***************************************************************** * * * File: 16-1-95.TXT Dateilänge: 75 KB * * * * Autor: Hans J. Wulff, Berlin - Germany * * Ludger Kaczmarek, Münster - Germany * * Peter Ohler, Passau - Germany * * * * Titel: Fortnum & Mason im Kino: * * Derek Jarmans Film WITTGENSTEIN * * * * Erschienen in: WITTGENSTEIN STUDIES, Diskette 1/1995 * * * ***************************************************************** * * * (c) 1995 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für seine privaten * * wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind von dieser * * Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** * * * Abstract: * * * * Die Untersuchung versucht die Strategien aufzudecken, in * * denen Derek Jarman Figur und Werk Wittgensteins darstellt. * * Dazu werden assoziative Verweisungsfelder, topikale Ketten * * und Signifikationsmodalitäten des Films analysiert. * * ------------ * * Our investigation tries to unfold the strategies used by * * Derek Jarman to expose Wittgenstein as a person and a * * philosopher. For that reason associative clusters and * * pointer structures, topical chains, and modes of * * signification of the film were analyzed. * * * ***************************************************************** * * * Wulff, Hans J.; Kaczmarek, Ludger; Ohler, Peter (1995) * * Fortnum & Mason im Kino: Derek Jarmans Film WITTGENSTEIN;in: * * Wittgenstein Studies 1/95, File: 16-1-95; hrsg. von * * K.-O. Apel, F. Börncke, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, * * R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, * * Th. Rentsch, A. Roser, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, * * U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl * * (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727 * * * ***************************************************************** 1. VORBEMERKUNG: DER FILM WITTGENSTEIN (WITTGENSTEIN) Großbritannien 1993 R: Derek Jarman B: Derek Jarman, Terry Eagleton, Ken Butler K: James Welland M: Jan Latham-Koenig D: Karl Johnson (Ludwig Wittgenstein), Clancy Chassay (der junge Wittgenstein), Michael Gough (Bertrand Russell), Tilda Swinton (Ottoline Morrell), John Quentin (Maynard Keynes) Länge: 75' Drehbuch: vgl. Eagleton/Jarman 1993. WITTGENSTEIN wurde zunächst konzipiert als ein Beitrag in einer Reihe über große Philosophen (THE PHILOSOPHERS), die der englische Fernsehsender Channel-4 senden wollte. In einem ersten Zyklus von 52- Minuten-Porträts sollten Sokrates, Spinoza, Locke und Wittgenstein vorgestellt werden. Redaktionelle Vorgabe war, die Beiträge der Reihe so zu konzipieren, daß man vom Prinzip der redenden Köpfe bei der Präsentation derartiger Themen abgehen solle. Der Sokrates-Film mußte aufgrund von Etat-Kürzungen gestrichen werden. Der Spinoza-Beitrag entstand unter der Leitung des Dokumentaristen Christopher Spencer, der Locke-Film wurde von Peter Wollen - Regisseur, Philosoph, Filmtheoretiker - verantwortet. Für den Wittgenstein-Film suchte der Produzent Tariq Ali einen Regisseur mit einem "fantastic amount of vision and imagination" (O'Pray 1993, 24) und wandte sich an Derek Jarman, der das Skript sehr interessant fand und nach kurzer Zeit den Vertrag unterzeichnete. Das von Channel-4 vorgegebene Produktionsvolumen betrug £200.000, konnte aber erweitert werden, weil Ben Gibson, der in der Produktionsabteilung des British Film Institute arbeitet, von der Idee begeistert war, den Philosophen Terry Eagleton und Jarman an einem derartigen Stoff zusammenarbeiten zu lassen; Gibson stockte den Etat auf £300.000 auf, so daß über das 52- Minuten- Format hinausgegangen werden konnte. Eine weitere Etaterweiterung kam durch den Verkauf der Kino- und Fernsehrechte an den japanischen Verleih Uplink. Jarman hatte sich im Vertrag ausbedungen, den Film auf Film und nicht auf Video zu drehen; gedreht wurde im Super-16-Format. Der Film wurde in 14tägiger Dreharbeit im Waterloo-Studio an der Londoner Theed Street realisiert, dem gleichen Studio, in dem auch Caravaggio (1986) und Edward II (1991), zwei andere Jarman- Filme, gedreht wurden. Derek Jarman, 1942 in England geboren, wurde 1994 das Opfer einer AIDS-Infektion. Er wurde als Maler ausgebildet, wandte sich zu Beginn der siebziger Jahre aber ganz dem Film zu und gilt als einer der wichtigsten englischen Avantgarde-Künstler der jüngeren Generation. Der thematische Fokus seiner Arbeit ist Homosexualität, die er in einer kompromißlosen und sehr individuellen Art der Darstellung inszeniert. Sein künstlerischer Stil ist unter anderem beeinflußt von Kenneth Anger, Jean Cocteau und Ken Russell. Als ein überzeugter Anhänger des experimentellen Films hat Jarman immer die repressive und kommerzialistische Art des Hollywood- Kinos kritisiert. Homosexuelle Kunst, wie sie Jarman vertritt, basiert auf der Erfahrung der Stigmatisierung von Homosexualität als "abnormal" und "unnatürlich", einer "kranken" Verhaltensweise im Kontrast zu heterosexuellen Orientierungen als "normal", "natürlich" und "gesund", und inszeniert die homosexuelle Erfahrung in einem Spannungsfeld von Kapitalismuskritik und der ästhetischen Programmatik eines "semiotic excess". 