Seminararbeit zu " Medienphilosophie"

bei Dr. Werner Konitzer (WS 1997/98)


Daniel Marestani




La voix et l'écriture

Darstellung der Derridaschen Darstellung der Bewertung von Stimme und Schrift in der abendländischen Metaphysik im Anfangsteil der Grammatologie










1. Die Metaphysik

Der Kursivdruck des bestimmten Artikels will nicht nur die Bestimmbarkeit des nachfolgenden Substantivs anzweifeln, er ist obendrein noch Zitat und hat als solches am Orte seines Ursprungs eine andere semantische Funktion, nämlich die, dem Leser zu verdeutlichen, daß es eben nur eine Metaphysik gebe und folglich keine Adjektive dazu vonnöten seien, weil die Identität einer Sache mit sich selbst sowie ihre Unikalität nicht unbedingt geeignete Voraussetzungen für Verwechslungen und Mißverständnisse schaffen. Die Intention des Kursivdrucks liegt also in einer Nivellierung alles dessen, was unter Metaphysik zu verstehen ist - umgangssprachlich ausgedrückt will das heißen, daß all dies über einen Topf zu scheren und in einen Kamm zu werfen ist, und nicht nur dies, nein, sogar dem ihm übergeordneten Terminus läßt Derrida das nämliche zustoßen: " der Philosophie" . Dieser provokative Gestus ist offensichtlich als Aufforderung gedacht, alle bisherige Philosophie als einen Brei anzusehen, der mit dem immergleichen Gedanken von sehr vielen Köchen gekocht (und nach idiomatischem Gesetze natürlich auch verdorben) wurde. Will man den folgenden Ausführungen Derridas also folgen, muß man zwangsläufig erst einmal alle kleinlichen Differenzierungen wie z. B. die zwischen Rousseau und Kant oder die zwischen Descartes und Heidegger ausblenden und sich auf das einlassen, was Derrida zur Legitimation des Kursivdruckes allen unterstellt: "Onto-Theologie, jene(r) Philosophie der Präsenz" . Die Konsequenz daraus ist, daß der Autor einer Darstellung einiger Sujets der Grammatologie das Wort Metaphysik/Philosophie nur aus dem Referenzbereich des Textes verstehen darf, was sich als relativ praktisch erweist, da es sich außerhalb desselben leider doch einer gewissen Polyvalenz oder Heterogenität erfreut (womit sogar zuweilen die Existenz ganzer eigens dafür eingerichteter Studiengänge begründet wird), und aus welchselbigem Grunde es eine Erleichterung bedeutet, es als eine mit sich selbst einige Einheit denken und behandeln zu können, womit dann also das Problem der (Un-)Bestimmbarkeit dieses Terminus formal behoben und die Justifikation der Überschrift gegeben wäre.



2. Die Stimme oder Das Signifikat

2.1 Aristoteles

Die älteste historische Figur, die zum Thema Präsenz in der Stimme in der Grammatologie (herbei-) zitiert wird, ist Aristoteles, welcher die Grundlage für alle späteren Irrtümer in der Philosophie bietet und folglich sich einer eingehenderen Betrachtung für würdig erweist.

Für Aristoteles bringt "das schlichte, sinnliche Vernehmen von etwas" dessen Wahrheit hervor, weil in diesem Vernehmen die Seele vom Ding unmittelbar affiziert wird und der hervorgerufene Seelenzustand das Ding ""substituiert"" . Diese Substitution wird dadurch begründet, daß "zwischen dem Sein und der Seele, den Dingen und den Affektionen (...) ein Verhältnis natürlicher Übersetzung oder Bedeutung" "bestünde" . Diese unklare Formulierung aus der Grammatologie wirft schon rein grammatikalisch einige Probleme auf, denn: was soll man sich unter einem "Verhältnis natürlicher (...) Bedeutung" zwischen Sein und Seele oder Dingen und Affektionen vorstellen? Eine einfache Umstellung der Syntax bringt die Schwierigkeit deutlich zum Ausdruck:

  1. Es besteht ein Verhältnis natürlicher Übersetzung zwischen Seele und Sein.

Dieser Satz ist offenkundig syntaktisch, grammatikalisch und teilweise sogar semantisch klar: Die Seele verhält sich zum Sein, indem sie dessen natürliche Übersetzung ist.

  1. Es besteht ein Verhältnis natürlicher Bedeutung zwischen Seele und Sein.

Hier müßte die Übersetzung lauten: Die Seele verhält sich zum Sein, indem sie dessen natürliche Bedeutung ist. Und diese Formulierung gäbe mindestens zwei Interpretationsmöglichkeiten:

  1. Die Seele bedeutet: das Sein - als Synonymisation.
  2. Die Seele be-deutet das Sein - als aktiver Vorgang der Signifikation.

