Frank Hartmann: Online-Texte

 

 Netzkultur, Kulturkritik und
die 'elektronische Herausforderung'
 

Vortrag vom 18. März 1999
4th Internationale Conference on Networking
Entities - The Organisational Impact of Telematics

Danube University, Krems, and
Eata - European Association for Telematic Application


1. PROZESSOREN

Der Computer als zentrales Medium ist aus unserer Kultur kaum mehr wegzudenken. Aus dem enigmatischen numberchruncher wurde zunächst ein freundlicher wordprocessor, der uns als personalisierte Maschine die Angst vor dem übermächtigen Elektronengehirn genommen hat. Dann vollzog sich seine heimliche Transformation vom Werkzeug der Datenverarbeitung hin zum Medium - zum Medium kommunikativen Austausches und der Vernetzung von Informationsressourcen. In der nahen Zukunft wird der Computer in der Form und mit der technischen Struktur, die wir heute gewohnt sind, wohl verschwinden: Mikrologisierung, erweiterte Speicher und neu entwickelte Interfaces ermöglichen ein ubiquitous computing, und während die Hardware sich fragmentiert, wird Software in die Gegenstände der Alltagskultur integriert: schon arbeitet die Cashcard mit Java, der Kochtopf bald mit Jini, und Manager freuen sich auf die nächste Generation von Smartphones.

Man kann wohl sagen, der Computer beeinflusse die Kultur, aber genausogut argumentieren, daß die Kultur den Computer beeinflußt. Wir sind gewohnt, in Kausalitäten zu denken, doch man kommt so nicht weiter, wenn Technik einerseits, Kultur andererseits als Entitäten gefaßt werden. Der Computer ist nicht nur zentrales Medium unserer Kultur, der Computer im Zustand der fortgeschrittenen Vernetzung ist Kultur. Das widerspricht der unreflektierten Deutung, die den Fortschritt an der technologischen Entwicklung mißt und ihn überhaupt kausal auf Technik bezieht. Für sie ist Technik ein leeres Gefäß, das man dann mit Inhalten aus Kunst und Kultur füllt. Es wäre aber ein Fehler, den Zusammenhang zwischen Kultur und Technik als eine Einbahnstraße zu denken. Diesen Fehler macht die konservative Kulturkritik, wenn sie aus der Angst vor Veränderungen - die immer auch symbolischen wie realen Machtverlust bedeuten - technikfeindlich argumentiert. Aus der Enttäuschung darüber, daß der Fortschritt nicht dem reinen Geist entspringt, sondern der Ingenieurskunst und der technischen Massenproduktion, werden sie zu Maschinenstürmern auf gehobenem Niveau - ein gutes Beispiel ergeben hier die hysterischen Texte von Paul Virilio, dem die Teletechnologien mit ihren netzartigen Strukturen und der Telepräsenz eine "Tyrranei der Information" bedeuten. [1] Welche Dramatik der Begrifflichkeit, die vom Feuilleton hier begierig aufgesogen wird! Eine Kritik der pathetischen Termini, mit denen die neuen Medienkulturfunktionäre so gern hausieren gehen, steht dringend an: Revolution, Krieg, Geschwindigkeit. Die platte Rhetorik der Digerati, die hier von einer "digitalen Revolution" schwatzen und überall ominöse "Herausforderungen" sehen, dient eher der emphatischen Überhöhung der eigenen Rolle, als daß sie zum Verständnis der neuen Phänomene etwas hergeben würde. Sozialpsychologisch gesehen handelt es sich bei dieser Ideologie um eine Identifikation mit dem Aggressor, mit der bestimmte Grundannahmen einer Mittelklasse-Lebens- und Arbeitskultur blind reproduziert, und weiters Top-down-Modelle der sozialen Organisation undifferenziert generalisiert werden.[2]

2. REZEPTOREN

Die menschlichen Kulturtechniken sind erfahrungsgemäß nicht konstant, sie verändern sich relativ zum sozialgeschichtlichen Kontext, der solche Veränderungen stimuliert. Die neuen Medien auf der Grundlage digitaler Codierung ändern die menschliche Auffassung von Wirklichkeit ebenso, wie sie neue symbolische Räume erschließen. Das aber ist keine Revolution, sondern, in der Diktion des letzten großen, nämlich des französischen Revolutionszeitalters, eher eine "Reform der Denkungsart" (Kant), die ihren Ausgangspunkt ebenso bei der subkulturellen Avantgarde hat wie bei der High Technology. Grundlage für diese Reform war die Durchsetzung des kybernetischen Paradigmas in den letzten fünf Jahrzehnten.

