehen ist, das sich jenseits der geschriebenen und wohl auch der gesprochenen Sprache, außerhalb der Seele also befindet. Die Dialektik ist der Weg, das Ziel ist die reine Anschauung (Szlezák 1985). Auch wenn der lebendige Logos des Vaters Hilfe nicht in derselben (!) Weise bedarf wie die Schrift, steckt auch er, sofern er inkarniert ist, d.h. sofern die Seele sich nicht von den lebensweltlichen und veränderlichen Bedingungen des Diskurses losläßt und die Anschauung eines qualitativ Höheren erreicht, in einer Sackgasse (aporia) und bleibt deshalb philósophos. Das sokratische Nichtwissen drückt letztlich eine Überbietung des logos aus, ohne aber die "mühsame Fahrt" (Polit. 441 c), die auch die der Deutung des schriftlichen logos ist, auszuschließen (Capurro 1991).   

Platons Schüler Aristoteles wird eine freiere und weniger voreingenommene Haltung gegenüber der Schrift einnehmen, die in gewisser Weise die Buchkultur der Aufklärung vorwegnimmt. Aristoteles' Bibliothek, seine eigenen Schriften, die von seinen Schülern gemachten Vorlesungsnotizen und die von ihm gesammelten Bücher, war in der Antike eine heiß begehrte Ware. Neleus, Freund und Schüler des Aristoteles, wird in dessen Testament als Erbe der aristotelische Bibliothek bestimmt (Diog.Laert. V, 52-56). Neleus soll dieses Erbe an Ptolomaios II. Philadelphos - seit 283 v.Chr. Alleinherrscher Ägyptens und Sohn des Gründers der Bibliothek zu Alexandria, Ptolomaios I. Soter (geb. 367/66) -, verkauft haben. In Wahrheit machte sich Neleus mit dem Boten des Königs einen Spaß, er verkaufte ihnen nämlich, so Canfora,   

"einige Kopien von Traktaten von geringerer Bedeutung, zahlreiche Traktate des Theophrast, bei denen es sich nicht gerade um ausgesprochene philosophische Leckerbissen handelte, und vor allem Bücher, die sich "im Besitz" des Aristoteles befanden hatten. Er spielte dabei mit den Worten, in dem er bestätigte, daß er im Besitz der "Bibliothek des Aristoteles" sei - wie die Boten des Königs vermuteten -, aber eben seiner persönlichen Bibliothek, jener Bücher, die der Meister besessen hatte. Von ihnen, fügte er hinzu, sei er bereit, sich, wenn auch nur mit Schmerzen, zu trennen. In Alexandria wurde der Betrug nicht sogleich aufgeklärt, und so verzeichnete man in den Katalogen der königlichen Bibliothek: "Der Regent Ptolemaios Philadelphos erwarb von Neleus aus Skepsis die Bücher des Aristoteles und des Theophrast." (Canfora 1998: 38) Die bei Neleus gebliebenen "Bücher des Aristoteles" wurden von dessen Erben an Apellikon von Teos, der in Athen lebte, verkauft. Als Sulla im Jahre 86 Athen eroberte nahm er die Bibliothek des Apellikon als persönliche Beute nach Rom, wo, so Canfora, "unter den Reichen die Manie ausgebrochen war, sich das Haus mit Büchern zu füllen." (Canfora 1998: 65) Nach dem Tode Sullas wurde die Bibliothek von dessen größenwahnsinnigen und von Schulden geplagten Sohn Faustus verkauft, um für immer zu verschwinden.  

Die alexandrinische Bibliothek führt uns den antiken Traum von der Universalität des Wissens auf der Basis der Konzentration aller Schriftrollen an einem Ort und womöglich auch deren Übersetzung in einer Sprache, nämlich der griechischen, vor. Diese universale Sammelleidenschaft hat nichts gemeinsam mit dem vom platonischen Sokrates praktizierten aporetisch bleibenden und mündlich geführten philosophischen Dialog. Die Neuzeit wird den antiken Traum einer universalen Bibliothek überbieten, indem sie eine Technik erfindet, die eine leichtere Vervielfältigung der Schriften ermöglicht, so dass zugleich eine Vervielfältigung von Sammlungen möglich wird.   

  