Die zweite Deutung erscheint wahrscheinlicher, wenn man den zweiten Teil des Satzes miteinbezieht, den - merkwürdigerweise - durch ein Semikolon separierten Nebensatz: "zwischen der Seele und dem Logos (bestünde) ein Verhältnis konventioneller Zeichengebung" . Dies soll wohl besagen, daß die Seele dem Logos die Zeichen diktiert - bei Aristoteles bedeutet Logos ja nicht so etwas wie eine übergeordnete objektive Vernunft, sondern aufzeigende, wahre "apophantische(n) Rede" . Wenn also die Seele imstande ist, dem Logos die Zeichen zu geben, dann ist es ihr bestimmt auch ein leichtes, das Sein mit (Be-) Deutungen zu versehen.

Die mögliche Substitution von Ding durch Seelenzustand allerdings weist darauf hin, daß auch die erste Deutung des Satzes ihre Berechtigung hat, denn hier muß "Sein" noch als "Ding(e)" verstanden werden, nicht umsonst lautet die Formulierung schließlich: "Zwischen dem Sein und der Seele, den Dingen und den Affektionen..." und impliziert somit eine Analogie zwischen den genannten Relationen.

Wenn also die Dinge und die Seelenzustände tatsächlich eins sind, müssen die letzteren eine Idealsprache ("Universalsprache" ) bilden, weil sie ""bei allen gleiche Seelenzustände"" sind, was zur Konsequenz hätte, daß alle Menschen sich immer über exakt dasselbe unterhielten und sich über alle Dinge einig sein müßten, wenn es Ihnen denn gegeben wäre, vermittels Seelenzuständen miteinander zu kommunizieren . Da dies sich in der intersubjektiven Praxis als zumindest schwierig erwiesen haben müßte, weicht Aristoteles dazu auf die Stimme aus (""das in der Stimme Verlautende (...) (ist) Zeichen für die in der Seele hervorgerufenen Zustände (...)"" ), die Zeichen erster Ordnung hervorbringt, schon gar im Hinblick darauf, daß sie die ersten, ursprünglichen Zeichen/Namen hervorgebracht habe, welche man sich wahrscheinlich als die Laute vorstellen muß, die bei Affizierung der Seele durch ein konkretes, aber noch unbenanntes Ding einem Menschen einfach 'entfuhren'. Durch diese ursprüngliche Verbindung zum Seelenzustand und damit zur Parusie ist eine "absolute Nähe der Stimme zum Sein" gegeben, womit also die Vormachtstellung der Stimme (Phonozentrismus) innerhalb des aristotelischen Sprachspiels scheinbar begründet wäre. (Weshalb dem nicht so ist, wird in 3.1 nachgewiesen werden.)


2.2 Hegel

Eine Erweiterung dieser Auffassung stellt Derrida an Hegel dar: Beim Sehen sowohl als beim Hören kann der durch das vom Gesehenen/ Gehörten evozierte Seelenzustand ""das Innere der Gegenstände für das Innere selbst werden"" lassen. Über diesen Weg kommt Hegel dazu, im Sprechen die Selbstpräsenz des Subjektes zu erkennen, denn wenn im Hören das Innere des Gegenstandes, seine Wahrheit, erkannt ist, dann ist im Prozeß des Sich-Sprechen-Hörens das Innere, die Wahrheit, des sprechenden Subjekts erkannt, aus diesem Grunde kann dann auch von "einer transparenten Ausdruckssubstanz" gesprochen werden, denn - und das scheint der zweite große Vorteil der Stimme zu sein - zum Sprechen muß man ja scheinbar auf keine andere, außerhalb des Selbst befindliche, Substanz zurückgreifen: es ist das 'Leben', das spricht und hier durch den zum Sprechen (und Leben) notwendigen Atem symbolisiert wird, auch die dazu ebenfalls notwendige Luft ist nach der Kimmerleschen Hegel-Interpretation nicht als materielle Fremdsubstanz anzusehen: "Der Äther ist eine Materie ohne Widerstand, gewissermaßen eine Geist-Materie. Darin ist so etwas möglich wie eine gesprochene Sprache ohne natürliches Substrat." Die Stimme kommt aus dem Subjekt selbst und geht reibungslos wieder in es zurück, weshalb Hegel auch auf die Idee kommen konnte, daß " das Sich-Hören-Sprechen (...) die Struktur des Logos: Rückkehr des Geistes zu sich" habe. Dieser reine Geist offenbart sich nicht zuletzt deswegen in der Stimme, weil das Sprechen im Gegensatz zum Schreiben in den Zeiten vor Erfindung des Grammophons den Eindruck erwecken mußte, daß es keine Spuren von Signifikanten, trotzdem aber einen aus der gehörten Rede verstandenen Sinn (Signifikat) hinterließ, daß man sich beim Sprechen der profanen ""materielle(n) Gestalt"" entledigt zu haben glaubte, auf daß nun ""die erste ideellere Seelenhaftigkeit"" in einer Art von Immaculata conceptio erscheinen könne.