2. DER INHALT Wir wollen in diesem Artikel zeigen, zu welchen eigenständigen und eigenwilligen Mitteln Jarman gegriffen hat, um das Leben des Philosophen Ludwig Wittgenstein filmisch zu erzählen. Wir werden uns in der Analyse stützen auf die Interpretation der Wittgenstein-Figur, die der Film vorschlägt, und nicht auf die historische Verbürgtheit einzelner Details oder Episoden. Wir bedienen uns in der Analyse textsemiotischer, historisch-biographischer und in Ausnahmefällen auch der sprachphilosophischer Modelle und Texte Wittgensteins. Wir wollen also den Film nicht im Rahmen der Wittgensteinschen Philosophie interpretieren, sondern ihn als eine Exposition und diskursive Beschreibung einer Philosophenbiographie auffassen. Der Film steht gleichzeitig in mehreren Kontexten, die für eine Analyse bedeutsam sein können (und im folgenden in verschiedener Weise in den Vordergrund treten): (1) Er ist ein Film im Lebenswerk eines Regisseurs, der sich der Darstellung homosexueller Erfahrung verschrieben hat. (2) Er ist ein Film in einer Reihe von Filmen, die im Fernsehen das Leben und Werk bedeutender Philosophen vorstellen sollen. (3) Er ist ein künstlerischer Film, der von Rezipienten mit ganz unterschiedlichem Hintergrundwissen in unterschiedlicher Weise verstanden wird. (4) Er ist ein Film, dessen Signifikationsmodus und innere Struktur sich gegen filmsemiotische Analyseverfahren sperrt, die primär an narrativen und realistischen Textsorten entwickelt wurden. Es wird darum nötig sein, einige Überlegungen dazu anzustellen, von was der Film eigentlich handelt und wie er eigentlich gebaut ist. Ausgehen wollen wir aber von einer einfachen Frage und einer einfachen Modellvorstellung: Was kann ein Rezipient, der nicht zum Kreis der Fachphilosophen zählt und auch kein ausgeprägtes Wissen über den Philosophen Ludwig Wittgenstein hat, aus dem Jarman- Film über jenen erfahren? Nehmen wir hypothetischerweise an, der Rezipient wisse nur, daß Wittgenstein ein berühmter Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen ist. Welche mentalen Modelle im Hinblick auf die Person Wittgenstein kann der Rezipient sich unter dieser Bedingung durch die Lektüre des Wittgenstein-Films von Jarman aufbauen? (Zum narrativen Film und seine psychische Verarbeitung durch den Zuschauer vgl. Ohler 1994, Wuss 1993 und Kaczmarek 1995.) Die erste Filmeinstellung zeigt einen Jungen - und der Zuschauer wird erwarten, daß es sich hier um den jungen Wittgenstein handelt: Weil der Titel auf eine Hauptfigur hindeutet, und weil es Konvention ist, daß Hauptfiguren früh in die Erzählwelt eingeführt werden, und wohl auch, weil ebenso konventionellerweise im biographischen Diskurs die Erzählung mit der Jugend des Helden anhebt. Der Junge, ein Brillenträger, spielt nicht Fußball wie andere Kinder, macht einen sehr ernsthaften Eindruck. Er arbeitet an einem Aphorismus. Die Genialität und das Interesse an philosophischen Problemen hat sich beim jungen Wittgenstein schon früh gezeigt! möchte der naive Zuschauer denken, indem er das biographische Schema aufruft, das dergleichen Biographica des öfteren unterliegt. Bereits am Kind zeigt sich vielleicht ein Persönlichkeitszug, der sich das ganze Leben hindurch als stabil erweisen wird, mag er annehmen (ein "trait" des beschriebenen Menschen, wie die Psychologen das nennen). Schon in der ersten Einstellung hat sich eine Erwartung eingestellt, die die weitere Rezeption des Films beeinflußt: Der Protagonist ist bekannt, das biographische Stereotyp aktiviert, ein Gesamtlebensplan scheint auf. Es gehört zur Charakteristik der Inszenierung der Rezeptionstätigkeiten durch den Film, daß er mit derartigen schematisierten Hypothesen differentiell umgeht, sie irritiert, konterkariert, unterläuft. Schon die zweite Einstellung steht jenem Set von Erwartungen des Rezipienten entgegen, die dieser aus der ersten Szene abgeleitet hat - man sieht das gleiche Kind wieder, das sich jetzt als Ludwig Wittgenstein vorstellt. Während jedoch in der ersten Szene das Kind konventionell gekleidet ist, ist es hier maskiert mit einem seltsamen Kostüm. Zudem erklärt es, daß es seine Lebensgeschichte erzählen werde - und bricht damit mit der erwarteten linearen Erzählweise. Ein Kind kann keine Lebensgeschichte erzählen, die noch nicht stattgefunden hat. Wer oder was also ist der Knabe? Das Kostüm deutet vielleicht eine andere Wirklichkeitsebene an, mag der naive Rezipient denken. So würde erklärbar, daß das Kind der Erzähler seiner Lebensgeschichte sein kann (er ist eine "personalisierte narrative Instanz", wie die Textsemiotik das nennen würde). Der Rezipient wird ab diesem Zeitpunkt zu ahnen beginnen, daß er keinen Film zu sehen bekommen wird, der in konventioneller narrativer Form eine Lebensgeschichte erzählt. In dieser Szene werden zudem die ersten biographischen Fakten vermittelt. Wittgenstein stammt aus einer sehr reichen Wiener Familie mit kulturell-intellektuellem und vor allem künstlerischem Hintergrund. Es treten die Verwandten von Wittgenstein auf. Einige sind ebenfalls in antikisierende, theaterhafte Kostüme gekleidet. Während der Erzähler weiter als Kind auftritt, sind seine Brüder, die eigentlich der gleichen Alterskohorte angehören sollten, schon erwachsen. Auch dieses unterstützt den Eindruck des Zuschauers, nicht einen normalen, linear am Zeitverlauf orientierten narrativen Biographiefilm zu sehen zu bekommen. Sein Genrewissen wird dem Zuschauer vielleicht signalisieren, daß dies auch nicht zu erwarten war - eine Philosophenbiographie muß schließlich anders erzählt werden als die Biographie eines Generals oder eines berühmten Chirurgen! In dieser Art und Weise könnte man Schritt für Schritt zu beschreiben versuchen, wie die Informationen des Films vom Rezipienten geordnet und damit interpretiert werden, wie das Wissen des Rezipienten in die Interpretation einfließt, wie er immer wieder gezwungen wird, sein mentales Modell des Films umzustrukturieren. Wir werden diese Beschreibungsperspektive hier nicht in extenso verfolgen, sondern nur kursorisch einige Anmerkungen dazu machen, wie der Film als strukturierter Prozeß der Informationsverarbeitung und der Auseinandersetzung des Zuschauers mit dem Sinnangebot des Films aufzufassen