II. Das Forum der Leserwelt 

Die potentielle universelle Verbreitung des gedruckten Wortes sowie seine Fixierung, die eine kontrollierte Kritik ermöglicht, entsprach den aufklärerischen Idealen einer sich universal wähnenden Vernunft. Dieses Ideal setzte sich vom Medium der Oralität ab. Mit dieser Absetzung kehrte die Neuzeit den antiken Begriff der Öffentlichkeit um. Immanuel Kant fordert in seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung? eine universale zensurfreie Vernunft im Medium der gedruckten Schriften. Und dennoch blieb Kant, in derselben Schrift, in der er das Medium Buch aufklärerisch verklärte, dem Sokratischen Leitspruch des Selbstdenkens treu und faßte ihn gleich zu Beginn mit den bekannten Worten:   "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen." (Kant, Beantwortung, AA VIII, A 481). Einige Zeilen weiter sagt er noch ausdrücklicher wie dieses "sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen" zu verstehen ist, nämlich:   "Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, eine Arzt, der für mich Diät beurteilt u.s.w." (Kant, Beantwortung, a.a.O. A 482) Man glaubt Sokrates in seiner Fortführung der Technikfolgenabschätzung von König Thamus zu hören: Das Buch als Substitut für das eigene Denken, darin liegt die Gefahr dieses Mediums. Mit dem 'eigenen Denken' oder mit dem "eigenen Verstand" ist aber nicht, wie Karl-Otto Apel uns immer wieder glauben machen will, die solipsistische neuzeitliche Subjektivität gemeint, die erst in eine kommunikative Vernunft auf der Basis der Peirceschen Semiotik transformiert werden müßte (Apel 1976). Nein, Kant denkt von Anfang an sozial, und auch, was Apel nicht aufgefallen ist, medial. Das "Apriori der Kommunikationsgemeinschaft" stellt sich demgegenüber als ein abstraktes Konstrukt dar.  

Wie kann aber Kant für das Primat des Mediums Buch plädieren, wenn er gleich zu Beginn dieses Primat in Frage stellt? Antwort: Was Kant in Frage stellt ist jenes Verhältnis zum Buch, was schon in der Sokratischen Kritik deutlich ausgesprochen und von Platon niedergeschrieben wurde (!), nämlich, die Möglichkeit dieses Mediums, sich anstelle des denkenden Subjekts zu setzen. Während aber für Sokrates, und wohl auch noch für Platon, eine veränderte Einstellung zum Buch zugleich das Primat der Mündlichkeit bedeutete, möchte Kant das Buch oder die gedruckten "Schriften" zum öffentlichen universellen zensurfreien Raum der Vernunft erheben. Nicht die Schriften sollen uns aber sagen, wie wir denken sollen, sondern wir, als selbständig Denkende, haben in diesem Medium die Möglichkeit nicht nur der Veröffentlichung, sondern zugleich auch, dank der Drucktechnik, der universellen Verbreitung unserer Gedanken. Letzteres meint zugleich die Möglichkeit, die Gedanken der anderen kritisieren zu können und die eigenen Gedanken zum Gegestand der Kritik aller werden zu lassen. Diese Möglichkeit, die eigenen Gedanken schriftlich - und gemeint ist damit: gedruckt - äußern zu können, nennt Kant den "öffentlichen Gebrauch" der Vernunft. Er schreibt:  

"Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf." (Kant, Beantwortung, a.a.O., A 485) Kant schreibt "aber" wohl wissend, dass gewöhnlich unter "öffentlichem Gebrauch" genau das Gegenteil verstanden wird, nämlich, den Gebrauch, den wir von der Vernunft machen, wenn wir von ihr bei einem "anvertrauten Posten oder Amte" machen. Mit einem Schlag kehrt Kant nicht nur die herkömmlichen Verhältnisse von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in bezug auf die Herstellung von Öffentlichkeit um, sondern auch die Vorstellung, die amtlich konditionierte Vernunft, sei es durch die Regeln eines politischen, religiösen, militärischen oder bürgerlichen Amtes, sei die eigentliche öffentliche Vernunft. Um die beschränkte Reichweite des Mediums Mündlichkeit zu betonen, stellt Kant diese, am Beispiel eines Geistlichen, gegenüber den "Schriften". Denn der Geistliche ist, sofern er als Geistlicher spricht, nicht nur konditioniert im Gebrauch seiner Vernunft durch die Vorschriften seiner Kirche, sondern auch durch die Reichweite dieses Mediums, denn seine Gemeinde ist    "immer nur eine häusliche, obzwar noch so große, Versammlung" (Kant, Beantwortung, a.a.O. A 487) Der Gelehrte dagegen,   "der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft, genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner Person zu sprechen." (Kant, Beantwortung, a.a.O. A 485) (meine Hervorhebung) Demnach sollte also jeder der ein Amt bekleidet, zugleich die Möglichkeit haben, von seiner Vernunft öffentlich zu gebrauchen. Nur diese Öffentlichkeit, die zugleich schriftlich-medial und ämter-frei ist, ist universal. Kant sagt schlicht "die Welt" und meint damit "dem eigentlichen Publikum", alle Menschen also, zu dem der Gelehrte "spricht". Für Kant war die Möglichkeit des universellen Sprechens nur im Medium der "Schriften" gegeben. Das mündliche Sprechen bleibt naturgemäß "häuslich" und somit beschränkt. Die "Schriften" sind die moderne Form des universellen Sprechens. Das Subjekt der Kantischen Aufklärung ist der "Gelehrte" im Sinne desjenigen der versucht, seine    "Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiterzuschreiten" (Kant, Beantwortung, a.a.O. A 488) Der Kantische "Gelehrte" entspricht dem sokratischen Weisheitsfreund, sofern beide die Vernunft von ihrer Unterwerfung unter gegebenen Regeln, Ämtern und Vorschriften, auch im wörtlichen Sinne von 'Vor-Schriften', frei stellen und ihr den Auftrag geben, alles selbst zu prüfen und das Ergebnis dieser Prüfung ggf. allen anderen, "der Welt", mitzuteilen.  

