***************************************************************** * * * File: 13-1-95.TXT Dateilänge: 16 KB * * * * Autor: Wolfgang Kienzler, Jena - Germany * * * * Titel: Von der Art der Verborgenheit des "Inneren". * * Ein Vorschlag des späten Wittgenstein zum Umdenken, * * halbverborgen in einer Nachzüglerpublikation. * * * * Erschienen in: WITTGENSTEIN STUDIES, Diskette 1/1995 * * * ***************************************************************** * * * (c) 1995 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für seine privaten * * wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind von dieser * * Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** * * * Abstract: * * * * Zusammenfassung: In seinen späten Bemerkungen über DAS * * INNERE UND DAS ÄUSSERE schlägt Wittgenstein auf überzeugende * * Weise vor, das Begründungsverhältnis zwischen der angeblich * * prinzipiellen Verborgenheit des seelischer Vorgänge und der * * Redeweise von einem "Inneren" umzukehren. * * * * Abstract: In his late remarks on THE INNER AND THE OUTER * * Wittgenstein convincingly suggests a reversal in the * * relation between the hiddenness of mental acts and our way * * of speaking of these acts as occurring in an "interior" * * place. * * * ***************************************************************** * * * Kienzler, Wolfgang (1995) Von der Art der Verborgenheit des * * "Inneren". Ein Vorschlag des späten Wittgenstein zum * * Umdenken, halbverborgen in einer Nachzüglerpublikation; in: * * Wittgenstein Studies 1/95, File: 13-1-95; hrsg. von * * K.-O. Apel, F. Börncke, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, * * R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, * * Th. Rentsch, A. Roser, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, * * U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl * * (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727 * * * ***************************************************************** I Beinahe gleichzeitig mit dem Eröffnungsband der neuen, kritischen Wittgensteinausgabe ist der "Abschlußband" der bisherigen Ausgabe erschienen und fast unbemerkt geblieben. Dies ist bei der unübersichtlichen Editionssituation nicht ganz unverständlich, aber angesichts der Bedeutung der Texte ein großes Versäumnis. Die späten Texte Wittgensteins, die jetzt unter dem etwas umständlichen Titel LETZTE SCHRIFTEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE (1949-1951) DAS INNERE UND DAS ÄUSSERE (Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1993) vorgelegt wurden, enthalten eine der verblüffendsten, wichtigsten und zugleich für das allgemeine Verständnis zugänglichsten Thesen seiner gesamten Philosophie. Sie fordern den Leser auf, einige seiner selbstverständlichsten allgemeinen Vorstellungen aufzugeben, Vorstellungen, von denen er nicht einmal ahnte, daß es hier überhaupt Anlaß zu philosophischen Analysen oder gar Meinungsverschiedenheiten geben könnte. Die scheinbare Trivialität läßt sich etwa so formulieren: "In das Innere eines Menschen, wo die Gedanken und Gefühle sind, kann man nicht schauen; denn diese sind uns grundsätzlich verborgen, weil sie eben innen sind und wir immer nur das Äußere wahrnehmen können." Wittgenstein fordert uns in seinen immer wieder erneuerten Attacken und Analysen dazu auf, diese Ansicht umzukehren. Er weist darauf hin, daß wir es hier zunächst mit einem Bild zu tun haben, nicht mit einem selbstverständlichen Sachverhalt; und er rückt unsere Ansichten darüber zurecht: Erstens ist, wie gesagt, die Rede vom "Inneren", wie gesagt, nichts Gegebenes, sondern eine Metapher, ein Bild, deren Sinn und Herkunft erst noch zu klären ist; Zweitens ist uns das "Innere" eines Menschen durchaus nicht prinzipiell verborgen, sondern sehr oft wissen wir zweifelsfrei von den Gefühlsregungen eines andern: Gefühle und Gedanken können genausogut offenbar wie verborgen sein; und Drittens ist das "Innere" nicht deshalb verborgen, weil es "innen" ist, sondern umgekehrt verwenden wir das "Innere" als Bild dafür, daß wir manchmal, aber nicht immer, uns in Menschen nicht auskennen, und uns dann deren Gedanken und Gefühle verborgen sind: Weil uns die