wäre. Dabei wollen wir auch eine kurze Inhaltsübersicht über wichtige thematische Entwicklungslinien des Films geben. Die Familie Wittgenstein steht zusammen um den Flügel, der Bruder Paul spielt. Der Erzähler-Knabe gesellt sich zu seiner Familie. Durch die Umarmung der Mutter wird deutlich, daß er in der erzählten Welt der Familie den Status eines Kindes hat (wiederum wird mit der textuellen Funktion gebrochen, die das Kind als Erzählerfigur identifiziert hatte). In einer der nächsten Szenen wird die Ausbildung des jungen Wittgenstein durch die Hauslehrer gezeigt. Der Junge sitzt an einer Nähmaschine und näht (die Benutzung eines für einen Knaben sehr untypischen Instrumentes; später wird diese Beobachtung einen eigenen Status einnehmen können, wenn sich der Rezipient noch daran erinnert: das Thema der Homosexualität, das den Film durchzieht und das einen latenten Hintergrund für zahlreiche Einzelinformationen bildet). Währenddessen "brüllt" ein Halbkreis von Hauslehrern und Hauslehrerinnen auf ihn ein. Die Szene ist höchst "unrealistisch", symbolisiert die Leidenserfahrung schulischer Lern- und Dressurprozesse eher als daß es sie darstellte. Der Junge hält sich die Ohren zu. Wiederum enthält ein kognitives Modell von Lebensläufen ein Schema zur Interpretation: Aus der Sinnlosigkeit der Schulerfahrung folgt unter Umständen eine obsessive Suche nach authentischer Wahrheit. Man sieht dann den jungen Wittgenstein in einem Ambiente, das England als Handlungsort andeutet. Er diskutiert mit einem Außerirdischen, Mr. Green, der mit dem Protagonisten einen Syllogismus diskutiert. Wer ist Mr. Green? Alter Ego? Traumfigur? Oder eine diskursive Figur, die es möglich macht, die Wendepunkte in der Entwicklung des Philosophen (oder seines Denkens) zu indizieren und dem Zuschauer exemplarisch mitzuteilen? Eine Seitenbemerkung: Der Zwerg, so erzählt der Produzent des Films, sei eine Erfindung Jarmans (O'Pray 1993, 25). Ein Marsbewohner taucht aber schon in Wittgensteins Studie "Über Gewißheit" auf (23.3.1951; vgl. Wittgenstein 1989, 205 [=Nr. 430]) - spielerischer Gesprächspartner, an dem sich oft nur implizites Alltagswissen ("Hintergrundwissen", "tacit knowledge") erweisen kann - man weiß, daß man zehn Zehen hat, ob man sie sieht oder nicht (vgl. dazu Suntinger 1993, 32). In der nächsten Szene erhält der Zuschauer weitere historische Fakten: Wittgenstein geht nach Manchester, um sich mit ingenieurwissenschaftlichen Problemen von Flugzeugmaschinen zu beschäftigen. Er wird von nun an nicht mehr durch ein Kind, sondern durch einen Erwachsenen dargestellt. Nach jugendlichem "Versagen" geht er nach Cambridge, um bei Bertrand Russell Philosophie zu studieren. Russell ist im Film ein älterer Herr. Er diskutiert mit Wittgenstein, es geht um die Rolle von Dingen und Sachverhalten in Fragen der Objektivität und möglichen Gewißheit über sie. Russell zeigt sich enttäuscht von Wittgenstein. Die Diskutanten verlassen die Szene, als der junge Erzähler mit einer leuchtend-gelben Rhinozeroshorn-Maske unter dem Tisch hervorkommt. Für den naiven Zuschauer sind derartige Seitendetails, die das zuvor beredete philosophische Problem spielerisch in die szenische Realität einholen, äußerst schwer konsistent zu interpretieren - und es liegt nahe, daß er manches als "Gag" ohne tieferen Sinn qualifiziert. Man sieht im folgenden einige Szenen, die die mondäne englische Gesellschaft zeigen - vor allem tritt Ottoline auf, die Geliebte Russells. Der junge Erzähler beklagt, daß ihn das gesellschaftliche Leben in England langweile. Wittgenstein zieht sich nach Norwegen an einen Fjord zurück und schreibt die "Notizen zur Logik". Eine kurze Einstellung zeigt ihn in einem Boot, er denkt laut darüber nach, daß es hier, in der Einsamkeit, möglich sei, philosophische Probleme zu lösen. Russell ist bei einem - offensichtlich homosexuellen - Friseur. Die beiden unterhalten sich über Wittgenstein - und der Zuschauer erfährt en passant, daß jener auch in Abwesenheit bereits eine Person des öffentlichen Lebens in Cambridge geworden ist. Und: Selbst der Philosophenfriseur weiß und findet es schockierend, daß Wittgenstein nie Aristoteles gelesen haben soll! (Es mag sein, daß der Zuschauer das Detail auf die Hauslehrerszene zurückbezieht: als eine Weigerung Wittgensteins, sich auf den Kanon der Autoritäten einzulassen.) Es folgt eine weitere Diskussion mit Mr. Green: Woher kann ich wissen, daß Sie Ludwig Wittgenstein sind? Jarman spielt hier in der Diskussion um philosophische Gewißheit auch mit dem Verhältnis der filmischen und der außerfilmischen Realitätsebene, auf diese Weise eine weitere Komplexion der semiotischen Schichten betreibend, in denen die Erzählung artikuliert ist. Mr. Green: Ich weiß, daß dieses Filmstudio sich in Waterloo befindet. Aber wie kann ich wissen, daß Sie Ludwig Wittgenstein sind? Wieder in Wien. Wittgenstein ist bei seinem Bruder, der Klavier spielt. Wittgenstein hat sich, wie sein Bruder, freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Es ist von "Pflicht" die Rede (in eigenartigem Kontrast zu dem Image des oppositionellen und antiautoritär orientierten Jung-Philosophen, das bis dahin so dominierend schien). Die Kriegsszenen folgen unmittelbar. Sie zeigen Wittgenstein in einem vollkommen reduzierten Szenario an einem Maschinengewehr - "im Stahlgewitter des Schützengrabens", ist man geneigt zu beschreiben. Dazu sieht man auf einer Fahne eine der wichtigsten Aussagen des "Tractatus" - "Die Welt ist alles, was der Fall ist". (Als philosophische Aussage Wittgensteins ist sie für unseren Zuschauer nicht unbedingt erkennbar - und dann wird er sich wiederum fragen müssen, was die seltsame Standarte besagen soll.) Kriegsgefangenenschaft