Kant schlägt ein duales System vor. Dieses duale System ist so konzipiert, daß der Privatgebrauch den öffentlichen Gebrauch zwar einschränken aber nicht hindern darf. Denn die bürgerlichen Systeme sind nicht autark, sondern "Glied eines ganzen gemeinen Wesens", das wiederum von der "Weltbürgergesellschaft" umfaßt wird. Diese Weltbürgergesellschaft ist das Forum, vor dem wir als Gelehrte den Mut haben sollten, uns im eigenen Namen zu äußern. Kants duales System kehrt nicht nur die Hierarchie um, so daß die Staatsräson der Welträson unterstellt wird, sondern es billigt der Staatsräson sowie auch der Glaubensräson einen eigenen autonomen Machtbereich zu, unter der Voraussetzung, daß die Möglichkeit sich öffentlich zu äußern, nicht "sonderlich" behindert wird.   

Diese Kantische Konstruktion, seine "Reform der Denkungsart", die durch keine "Revolution" zustande gebracht werden kann, da diese 'nur' den "persönlichen Despotism" abschafft, bringt nicht nur mit sich, daß die übliche Bedeutung der Ausdrücke 'privat' und 'öffentlich' umgedreht wird. Wie aber soll konkret dieses Neben- und Ineinander von öffentlichem und privatem Vernunftgebrauch funktionieren? Kants Antwort: "durch Schriften" für die "Leserwelt". Wir sollten den Mut haben, uns als Privatpersonen "frei und öffentlich" auf diese Art und Weise zu äußern und dies sollte "durch keine Amtspflicht" eingeschränkt sein.   

In der Schrift Was heißt: Sich im denken orientieren? (Kant 1923, AA VIII) betont Kant, daß die Gedankenfreiheit unlösbar mit der Freiheit "seine Gedanken öffentlich mitzutheilen" verbunden ist. Die geistige Unabhängigkeit besteht für Kant nicht darin, dass die Gedanken, "wie nächtliche Schatten" vorbei fliegen und "frei sind", so dass "kein Jäger sie erschießen" kann, wie es bei Joseph von Eichendorff heißt. Wenn die geistige Unabhängigkeit durch äußere Zwänge eingeschränkt oder sogar bedroht ist, dann sucht Kant keineswegs einen Trost im stillen Kämmerlein der eigenen Subjektivität oder hofft, dass der Geist auf wundersamer Weise vorbei fliegt, sondern er fordert die relative Unabhängigkeit eines äußeren Mediums, der "Schriften". Diese Forderung hat einen tieferen Sinn, nämlich den, dass der Ursprung der "Gedanken" nicht im isolierten Denken, sondern im Gespräch zu suchen ist. Will dieses Gespräch sich prinzipiell an jedermann richten, also universal sein, so muss es sich mitteilen lassen können, denn, was wir denken ist immer das, was wir mit anderen denken und dies läßt sich nur in einem gemeinsamen Medium vollziehen. In der Schrift Was heißt: Sich im denken orientieren? schreibt Kant wörtlich:  

"Der Freiheit zu denken ist erstlich der bürgerliche Zwang entgegengesetzt. Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen, oder zu schreiben, könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken durch sie gar nicht genommen werden. Allein, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme: das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrig bleibt, und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rat geschafft werden kann." (Kant 1923, AA VIII, A 325) Kant lehnt die idealistische Trennung zwischen Denken und Medium ab, gleich ob es sich beim letzteren um Sprechen oder Schreiben handelt. Kants Öffentlichkeit ist die wissenschaftliche Öffentlichkeit, die universale Gelehrtenrepublik. Ihr Medium sind die "Schriften". Diese können potentiell von allen gelesen und kritisiert werden, ohne daß dabei der Verstandes- bzw. Vernunftgebrauch (Kant bedient sich in der Aufklärungsschrift beider Termini ohne nennenswerte Unterschiede) amtlich eingeschränkt und dadurch 'privatisiert', d.h. von wesentlichen Stücken beraubt wird. Dieser öffentliche Raum ist ein zensurfreier Raum, in dem die dogmatischen Grundsätze der Politik und der Religion in ihrer theoretischen Gültigkeit epochal suspendiert und der öffentlichen Prüfung unterzogen werden.  