Die Analogie zur Jungfrau Maria stellt sich als sehr fruchtbar heraus, wenn man bedenkt, daß dieser Mythos zur einflußreichsten Parabel für die Verpflichtung zur Verdrängung des Sinnlichen aus der Geschichte des Abendlandes wurde, indem er darstellte, daß Göttliches nur ohne die Mitwirkung weltlicher Fremdsubstanz (seien es nun Spermien oder Schriftzeichen) auf die Welt gebracht werden könne. In diesem Sinne wäre das Subjekt also durch das Sich-Sprechen-Hören zum reinen Signifikat gekommen wie die Jungfrau zum Kinde, hätte also durch göttlichen Einfluß (und nicht durch weltlichen Ausfluß) etwas Vollkommenes geschaffen: die reine Intelligibilität des Signifikats, das, wie Derrida etwas pathetisch formuliert, die Seite des Zeichens ist, die "dem Wort und dem Antlitz Gottes zugewandt" bleibt.

Die Spaltung des Zeichens in einen sinnlichen Teil (Signifikanten) und einen intelligiblen Teil (Signifikat) ist also der Grund dafür, daß Derrida behaupten kann, die Epoche des Zeichens sei "ihrem Wesen nach theologisch" , in ihr spiegelt sich die von den abendländischen Religionen so fanatisch betriebene Trennung des verächtlichen Weltlichen von dem glorifizierten Göttlichen wider.

2.3 Heidegger

Dieser kleine Exkurs hat die Intention, die Fundamente, auf denen die derridasche Formulierung von der "Onto-Theologie, jener Philosophie der Präsenz" erst möglich wurde freizulegen, damit nicht der Eindruck entstehe, diese Erkenntnis sei zur Gänze ihm zuzuschreiben. Die erste erfolgreiche Denunziation eben jener Philosophie der Präsenz ist immer noch Martin Heidegger zu verdanken.

In der Darstellung der aristotelischen Theorie von der Stimme (s. 2.1) war das "Sein" noch als "Dinge" bestimmt - also konnte die Wahrnehmung eines Gegenstandes, der durch diese ausgelöste Seelenzustand und das Erzittern der Seele in Form einer stimmlichen Verlautbarung als ""Erfahrung des Seins"" gefaßt werden - ; dies blieb - Heidegger und Derrida zufolge - bis zu Heideggers Auftritt in der Philosophie unangezweifelte Grundlage des Denkens der abendländischen Metaphysik. Die revolutionäre Entdeckung Heideggers allerdings war, daß eine solche Ansicht nur auf dem Grunde einer völlig irregeleiteten Deutung des Wortes 'Sein' erwachsen konnte: "Allein, die Metaphysik antwortet nirgends auf die Frage nach der Wahrheit des Seins, weil sie diese Frage nie fragt. (....) Sie meint das Seiende im Ganzen und spricht vom Sein." Der Irrtum der Metaphysik war also, daß sie die Inventurliste der anwesenden Dinge in ihrer Gesamtheit mit dem Sein verwechselte und so dazu kam, das Sein als Präsenz zu fassen. Nach dieser Erkenntnis galt es also, die 'tatsächliche' Bedeutung von Sein zu ihrem Recht kommen zu lassen, welche in der derridaschen Heidegger-Interpretation als die eines "primum signatum" fungiert, so daß hier also gar nicht mehr von einem Wort gesprochen werden könne, sondern eher von einem ""Urwort"" , das als ein vorsprachliches Vorverständnis des Seienden gedacht werden müsse, als etwas Transzendentales, insofern, als es über die Gesamtheit der Dinge hinausgehe und erst die Bedingung der Möglichkeit für das Anwesende und für die Sprache bildet; das Sein kann also nach Heidegger gar nicht 'sprechen', dazu müßte es ja eine bestimmte Sprache sprechen (z.B. griechisch), es soll aber doch "in jeder Sprache vor-verstanden" sein, dazu muß seine Stimme sich durch etwas anderes als Sprache äußern, sie muß aphon sein.