beendet die Weltkriegsepisode. Russell, auf dem Bett mit Ottoline. Er liest ihr einen Brief des fernen Gefangenen vor. Wittgenstein hat den "Tractatus" geschrieben. Ottoline scheint eifersüchtig zu sein, doch Russell weigert sich, ihr den Begriff "logischer Symbolismus" zu erklären. Die zwei Szenen sind von extrem unterschiedlicher Farbigkeit: Die Gefangenenszene ist in der Farbe Grau-Schwarz gehalten, die Russell-Szene ist dagegen grell- bunt. Vor allem Ottoline wirkt bunt wie ein Papagei. Wieder in Wien entscheidet sich Wittgenstein - gegen den heftigen Protest seiner Schwester -, in einer Provinzschule zu unterrichten. Die Szene ist streng analog zu jener Szene gebaut, in der die Schwester gegen die freiwillige Meldung zum Kriegsdienst Einspruch erhob. Wittgenstein als Lehrer: Er versucht, den Kindern logische Kalküle beizubringen, die weit über ihr Verständnis gehen müssen. (Auch wenn der naive Zuschauer verunsichert sein könnte, ob die Schüler tatsächlich im Grundschulalter sind oder etwas anderes symbolisieren, erfährt er auf jeden Fall, daß Wittgenstein ein ungeduldiger und unausgeglichener Lehrer ist. Es stört ihn, daß die Kinder ihn nicht verstehen. Außerdem ist er aggressiv und quält die Schüler.) In der nächsten Szene verrichtet der Erzähler repetitive Arbeiten an einer Tafel. Er berichtet, daß sich Wittgenstein als moralischer Versager vorkam und sich deshalb jahrelang schuldig fühlte. (In einem biographischen Film, der eher eine unglückliche Lebensgeschichte zeigt - dies müßte dem Zuschauer mittlerweile klar geworden sein -, sind Schuldgefühle und Zweifel am Sinn von Leben und Arbeit sicher ein Motiv, das man im Auge behalten sollte, weil es ein "kritisches Lebensereignis" ist, das den ganzen Lebenslauf verändern kann.) Im folgenden Dialog mit dem Marsbewohner Mr. Green geht es um die Zweifelsfreiheit der Existenz von Dingen: "Die Erde existiert und so auch die Marsmenschen". (Aber Mr. Green ist doch Marsmensch, möchte man einwenden. Und kontern: Aber in einer fiktiven Welt!) Wittgenstein "diskutiert" den "Tractatus" mit seiner Schwester, die eine Sitzung zu einem Aktbild vorbereitet (sie ist Malerin). Sie versteht das Buch nicht. Wittgenstein sagt, auch Russell würde es nicht eigentlich verstehen, obwohl er das Vorwort geschrieben habe. Der Zuschauer mag Wittgenstein als arrogantes und selbstüberzeugtes Genie empfinden. In der nächsten Szene wird der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes eingeführt, der mit Bertrand Russell am Telephon diskutiert. Keynes wird von einem Jüngling angekleidet. Die Blicke zwischen Keynes und Johnny könnten den Zuschauer veranlassen, die beiden als schwules Paar zu identifizieren. Johnny, vielleicht der junge Geliebte Keynes', soll Wittgenstein zurückholen. Klerikale Gesänge und eine Gießkanne indizieren, daß Wittgenstein sich mittlerweile als Klostergärtner verdingt hat. Ob diese minimalen Cues hinreichen, um den Zuschauer dies inferieren zu lassen, sei dahingestellt. Johnny tritt auf. Er bringt Briefe von Russell und Keynes. Er ist selbst Philosoph. Wittgenstein rät ihm vehement vom Beruf eines Philosophen ab. Der Zuschauer erfährt indirekt, daß für Wittgenstein dieser Beruf mit "Leid" erfüllt ist. (Hinsichtlich des Themas der Homosexualität kann der Zuschauer an dieser Stelle Inferenzen bilden: Weshalb denkt Keynes, Johnny sei die richtige Person, Wittgenstein zurückzuholen? Denkt Keynes, Wittgenstein könne sich zu Johnny hingezogen fühlen? Ein gewisse Aufklärung bringt die nächste Szene: Keynes, als strategischer Drahtzieher im Hintergrund, will Russell akademische Konkurrenz verschaffen.) Der Zuschauer erfährt, daß Wittgenstein eine Abneigung hat, seine Vorlesungen zu halten. Er kann dies als eine der depressiven Phasen im Leben des Protagonisten auffassen. Johnny gelingt es, ihn zu trösten und zu motivieren. Er legt zärtlich die Hand auf die Decke des Philosophen und lädt ihn zu einem Kinobesuch ein. Wittgenstein in seiner Vorlesung. Wenige Leute sind anwesend - neben Studenten auch Russell und Keynes. Die Studenten verstehen Wittgenstein nicht. (Die Themen der Spätphilosophie kommen zur Sprache: "Sich eine Sprache vorzustellen, heißt, sich eine Lebensform vorzustellen".) Auf Russells Einwand, die Philosophie zu trivialisieren, wird Wittgenstein wütend. Hier mag sich der Zuschauer an Begebenheiten in der Szene, die in der österreichischen Schule spielen, erinnern. Wittgenstein und Johnny zum erstenmal gemeinsam im Kino: Die in dieser Szene versteckten Hinweise wird der naive Zuschauer nicht verstehen können (siehe unten). Der Erzähler, mit einer 3-D-Brille auf der Nase, bestätigt die Filmliebhaberei Wittgensteins. Keynes, Lydia und Wittgenstein spielen Sonne, Erde und Mond. Wittgenstein ist fanatisch bei dem Spiel dabei. Der Zuschauer entdeckt einen neuen Persönlichkeitszug Wittgensteins: Der Philosoph hat eine Obsession für scheinbar "kindische" Spiele. Kinder diffamieren Wittgenstein mit obszönen Gesten als homosexuell. Er fragt Ottoline nach der Bedeutung des Zeichens. Gesten und ihre Verstehbarkeit qua Konvention fungieren für Wittgenstein als Indiz, daß die logische Sprachanalyse seines Frühwerks eine Sackgasse war. Es folgt eine intime Szene mit Keynes und Johnny im Bett. In einer Vorlesungsszene wird - für den Zuschauer ersichtlich - der für die Spätphilosophie wichtige Begriff "Sprachspiel" eingeführt. Wittgenstein fühlt sich leer und erschöpft. Wittgenstein und Johnny im Kino. Wittgenstein nimmt seine Hand. Der Zuschauer wird jetzt explizit mit Wittgenstein als Homosexuellem konfrontiert. Wir wollen die Beschreibung der Szenen an dieser Stelle abbrechen. Alle relevanten Themen des Films, an denen die biographische Erzählung entlanggeführt ist, sind nun eingeführt und werden in einer lockeren Folge von Szenen weiter präzisiert. Der Film endet mit dem Tod Wittgensteins. 