Die scheinbare Narrenfreiheit der Gelehrten ist aber gleichwohl nicht anarchisch, sondern "das ganze Publikum der Leserwelt" reguliert sich selbst. Kant appelliert deshalb nicht an den, wie er sagt, "hochmütigen Namen der Toleranz", an eine amtlich verordnete oder erlaubte Gedankenfreiheit, sondern jeder soll von sich aus lernen dürfen, sich diese Freiheit "aus der Rohigkeit" heraus zu erarbeiten (Kant, Beantwortung, a.a.O.). Andererseits droht die Paradoxie, die Kant am toleranten Verhalten seines aufgeklärten Königs beobachtet: "räsoniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; nur gehorcht!" (Kant, Beantwortung, a.a.O.). Theorie und Praxis klaffen auseinander. Demgegenüber fordert Kant nicht "einen größere Grad", sondern "einen Grad weniger" bürgerlicher Freiheit. Er bekämpft dabei die politische mit einer philosophischen Paradoxie: Wenn die Gedankenfreiheit um den Preis des politischen Gehorsams erkauft werden muß, dann ist ihm lieber jene auch in politicis zu besitzen, auch wenn dabei die "Freiheit zu handeln" nicht unmittelbar "ausgewickelt" werden kann. Nicht nur Religion, Künste und Wissenschaften, sondern auch die "Gesetzgebung" sollen also Gegenstand der freien, öffentlichen und das heißt gedruckten Ausübung der eigenen Vernunft werden. Kants Aufspaltung von Gedankenfreiheit und Handlungsfreiheit, seine "Reform der Denkungsart", zielt über den Umweg der gedruckten Schriften auf eine Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, so daß zwar nicht unmittelbar die Regierungen, wohl aber ihre Grundsätze gewandelt werden können, wodurch dann letztlich auch ein politisch freieres Handeln zustande kommen mag (Capurro 1995: 110).  

Ist dieses duale Konstrukt, Gelehrtenfreiheit auf der einen, Bürgerpflicht auf der anderen Seite, heute, im Informationszeitalter, zeitgemäß? Ich möchte einige Gedanken in Anschluß an Jürgen Habermas' Kritik von Kants Idee des Ewigen Friedens "aus dem historischen Abstand von 200 Jahren" vorausschicken (Habermas 1995; Capurro 1996), bevor ich auf die heutige Medienrevolution, auf das Cyberspace also, zu sprechen komme.  

Der Schlußsatz von Kants Aufklärungsschrift lautet:   

"Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat; so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln" (Kant 1923, a.a.O. A 493-494). Im Licht der Geschichte der letzten zweihundert Jahre kommen aber, so Habermas, drei Entwicklungen entgegen, die die Kantischen Prämissen fragwürdig und sein Konstrukt reformbedürftig erscheinen lassen. "Wenn die Natur unter dieser harten Hülle" schreibt Kant und er traut dabei im Hinblick auf den Weltfrieden drei natürlichen Tendenzen, nämlich:  
  • der republikanischen Regierungsart,
  • der Kraft des Welthandels
  • und der Funktion der politischen Öffentlichkeit.
Zum ersten: Kant konnte nicht erkennen, daß Republiken sich zu nationalistischen Staaten entwickeln würden, wo also die Menschen doch nur "als Maschinen" gebraucht wurden. Zugleich aber tendieren demokratische Staaten sich "weniger bellizistisch" zu verhalten als autoritäre Regime.   

Zum zweiten: Der freie Handelsgeist mündete in die kapitalistische Ausbeutung, in Imperialismus und Bürgerkrieg. Erst die Katastrophen des 20. Jahrhunderts führten zu einer Abschwächung der einzelstaatlichen Interessen zugunsten "einer eigentümlichen Diffusion der Macht selber".   

Zum dritten: Kant rechnete mit der Möglichkeit einer öffentlichen freien Diskussion über das Verhältnis zwischen den Verfassungsprinzipien und den "lichtscheuen" Absichten der Regierungen. Dabei rechnete er, so Habermas,   

"natürlich noch mit der Transparenz einer überschaubaren, literarisch geprägten, Argumenten zugänglichen Öffentlichkeit, die vom Publikum einer vergleichsweise kleinen Schicht gebildeter Bürger getragen wird." (Habermas 1995: 11)  Kant dachte an die Öffentlichkeit der "Gelehrten". Was er nicht voraussehen konnte, war   "den Strukturwandel dieser bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer von elektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch degenierten (sic), von Bildern und virtuellen Realitäten besetzten Öffentlichkeit." (Habermas a.a.O)  Kant konnte also nicht mit den Massenmedien rechnen. Der Cyberspace ist aber weder Kants "Leserwelt" der Gelehrten noch Habermas' transparente Gesellschaft der rational face to face Argumentierenden.   

Die Massenmedien des 20. Jahrhunderts brachten eine Universalität des Gesprochenen sowie des Visuellen in Form einer hierarchischen one-to-many Struktur, die anstatt alles an einem Ort sammeln zu wollen, von einem Ort aus ihre Botschaften an alle sandte. Die gegenwärtige elektronische Weltvernetzung stellt sich wiederum als ein Medium dar, in dem nicht nur die Universalität des Gedruckten, sondern auch die der Massenmedien abermals, jenseits der bibliothekarischen raum-zeitlichen Schranken und der hierarchischen Versandstruktur der Massenmedien, revolutioniert wird.   