Auch wenn Derrida niemals die Theorie des transzendentalen Signifikats unterschreiben würde - die er ja dem späten Heidegger auch gar nicht mehr unterstellt, weil dieser "das Wort »Sein« bereits verschwinden, es dabei aber zugleich erscheinen läßt, nämlich in der Gestalt eines durchgestrichenen Wortes"

-, bietet diese Theorie eine Bestätigung seiner Argumentation gegen die Überbewertung der Stimme, denn das Sich-Sprechen-Hören wäre, selbst wenn man die aristotelische Präsenz des Referenten und die hegelsche Selbstpräsenz des Subjektes darin als gegeben zugestünde, ihr zufolge gar keine ursprüngliche 'Erfahrung des Seins', weil dieses ja gar nicht mehr als Präsenz gedacht werden kann, sondern nur eine Selbsttäuschung, die höchstens noch als degradiert zu einer 'Erfahrung des Seienden' aufgefaßt werden könnte, und als solche dann keine in irgendeiner Weise prominente Stellung mehr hätte.















  1. Die Schrift oder Der Signifikant

3.1 Aristoteles

Nach der Logik der binären Oppositionen erscheint es als geradezu obligat, der Stimme etwas entgegenzusetzen, das die Inversion der mit ihr verbundenen Qualitäten darstellt, in dem also Präsenz, Originarität und Authentizität zu Absenz, Derivation und Kopiosität werden. Die Schrift scheint für diese Rolle bestens geeignet zu sein und die Begründungen dafür ergeben sich auch nahezu selbstverständlich aus den Attributierungen zur Stimme.

Die dazugehörigen Argumentationen von Aristoteles und Hegel differieren nicht allzu signifikant in ihren Konklusionen; sie laufen beide darauf hinaus, daß die Schrift als ein System zweiter Ordnung gefaßt werden müsse, kommen jedoch auf verschiedenen Wegen dorthin.

Bei Aristoteles wird zunächst darauf aufmerksam gemacht, daß die Schrift etwas Abkünftiges bzw. Abgeleitetes sei, weil ""das in der Stimme Verlautende (...) Zeichen für die in der Seele hervorgerufenen Zustände (...) und das Geschriebene Zeichen für das in der Stimme Verlautende"" sei. Den Hintergrund für diese Auffassung bildet natürlich die in 2.1 erläuterte Präsenz des Referenten in der Stimme; die Schrift kann diese Präsenz nicht mehr bieten, da sie ja nicht als adäquate Ausdruckssubstanz für den Seelenzustand gilt, in dem das Ding noch natürlich übersetzt ist; sie gilt wiederum nur als "Übersetzung eines erfüllten und in seiner ganzen Fülle präsenten Wortes" , als "Vermittlung der Vermittlung" , als mit einer nur sekundären Funktion betraut auf jeden Fall. Wenn das in der Stimme Verlautende als Präsenz des Referenten gedacht wird, impliziert dies auch schon, daß das Geschriebene diese Präsenz nur repräsentiert, sie ihm aber nicht mehr inhärent ist, womit dann also die Absenz der Präsenz in der Schrift auf sehr einfache Weise begründet wäre, und weil die "Sinn-Bestimmung des Seins überhaupt als Präsenz" gedacht wird, ist folglich auch der Sinn im Geschriebenen nur ein repräsentierter.

Bei einer so negativen Bewertung mußte man sich natürlich die Frage stellen, ob es überhaupt eine Existenzberechtigung für die Schrift gebe - paradoxerweise benötigte man sie ja, um die Vormachtstellung der Stimme zu begründen -, dabei kam Platon auf den Gedanken, die Schrift als "Mnemotechnik" zu bestimmen. Weil sich der Mensch eben nicht alles merken könne, was einmal gesagt wurde, benötige man schriftliche Dokumente, um die Tradierbarkeit von Wissen zu sichern, selbst wenn man dafür das Risiko auf sich nehmen müsse, daß die Schrift das Wissen verfälschen könne. Dies implizierte dann auch gleich eine Bewertung der Schrift: sie sei vor allem "Technik im Dienst der Sprache" , und Technik war bestimmt als bloßes Hilfsmittel oder Instrument, womit man sich also eine Begründung der Schrift geschaffen hatte, die ihr immerhin eine instrumentelle Funktion zubilligte.