3. EMBLEMATA, KULTURELLE EINHEITEN UND ASSOZIATIONSKOMPLEXE: ZUM SIGNIFIKATIONSMODUS DES WITTGENSTEIN-FILMS Jarmans Film ist kein "realistischer" Film im normalen Sinne. Alle Szenen spielen in Bühnen-Interieurs, keinesfalls in alltäglichen Lebensumgebungen. Die einzelnen Bilder sind zu Tableaus komponierte Konstellationen von Objekten, die - entkontextualisiert und meist auch dysfunktionalisiert - nurmehr als Verweise dienen. Nicht nur auf ihre natürlichen situativen Umgebungen, sondern auf die "Objekt- Bedeutungen", die mit ihnen assoziiert sind, zielt der Verweis. Das Objekt ist ein Zeiger, ein "pointer", der auf ein Netzwerk anderer Objekte, Funktionen, Bedeutungen und symbolisch-diskursiver Kontexte verweist. Die Bedeutungsbeziehung, die ein solcher Darstellungsmodus konstituiert, ist äußerst offen, fragil und abhängig vom Kenntnisstand des Adressaten. Die Lektüre derartiger Tableaus aus indexikalischen Verweisungen setzt nämlich voraus, daß der Assoziationskomplex, auf den der "pointer" gerichtet ist, gewußt sein muß. (Es stellt sich natürlich die Frage, wie vollständig oder partiell die Kenntnis eines Komplexes sein muß. Offenheit der Bedeutungen führt nicht unbedingt zur Offenheit der Rezeptionsprozesse und zur Integration ganz unterschiedlichen Vorauswissens, sondern unter Umständen ganz im Gegenteil zu einer Hermetik des Textes, der sich als an sehr spezifische Vorkenntnisse gebunden erweist - und es sollte vermerkt sein, daß professionelle Philosophiekenntnisse einer Entzifferung des Films nur bedingt zuträglich sind.) Kenneth Burke hat in seinem Buch "Dichtung als symbolische Handlung" (1965) ein Beschreibungsverfahren für derartige signifikative Relationen vorgeschlagen. Er nimmt an, daß ein poetisch-literarischer Text (und wir gehen davon aus, daß die Annahme auf filmische Strukturen übertragen werden kann) eine komplexe Motivstruktur aufweist und als ein Gefüge von impliziten Gleichungen (equations) aufgefaßt werden kann. Dabei gliedern sich die Motive in Assoziationskomplexe (associational clusters). Die Analyse eines Textes muß deutlich machen, was in diesen Komplexen zusammengehört, zusammengefaßt werden kann - welche Objekte, Akte, Bilder, Charaktere und Situationen sich einzelnen Themen einordnen und den Vorstellungen des Autors entsprechen (Burke 1965, 25). Freilich hat man es mit Einheiten des Verständnisses zu tun, die sich als solche nirgends im Text finden, sondern sich dort nur in Spuren sedimentieren. Die Realisierungen von Motivkomplexen im Text sind Anlässe für rezeptive Synthesen, für das Ausprobieren von Zusammengehörigkeiten. Motive entstehen in der Rezeption anläßlich des Textes, sind jedoch keine Elemente des Textes. Dennoch organisiert der Text die Bewegungen des Verstehens vor, er ist keine beliebige Ansammlung von Informationen, sondern präfiguriert die Operationen, aus denen Motive gewonnen werden. Und er benutzt dazu symbolisches Material (oder Material, das symbolische Beziehungen anzeigen kann), das potentiell zum allgemeinen kulturellen Wissen gehört. Nun ist Burkes Verfahren darauf gerichtet, solche Bedeutungskomplexionen zu beschreiben, die durch die Informationsangebote eines Textes selbst aufgeschichtet werden. Wir wollen hier zunächst eine andere Lesart der Rolle von "associational clusters of meaning" aufnehmen: Das kulturelle Wissen läßt sich gliedern in "kulturelle Einheiten" (Eco 1972, 74ff) - komplexe Interpretationen einzelner Tatsachen und Gegenstände, die als assoziative Netzbeziehungen modelliert werden können. Alle Organisation von Wissen, sowohl der primären Erfahrungswelt wie auch abgeleiteter Zeichenwelten ist dieser These folgend - netzartig konstruiert, - umfaßt Zeichen verschiedener Art und Komplexität, - übergreift mehrere semiotische Stufen, - ist prinzipiell offen, - durch ein Gefüge von Verweisen gewichtet und in Teilnetze gegliedert, - schließlich dazu fähig, sich auf besondere Kontexterfordernisse zu adaptieren. Kulturelle Einheiten sind unabhängig von besonderen Texten, weil sie den erworbenen Wissenszusammenhang einer Kultur ausmachen, vor dessen Hintergrund Texte erst Bedeutungen entfalten können (durchaus in dem Sinne, wie Wittgenstein das Verhältnis von Sprachspiel und Lebensform verstanden hat). Kulturelle Einheiten sind aber auch gebunden an besondere Texte, weil sie nur in ihnen Geltung besitzen, aktualisiert und verändert werden. Ein Beispiel aus WITTGENSTEIN, an dem wir diese Überlegung heuristisch illustrieren wollen, sei die zweite Einstellung des Films: Sie zeigt den jungen Wittgenstein in einer halbnahen Aufnahme; er ist in eine weiße Toga gehüllt, die von einem breiten Goldband über der Schulter festgehalten wird; er hat eine Brille auf und trägt einen eigenartigen güldenen "Helm" (die Bezeichnung ist etwas unpassend, eigentlich handelt es sich eher um ein breites "Stirnband"), der an beiden Seiten einen in lamellenflügelartig gewellten Ohrenschutz hat. Außerdem trägt der Knabe an allen Fingern (sogar an den Daumen!) beider Hände mindestens einen Ring sowie goldene Armreifen. Die Ringe wirken überladen und erinnern an Talmi-Schmuck. Diese eigenartige Figur, die sich als "Ludwig Wittgenstein" vorstellt, ist ein "pointer", der auf ein Gefüge von Bedeutungen verweist, das im weiteren Verlauf des Films immer weiter ausgebaut, angereichert, miteinander vernetzt und mit weiteren Bedeutungskomplexen assoziiert wird - das ist die These. Wir wollen an einigen signifikanten Ausschnitten aus dem Feld möglicher Bedeutungen zeigen, wie sich kulturelles Wissen in assoziativen Clustern