  

III. Aufklärung im Cyberspace

 
Aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren können wir uns fragen, ob Kants Aufforderung, uns mutig dazu zu entschließen, den eigenen Verstand öffentlich zu gebrauchen, heute die besseren Voraussetzungen hat, nämlich im Cyberspace. Kant konnte nicht voraussehen, dass die Welt der Gelehrtenschriften sich zu einer unüberschaubaren 'Gutenberg- Galaxis' des Gedruckten entwickeln würde. Für ihn bestand das Problem des freien Mitteilungsmediums des Gedruckten darin, die Macht von Politik und Kirche in theoreticis einzuschränken. Heute hat sich die Situation teilweise umgedreht: Die Regierungen stehen vor der Frage, wie sie, angesichts der weltweiten Vernetzung, ihre relative Autonomie aufrechterhalten können. Die Spannungen zwischen individueller und kollektiver informationeller Selbstbestimmung wachsen. Wir brauchen eine Weltinformationskultur. Auch wenn die Diagnose, wir befänden uns auf dem Weg in eine Gesellschaft der Kommunikationslosigkeit überzogen erscheinen mag, ist es nicht zu übersehen, daß Herrschaft und Ausbeutung in Weltpolitik und Welthandel durch die elektronische Informationszirkulation wesentlich mitbestimmt werden. Information ist eine Ware, welche dem Prozeß von Angebot und Nachfrage untersteht. Sie ist inzwischen eine diese Prozesse wesentlich bestimmende Dimension.  

Zu Beginn der siebziger Jahre schien nämlich so, als ob der Computer als Magd des Buches, als ancilla libri, in den Dienst der Buchkultur genommen werden könnte. Man benutzte den Computer, um Instrumente für die schnelle und gezielte Suche in der Masse der industriell reproduzierten Schriften. Man wollte dadurch die Informationsflut, d.h. die Flut der industriellen Dokumentenproduktion, beherrschen, eine nautische Metapher, wie auch die des Surfens. Es war die Geburtsstunde des information retrieval, das zunächst nur auf das Suchen und Wiederfinden von Dokumentensurrogaten (Autor, Titel, Quelle, Kurzfassung) in bibliographischen Datenbasen ausgerichtet war. Diese lösten in einem ersten Schritt die Frage der Dokumenteninhalte von ihrer physischen Aufbewahrung und Zugänglichkeit in Bibliotheken und Archiven. Die nächsten Schritte vollzogen sich mit der CD-ROM-Technik Mitte der achtziger Jahre und ab Mitte der neunziger Jahre mit der Möglichkeit von dezentralen und vernetzten Massenspeichern sowie mit den World Wide Web und seinen verschiedenen Informations- und Kommunikationsdiensten, wie wir seit Mitte der neunziger Jahre mit dem Internet kennen.  

Der Cyberspace revolutioniert die herkömmliche Trennung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Das liegt nicht nur an der Multimedialität, sondern auch an seiner Fähigkeit zugleich ein Informations- und ein Kommunikationsmedium zu sein. Das 20. Jahrhundert kannte bis in die 90er Jahre nur Medien für die Individual- und die Massenkommunikation. Diese Trennung kommt deutlich in Vilém Flussers "Kommunikologie" zum Vorschein (Flusser 1996). Flusser unterscheidet zwischen "diskursiven Medien", die der Verteilung von Information dienen und im wesentlichen eine hierarchische one-to-many-Struktur besitzen, und den "dialogischen Medien", wodurch neue Information geschaffen wird. Das Fernsehen und das Telefonnetz können jeweils als Beispiele dienen, obgleich es natürlich auch vortechnische Medien wie zum Beispiel Kaffeehäuser und politische Parteien gab und noch gibt. Flusser befürchtete, dass die Massenmedien die verschiedenen dialogischen Medien unter ihrer Herrschaft nehmen würde. Er rechnete nicht mit der Möglichkeit eines technischen Mediums, das zugleich dialogische und diskursive Dispositive vereinte. Ironischerweise sind jetzt die Massenmedien, die den Verlust ihrer Monopolstellung bei der Verbreitung von Information befürchten. Denn, nach der Cyberspace-Revolution, sind die Medien, wie Manfred Faßler mit Recht betonte, und allem voran die Massenmedien, nicht mehr was sie waren und sie werden es nie mehr sein.  

Wir müssen nicht, wie noch Kant, um ein Minimum an Mitteilungsfreiheit kämpfen, sondern wir lernen mit dem Informationsüberfluß umzugehen. Denn nachdem die politischen und religiösen Vormünder durch leidvolle Erfahrungen relativiert wurden, wäre es möglich, daß der Wunsch: "Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat" (Kant) durch: 'Habe ich einen Netzanschluß, der mich mit Wissen und Gewissen versorgt' ersetzt wird.   