Die kulturpessimistisch eingestellten Intellektuellen machen uns glauben, daß wir hierfür den hohen Preis eines Verlustes der Buchkultur zahlen. Ihre Kritik funktioniert aber nur unter der Annahme einer Logik des Zerfalls. Lassen Sie mich nochmal den Bezug zu einem populären Beispiel herstellen: dem von Virilio strapazierten Konzept der Geschwindigkeit. Ein sehr signifikantes Beispiel, denn es ist eine fast schon überflüssige Bemerkung, daß sich die elektronische Kommunikation tatsächlich als lebensweltliche Beschleunigung bemerkbar macht. Bei genauerer Analyse jedoch wird man bemerken, daß die Kritik der Geschwindigkeit nur dem Ideal der Buchkultur verpflichtet ist, und auch die Angst vor der sogenannten Informationsflut auf eine eher niedrige, individuell noch verkraftbare Zirkulationsgeschwindigkeit von Texten baut. Die Kultur des gedruckten Buches erzeugte eine unnatürliche Linearität im Kommunikationsfluß durch die künstliche Ausdehnung der Feedback-Schleife, die jedem Kommunikationsakt innewohnt.[3] Die neuen Medien bergen eine eigene kommunikative Wahrheit, weil sie diese Dehnung negieren und 'instantane' Kommunikationen privilegieren. Davon hatte bereits McLuhan gesprochen, und wenn man den Begriff der Beschleunigung in diesem Rahmen betrachtet, verliert er viel von seiner Magie.

3. COMMUNITAS

Ich erlaube mir nun etwas soziologische Differenzierung. Die Zukunft der Kommunikation ist nicht vorherzusehen, das 'Technoimaginäre' (Flusser) hat noch keine scharfen Konturen.[4] Bestimmten im neunzehnten Jahrhundert materieller Warenverkehr und Energie die Ökonomie, so sind es jetzt zunehmend Information und Wissen. Ein wesentliches Kapital der neuen Netzkultur ist ihre dezentralisierte Organisationsstruktur, mit der sich eine rationalere Verfügbarkeit der gesellschaftlichen Ressourcen abzeichnet. Aber nicht die Kommunikation, sondern die Kultur als ganze ist einer Veränderung unterworfen, was an zwei neuralgischen Punkten besonders hervortritt:

  • hinsichtlich der Veränderung der Reproduktion am Ende der industriell geprägten Gesellschaft, wie es die soziologische und philosophische Diagnose der Postmoderne in den letzten beiden Jahrzehnten verdeutlicht hat;
  • hinsichtlich der Veränderung der gesellschaftlichen Wissensbasis als solcher, und zwar in einem qualitativen Sinn - sie begann mit einer sich stetig erhöhenden Zirkulationsgeschwindigkeit von Texten und endet vorläufig mit neuen Formen der Informationsgewinnung und einer Aufwertung nicht alphabetisch codierter, technoimaginärer Kommunikationsformen.

Gegenüber dem Wissen der Buchkultur, die ihre Informationen in enzyklopädischer Form speichert und überliefert, funktioniert das neue Wissen auf einer Meta-Ebene: als offenes Wissenssystem von Informationen über Informationen. Möglicherweise werden die Kulturformen der Moderne sich einmal als Auseinandersetzung mit und Abarbeitung an der Semiotik der Buchkultur darstellen: dem Versuch, zwischen den kulturellen Produken (Sprache, Schrift, Bild) und den Akteuren (Autoren, Werke, Rezipienten) neue Konstellationen herzustellen. Die gegenwärtige Redefinition von Massenkultur bedeutet definitiv nicht mehr nur die Krise, sondern den Untergang des bürgerlichen Modells kultureller Vermittlung. Die Agenten der sekundären Sozialisation sind für die postmoderne Generaration nicht mehr Eltern und Lehrer, sondern Peergroups und die Idole der Kulturindustrie, das verbindende Element ist keine transzendentale Subjektivität mehr, sondern eine vielschichtige kommunikative Kompetenz.