ausfaltet, die wiederum mit topikalen Strukturen des Films (Wuss 1992) koordiniert werden. DIE BRILLE: Wittgenstein trug als Kind wohl keine Brille (die uns bekannten Kindheits- und Jugendbilder Wittgensteins zeigen ihn jedenfalls ohne Brille), litt aber zeitlebens ebenso unter seiner Kurzsichtigkeit wie unter seiner Eitelkeit, die ihn daran hinderte, eine Brille zu tragen (Gass 1994, 10). Darum muß die Brille hier anders, aus dem biographischen Kontext entkoppelt motiviert sein. Eine Brücke, auf der das Bedeutungspotential der "Brille" zum Klingen gebracht wird, ist die vorhergehende Einstellung, die den jungen Wittgenstein dabei zeigt, wie er einen bedeutungsvollen Aphorismus verfertigt ("Wenn niemals jemand eine Dummheit beginge, könnte es niemals Kluges geben..."). Das Bild zeigt ein ernsthaftes Kind, Gegenständen zugewendet, die Kindern fern sind, in einer Diktion, die Kindern fremd ist. Ein Wunderkind: und damit findet sich ein Anschluß an Stereotypen der Wahrnehmung genialischer Personen (z.B. Stereotypien des Philosophen-Genies), die sich durch Intellektualität und bürgerliches Bildungsmilieu auszeichnen und die in Kontrast zu tradierten Vorstellungsbildern von Kindheit stehen. Diese Personen tragen typischerweise eine Brille. Brillen gehören zur Uniform genialischer Kinder. Ist das Schlüsselelement eines Assoziationskomplexes, wie er durch die Brille angezeigt wird, erst einmal identifiziert, erschließen sich weitere Bestände des Wissens: Kinder, die sich nicht mit Kindgemäßem beschäftigen, sind z.B. mit hoher Wahrscheinlichkeit in ihrer Altergruppe isoliert. Möglicherweise ist ihre emotionale Entwicklung weit hinter ihrer kognitiven Entwicklung zurückgeblieben. Usw. DER HELM: Äußerst eigenartig ist der Helm nicht nur als Kleidungsstück, sondern auch als verweisaktives Objekt. Er amalgamiert gleich mehrere Hinweise auf tiefensemantische Bedeutungen des Films. Im Hintergrund des Knaben versammelt sich die Wittgenstein-Familie um einen Flügel, auf dem Paul Wittgenstein, der musikalische Bruder Ludwigs, der im Krieg einen Arm verlor, am Ende der Szene ein Musikstück zu intonieren beginnt. Der Knabe im Vordergrund stellt die Familienmitglieder vor, die wie auf Zuruf ins Licht treten. Die Familie (mit Ausnahme des Pianisten) ist in römisch anmutende Gewänder gehüllt. Die Kleidung des Knaben steht in deutlichem Kontrast zu diesem "stilistischen Feld": Auch sein Gewand hat antikisierende Züge, verweist aber nicht auf "das Römische", sondern auf "das Griechische", wohl noch genauer als "das Spartanische" qualifizierbar. Damit ist eine ikonographische Repräsentation gefunden, die Lebensstile voneinander kontrastiert, die den ganzen Film über bedeutsam bleiben und das vielleicht zentralste Bedeutungsfeld aufspannen, in dem Wittgenstein als Person und Figur des philosophischen Diskurses verortet wird. Das Spartanische bildet eine enge Konjunktion mit Askese und Streitbarkeit als Techniken der Charakterbildung, und die Episoden und Anekdoten, die sich um Wittgensteins puritanisch- reduktionistische Lebensweise ranken, lassen sich durchaus in diesem topikalen Rahmen lesen. Wittgenstein ist akademischem Streit bekanntlich nie aus dem Wege gegangen und war für seine aggressive Diskussionsführung bekannt. Selbst die an mystische Techniken erinnernden Rückzüge in die meditative Einsamkeit, die Wittgenstein auch in Jarmans Film mehrfach unternimmt (zunächst nach Norwegen, schließlich nach Irland; erinnert sei auch an einen nur kurz erwähnten Klosteraufenthalt sowie die Weltkriegssequenz). Dem kontrastiert "das Römische" als sinnenfreudige Weltzugewandtheit: ein familialer Zusammenhang, von dem sich Wittgenstein ja tatsächlich explizit distanziert hat. Die Familie in römischer Maske stellt einen Clan dar, der sich seiner kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Macht in der Donaumetropole sicher sein konnte. Im übrigen zitiert die Maskerade der Wittgensteins eine historische Veranstaltung: Die Kleider (von Sandy Powell) sind nach historischen Photographien entworfen - nach der Serie 'Goddesses 1935' von Madame Yevonde, die ihrerseits zu den Bildern durch eine Wohltätigkeitsveranstaltung aus dem Jahre 1935 angeregt wurde, auf der Damen der Londoner Gesellschaft in Gewändern griechischer und römischer Gottheiten auftraten (Struck 1993, 29). Topikalisch wird die Opposition zwischen Rom und Sparta auch in Cambridge fortgeschrieben: Der Zerrissenheit und den Selbstzweifeln Wittgensteins gegenüber steht das Doppel von Keynes und Russell, die neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit ein ausgedehntes Bohème- und Salonleben führen. DIE OHRENFLÜGEL: Das Daedalus/Ikarus-Motiv wird vom Beginn des Films an als kleiner eigener Topos aufgebaut und mehrfach explizit gesetzt: Wittgenstein als Ingenieur-Student in Manchester trägt ein Flügelkleid, und nach seinem Tode tritt der jugendliche Erzähler- Wittgenstein in einem ähnlichen Kostüm auf. Unklar bleibt, ob Daedalus, dem der Flug gelingt, oder Ikarus, der die Warnung mißachtet und zu Tode stürzt, der Anspielungspunkt ist; ebenso offen ist, ob der Ikarus-Wittgenstein am Ende des Films in das Licht des Morgens oder das des Abends tritt. Die Kombinativität solcher Motive und Topoi ist greifbar (in der Manchester-Episode ist z.B. das Technische mit der Ikarus-Geschichte verbunden). In den Bedeutungshof des Ikarus-Motivs ist sicher die Sonne zu rechnen, die wiederum in Verbindung mit der Licht-Symbolik zu sehen ist ("Licht der Erkenntnis"). Manchmal ist Wittgenstein aber der Dunkelheit zugeordnet (explizit in der Norwegen- Episode) und beileibe nicht die heiter-ironische Lichtfigur, die er am Beginn zu sein scheint. DIE RINGE sind im Kontext kindlicher