Die ethischen, rechtlichen und politischen Probleme des Cyberspace liegen offen zutage. Sie lassen sich am Leitfaden der Brennpunkte des Observatory on the Information Society  der UNESCO wie folgt andeuten:  

1) Globalisierung: Paradoxerweise hat die Weltvernetzung die Chancengleichheit in bezug auf den Informationszugang im Ansatz verbessert zugleich aber die Kluft zwischen Informationsarmen und -reichen vertieft. Grund dafür sind nicht nur die für diesen Zugang benötigten technischen Bedingungen, bis hin zu Stromversorgung und Telefonleitungen, sondern auch die mangelnde information literacy. Die globalisierte Ökonomie zeigt immer deutlicher die Verflechtungen zwischen Kapital, Rohstoffen und Arbeit mit der Informationszirkulation. So etwas wie eine soziale Informationswirtschaft im Weltmaßstab ist zwar wünschbar aber unter den gegebenen politischen und rechtlichen Bedingungen kaum machbar. Das liegt nicht nur am atemberaubenden Tempo mit dem sich die Informationswirtschaft entwickelt, sondern auch an den Problemen der politischen Akteure mit ihren nationalen und/oder internationalen Schranken sowie mit ihren unterschiedlichen Kulturen und Interessen, das Cyberspace juristisch zu domestizieren. Da dies nicht kurzfristig zu ändern ist, sind die moralischen Appelle an die Selbstverantwortung sowie an die freiwillige Einhaltung von Regeln und Codes an der Tagesordnung der internationalen Medienwirtschaft. Während bisher die Moral in einem demokratischen Rechtsstaat formal dem Recht unterstellt und somit auch im gewissen Sinne schwach ist, müsste sie in einer Situation, in der internationale Regeln sich nicht oder nur teilweise mit legitimierter nationalstaatlichen Gewalt durchsetzen lassen, stark sein. Als Basis für eine solche quasirechtliche Moralität im globalen Maßstab, für ein Weltinformationsethos also, haben wir die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Diese in praktische gerechte Politik umzusetzen ist bekanntlich nicht einfach. 

2) Privatheit und Vertraulichkeit: Die Kehrseite der Globalisierung ist der steigende Bedarf am Schutz unterschiedlicher informationeller Räume, die sich zwar im globalen Medium abspielen, aber nicht für alle zugänglich sein sollten. Das ist die Basis für verläßliche wirtschaftliche Handlungen aber auch für die private Nutzung dieses Mediums. Wir leben in einer Kultur die den größten Maß an universaler Distribution von Information anstrebt, zugleich aber um die größte Sicherheit bezüglich der Möglichkeit der Informationsverschlüsselung bemüht ist. Das läßt nicht nur einen offenen Raum für alle Formen der digitalen Kriminalität, sondern auch für die Möglichkeit mehr oder weniger legaler Manipulation von personenbezogenen Daten, die für Marketingzwecke ge- und mißbraucht werden können. Selbstverantwortung und Vertrauen sind zwei Tugenden, die zugleich für individuelle und soziale Akteure relevant sind. Der Mißbrauch der Vertrauensbasis bedeutet nicht weniger das Ende einer zwischenmenschlichen Beziehung wie einer Beziehung zwischen Anbieter und Kunde. Eine solche Vertrauensbasis im globalisierten Informationsverkehr herzustellen ist keine einfache politische und kulturelle Aufgabe. 

3) Inhaltsregulierung: Die Grenzen zwischen Selektion, Kontrolle und Zensur sind fließend, zumal wenn unterschiedliche moralische Maßstäbe angewandt werden. Aufgrund der Universalität des Cyberspace sind diese Fragen besonders brisant. Zentralistische politische Zensurmaßnahmen kehren den Sinn des Cyberspace um. Die Netzwerkökonomie hat die herkömmlichen Regeln und Maßstäbe in bezug auf Schutz von Eigentumsrechten fragwürdig gemacht. Der Prozeß der Hybridisierung zwischen den verschiedenen Medien und die Veränderung im Verhalten sowohl bei den Informationsanbietern als auch bei den Kunden stellt eine kulturelle und wirtschaftliche Herausforderung dar. Der Cyberspace ist ein Medium in dem sich ein kultureller Austausch mit kaum voraussehbaren Folgen vollzieht. Wir brauchen so etwas wie eine vergleichende Kulturforschung im digitalen Bereich, die mit einer kulturvergleichenden Websiteforschung beginnen und mit der Analyse des kulturellen Austauschs bis hin zu Erforschung der Formen der Austragung von sozialen lokalen und globalen Konflikten im Cyberspace führen kann. 

4) Allgemeiner Zugang: Der Cyberspace ist nicht nur ein dezentrales System zum Informationsangebot, sondern auch ein Weltkommunikationsmedium, in dem nicht nur eine one-to-one Kommunikation wie beim Telefon, oder eine one-to-many wie bei den Massenmedien, sondern auch many-to-many, many-to-one, one-to-many Strukturen möglich sind. Die Vielfalt des Informationsangebots hat dazu geführt, dass sich so etwas wie eine polyzentrische Struktur im bezug zum Beispiel auf Suchdiensten, Portalen, Newsgroups usw. gebildet hat. Unterschiedliche Akteure, wie die National Science Foundation, das W3-Consortium, die ICANN, die Internet Society (ISOC), sowie unterschiedliche UN Organisationen wirken an der Gestaltung mit. Der Cyberspace ist weitgehend durch Englisch als lingua franca beherrscht. Die Herausforderung der Erhaltung der Multikulturalität in der entstehenden Weltinformationsgesellschaft ist ein Politikum ersten Ranges, wozu auch die Frage nach dem Erhalt des kulturellen Erbes in digitaler Form gehört. Schließlich sei auch das Problem der Nachhaltigkeit des elektronischen Mediums selbst hingewiesen. 

