*WITTGENSTEIN - EIN WEGBEREITER DER MEHRWERTIGEN LOGIK?* Peter *Strehle* Universitaet Dresden, Deutschland ABSTRACT Wittgensteins Denkansaetze enthalten Impulse fuer die Diskussion um die Rechtfertigung der mehrwertigen Logik und Mengenlehre (fuzzy logic, fuzzy sets). Mindestens der aeltere Wittgenstein kann als einer der Vordenker einer methodologisch begruendeten mehrwertigen und mehrdimensionalen Logik gelten. Wer die Entwicklung der modernen Logik auch nur am Rande verfolgt, dem bleibt dennoch - nicht zuletzt wegen den zunehmenden technischen Anwendungen - nicht verborgen, welch grossen Raum die mehrwertige (fuzzy) Logik und Mengenlehre in den Diskussionen zur Grundlegung der Logik einnimmt. Fuer den Beginn dieser Entwicklung in der Zeit zwischen den Weltkriegen steht vor allem die polnische Logikschule (Lukasiewicz, Jaskowski u.a.) Danach kam es zu einer Schwerpunktverlagerung in dem angelsaechsischen Sprachraum (Rosser / Turquette, Rescher u.a.). Der Name Wittgensteins, der fuer den grossen Schub in der philosophischen Denkweise unseres Jahrhunderts verantwortlich ist, faellt in diesem Zusammenhang nicht und es erhebt sich unwillkuerlich die Frage, ob in dieser Richtung vielleicht zu wenig bis heute bekannt geworden ist oder die Antwort trivial, vielleicht sogar die Frage absurd ist. Fuer den spaeten Wittgenstein trifft letzteres m. E. nicht zu. Lassen sich seine Auffassungen auf die Rechtfertigung (fuer den technischen Aufbau eruebrigt sich die Frage) der mehrwertigen Logik beziehen? Einen Ausblick auf die Rechtfertigungsformen habe ich an anderer Stelle *1* systematisch vorgelegt. Gehen wir von der MODELLVORSTELLUNG aus, nach der die elementare Aussage (Proposition) im ueblichen Sinne durch ein Zeichensystem (Aussagesatz) ausgedrueckt ist und dass diese einen denkbaren Zustand (Sachverhalt) intendiert. Zugleich ist in der Kommunikation, im Wittgenstein'schen Sprachspiel, eine solche Aussage auf einen ausserhalb der Sprache fixierten objektiven Zustand bezogen (Referent). Er heisse tatsaechlicher Zustand. Dieser muss damit keineswegs im Zeitintervall des Spiels REAL existieren. In der Literatur zur mehrwertigen Logik werden zur Motivation fuer deren TECHNISCHEN Aufbau gelegentlich einzelne Zugaenge erwaehnt. Eine systematische Grundlegung erfolgt kaum. Nach meiner Auffassung sind drei Zugangsprinzipien moeglich, die weder miteinander identifiziert werden duerfen noch voneinander unabhaengig betrachtet werden koennen. Sie sind moeglich und unter bestimmten Bedingungen notwendig. So kann zunaechst der von der Aussage intendierte Zustand vom tatsaechlichen abweichen. Etwa, wenn bei "Das Fenster ist 2 m breit" die Breite tatsaechlich 1,99 m betraegt (wir vernachlaessigen hierbei die Eroerterung des Phaenomens "Genauigkeit"). Bei geeigneten Anwendungen (Sprachspielen) sind Funktionen aus einer Abstandsmenge in eine Logikwertmenge definierbar, die mehr als die klassischen Werte "wahr" und "falsch" enthaelt. Da hierbei die Auspraegung des tatsaechlichen Zustandes bezogen auf den intendierten interessiert, heissen die Werte "Auspraegungswerte". Klassisch faellt ein solcher Wert mit "wahr" genau dann zusammen, wenn der "Abstand" null ist, ansonsten mit dem Wort "falsch". Ein weiteres Problem ist nun unser "Wissen" um diesen Abstand, das von den gegebenen Zugangsmoeglichkeiten (physikalischer und/oder erkenntnistheoretischer Natur) zum tatsaechlichen Zustand abhaengt. Natuerlich ist nur selten ein empirischer Augenschein, der philosophisch auch noch akzeptiert wird, hinreichend vorhanden. Unabhaengig von der konkret im Sprachspiel jeweils akzeptierten Technik/Methode zur "Rechtfertigung" des Auspraegungswsertes, werden doch Abstufungen, Rangreihen solcher Gruende sowohl auf empirischer (u.a. Stegmueller) als auch theoretischer (u.a. Polya) Basis akzeptiert, ist dem so, so sind aus solchen Rangreihen wiederum Funktionen in eine Wertmenge definierbar, die "Begruendungswerte" heissen sollen. Die so erhaltenen und der Aussage zugeordneten Werte sind nun prinzipiell anderer Natur als die ersteren. Sie druecken die "Begruendetheit des Abstandes" aus. Nicht selten, so von ZADEH selbst *2*, wird die Vagheit der betreffenden Formulierung, also des Aussagesatzes, als ein weiterer Grund fuer den Uebergang zur Mehrwertigkeit angegeben. Natuerlich bringt die Verwendung vager Begriffe in der Formulierung eine Reihe von Problemen im entsprechenden Sprachspiel mit sich, die fuer manche Typen (z. B. wissenschaftliche) von vornherein vermieden werden sollten, wenn das auch nicht gaenzlich moeglich ist. Sind bezogen auf die Vagheit wenigstens Rangreihen angebbar, so geben die Funktionswerte der dann definierbaren Funktionen, die "Vagheitswerte", die jeweiligen "Vagheitszustaende" der Formulierungen und damit deren Brauchbarkeit im Sprachspiel an. Ist eine Formulierung vage einer bestimmten Stufe, so ist deren Brauchbarkeit (immer auf ein Spiel relativiert) eben eingeschrfaenkt, so etwa "Das Kind hat hohes Fieber", was mit "das stimmt fast" (verbal umschriebener Auspraegungswert) und mit "das ist sicher so" (verbal umschriebener Begruendungswert) beurteilt ist, fuer manches Sprachspiel (vielleicht einem medizinischen). Sind diese Gesichtspunkte relevant, so fuehrt das zur Notwendigkeit, den elementaren Aussagen Wertetripel der Form Xi = (xi1, xi2, xi3) zuzuordnen, d.h. die Logik ist mehrdimensional, eine methodologisch begruendete Produktenlogik *3*. Auf die eingangs formulierte Frage zurueckkommend, soll nun versucht werden, Ansaetze oder Entgegnungen zu dieser Konzeption bei Wittgenstein aufzufinden. Die Ergebnisse sollen von den technisch orientierten mehrwertigen Logik zu Wittgenstein kommend, meinen Erkenntnisstand dazu zeigen und erheben keinen absoluten Anspruch. Vielleicht regt es eine Diskussion zu diesem Themenkreis an, wenn auch andere die Relevanz dieser Fragestellung akzeptieren. Am einfachsten erscheinen die Verhaeltnisse bei der Vagheit. Wittgenstein kommt an verschiedenen Stellen darauf zu sprechen, wobei es ihm zunaechst im Tractatus mit dem beruehmten Ausspruch darum geht, dieses Problem ueberhaupt zu transzendieren. Spaeter dann akzeptiert er die Vagheit als Phaenomen der natuerlichen Sprache und ihn bewegt die Frage, welche Konsequenzen diese Erscheinung hat, ob eine Beseitigung notwendig ist, und wenn ja, wie dann eine "Grenzziehung" moeglich und durch Kriterien zu sichern ist. So geht es ihm in einer Vorlesung zu den Grundlagen der Mathematik aus dem Trimester 1933/34 *4* um das Problem der sinnvollen Begrenzung am Beispiel der Definition von "Blatt" mit Hilfe eines Musters. Er diskutiert die sogenannte "Paradoxie des Sandhaufens" und der damit im Beweis verbundenen Probleme *5*, bis er schliesslich in den Philosophischen Untersuchungen (u.a. PU 71, "Halte Dich ungefaehr hier auf") zu dem Ergebnis kommt, dass eine solche Vagheit sinnvoll und sogar notwendig sein kann fuer ein Sprachspiel, solange keine Missverstaendnisse auftreten. Der Schritt zu einer mehrwertigen Beschreibung dieses Phaenomens, der bei feststehendem Sprachspiel notwendig werden kann (z. B. Formulierung bestimmter Texte) ist kein Problem seines Interesses, obwohl die "Abstufung" implizite vorhanden ist *6*. Sicher ist ihm dieser Schritt seit dem Tractatus ueber die Vorlesungen