Entgegen allen sonstigen Differenzen hat Aristoteles diese Idee Platons offensichtlich nicht angezweifelt, sondern übernommen, was bei Derrida in der Unterscheidung zwischen dem sprechenden Benennen von Dingen als "erste(r) Konvention" und dem Schreiben als Menge von sekundären Konventionen - "Die geschriebene Sprache hielte Konventionen fest, die miteinander weitere Konventionen eingingen." - formuliert wird.

Derrida geht in seiner Interpretation so weit zu behaupten, daß Aristoteles die Bezeichnung /Signifikant/ - die ihm ja sicherlich nicht unbedingt gerade besonders geläufig war - für das gesprochene Wort am liebsten gestrichen und sich nur für die Schrift vorbehalten hätte: "Jeder Signifikant, zumal der geschriebene, wäre bloßes Derivat, verglichen mit der von der Seele oder dem denkenden Erfassen des Sinns, ja sogar dem Ding selbst untrennbaren Stimme (...)." An dieser Stelle kann man allerdings die Frage nicht zurückhalten, was hier unter "Jeder Signifikant, zumal der geschriebene" "verglichen mit der Stimme" zu verstehen sein soll, wenn man davon ausgeht, daß die "Stimme" als metonymisch für die in ihr verlautenden Wörter zu verstehen ist (was ja anscheinend auf der Hand liegt), und daß in der Grammatologie bisher nur der geschriebene und der gesprochene Signifikant unterschieden wurden. Die Stimme kann aufgrund dieses Satzes nicht mehr als Signifikanten hervorbringend gesehen werden, denn diese wären ja "Derivat", und nicht von "dem Ding untrennbar". Um den Satz zu verstehen, müssen wir also voraussetzen, daß Aristoteles

1. Das geschriebene Wort nur als Signifikant sieht.

  1. Das gesprochene Wort nicht als Signifikant sieht.
  2. Außer dem geschriebenen Wort noch andere - nicht genannte - Zeichen unterscheidet, die als Signifikanten gelten.

Da wir bei der Suche nach diesen Signifikanten nur noch die Wahl zwischen der Stimme und der Stimme haben, weil die geschriebenen Signifikanten gesondert in einer Apposition erwähnt wurden und es nur diese beiden Alternativen gibt, liegt es nahe, diese nichtschriftlichen Signifikanten in der Stimme zu vermuten. Sie sei "wesentlich und unmittelbar mit der Seele verwandt", sei "Erzeuger des ersten Signifikanten", der den Seelenzustand bezeichnet, "der seinerseits die Dinge in natürlicher Ähnlichkeit widerspiegelt oder reflektiert" ; der erste Signifikant ist also kein Derivat, obwohl "Derivation (...) der eigentliche Ursprung des Begriffs der Signifikanten" ist und "Jeder Signifikant (...) bloßes Derivat" wäre. Dieser erste Signifikant kann bei der Suche nach den unbekannten nichtschriftlichen Signifikanten schon exkludiert werden, da er ja kein Derivat sein kann; er kann nicht aus dem Satz "Der Signifikant wäre immer schon ein technischer und repräsentierender, wäre nicht sinnbildend." verstanden werden, demzufolge muß es in der Stimme noch eine andere Art von Signifikanten geben, die wir hier terminologisch als zweite Signifikanten fassen, und diese müssen nun also 'wirklich' deriviert, technisch und repräsentierend und somit 'wirklich' Signifikanten sein.

Um die derridasche Aristoteles-Interpretation noch einmal in ihrer ganzen Stringenz sichtbar zu machen, könnte man sie folgendermaßen auf den Punkt gebracht formulieren:

Die Stimme, die keine Signifikanten hervorbringt, bringt also einerseits Signifikanten hervor, die nicht deriviert sind, obwohl Signifikanten per definitionem deriviert sind und bringt andererseits Signifikanten hervor, die tatsächlich deriviert sind, obwohl die Stimme vom Ding untrennbar und folglich in ihr nichts deriviert ist. Da die Stimme das reine Signifikat hervorbringt, muß also davon ausgegangen werden, daß die im vorhergehenden Satz genannten Signifikantengruppen das reine Signifikat bilden, das nur intelligibel und nicht sinnlich ist und deshalb nicht aus Signifikanten gebildet sein kann.

Von dieser Analyse aus kann nun die Explikation der Differenz zwischen Stimme und Schrift auf ein fundierteres Niveau gebracht werden: Die Schrift unterscheidet sich also insofern von der Stimme, als sie ausschließlich aus zweiten Signifikanten, also aus reinen Signifikanten besteht, während es in der Stimme noch zwischen inderivierten und tatsächlichen Derivationen zu unterscheiden gilt, zwischen ersten und zweiten Signifikanten also.