Sache, in besonderen Fällen, rätselhaft ist sprechen wir von einem "Inneren". Wittgenstein beschäftigt sich nicht aus spielerischer Laune mit diesen Begriffen, sondern er führt hier an einem besonders wichtigen Beispiel seine spezifische Denkweise vor, die zugleich ein hartnäckiges philosophisches Problem lösen, bzw. auflösen hilft: Wenn man philosophische Probleme nicht lösen will, - warum gibt man es nicht auf, sich mit ihnen zu beschäftigen. Denn sie lösen heißt seinen Standpunkt, die alte Denkweise ändern. Und willst du das nicht, so sollst du das Problem für unlösbar halten. (S. 112) Diese neue Denkweise Wittgensteins bedient sich einer genauen Analyse der Sprache. Die Kritik dagegen gilt nicht der Art, wie die Begriffe des Inneren und Äußeren in der alltäglichen Sprache verwendet werden, es geht beispielsweise ausdrücklich nicht darum, etwa die EXISTENZ des Inneren zu leugnen, sondern sie gilt den DEUTUNGEN, die wir gemeinhin mit diesen Begriffen verbinden. Diese Deutungen, so Wittgensteins These, stellen den wahren, sprachlich-begrifflichen Sachverhalt geradezu auf den Kopf. In diesem Sinne schreibt er: Das "Innere" ist eine Täuschung. D.h.: Der ganze Ideenkomplex, auf den mit diesem Wort angespielt wird, ist wie ein gemalter Vorhang vor die Szenerie der eigentlichen Wortverwendung gezogen. (S. 113) Selten hat Wittgenstein das Wesen seiner "Sprachanalyse" klarer ausgesprochen: Ein Begriff wie der des "Inneren" ist nicht die LÖSUNG des Problems, daß wir manchmal die Gedanken eines Menschen nicht wissen und nicht herausfinden können, sondern er ist für den Philosophen eine FRAGE, ein gemalter Vorhang, der durch eine genaue Analyse der Sprache erst aufgezogen werden muß. Dieses Vorurteil über die Sprache ist durch eine tatsächliche Kenntnis der Logik, und das heißt des tatsächlichen Funktionierens, der Sprache zu ersetzen. Das Umdenken, zu dem Wittgenstein auffordert, betrifft das Verhältnis von angeblicher und wirklicher Verborgenheit im Zusammenhang mit der Redeweise von "Innen" und "Außen". Seine Lösung lautet: Dafür, daß das menschliche "seelisch-geistige" Handeln so komplex und unendlich fein abgestuft ist, daß es nicht in einfache Schemata gebracht werden kann, dafür bedient sich die Sprache des Bildes von "inneren" und "äußeren" Vorgängen. Dieses Bild an sich ist dabei noch nicht falsch, irreführend wird die Sache erst, wenn man - scheinbar selbstverständlich - die äußeren mit den sichtbar-erkennbaren und die inneren mit den scheinbar prinzipiell nie ganz erkennbaren Vorgängen und Handlungen gleichsetzt. Dieses Gleichsetzungsschema bricht Wittgenstein auf: Die Unsicherheit, die immer besteht, ist nicht die, ob er vielleicht heuchelt, sondern der komplizierte Zusammenhang des Wortes "Schmerz haben" mit dem menschlichen Benehmen. (S. 45) Der Mangel an Exaktheit und an einem einfachen korrekten Schema in der Kenntnis von seelischen Vorgängen hat also in erster Linie mit deren Komplexität und Variabilität zu tun, keineswegs damit, daß sie an einem verborgenen Ort stattfinden. Die Schwierigkeit, sie genau zu erkennen und zu bestimmen ist der Schwierigkeit vergleichbar, ein menschliches Gesicht genau zu zeichnen, und nicht etwa eine unsichtbare "Seele" darzustellen. Die scheinbar so selbstverständliche Unsicherheit über das "Innere" des andern Menschen ist also keine prinzipielle, sondern sie besteht nur fallweise. Die Philosophen der Vergangenheit (und der Gegenwart) haben sich von der Faszination, die von der Existenz solcher Zweifelsfälle ausgeht, zu dieser allgemeinen These verleiten lassen. Sie rückgängig zu machen, erfordert als Gegenbewegung wirklich eine neue Denkweise. Wittgenstein geht von einer einfachen Beobachtung aus: Es gibt den unverkennbaren Ausdruck der Freude und das Gegenteil. Unter diesen Umständen WEISS man, daß er Schmerz, oder keinen hat; unter jenen ist man unsicher. (S. 48) Wichtig ist es, die Existenz solcher Fälle klaren, eindeutigen Wissens festzuhalten: Es sind nur besondere Fälle, in denen das Innere mir verborgen ist, und es ist also dann nicht verborgen, WEIL es das Innere ist. (S. 49) Der Grund der Verborgenheit "innerer" Vorgänge liegt in den jeweils besonderen