Von daher rührt auch die Unversöhnlichkeit einer Kulturkritik, die dies nicht so recht wahrhaben will. Für sie gilt, daß Elite an Masse vermittelt - diese beugt sich aber nicht mehr blind der Vermittlung, sondern wendet die eigentliche Logik des Mediums an, die in der Replik liegt. Nichts anderes bedeutet Netzkultur, mit der neuartige Diskursverflechtungen die verbindlichen Codes des kulturellen Mainstreams durchbrechen. Der Cyberspace wird als Testfeld sozialer Innovationen entdeckt, in dem die Erfindung von Kultur mittels Sampling, Repetition oder Rekombination ständig von Neuem stattfindet. Pessimisten und Verteidiger der Eindimensionalität läßt das vom Niedergang der Kultur sprechen; zumindest auf dem Weg der Diagnose kann man ihnen da durchaus ein Stück weit folgen: Das vermutete Ende der großen Erzählung erfüllt sich mit den Datenbanken des Informationszeitalters, deren kumulative Speicher die der Narration ersetzen und damit wohl auch eine neue Einbildungskraft des Technoimagionären generieren.

Über die kulturphilosophischen Implikationen läßt sich bloß spekulieren. Ging es der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts noch um Herstellung von Publizität als solcher, so ist unser Problem in einer Zeit, da praktisch alles öffentlich gemacht wird, eher schon die Perversion dieses Konzepts - als das 'Matt Drudge Prinzip'. Überlegen wir, was die Aufklärer sich damals versprochen hatten: die Durchsetzung von Wahrheit in der Vielheit ihrer Stimmen. Die Kriterien von heute sind viel unklarer, weil weder im politischen noch im wirtschaftlichen Sinn gesagt werden kann, ob die Rechnung einer 'Informationsgesellschaft' tatsächlich aufgeht (außer für die, die an der Infrastruktur verdienen). Es geht nicht um das Für und Wider der Technologie. Hier kommt es auch darauf an, ob die makrosoziologischen Veränderungen sich in den kleinen Utopien des Alltags einlösen lassen.

4. COLLABORATIVE TEXTFILTERING

In jeder Diskussion um die neuen Medien entbrennt zuverlässig der Streit, ob sie denn nun das Buch endgültig ablösen werden oder nicht. So hat etwa Robert Darnton, Spezialist für Publizistik im vorrevolutionären Frankreich, gerade wieder einmal das "New Age of the Book" ausgerufen.[5] Die Prognose vom Ende des Buches geht auf McLuhan zurück, der in den sechziger Jahren voll Enthusiasmus für ein Zeitalter "nach Gutenberg" das Fernsehen als Indiz für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der menschlichen Kommunikation interpretiert hatte. McLuhan hatte recht und unrecht zugleich: die Bücher sind nicht verschwunden, allerdings spielen sie im Bereich der gesellschaftlichen Reproduktion von Wissen nicht mehr die zentrale Rolle, und mehr und mehr zeigen sich auch die Grenzen des Datenspeichers Papier. Hatte man schon McLuhan gern den performativen Widerspruch vorgeworfen, ein Buch über das Ende des Buches zu schreiben, so scheint es nur auf den ersten Blick absurd, wenn die neuen Kommunikationsverhältnisse jenseits von Gutenberg sich in Form von Büchern manifestieren. Auch der vernetzte Diskurs greift gern auf das bewährte Druckformat zurück, wenn es der Anlaß gebietet: nach hektographierten Textsammlungen und Proceedings im unhandlichen Zeitungsformat sind gewichtige Texte von Nettime jetzt erstmals in Buchform erschienen.[6]

