Schaufeln für die Narration? Zur Wissensproduktion historischer und archäologischer Disziplinen

Schmid, Martin A. (2002) Schaufeln für die Narration? Zur Wissensproduktion historischer und archäologischer Disziplinen. UNSPECIFIED. (Unpublished)

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Abstract

Der Beitrag geht von der Vielfalt und Widersprüchlichkeit jener Wissenschaften aus, die sich auf unterschiedliche Weise mit menschlicher Vergangenheit beschäftigen. Als roten Faden ziehe ich einen Vergleich zwischen den historischen Wissenschaften im engeren Sinn als Textwissenschaften auf der einen und den archäologischen Fächern auf der anderen Seite. Jedem und jeder VertreterIn dieser Disziplinen gelingt es ohne Schwierigkeit, die Grenzen zwischen ihren Fächern zu argumentieren, wie in anderen Wissenschaften auch insbesondere über die Unterschiedlichkeit der Methoden. In den hier interessierenden Fächern ist dem aber ein Argumentationsschritt vorgelagert: die unterschiedlichen Methoden und damit die disziplinären Grenzen werden mit den unterschiedlichen Gruppen von "Quellen" argumentiert, für die sich diese Fächer als (haupt)zuständig ansehen. Das wird NovizInnen in den entsprechenden Studien von Anfang an klar gemacht, das disziplinäre Territorium wird über das Ordnen der Quellen in "Gattungen" oder "Arten" (als handle es sich um eine Naturnotwendigkeit) abgesteckt - es gibt also ein "boundary work" über die Quellen (Schmid 2001). Die Quelle des Historikers sei im wesentlichen noch immer der Text, die des Kunsthistorikers das Kunstwerk, die des Archäologen ein Ding usw. Im Ideal des Wissensproduktionsprozesses historischer Wissenschaften sind es diese "Quellen" die am Anfang allen historischen Fragens stehen, die bestimmte Methoden erfordern und bestimmte Fragen und Aussagen über vergangenes Geschehen ermöglichen, andere Fragen von vornherein unstellbar machen. Wer Wissenschaften als Kulturen analysiert, kann dem erst einmal zustimmen: Auch in diesen Wissenschaften sind es die Gegenstände, die den ForscherInnen eine bestimmte Praxis auferlegen: deshalb müssen ArchäologInnen schaufeln (bzw. ihre Studierenden schaufeln lassen) und HistorikerInnen routiniert Archivalien bearbeiten. Was dabei aber übersehen wird: Die Wissenschaften passen ihre Methoden nicht nur ihren Gegenständen an, sie erzeugen ihre Gegenstände auch, verhandeln diese in sozial und kulturell bestimmten Prozessen aus. Es sind die Praktiken der Wissenschaften, die die Gegenstände konstituieren und damit wieder einer bestimmten Praxis, speziellen als adäquat angesehenen Methoden zuweisen. Besonders interessante Beobachtungen lassen sich dazu in der Archäologie machen:
Die Quellen der Archäologie sind ausschließlich Hybride (Latour u.a. 2000), sie sind zugleich Natur und Kultur, ihnen wohnt keine ontologische Differenz inne, sondern sie werden entweder als "kulturelles Artefakt" (z. B. ein Keramikscherben) oder als "naturales Objekt" (z. B. ein Tierknochen) in einer entsprechenden Praxis hergestellt und in Konsequenz aus dieser Herstellung wieder einer bestimmten Praxis (das kann auch die einer anderen Disziplin sein) unterworfen: so kann ein Keramikscherben als Fragment eines sakralen Gefäßes auf seine religiöse Bedeutung hin befragt werden, als "naturales Objekt" kann ein Probe davon in einem Teilchenbeschleuniger in seine Isotope zerlegt und so 14C datiert werden; und ein Tierknochen kann an die KollegInnen aus der Archäozoologie geschickt werden, um etwas über die Krankheitsgeschichte des biologischen Organismus eines, sagen wir, Schweins zu erfahren, als "kulturelles Artefakt" aber auch