in den dreissiger Jahren bis hin zu den Philosophischen Untersuchungen vertraut durch die apodiktische Setzung des Gesetzes vom ausgeschlossenem Dritten fuer die Logik ueberhaupt. Es ist wie eine unueberwindliche Schranke, die jedoch bei der Beschreibung eines Sprachspiels ueberschreitbar ist und im Spiel ueberschritten wird. So, wenn ein Partner auf eine Aeusserung erwidert "Jetzt sprichst Du noch dunkler als vorhin". Dabei wird eben eine Komperation im obigen Sinne vorgenommen *7*. Wittgenstein selbst will mit Hilfe von Sprachspielen die VAGE WEISE zeigen, in der "Sprache", "Satz", "Satzzeichen" verwendet wird *8*. Der Bezug zu den Familienaehnlichkeiten muss gesondert diskutiert werden. Wenden wir uns nun der zweiten Komponente des Tripels zu, den Begruendungswerten. Natuerlich bietet sich hierzu "ueber Gewissheit" an, ebenso wie seine Ausfuehrungen zur Wahrscheinlichkeit. Grundsaetzlicher Natur erscheint zunaechst die Frage zu sein, was man ausserhalb und innerhalb des Sprachspiels "Wissenschaft" mit der Sprachweise der unterschiedlichen Begruendetheit von Aussagen (z. B. Hypothesen) intendiert. Handelt es sich hierbei gewissermassen um einen OBJEKTIVEN Tatbestand, aehnlich wie eine Gleichung innerhalb eines Systems loesbar ist oder nicht (unabhaengig davon, ob ich es kann bzw. weiss oder nicht) oder um das Wissen darum. Ich meine, dass Wittgensteins Ausfuehrungen zur Wahrscheinlichkeit *9* in die erste Richtung tendieren, waehrend das Problem "Gewissheit" die zweite zu meinen scheint *10* . Und wir sind geneigt zu sagen, die eine sei von der anderen ganz verschieden. Handelt es sich bei Wittgenstein aber "nur" um die "eigentuemliche Rolle" gewisser Saetze (z. B. der Moore'schen) im Sprachspiel, die er in seinem Buch "Ueber Gewissheit" untersucht (§ 136), so gibt es dann keinen Unterschied zwischen den beiden Verstehensweisen, wenn es um die Gruende und deren Stufung FUeR die Wahrheit bzw. Falschheit (resp. den Auspraegungswert) geht, also um die Basis der Erfahrung des handelnden (sprich: beurteilenden) Subjektes. Diese kann nun in der dispositionellen oder subjektiven Wahrscheinlichkeit *11* oder aber auch in intuitiv akzeptierten Basissaetzen liegen, die eine "merkwuerdige" (sprich zentrale) Rolle spielen. Sie sind jedoch nicht "merkwuerdiger" als eine Wahrscheinlichkeitsangabe in einem anderen Sprachspiel. Bleibt man auf der Ebene der "Belege" fuer die erste Komponente des Tripels, so verschwindet der Unterschied und es spricht nichts dagegen, Wittgensteins Ueberlegungen als das Aufsuchen und Abwaegen solcher Begruendungsinstanzen zu interpretieren. Das trifft auch auf die Diskussion der Hypothesen und Zukunftsaussagen zu. Wittgenstein nimmt selbst bezogen auf die zweiten eine solche abstufende Bewertung vor, wenn er die Moeglichkeit einraeumt, man wolle ausdruecken, eine Vorhersage koenne "wahr", "falsch" oder "unentschieden" sein *12* und sie waere zu bestaetigen bzw. zu widerlegen *13*. In der Kommunikation, im Sprachspiel, waegt der Akteur jedenfalls die Begruendungsinstanzen ab, deren detailierte Technik ein erkenntnistheoretisch-philosophisches Problem ist und somit fuer die Logik als Beschreibungsinstrumentarium nicht relevanter ist als die "Technik" der Wertezuordnung zu den kontingenden Aussagen im ueblichen Sinne. Die Frage, ob denn Funktionen aus diesen "Begruendungsstufen", also wenigstens komperativ ordenbaren Instanzen, in eine Wertemenge gebildet werden muessen, oder ob man sich mit verbalen Bemerkungen begnuegt, ist eine praktische Frage, eine des betreffenden Sprachspiels und entspricht damit ganz dem aelteren Wittgenstein Wie steht es nun um den