Wer oder was ist Nettime? Auf den ersten Blick eine von vielen Mailinglisten, auf denen die Erfahrung der ersten Netzgeneration ästhetisch verarbeitet und theoretisch reflektiert wird. Auch der zweite Blick in einzelne Texte hinein dringt noch längst nicht unter die Oberfläche, läßt aber erkennen, daß es sich bei diesem Projekt nicht einfach nur um ein Selbstverständigungsunternehmen einiger Künstler und Theoretiker geht. Als Geert Lovink und Pit Schultz vor Jahren diesen netzkritischen Diskurs initiierten, nannten sie ihr Unternehmen "collaborative textfiltering" - eine Auseinandersetzung mit neuen Formen des Lesens und Schreibens, mit der Ästhetik des Netzes, mit Politik und Ökonomie der Medien, und nicht zuletzt auch eine europäisch dominierte Intervention gegen den neoliberalistischen Herrschaftsdiskurs der kalifornischen Digerati. Jetzt liegt also eine kultverdächtige Schwarte vor, deren im Titel enthaltener Imperativ nicht ernstgenommen werden will - der jede Software begleitende Paratext "README!", den mit Sicherheit kein Anwender je liest, ist eine ganz gute Metapher für die Haltung, die hier bewußt provoziert wird. Natürlich wird Nettime gelesen, aber eben nicht wie ein Buch. Angesichts der über hundert Beiträge heißt es zunächst einmal, die dem Inhaltsverzeihnis des Readers beigefügte Maxime "Stop reading / Start browsing" ernst zu nehmen. Das Buch ist zu seinem eigenen Paratext geworden, da das eigentliche Feld der Textproduktion ins Netz abgewandert ist.

Der Punkt aber ist, daß alle diese Texte verschiedenster Provenienz da sind, um sich in einer vielschichtigen Präsenz des Netzdiskurses zu behaupten. Im Sprung vom Bildschirm zurück zum Papier hat die Taste [ENTF] ihre Funktion verloren. Aktivisten werden mit Künstlern konfrontiert, Theoretiker mit Technikern, Akademiker mit Autodidakten, Meisterdenker mit Feministinnen. Der Reiz von Nettime besteht in dieser manchmal ermüdenden Konfrontation jenseits der gestylten, stromlinienförmigen Inhalte, die andernorts gern als "Content" verkauft werden. Daß die Frage nach dem "Content" ohne diejenige nach der "Community", die ihn konsumiert, schwer zu stellen ist, diesen Beweis tritt Nettime vorläufig an. Die neue Mediengeneration generiert Bedeutung nicht ausschließlich über den klar kommunizierten Inhalt, sondern auch über den diffusen Kontext. Wenn Netzkultur mehr bedeutet als die technologische Infrastruktur, und das ewige Hickhack um Software und Hardware, Betriebssysteme und Programme, was liegt dann näher, als diese erweiterte Medienumgebung auf "properties and potentials" abzuklopfen. Im Zeitalter der allgemeinen Diskursbeschleunigung [Virilio-Viruswarnung!] wirkt das manchmal freilich wie Sand im Getriebe. Genau das aber macht den Reiz und den Erfolg von Nettime aus, im Gegensatz zu einer Vielzahl von anderen Listen, die von thematischer Eingrenzung leben und von einer Hybris des Schnellen und Neuen.


ANMERKUNGEN

[1] Paul Virilio: Fluchtgeschwindigkeit, München 1996; ders.: La bombe informatique, Paris 1998
[2] Als Beispiel sei die manifeste Tendenz zum ‘Corporate Takeover’ des Netzes erinnert, die sich im Software-Monopol des ‘Microsoft Explorer’ manifestiert, in den Guarded Communities von ‘America Online’, in der digitalen Gemeinschaftsstruktur von ‘Geocities.com’, in der Vereinheitlichung des Online-Zeittaktes durch ‘Swatch Time’, etc.
[3] Michael Giesecke: Der Buchdruck in der fürhen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe 1998, Frankfurt 1998
[4] Vilém Flusser: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Schriften Band 1, Mannheim 1995
[5] Robert Darnton: The new Age of the Book, in: The New York Review of Books, 18.3.99
[5] README! Filtered by Nettime. ASCII Culture and the Revenge of Knowledge, New York 1999


 © Frank Hartmann 1999

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