auf Schlachtspuren untersucht und damit als Quelle zur Geschichte der menschlichen Ernährung und Tafelsitten ausgewertet werden (Winiwarter/Schmid 2002). Das ist die erste Zielrichtung meines Beitrags: Ich werde zeigen, wie historische und archäologische Fächer in ihrer Praxis ihre Quellen gegen und mit dem Widerstand der überlieferten materiellen Reste herstellen, seien es Texte (aus denen erst in der Interpretation Worte werden) oder Dinge. Der Status und die Qualitäten der Quelle lassen sich also über eine Analyse der Praxis erklären, die Praxis einer Wissenschaft selbst auch aber sicher nicht allein über die Widerständigkeit der Materie - das eben ist ja der Kurzschluss, wenn man die Unterschiede zwischen den Fächern über die Andersartigkeit der Quellen argumentieren will.
In einem zweiten Schritt frage ich nach der unterschiedlichen gesellschaftlichen Position archäologischer und historischer Fächer. Auch daraus lässt sich die Praxis dieser Wissenschaften zum Teil erklären, und anderseits lässt sich die gesellschaftliche Position einer Disziplin wiederum zum Teil aus ihrer Praxis erklären.
Dazu wird insbesondere von massenmedialen Repräsentationen dieser Wissenschaften und ihrer VertreterInnen ausgegangen. In dem Medien werden gesellschaftliche Bezugssysteme von Wissenschaften erkennbar (wo will ich mit meiner Arbeit etwas bewirken?), hier lässt sich ablesen, welche Konflikte und Allianzen mit anderen gesellschaftlichen Feldern eingegangen werden und hier wird greifbar, auf welche gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse VertreterInnen dieser Disziplinen mit dem von ihnen produzierten Wissen wirken oder wirken wollen.
Wenn von HistorikerInnen auf die wiedererlangte und große Popularität der Geschichte allgemein verwiesen wird (etwa Evans 2001), ist grundsätzlich anzumerken: Die professionellen wissenschaftlichen Interpreten der Vergangenheit stehen heute in Konkurrenz zu vielen anderen Produzenten von Wissen über Vergangenheit. Es lässt sich von einer "Geschichtskultur" sprechen, in der die akademisch geprüften Profis nur eine von vielen Akteursgruppen sind (Rüsen 1994) - und es darf stark in Zweifel gezogen werden, ob ihre wissenschaftlich legitimierten Angebote die wirkmächtigsten sind. Für mich lassen sich im wesentlichen zwei gesellschaftliche Funktionen von Historisierung ausmachen: Auf der einen Seite Identifikation, auf der anderen Emanzipation oder Relativierung. Erstere, die Konstruktion von Identitäten, berührt ein klassisches Aufgabenfeld der Geschichts- und der Geisteswissenschaften im allgemeinen. Heute herrscht innerhalb der Geschichtswissenschaft weitgehend Konsens, dass eine "identifikatorische", insbesondere auf nationaler Ebene identitätsstiftende Geschichtsschreibung zu vermeiden ist. Historikerinnen und Historiker kommen aber etwa im Kontext des europäischen Integrationsprozesses genau dieser, von vielen überwunden geglaubten Aufgabe bewusst oder unbewusst nach. Diese Aufgabe lässt sich nicht mit einem Ideal der Disziplin in Einklang bringen: der kritischen Haltung gegenüber (politischen) Autoritäten (Schmid 2001). Als fast ausschließlich von öffentlicher Hand finanzierter Wissenschaftssektor, dessen Absolventen und vor allem Absolventinnen vor allem als LehrerInnen in öffentlichen Schulen unterkommen, stecken die Geschichtswissenschaften damit in jenem Dilemma, das M. Foucault in Bezug auf den Prozess der Regierbarmachung der Gesellschaft beschrieben hat: "Die kritische Haltung [ist das] Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und Widersacherin". Daraus resultieren eine Reihe von Unvereinbarkeiten und