Kleidung hochauffallend (weil wenig erwartbar) und erschließen sich nur, wenn man die GESAMTERSCHEINUNG des Knaben als weiteren Kontext berücksichtigt: Diese weist zurück auf die Knabenphotographien von Gloedens (vgl. dazu neben Leslie 1980 auch Weiermair 1985, 152ff), der Aktaufnahmen jugendlicher männlicher Modelle nach dem Vorbild antiker Statuen gemacht hat. Diese Bilder haben große Bekanntheit und gehören zum historischen Bestand der schwulen Bildkultur, sind frühe Zeugnisse einer bildnerischen Verarbeitung päderastischer Neigungen. Die Stilisierung der Modelle, die durch die offenkundige Zitierung antiker Statuenkunst geschieht, wirkt aber einer pornographisch unvermittelten Interpretation entgegen, ist das Produkt von Zensur und einer Verlagerung des Objektbezugs in artifizielle Kunstproduktion. Abgesehen davon, daß dem Wissen über das Griechentum auch die Knabenliebe zugehört, eröffnet sich so ein historischer Rückverweis auf die neuzeitliche homosexuelle Bildproduktion. Auf dieses in WITTGENSTEIN sehr zentrale Thema und Bedeutungselement werden wir später zurückkommen. Derartige "pointer" spielen auch im weiteren Gang der Darstellung eine Rolle. Auffällig ist die stilistische Inkompatibilität der Elemente, ihre Ungleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit. Dies macht deutlich, daß die Knabenfigur ein zusammengesetztes Indexzeichen ist, eine synthetische Einheit des Diskurses und nicht eine realistische Darstellung des jungen Wittgenstein. Das Spiel mit inkompatiblen und widersprüchlichen Elementen, die an einer Figur auftreten, gehört zu den elementaren Strategien der Komik (und findet sich so - in einer allerdings einfacheren Form - in der Komposition der Kleidung der Charlie-Chaplin-Figur). Der Eindruck der "Heiterkeit", den der Film hervorruft und der in diversen Kritiken festgehalten wird, mag daraus resultieren, daß diese Strategie "greift" und in der Figur des Knaben- Erzählers so früh derartig exponiert eingesetzt worden ist. Indexikalität bildet den semiotischen Vorzugsmodus, in dem WITTGENSTEIN vorgetragen ist. Einzelne Objekte, einzelne Äußerungen, Sinnsprüche, Schlüsselzitate aus Wittgensteins Philosophie und dergleichen mehr tragen Bedeutungen in die filmische Beschreibung des Protagonisten hinein, indem sie sie anzeigen. Ganze Argumentationen bauen sich darüber auf, das historische (und philosophiegeschichtliche) Universum wird in fundamentalen Begriffsbezügen ausgefaltet, Wittgenstein als Figur in einem Koordinatensystem geistesgeschichtlich belegter Dimensionen erfaßbar. Es ist ein Diskurs der Dinge und von Attributen, die an ihnen auftreten (wie die Farben), die hier inszeniert werden. Das Ästhetische und Sinnenhafte fungiert als kognitives Element. Harmonische, in immer neuen Wechselspielen gegliederte Farb-Tableaus geben formale Strukturen ab, eine sinnenhafte Geometrie als Angebot an den Zuschauer, die Wechselfälle im Leben des Philosophen Wittgenstein in mehreren unterschiedlichen Bezugssystemen nachzuvollziehen: - Zunächst in sozialen Beziehungen unterschiedlicher Art, - sodann in der Opposition des Römischen und des Spartanischen - und schließlich im Ausgriff auf spielerische verwendete Versatzstücke aus dem Werk. Bevor wir uns dem sozialen Beziehungsgefüge zuwenden, seien zunächst noch signifikante Inszenierungstechniken des Films beleuchtet, auf deren Basis sich die unterschiedlichen Bezugssysteme entfalten. Der Film ist in hintergrundfreien Szenarios erzählt. Die Schauspieler agieren vor schwarzem Samt, die Räume haben keine Tiefe. Von jeder Art realistischen Interieurs wird abgesehen. Es handelt sich nicht um eine Dokumentation, sondern um ein Spiel, dessen Bildwelten fast spartanisch sind. Askese im Scheinwerferlicht. Die Szenarien gemahnen eher an graphische Darstellungen denn an photographische Bilder. Zwei Gedanken möchte man anschließen. Der erste betrifft den Repräsentationsmodus des Films: Die Objekte sind gesetzt, nicht vorgefunden. Es geht nicht um photorealistische Darstellung, die präsentierende Instanz bleibt immer präsent. Die zweite betrifft das, was dargestellt ist: Wittgensteins eigener Einrichtungsgeschmack, vor allem seine architektonischen Übungen, zeigen eine ähnliche Kargheit, ein Vorherrschen der Grundverhältnisse und ein Zurücktreten alles Ornativen. Sachlichkeit und Beschränkung aufs Wesentliche, möchte man resümieren, oder auch: "spartanische Klarheit". Die Abstraktivität der visuell-szenischen Tableaus ist das Resultat auch einer Methode der Kompression. Das, was prägnant und relevant ist, bleibt Vordergrund. Aller Hintergrund: verschwindet, verblaßt, sinkt ab. Das Prinzip der Topikalität, das die Kompression steuert, wollen wir exemplarisch am bereits oben angesprochenen Themenkomplex der Homosexualität des Protagonisten illustrieren und zeigen, wie im Verlaufe des Films eine szenisch vermittelte Topikkette (im Sinne von Wuss, 1992) aufgebaut wird. Das Thema kann in unterschiedlichster Weise aufgegriffen werden, mehr oder weniger manifest und/oder explizit sein, sich an dem Protagonisten selbst oder an anderen Figuren entfalten, es kann sich in Handlungen bzw. Handlungsvermeidungen ausdrücken oder als Thema in Rede stehen. Die nachstehende Liste verzeichnet die wichtigsten Instantiierungstypen des angesprochenen Komplexes: - Ikonographischer Rückverweis auf schwule Bildkultur (z.B. Spartanerhelm-Szene; s.o.); - explizite Themennennung (ein Bruder wird z.B als homosexuell etikettiert); - differenter Umgang mit Geschlechterrollen (z.B. untypische Tätigkeiten wie Nähen; s.o.); - Aktivierung stereotypisierten Wissens über Rollen und Verhaltensweisen (z.B. Intonation, Gestik, Kleidungscode: Friseurszene); - Unterlassung