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Vorwort

Die vorliegende Arbeit reicht in ihren Wurzeln in die frühen Siebzigerjahre zurück. Entstanden ist diese grenzgängerische Arbeit zwischen Philosophie, Literaturwissenschaft und Ästhetik aus einer damals bereits langjährigen Faszination durch Brecht. Es gab da eine intensive Beschäftigung mit seinem Werk (gemeinsame Lesungen, Einstudieren von Brecht-Liedern) in einem Freundeskreis, in welchem Brecht eine, wenn nicht die literarische und theoretische Vatergestalt darstellte. Durch unzählige Gespräche leistete besonders mein Freund und Studienkollege Robert Schindel, Schriftsteller in Wien, für dieses Buch direkte Geburtshelferdienste; ich möchte ihm hier danken.

Erst nach dem Studium der Malerei aus Bedürfnis nach mehr Theorie zur Philosophie gestoßen, ging es mir damals darum, am Beispiel Brechts die Notwendigkeit von Philosophie für die heutige künstlerische Produktion nachzuweisen. Ich versuchte, einige im Werk Brechts sich durchhaltende Kategorien systematisch zu fassen. Von da her nannte ich die erste Version dieser Arbeit "Einverständnis und Produktivität, Studien zur Philosophie Bertolt Brechts." Der Terminus Verfremdung galt damals und gilt weiterhin in der Brechtforschung als der zentrale Begriff von Brechts Theatertheorie, der weitgehend technisch-praktisch, operational (V-Effekt) verstanden und interpretiert wird. Ich ließ ihn damals im Titel aus, um mich von Beschreibungen bloß der Theatertheorie Brechts abzugrenzen.

Inzwischen halte ich ihn für unerläßlich für einen Systematisierungsversuch von Brechts philosophischer Theorie, die in Einheit mit und nicht im Gegensatz zur Theatertheorie gefaßt werden muß. Zugleich erscheint mir der bescheidenere Untertitel "Versuche" in seiner Anlehnung an Brecht passender, um so mehr als ich hier tatsächlich den Versuch einer prinzipiellen Neubestimmung von Brechts Rolle als Philosoph unternehme.

Dieser Versuch, Brecht nicht in erster Linie als Stückeschreiber, der auch philosophiert, sondern als Philosophen, der zum Zwecke seiner Philosophie Stücke schreibt, vorzustellen, war in der Dissertation von 1973 bereits angelegt, aber durch eine Unsicherheit, mein Zurückweichen vor den anerkannten Positionen der Brechtforschung, nicht deutlich genug artikuliert worden. Auch ein zweites Zurückweichen soll erwähnt werden. Schon damals war mir vage die Möglichkeit eines engen, womöglich weitgehenden Zusammenhangs zwischen Brecht und Nietzsche aufgegangen, doch zweifelte ich an der Möglichkeit, sogenannte stichhaltige Nachweise dafür erbringen zu können.

Bald nach Abschluß meiner Dissertation annoncierte der Suhrkamp-Verlag die Veröffentlichung des schließlich erst 1979 erschienenen Bandes "Brecht und Nietzsche" von Reinhold Grimm und ich machte mich, dadurch bestätigt, weiter auf die Suche, nicht nur nach Belegstellen in Brechts Werk, die seine Auseinandersetzung mit Nietzsches Werk dokumentieren, sondern nach inhaltlichen Übereinstimmungen.

Aus dieser Beschäftigung kam ich schließlich zur Grundthese, auf der die Arbeit nun aufbaut: Nur durch die Darstellung Brechts als Philosoph eines neuen Typs, den ich im weiteren näher bezeichnen werde, erscheint es mir möglich, die Intentionen von Brechts Arbeit umfassend und in ihrer Widersprüchlichkeit in den Blick zu bekommen und ihr vielleicht gerecht zu werden. Fixiert auf die Literatur, vom Blick nur auf den Stückeschreiber und Dichter her, sind nach den Bemühungen um die Sichtung der Nachlaßmassen keine wesentlichen umwälzenden Neuerungen im Brechtbild mehr zu erwarten.

Es ist in der Brechtforschung Mode, fast jede neue Veröffentlichung mit dem Anspruch zu verbinden, daß hier eine Lücke geschlossen werde, gewissermaßen a priori einen Bedarf zu postulieren, der durchs jeweilige Buch endlich gedeckt werde. Ich nehme diese Arbeit davon aus. Ich verspreche auch nicht, wesentlich Neues zum Stand der Brechtforschung beizutragen, wenn darunter das Ausgraben unbekannten Materials aus dem Brechtarchiv oder aus biographischen Quellen verstanden wird. Ich verweise lieber mit Dankbarkeit auf die Anregungen, die ich für meine Arbeit den jüngsten literaturwissenschaftlichen Arbeiten der Brechtforschung entnehmen konnte. Neben dem schon erwähnten Sammelband von Reinhold Grimm sind hier die "Brecht Handbücher: Theater und Lyrik, Prosa, Schriften" von Jan Knopf zu erwähnen, sowie der "Brecht Kommentar zur erzählenden Prosa" von Klaus-Detlef Müller. Auf andere Veröffentlichungen seit 1973, die für meine Arbeit wichtig wurden, werde ich im Verlauf der Arbeit näher eingehen. Die oben genannten Bücher stehen für einen neuen Standard in der Brechtforschung, weil hier jeweils mit ebensoviel Klugheit wie Fleiß Material zusammengetragen wurde, dessen gesammeltes Vorliegen nicht allein Arbeit spart, sondern auch vielen Spekulationen, wie sie in der frühen Brechtforschung gang und gäbe waren, den Boden entzieht.