Umständen, und nicht in der scheinbaren Tatsache, "daß es eben innere Vorgänge sind". Wittgenstein will uns dazu bringen, umzudenken und die spontane Sicherheit als ebenso grundlegendes Faktum anzuerkennen wie die fallweise Unsicherheit darüber, wie es "in" einem anderen aussieht. Beide Fälle sind gleichberechtigt. Das bedeutet nicht, daß es keinen Unterschied zwischen "inneren" und "äußeren" Vorgängen gibt: Wittgenstein weist vielmehr darauf hin, daß die Beziehungen zwischen ihnen VIEL KOMPLIZIERTER sind, als es das zu einfache Schema innen/außen bzw. offenbar/verborgen ausdrücken kann: Es gibt innere und äußere Begriffe. Was ich sagen will, ist doch, daß das Innere sich vom Äußeren durch seine Logik unterscheidet. (S. 87) _ also insbesondere nicht durch seinen "Ort". Fundamental ist Wittgensteins Aufforderung, unser Vorurteil umzukehren: Wir brauchen den Begriff "seelisch" etc. nicht, um zu rechtfertigen, daß gewisse unserer Schlüsse unbestimmt sind. Sondern diese Unbestimmtheit erklärt uns den Gebrauch des Wortes "seelisch". (S. 87) Diese Zumutung zum Umdenken macht die eminente philosophische Bedeutung dieser späten Aufzeichnungen Wittgensteins aus. Dem veröffentlichten Text in seiner teilweise sehr rohen und unübersichtliche Form muß diese Einsicht allerdings einigermaßen mühsam abgerungen werden. Die Mühe lohnt sich. II Der Band LETZTE BEMERKUNGEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE. DAS INNERE UND DAS ÄUSSERE bildet einen Schlußstein, der neben der Präsentation seiner Kernthematik verschiedene vorliegende Publikationen verknüpft. Der umfangreichste gebotene Text ist in wesentlichen Teilen eine Vorstufe (keine Fortsetzung) der bereits 1982 bzw. 1984 (im Band 7 der Werkausgabe) vorgelegten LETZTEN BEMERKUNGEN ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER PSYCHOLOGIE, als deren "Zweiter Band" der gesamte Komplex ursprünglich (bereits für 1982) angekündigt wurde. Die LETZTEN BEMERKUNGEN wiederum sind die hauptsächliche Quelle für denjenigen Text, der aufgrund einer verfehlten, oder zumindest sehr anfechtbaren Herausgeberentscheidung seit 1953 als "Teil II" der PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN vorliegt. Das Notizbuch mit den Vorstufen zu den LETZTEN BEMERKUNGEN enthält in seinen späteren Teilen zugleich Bemerkungen, die zu den Themenkomplexen "Über Gewißheit" und "Über die Farben" überleiten, mit denen sich Wittgenstein in seinen letzten beiden Lebensjahren beschäftigte, und die bereits seit 1969 bzw. 1977 in Einzelbänden vorliegen (jetzt in Band 8 der Werkausgabe). Die Bemerkungen über DAS INNERE UND DAS ÄUSSERE stellen dazu den dritten zusammenhängenden Themenkomplex dar, der wohl nur deshalb so lange unveröffentlicht blieb, weil die Bemerkungen dazu insgesamt von relativ geringem Umfang sind, und weil hier einige Fälle von Grenzüberschreitungen hin zu den anderen Themen vorkommen. Der jetzt veröffentlichte Band enthält auf diese Weise zum überwiegenden Teil "Verbindungsstücke" zwischen den Themenkomplexen, und nur zu einem geringeren Teil die oben vorgestellten Ausführungen über Innen und Außen, die im Einzelnen ausgezeichnet formuliert sind, aber als Gesamtheit relativ wenig durchgearbeitet und konzentriert sind und insofern keinen fertigen Text darstellen. Diese Unübersichtlichkeit des vorliegenden Materials wird durch die Präsentation der Herausgeber leider eher vermehrt als vermindert. Man vermißt eine Übersicht über die Zusammengehörigkeiten der ganz oder teilweise gedruckten Manuskripte (von einem schönen Stemma, wie es der neuen Wiener Ausgabe beigegeben ist, ganz zu schweigen), so daß die Verhältnisse der Themengruppen innerhalb der Manuskripte unklar bleiben; dafür wird der Leser zunächst von einer Fülle einzelner Querverweise in verschiedene Richtungen abgelenkt, so daß der Weg zum systematischen Zentrum eher behindert als gewiesen wird. Auch der ausführliche Klappentext verheddert sich im Gestrüpp der Manuskripte und gibt keinen klaren Hinweis auf das eminente Gewicht der Kerntexte über DAS INNERE UND DAS ÄUSSERE. So ist der Leser auf sich selbst und die vom Untertitel erweckte Neugier angewiesen, um eine Entdeckung zu machen, die sich lohnt.