Diese Fragen sollten nicht nur informationspolitisch, sondern auch informationsethisch behandelt werden. Wir brauchen dringend die Etablierung der Informationsethik – die im weiteren Sinne auch die Computerethik und die Ethik der Massenmedien umfaßt – im Curriculum der verschiedenen Informationsberufen. Ein internationales Forum für diese Fragen bietet das seit 1999 bestehende International Center for Information Ethics (ICIE). 
 
 

Rückblick und Ausblick

Schriftrolle und Bildschirm berühren sich am Anfang und Ende der Buchkultur. Mit dem Cyberspace scheint sich alles abermals umzukehren oder zu re-volutionieren. Im Gewand der Cyber-Schrift leben wir in einer Zeit flüchtiger Botschaften, die den Doppelcharakter von Schriftlichkeit und Oralität besitzen. Wir leben, mit andern Worten, in einer Botschaftskultur. Das Botschaftsphänomen sollte Gegenstand einer Wissenschaft werden, für die ich den Namen Angeletik (Griechisch: angelía = Botschaft) vorgeschlagen habe (Capurro 2000). 

Vollendet oder übertrifft der Cyberspace die Ideale der Aufklärung? Im Jahre 1935 hielt der spanische Philosoph José Ortega y Gasset eine Rede mit dem Titel "Die Aufgabe des Bibliothekars" im Rahmen des Internationalen Bibliothekskongresses. Dort thematisiert Ortega die Entstehung und Wandlung des Bibliothekarberufes aufgrund unterschiedlicher sozialer Bedürfnisse. Ortega setzt den ersten Bruch innerhalb der Schriftkultur zu Beginn der Renaissance, kurz vor dem Erscheinen des gedruckten Buches. Es ist dann, dass das Buch an die Öffentlichkeit dringt, so dass es als eine soziale Notwendigkeit empfunden wird und der Beruf sich zu wandeln beginnt. Welche soziale Veränderung hat stattgefunden? Warum wurde das Buch zu einem sozialen Bedürfnis? Für Ortega hängt diese Revolution mit der Entstehung der modernen Subjektivität zusammen. Der neuzeitliche Mensch, der mit seiner eigenen Vernunft denkt und schreibt, steht im Vordergrund. Es ist die Zeit, in der Bibliothekare auf Bücherjagd gehen, oder, vielleicht sollten wir sagen, wieder einmal auf Bücherjagd gehen, wenn wir die Renaissance-Bibliothekare mit ihren antiken Kollegen der alexandrinischen Bibliothek in Berührung bringen. Es ist auch nicht von ungefähr, so Ortega, dass ausgerechnet in dieser Zeit, wo der soziale Bedarf nach Büchern steigt, auch der Buchdruck erfunden wird. Dreihundert Jahre später verändert sich der soziale Bedarf abermals. Nicht die Suche nach Büchern, sondern die Leseförderung steht im Vordergrund. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Bibliothekarberuf zu einer staatlichen und nicht nur sozialen Notwendigkeit. Er verliert den Charakter eines sozialen Brauchtums oder eines Hobbys. Mit dem Buch als sozial-politische Notwendigkeit entsteht zugleich die Demokratie. Ortega schreibt: 

"Die demokratische Gesellschaft ist ein Kind des Buches, sie ist der Sieg des von einem Schriftsteller geschriebenen Buches über das von Gott geoffenbarte Buch und über das von einem Alleinherrscher diktierte Gesetzesbuch." (Ortega 1962: 66, meine Übersetzung)
Das Buch wird sozusagen zum Substitut Gottes. Die Gesellschaft kann ohne Wissenschaft und Technik nicht existieren und auch nicht ohne einen dauerhaften Ideenfluß, der die neuen demokratischen Ideale unter das Volk bringt. Was aber so friedlich anfing, gerät, so Ortega, in einem dramatischen Prozeß. Es kommt nämlich ein Punkt, 
"wo man in Europa den Eindruck hat, dass es zu viele Bücher gibt, umgekehrt wie in der Renaissance. Das Buch wird nicht mehr wie eine illusorische Hoffnung, sondern wie eine Last empfunden. Der Wissenschaftler selbst merkt, dass eine der großen Schwierigkeiten seiner Arbeit darin besteht, sich in der Bibliographie seines Themas zu orientieren." (Ortega 1962: 73, meine Übersetzung)
Bücher sind dann keine bloßen Dinge mehr, sondern sie gehören zu den Lebensnotwendigkeiten. Im letzen Abschnitt von Ortegas Rede, "Das Buch als Konflikt", weist er auf drei problematische Entwicklungen hin, nämlich: 
1) Es gibt zu viele Bücher, 
2) es werden zu viele Bücher gedruckt, die entweder nutzlos oder gar schädlich sind, und 
3) der Leser braucht eine Hilfe, um sich in dieser selva selvaggia in diesem Urwald der Bücher also zu orientieren. 
Die erste Bemerkung führt zu der Entstehung von Bibliographien im 19. Jahrhundert und fünfundzwanzig Jahre nach Ortegas Rede, zu den ersten computerisierten bibliographischen Datenbasen. Es ist auch kein Zufall, dass ausgerechnet in einer solchen Notsituation, der Computer und das information retrieval erfunden werden. Die Parallele zum 15. Jahrhundert ist evident. Die zweite Bemerkung darf nicht im Sinne einer verordneten staatlichen Zensur verstanden werden, sondern es geht um qualitative Selektion. Die dritte Bemerkung richtet sich auf die aufkommenden Aufgaben der öffentlich zugänglichen Bibliotheken. In einem nicht vorgetragenen Exkurs mit dem Titel "Was ist ein Buch?" weist Ortega auf die platonische Schriftkritik, d.h. auf die Notwendigkeit, das schriftlich Fixierte in einem lebendigen Zusammenhang mit der jeweiligen historischen oder "vitalen Situation" zu bringen, hin. Nur derjenige liest richtig, der zuvor für sich selbst über das Thema nachdenkt. 