Allerdings soll auch gleich eingangs einer philosophischen Arbeit über Brecht für die Spekulation ein gutes Wort eingelegt werden. In Zeiten eines faktenwütigen Positivismus auch und grade auch von Seiten von Forschern, die sich einem wie immer ausdifferenzierten historischem Materialismus verpflichtet erklären, wird vieles zur "bloßen Spekulation" erklärt, was auf dem Weg des Zusammenzählens von 1 und 1 erschlossen wurde, nur weil keine Briefstelle oder kein Notizzettel den Befund erhärtet.

Wenn ich dennoch die Publikation dieser Arbeit nicht für überflüssig halte (abgesehen davon, daß sie die Liste meiner Veröffentlichungen verlängert), so einmal, weil der (neue) Ausgangspunkt, Brecht als Philosophen zu behandeln, sich vielleicht auch jenseits der Brechtforschung fruchtbar auswirken könnte, zum anderen, um dem Geschwätz von einer "Brechtmüdigkeit", dem interessierten Verbreiten der Losung "Brecht ist tot" entgegenzutreten. Hinter diesen Losungen steht das Interesse jener (und ihrer Nachfahren), die in den Fünfzigerjahren im Westen Brechtboykotte organisierten und ihn schon zu Lebzeiten totschweigen wollten, stehen im Osten diejenigen, die Brecht damals als Formalisten kritisierten und das "Erbe der bürgerlichen Kultur" einfuhren und denen heute Brecht zu marxistisch ist. Laßt die Toten ihre Toten begraben. An Brecht gibt es immer noch mehr zu entdecken als zu begraben.

 

Klagenfurt, Februar 1982

 

 

P.S. nach 16 Jahren

 

 

Ach wär’ das schön, auf das rege Publikumsinteresse sich ausreden zu können, um zu begründen, warum nach 16 Jahren das nahezu gleiche Buch noch einmal den Sprung in die Öffentlichkeit wagt; noch dazu nach solchen Jahren, in deren Mitte — 1989/90 — die Geschichte, wie Hegel 200 Jahre zuvor aus ähnlichem Anlaß das nannte, einen Ruck gemacht hat — und wir dabei gewesen sind.

Leider hat das Buch nicht so viele Leser gefunden, wie der Autor sich erhoffte — es erschien in nur geringer Auflage in der Schriftenreihe des Klagenfurter Instituts für Philosophie—, und innerhalb der Brechtforschung blies ihm der Wind ideologischer Koexistenz zwischen Frankfurt am Main und Berlin/Ost im Interesse der neuen Großen Frankfurter und Berliner Gesamtausgabe entgegen.

Allein schon Brecht und Nietzsche in einem Atem zu nennen, löste "drüben" Irritationen aus, mehr noch die These von Nietzsche als lebenslangem Lehrer Brechts sowie seine Präsentation als marxistischer Häretiker mit, wenn man will, opportunistischen Stillhaltereflexen nach 1945.

Und "hüben" ist Brecht nach der 68er Hausse in eine Baisse gerutscht, das war 1982 schon deutlich spürbar und auch ein marxistischer Häretiker noch war ein Marxist zuviel...

Nur wenige Leser waren bereit, mein Buch wenigstens mißzuverstehen...

Der Untergang des Kommunismus als staatlichem System in mehr oder weniger samtenen Revolutionen im strategischen Puffergebiet Ostmitteleuropas und wenig später im "Vaterland aller Werktätigen" Sowjetunion selber als Folge von Gorbatschows Glasnost und Perestroika hat auf paradoxe Weise die urmarxistische These vom Absterben des Staates durchgespielt, wenigstens ein paar Wochen lang; — das macht nicht nur etliche Auseinandersetzungen gegen die Vereinnahmung Brechts durch die DDR und ihre Ideologen in diesem Buch im Wortsinne gegenstandslos —, ein paar Polemiken hab ich den Lesern durch Streichung erspart, ein paar sind so in den Argumentationsgang verwoben, daß ich sie nostalgisch stehen gelassen hab’, sondern verlangte auch oder gerade in bezug auf Brecht neue Fragestellungen:

Was ist jetzt falsch von dem, was wir gesagt haben, einiges oder alles?
...

Sind wir Übriggebliebene, herausgeschleudert
aus dem lebendigen Fluß? Werden wir zurückbleiben,
keinen mehr verstehend und von keinem verstanden?
Müssen wir Glück haben?... (9/678 z.B.)

aber z. B. auch die Frage nach den Beschädigungen der poetischen Substanz durch die Selbstverpflichtung zum politischen "Engagement".

...die Antworten habe ich jetzt nicht alle nachgeliefert.

Ich habe das Buch im großen und ganzen als Dokument behandelt, dh. im Kern und in seiner Argumentation so gelassen wie es war, auch dort nur jener nötigen Lektorierung unterzogen, deren Fehlen den Rezensenten der Erstauflage ärgerlich aufgefallen war, wo sich meine eigenen Überzeugungen weiterentwickelt haben.

Einerseits war es das neue Medium Internet, das mich zu diesem neuerlichen Kommunikationsversuch mit Lesern reizt, dann kam unerwarteter später Zuspruch von jenseits des großen Teichs, und bei erneuter Durchsicht die Einsicht, daß zumindest die didaktische Absicht, das Näherbringen eines weithin unbekannten Brecht in wie manche meinten, viel zu vielen Zitaten, "hält", und schließlich ist ein hundertster Geburtstag ein Anlaß, seinen Kotau zu verrichten:

Servus, Lakalles,
Wir sind quitt, alter Bock.
Raus aus dem Beinhaus!
Einen heben!
Ruhm ist nicht alles
Man muß auch leben! (4/1453)

 

 

Klagenfurt, im Februar 1998

 

Zur Einleitung

Kritiken, Anregungen, Fragen an
Christof Šubik, Universität Klagenfurt