Konflikten, u.a. zwischen wissenschaftlichem und politischem Feld, aber auch innerhalb der Wissenschaft selbst. Dass und wie das geschieht werde ich an zwei Beispielen zeigen. Das wichtigste außerwissenschaftliche Bezugssystem der Geschichtswissenschaften ist also die Politik mit ihren unterschiedlichen Feldern. Die Zeitgeschichtsforschung wird von der Politik mit der klassischen Expertenrolle beauftragt, die Historikerkommissionen auf nationaler und bilateraler Ebene sind dafür ein Beleg. Vergleichbar der Expertenrolle von Natur-, Technik-, Sozial- oder WirtschaftswissenschaftlerInnen haben diese Expertengremien Entscheidungsgrundlagen für die Politik zu liefern, den Rahmen zu definieren, innerhalb dessen überhaupt öffentlich über eine Agenda gesprochen werden darf.
Im Gegensatz zu den Geschichtswissenschaften erscheint die Archäologie befragt nach ihren Bezugssystemen selbstgenügsamer, "orchideenhafter". Ihre Bezugssysteme dürften im wesentlichen innerwissenschaftliche sein, insbesondere die historischen Wissenschaften insgesamt und jene Naturwissenschaften, die sie mit dem Material aus ihren Grabungen beliefern. Die Archäologie hat nicht (mehr) in dieser Deutlichkeit wie die Geschichtswissenschaften die Politik als außerwissenschaftliches Bezugssystem, selbst von ArchäologInnen wird beanstandet, dass ihre Wissenschaft sich mit dem Ordnen und Bearbeiten des Materials begnügt und darüber vergisst in Publikationen die Gegenwart zu kommentieren. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass der Archäologie medial weniger Raum gewidmet würde als den HistorikerInnen, das Gegenteil ist der Fall. Die Werkstatt der ArchäologInnen scheint wesentlich interessanter, deutlich medienkompatibler zu sein als die der HistorikerInnen. In Medienberichten über die Archäologie ist der Aufhänger, es handle sich um eine "Sensation" schnell bei der Hand. Womit lässt sich das erklären? Eine Grabung ist ein (meist lokales) Ereignis durch das ein Ort verfremdet wird; die Wissenschaft wird zu einem Akteur in aktuellen Nutzungskonflikten um einen konkreten Ort, die Berichterstattung über eine Grabung erscheint aus diesen Gründen meist im Lokalteil einer Zeitung. Die Werkstatt der Archäologie produziert Entdeckungen und sie tut sich im Gegensatz zu den Textwissenschaften wesentlich leichter, journalistisch verwertbares Bildmaterial zu liefern. Aus diesen Gründen ist sie auch interessant für die Wissenschaftsressorts der Medien. Nachrichtenwürdig sind vor allem Ereignisse, zu öffentlichen Events wird ein wissenschaftliches Ereignis, wenn WissenschaftlerInnen mit anderen gesellschaftlichen Sphären kooperieren, Ausstellungen oder Jubiläen sind dafür Beispiele.
Am Ende meines Beitrags werde ich Beobachtungen aus einem Projektforum zur Diskussion stellen, das wenige Woche vor der Graduiertenkonferenz startet und die Etablierung interdisziplinärer Umweltgeschichte in Österreich unter Einbindung von NaturwissenschaftlerInnen, HistorikerInnen und ArchäologInnen zum Ziel hat. Ich werde dabei der Frage nachgehen, inwiefern das Konzept Wissenschaftskultur in einem konkreten Forschungsprozess dazu taugt, inter- und transdisziplinäre Kommunikation in diesem Feld zu organisieren

Item Type: Other
Uncontrolled Keywords: graduiertenkonferenz, kulturwissenschaften
Subjects: Kulturwissenschaften, cultural studies > Graduiertenkonferenz: Wissenschaftskulturen - Experimentalkulturen - Gelehrtenkulturen
Depositing User: Caroline Gay
Date Deposited: 06 Dec 2020 12:33
Last Modified: 06 Dec 2020 12:33
URI: http://sammelpunkt.philo.at/id/eprint/2147

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