Die inderivierten Derivationen sind nach Derrida bei Aristoteles das Fundament für die privilegierte Position der Stimme, während die derivierten Derivationen die Sekundarität der Schrift begründen.

Mit einer solchen Darstellung ermöglicht Derrida dem Exegeten natürlich eine einfache Dekonstruktion der aristotelischen Logik; allerdings könnte man nicht sagen, daß die "Bewegungen dieser Dekonstruktion (...) nicht von außen an die Strukturen" rühren, denn ganz ohne Zuhilfenahme anderer Theorien oder Argumentationen gibt sie sich noch nicht die Blöße unzähliger Paralogismen und 'Selbst'widersprüche, erst durch Insertion der de Saussureschen Terminologie kommen diese zum Vorschein, aber eine solche Interpretation setzt sich natürlich selbst ins Recht, wenn sie - wie in 1. erläutert - die Unterschiede zwischen den beiden für nichtig erklärt und sie unter der Metaphysik zusammenfaßt.

3.2 Hegel

Auch Hegel sieht die Schrift als ein System zweiter Ordnung, auch er charakterisiert sie als ""Zeichen der Zeichen"" , moniert jedoch hauptsächlich nicht die Absenz des Referenten, sondern die des sprechenden Subjektes.

Hegels Bevorzugung der phonetischen Schrift (""Die Buchstabenschrift ist an und für sich die intelligentere"" ) ist nach Derrida kein Kompliment für diese Art von Schrift, sondern eine Geringschätzung dessen, was die Schrift eigentlich ausmacht und was nach Hegel in der phonetischen Schrift noch am wenigsten zu finden ist, in der hieroglyphischen Schrift aber deutlich zum Ausdruck kommt. Während nämlich die phonetische Schrift dank ihrer Konzeption auf der Basis von - wie der Name schon sagt - Lauten, die sie bezeichnet, immer noch auf den Atem des sprechenden Subjektes verweist und dabei "die ideelle Innerlichkeit des lautlichen Signifikanten respektiert" , deshalb auch die Schrift des Geistes sei, ist die hieroglyphische Schrift ein vom Laut independentes und somit autonomes System, das eben nicht mehr auf seinen 'Ursprung', das gesprochene Wort, verweise. Diese Unterscheidung ändert allerdings nichts an der Geringschätzung der Schrift im allgemeinen, sie gilt immer noch als sinnlicher Signifikant und hat als solcher nur die Aufgabe, dem gesprochenen Wort zu dienen: "Als phonetische Schrift ist das Alphabet eher sklavisch, verächtlich und sekundär (»...die Buchstabenschrift... [bezeichnet] Töne, welche selbst schon Zeichen sind. Diese besteht daher aus Zeichen der Zeichen«; Enzyklopädie, § 459)" . Eine autonome Schrift muß Hegel als nicht geheuer erscheinen, als eine Bedrohung für "den Atem, den Geist und die Geschichte als Selbstbezug des Geistes" , als Bedrohung des Atems ist sie auch eine Bedrohung des Lebens und muß deshalb als "Todes- und Differenzprinzip" gelten, der Autor 'stirbt' auch deshalb, weil der Selbstbezug des Geistes in der Schrift aufgrund der Separation vom Subjekt nicht gegeben ist, und es sich in die Anonymität begibt, in der sein Eigenname ausgestrichen ist, was für Hegel vor allem deshalb so erschreckend ist, weil damit zugleich die "bei sich seiende(n) unendliche(n) Subjektivität" und damit synchron die Wahrheit des Subjektes verlorengeht, da der Logos die Wahrheit des Seins eben allgemein als Präsenz bestimmt.

Das Bei-sich-sein führt zu der Bestimmung einer binären Opposition, zum 'Drinnen' nämlich, dem das Sich-sprechen-hören zugeordnet ist, während das Schreiben dem 'Draußen' zugeordnet werden muß; metaphorisch folgerichtig wird dann auch das Sprechen mit der "Erinnerung" und das Schreiben mit der "Entäußerung" konnotiert; die Schrift sei "das Außersichsein des Logos" , sie steht nicht mehr in seinem Machtbereich. So widersprüchlich es klingt: Die Schrift ist nicht mehr innerhalb des vom Logos regierten Sinns, weil sie nur noch sinnlich ist (was natürlich mit der kuriosen Homonymie zusammenhängt, die es im Deutschen bei dem Wort 'Sinn' gibt). Somit ist also auch schon ein moralisches Urteil über die Schrift gefällt, denn das Prädikat 'sinnlich' ist hier nicht unbedingt als Kompliment zu verstehen (späterhin wird der Schrift auch die zur Sinnlichkeit passende "Promiskuität" vorgeworfen), das Kompliment wäre bei Hegel das Prädikat 'geistig' bzw. intelligibel (man denke an die Analogie zur Jungfrau Maria) gewesen, und dieses dürfte er nach seiner eigenen Argumentation nicht einmal auf die "Schrift des Geistes" (s.o.) anwenden, nur der Stimme als Ort des Selbstbezugs des Subjektes kann er es verleihen.