Auspraegungswert? Ich bin der Auffassung das Phaenomen, das damit erfasst werden soll, ist bei Wittgenstein mit dem Problem der Vagheit verwoben. Es wird nicht klar, dass die Vagheit eine Eigenschaft des Satzes im Sprachspiel ist, waehrend die Auspraegung des tatsaechlichen Zustandes bezogen auf den intendierten und deren Bewertung auch bei nichtvagen Saetzen thematisiert werden kann, wenn es im Spiel nicht opportun ist, gemaess dem Slogan "Knapp daneben ist auch vorbei" einen nicht geringen Informationsverlust in Kauf zu nehmen. Das Problem hatte Wittgenstein vielleicht im Blick, als er schrieb: "Der Ort (des Treffens, d.A.) auf der Scheibe muss nicht notwendig durch ein Zeichen, einen Kreis, auf der Scheibe angegeben sein. Denn es gibt jedenfalls die Beschreibung "naeher zum Mittelpunkt", "naeher dem Rand", "rechts oben" etc. Wo immer die Scheibe getroffen wird, stets MUSS so eine Beschreibung moeglich sein. Aber von diesen Beschreibungen gibt es auch nicht "unendlich viele"." *14* Noch deutlicher kommt diese Verwobenheit im Abschnitt 8 - Der Begriff "ungefaehr", Problem des "Sandhaufens" - im Teil I der Philosophischen Grammatik zum Ausdruck *15*, in dem gleichsam die mehrwertige Mengenlehre angedacht ist. Fundamental ist eben der Unterschied zwischen einem "genauen" Bezugspunkt mit dem Ausmass des Abweichens und dem verschwommenen Bezugspunkt und den dann fragwuerdig zu verstehenden "Abweichungen". Wittgenstein gehoert damit m. E. zu denjenigen, die die Probleme diskutieren, die zu einer mehrwertigen Herangehensweise fuehrten. Die Gedanken des aelteren Wittgenstein sind mit dieser mindestens kompatibel. Ich hoffe, "der Witz" dieses Diskussionsbeitrages ist trotz der gebotenen Kuerze klargeworden. Fussnoten *1* Strehle 1983 *2* Zadeh 1965 *3* Rescher 1968 *4* Das gelbe Buch, In Wittgenstein 1930-1935, S. 199-243. *5* Reihe C, C XII "Alle", "jeder", "und so weiter". In: Wittgenstein 1930-1935, S. 108-110. *6* Vorlesung XXI, In Wittgenstein 1939, S. 241-254 *7* Wittgensteins Probleme waeren mit einer solchen Beschreibung freilich nicht geloest. *8* Philosophie. Vorlesungen 1932/33. In: Wittgenstein 1930-1935, S. 147-1989, speziell S. 159. *9* v. Wright 1986, S. 144-169. *10* ebenda, S. 170-188. *11* ebenda, S. 144-169. *12* Wittgenstein 1982, Bd.II, Nr.732 *13* 6. Das Wesen der Hypothesen. In: Wittgenstein 1969, S. 219-222, speziell 222 *14* Wittgenstein 1969, Teil II, S. 252. *15* Wittgenstein 1969, Anhang, S. 236-240. Literatur 1. Rescher 1968: Rescher, Nicolas, Topics in philosophical logic, Dortrecht - Holland 1968. 2. Strehle 1983: Strehle, Peter, Zur Begruendung und Darstellung mehrdimensionaler mehrwertiger Logiken, Diss. B, Univ. Leipzig, Leipzig 1983. 3. Wittgenstein 1930-1935: Wittgenstein, Ludwig: Vorlesungen 1930-1935. Cambridge 1930-1932; aus d. Aufzeichn. von John King u. Desmond Lee, Cambridge 1932-1935, aus d. Aufzeichn. von Alice Ambrose u. Margaret Macdonald. Hrsg. v. Desmond Lee; Alice Ambrose, Uebers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1984. 4. Wittgenstein 1939: Wittgenstein, Ludwig: Schriften, 7. Wittgensteins Vorlesungen ueber die Grundlagen der Mathematik, Cambridge 1939, nach d. Aufzeichn. von R.G. Bosanquet, Norman Malcolm, Rush Rhees und Yorick Smythies, Hrg. v. Cora Diamond, Uebers. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1978. 5. Wittgenstein, 1969: Wittgenstein, Ludwig: Schriften 4. Philosophische Grammatik, Hrg. von Rush Rees, Frankfurt/M. 1969. 6. Wittgenstein 1982: Wittgenstein, Ludwig, Schriften, 8. Bemerkungen ueber die Philosophie der Psychologie. Hrg. v. G.E.M. Anscombe u. G.H. v. Wright, Frankfurt/M. 1982.