Es ist wiederum kein Zufall, dass in dieser Situation, als die Überfülle des Schriftlichen das Bedürfnis nach dem lebendigen Dialog wachruft, erneut eine Technik weiterentwickelt wurde, die Mündlichkeit und Schriftlichkeit miteinander verbindet. Der Cyberspace fing wie eine Spielerei an, und ist inzwischen zu einer sozialen und globalen Notwendigkeit geworden. Der Beruf des Bibliothekars verändert sich abermals in dramatischer Weise. Es entstehen eine Vielfalt von neuen Informationsberufen. Die Institutionen der Wissensvermittlung, Schulen, Hochschulen und Universitäten, verändern ihre Strukturen, die weitgehend auf der Basis der mündlichen Vorlesung und des gedruckten Buches aufgebaut waren. Dabei ist aber zu beachten, dass so wenig wie das Buch das Gespräch face to face ersetzte, sondern ganz im Gegenteil, den qualitativen Unterschied zwischen den verschiedenen Medien von Anfang an, wie am Beispiel Platons ersichtlich, thematisierte, so auch die sogenannten neuen Medien. Der soziale Bedarf an Kommunikation und Information im lokalen und globalen Maßstab im elektronischen Medium ist der Mittelpunkt um den sich die Cyberkultur des 21. Jahrhunderts aufbaut. 
  
 

 
    
  

Literatur

Apel, K.-O. (1976): Transformation der Philosophie. Frankfurt a.M. 2 Bde.  

Augustinus (1989): Bekenntnisse. Stuttgart.  

Blanck, H. (1992): Das Buch in der Antike. München.  

Canfora, L. (1998): Die verschwundene Bibliothek. Das Wissen der Welt und der Brand von Alexandria. Hamburg.  

Capurro, R. (2000): Hermeneutik im Vorblick. Einführung in die Angeletik   
- (1996): Informationsethik nach Kant und Habermas. In: A. Schramm, Hrsg.: Philosophie in Österreich 1996. Wien, S. 307-310.  
-: (1995): Leben im Informationszeitalter. Berlin.  
- (1991): Techne und Ethik. Platons techno-theo-logische Begründung der Ethik im Dialog "Charmides" und die aristotelische Kritik. In: Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie, 20 (1991) S. 2-20.   

Chartier, R., Cavallo, G. Hrsg. (1999): Die Welt des Lesens. Vor der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt a.M.   

Diogenes Laertius (1967): Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Hamburg.  

Faßler, M. (2000): Mediale Zukünfte. Auf der Schwelle zu einer neuen Epoche. In: medien praktisch 1/2000, S. 8-12.  

Flusser, V. (1996): Kommunikologie. Darmstadt, Schriften Bd. 4.  

Habermas, J. (1995): Kants Idee des Ewigen Friedens. Aus dem historischen Abstand von 200 Jahren. In: Information Philosophie 5, Dezember, S. 5-19.  

ICIE (International Center for Information Ethics) 

Kant, I. (AA): Gesammelte Schriften. Hrsg. Preuss. Akademie der Wissenschaften (AA), Berlin 1910 ff.  

Manguel, A. (1998): Eine Geschichte des Lesens. Berlin.  

Ortega y Gasset, J. (1978): Die Aufgabe des Bibliothekars. In: ders.: Gesammelte Werke Bd. VIII, Stuttgart, S. 568-601. (Spanische Ausgabe: Misión del bibliotecario. Revista de Occidente, Madrid 1962).  

Plutarch (1994): Fünf Doppelbiographien. Zürich.  

Szlezák, Th. A. (1985): Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin/New York.  

UNESCO: Observatory on the Information Society  
  

  
Danksagung: Ich danke Bernhard Debatin (Leipzig) für inhaltliche Anregungen und Änderungsvorschläge. 

   

Letzte Änderung: 13. Februar 2002
   
 
 
    

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