3.3 Die abendländische Metaphysik

Die Positionen von Aristoteles und Hegel zusammengenommen repräsentieren für Derrida das Bild, das die abendländische Metaphysik von der Schrift hatte: Sie greife den Logos an, weil sie die "Sinn-Bestimmung des Seins überhaupt als Präsenz " gleich mit einer zwiefachen Absenz konfrontiert, nämlich

  1. mit der Absenz der Präsenz und der Selbstpräsenz des Subjektes.
  2. mit der Absenz des Referenten.

"Die Schrift aber ist der Name für diese zwei Abwesenheiten."

Sarah Kofman gibt eine sehr gute Formulierung der Eigenschaften der Schrift, mit der dieses Kapitel abgeschlossen werden soll:

"Die Besonderheit des Textes als Schrift liegt in der Auslöschung des Eigennamens, im Fehlen von Vaterschaft: Die Schrift ist immer schon verwaist, hat immer schon den Vater gemordet. Der Tod des Autors ist als Möglichkeit in die iterative Struktur der Schrift eingeschrieben, die eben deshalb gänzlich von der Verantwortung des Bewußtseins als absoluter Autorität abgeschnitten ist. Schrift ist das, was in der Wiederholung funktionieren kann, abgespalten von einem ursprünglichen Sagen-Wollen und jedem zwingenden Kontext. (...) Der Text ist wie ein Leichentuch, in dem sich tausend Fäden verschiedener Herkunft kreuzen."































4. Derrida

Die Crux an der derridaschen Analyse der abendländischen Metaphysik liegt eindeutig in den binären Oppositionen, die als Fundament für das gesamte abendländische Denken fungieren und unter deren Einfluß es geradezu eine Notwendigkeit wurde, zu so merkwürdigen Konklusionen wie Präsenz des Referenten oder Selbstpräsenz des Subjektes in der Stimme zu kommen. Diese hierarchischen Dichotomien werden nach Derrida angeführt von ihrem 'allgemeinsten' Gegensatzpaar: dem Drinnen und dem Draußen, das hier natürlich nicht in der vulgären räumlichen Bedeutung, sondern vor allem als metonymisch für den Dualismus von 'Subjekt' und 'Welt' zu verstehen ist, welchselbige Bezeichnungen natürlich noch mit unzähligen Konnotationen versehen sind, von denen hier nur die wichtigsten enumeriert werden sollen: 'rein' und 'schmutzig', 'Denken' und 'Ausdehnung', 'Präsenz' und 'Absenz', 'intelligibel' und 'sinnlich'. Wie unschwer zu erkennen ist, stellt das Erstgenannte immer das 'Gute' und das letztere das 'Schlechte' dar, vor welchem das Erste bewahrt werden muß, jede noch so abstrakte Dichotomie wird in diesem Denken also moralisiert, die 'Realität' wird in das 'Vertraute' und das 'Fremde' aufgespalten, um eine Angst vor dem letzteren zu rechtfertigen und zu erzeugen.

Aus diesem Denken ging ebenfalls der Gegensatz zwischen Stimme und Schrift hervor, der die Stimme als etwas zum Subjekt gehöriges, (Inneres, Reines, Intelligibles, Präsentes etc.) ansehen, die Schrift dagegen als zur Welt gehöriges (Äußeres, Beschmutztes, Sinnliches, Absentes etc.) einstufen und sich für diese Einstufung 'vernünftige' philosophische Begründungen ausdenken mußte.

Nach Derrida nähert sich diese Epoche allerdings gerade ihrem Ende, der "Tod des gesprochenen Wortes (eines angeblich erfüllten gesprochenen Wortes)" kündigt sich an, weil es sich in einer neuen Situation befinde, in der es nur noch eine "untergeordnete Stellung" einnehme.

Daran sind nicht zuletzt die Erfindungen der modernen Technik beteiligt: in der Entwicklung vom Telephon bis zum Diktaphon ist es durch ihre Hilfe gelungen, die Separation der phone von der Präsenz des Subjektes durchzusetzen, dem gesprochenen Wort seine ursprüngliche Verbindung zum Geist, seine Authentizität und seine Wahrheit zu rauben und es dadurch in die gleiche Äußerlichkeit zu verbannen, in der man die Schrift in der abendländischen Philosophie wissen wollte.

Der Ausweg Derridas aus dem Dilemma der binären Oppositionen ist nicht - wie immer wieder gern behauptet wird - die simple Übernahme der de Saussureschen Zeichentheorie unter Streichung des Signifikats. Ein solches Mißverständnis kann nur dem unterlaufen, der die philosophisch-linguistische Bedeutung des Wortes /Zeichen/ mit der alltäglichen trivialen Bedeutung verwechselt, welchselbige es unbewußt mit dem Wort /Signifikant/ gleichsetzt. Tatsächlich sind in dem Wort /Zeichen/ aber beide Bedeutungen, die von Signifikat und Signifikant enthalten. Wenn man also die Welt als ein Verweissystem von Signifikanten definiert, deren Signifikate wiederum Signifikanten sind, führt dies nicht dazu, daß man de Saussure bestätigt, sondern daß im Gegenteil die Terminologie zusammenbricht, wenn - in einer auf Heidegger bezogenen These - erkannt wird, "daß die Differenz zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten in letzter Instanz nichts ist ." (deshalb nimmt Derrida für sich ja auch das Wort Spur in Anspruch), letzten Endes hätte man sich tatsächlich seit Platons Auftritt in der Philosophie bis hin zu dem de Saussures in der Linguistik in der abendländischen Metaphysik um nichts gestritten, weil man ebendieses nicht wahrhaben wollte. Nicht umsonst heißt der Text "Was ist Metaphysik? ", in dem geschrieben steht: " Die Wissenschaft will vom Nichts nichts wissen." Die derridasche /Spur/ enthält jedoch - im Gegensatz zu de Saussures Dreieck - dieses Nichts als das Nicht-präsente, "die Abwesenheit eines anderen Hier-und-Jetzt" , "die vollständige Verneinung der Allheit des Seienden" .

Hiermit wäre auch der Kampf zwischen der Präsenz in der Stimme und der Absenz in der Schrift in nichts aufgelöst, wenn beides als Spur gedacht wird, die ein Mischverhältnis zwischen Präsenz und Absenz ist und keinem von beiden den Vorrang gibt (allerdings wäre dies schon die nächste Seminararbeit).

4.1 Abschließender Exkurs zu einem Klappentext

Nur ganz beiläufig sei hier zum Schluß noch erwähnt, daß sich amüsanterweise in einer kürzlich erschienenen Edition von CDs mit Aufzeichnungen einiger Vorträge Heideggers folgender - gekürzt zitierter - Klappentext finden läßt: "Die neuere Technik erlaubt hier, etwas Ursprüngliches freizulegen, das der früheren, dem Buchdruck, verschlossen bleiben mußte: daß nämlich die eigentliche Kraft des produktiven Denkens nur im gesprochenen Wort, im unmittelbaren Klang und Rhythmus der Rede vernehmbar ist."

Daß hier von Ursprünglichkeit, Eigentlichkeit und Unmittelbarkeit - exakt der Jargon, den Derrida de(kon)struiert - als exklusiven Eigenschaften des gesprochenen Wortes die Rede ist, erscheint für unsere Argumentation insofern erwähnenswert, als es sich um die paradoxe Situation einer dank der "neuere(n) Technik" vom Subjekt abgespaltenen Stimme handelt, der hier trotz dieser Abspaltung immer noch mehr Ursprünglichkeit, Eigentlichkeit und Unmittelbarkeit eingeräumt wird als der Schrift bzw. der "frühere(n) (Technik), dem Buchdruck". Wenn übrigens eine erstlich auf Tonband festgehaltene Rede nach vierzig Jahren digitalisiert auf einer Compact Disc in den Handel gebracht wird und dabei von unmittelbarem Klang die Rede ist, stellt sich natürlich die Frage, was dann überhaupt erst als mittelbarer Klang bezeichnet würde. Offensichtlich haben selbst die Heidegger-Editoren die Vorstellung von der Präsenz des Geistes im gesprochenen Wort und seiner Absenz in der Schrift noch nicht überwunden. Diese Position der onto-theologischen Metaphysik scheint also auch im Jahr 1997 noch überaus präsent zu sein; mit der bemerkenswerten Variation allerdings, daß man sich an der technischen Separation der Stimme vom Subjekt nicht stören läßt und all die Qualitäten, die man der Schrift abgesprochen hatte, mit der Begründung, sie sei vom Subjekt abgespalten, in die abgespaltene Stimme 'hinübergerettet' sehen will.