heterosexueller Handlungen und Vermeidung heterosexueller Attraktionen (Wittgenstein ignoriert das weibliche Aktmodell völlig); - homosexuelle Partnerschaften im Umfeld als Indikator für andere Lebensformen (mehr oder weniger latente intime Szenen zwischen Keynes und Johnny); - Formen der kontaktherstellenden taktilen Kommunikation (Klosterszene; Händchenhalten im Kino; Kuß); - Machtverhältnisse in Beziehungen (Einflußmöglichkeiten Johnnys auf Wittgenstein); - Etikettierung durch Außenstehende (eindeutige Beschimpfung durch drei Mädchen); - Intimszenen (Bettszenen); - Indizes auf Interpretationsmöglichkeiten von Rätseln im Werk Wittgensteins ("Fortnum und Mason", s.u.); - suggestive Namen ("Johnny" steht im Englischen seit dem 18. Jahrhundert für ein "male sweetheart"). Aufgrund der sich entwickelnden Topikalisierungskette neigen auch weitere Szenen, die primär einem anderen Bedeutungsfeld angehören, dazu, in das Themenfeld "Homosexualität" einbezogen zu werden. Die assoziativen Verweisungszusammenhänge referieren unter Umständen auch auf Stereotypen des Homosexuellen, wie sie im Weltwissen des Rezipienten verankert sein mögen (schwule Frisöre, schwule Verhaltensweisen, familiale Veranlagung). Das Spiel mit Sonne und Planeten scheint wie ein Hinweis zu sein auf die abstrakte Struktur, um die es in den Bildern eigentlich geht: um Konstellationen von Rollen und Personen und deren wechselseitige Beeinflussung. Choreographie erscheint dann wie das Ingangsetzen von Körpern auf eine Flugbahn, hinein in ein Feld von Anziehungen und Abstoßungen. Die Inszenierung breitet ein Feld von Affinitäten aus, und die Elemente lassen sich nicht aus dem Feldzusammenhang heraustrennen, das würde ihre Bestimmung verändern. Philosophische Methode, in poetisches Programm umgesetzt: Die prägnante Formulierung finden! Das Anschauliche als Bodensatz allen Erkennens! Dennoch: vom Anschaulichen absehen, übergehen auf abstrakte Größen, auf Gegenstände der Erkenntnis! Gibt es eine Argumentationsform, eine Weise des Aussagens jenseits der Sprache? Hat dieses etwas mit den Farben zu tun? Ist z.B. ein Farbendiskurs denkbar? Die Komposition der Tableaus und ihre Zusammensetzung aus besonderen Elementen geschieht nicht zufällig, sondern im Hinblick auf das Koordinatensystem von Bezügen ebenso wie auf historisch-biographische Tatsachen der Wittgenstein-Biographie. Die Zugehörigkeit der Personen bzw. der Szenen zu einer Phase des Wittgensteinschen Lebens zeigen Requisiten und Verkleidungen immer auch an. Die Dingwelt hat mehrere Funktionen: Historische Besonderheit zu artikulieren und Zugehörigkeit und Verortung in der Diskurswelt zu signalisieren. Mit der Objektwelt wird höchst analytisch umgegangen: Nur solches erhält Zutritt zum Bildraum, das im Modus der assoziativen Verweisung auch etwas aussagen kann. Das mag den historischen Ort betreffen, an dem das alles spielt; das mag auch die Handlung betreffen, weil sich natürlich auch alles Handlungsfunktionelle findet - Betten zum Liegen, Stühle zum Sitzen, MGs zum Kriegführen. Manches irritiert, weil es einen abweichenden Gesichtspunkt zu geben scheint, der es zum Bild zugelassen hat. Warum die Liegestühle, von denen aus die Hörer der Vorlesung lauschen? Wollte man einen "frame" aufspannen, in dem "die akademische Vorlesung" erfaßt ist, kämen Tafel und Kreide darin vor. Aber Liegestühle greifen auf eine andere Bedeutung aus, sperren sich dagegen, ganz in einer szenischen Einheit verschmolzen zu werden. Eine biographische Verortung erhalten die Liegestühle, wenn der Rezipient über das spezielle biographische Hintergrundwissen verfügt, daß Wittgenstein selbst mit einer Lederjacke im Liegestuhl sitzend gelehrt haben soll. Verfügt man über dieses Wissen nicht, kann jene Szene als ein Fall einer Kombination zweier Szenarien gelesen werden. Da wäre das eine Szenario die Vorlesung Wittgensteins (vor den Studenten und möglicherweise auch den Freunden), das andere eine Szene im Garten, wo Wittgenstein seinen Freunden etwas erläutert - weil Liegestühle in Gärten gehören! Das Beispiel ist auch deshalb nützlich, weil man an ihm zeigen kann, daß ein "Szenario" etwas anderes ist als ein "Bild". Das Szenario ist das kognitive Komplement, das durch das Bild bzw. eine analytische Kombination von Elementen, die das Bild zeigt, aufgerufen wird. Der visuelle Eindruck mangelnder Tiefe, den der Film erweckt, hängt auch damit zusammen, daß die Objekte als Farbträger sehr gegeneinander isoliert werden. Dadurch wirken sie noch gesetzter, noch künstlicher, noch mehr dem realistischen photographischen Modus enthoben. "Spielzeugwelt", heißt es in einem Artikel zum Film (Struck 1993, 30), und der Hinweis ist interessant. Denn das Objekt in der Puppenstube ist immer ein signifikantes Objekt. Es ist ein Artefakt, und wie alle Artefakte trägt es die intentionale Spur noch in sich. Objekte, die so ausgestellt sind wie in Puppenstuben und in WITTGENSTEIN, sind Elemente eines kommunikativen Handlungsspiels. Sie werden gezeigt, und es liegt darum nahe, von ihnen selbst abzusehen und auf die kommunikative Konstellation überzugehen, die sie umgreift. Man geht dann über vom Reich der Objekte in das Reich der Handlungen und des Sinns. Inmitten all der Dinge: Wittgenstein. Er trägt den ganzen Film die gleiche Jacke. Metaphern bieten sich an: Wittgensteins Beharrungsvermögen; der gleichbleibende, an den historischen Veränderungen nicht teilhabende Einsiedler. Der an äußeren Dingen Desinteressierte. "Frames" sind nur die eine Struktur, in der die Kompatibilität der Dinge bestimmt werden kann. Das andere ist die Dimensionalität der dinglichen Umgebung, ein Gesichtspunkt der Analyse, der an die linguistischen "Paradigmata" gemahnt, in der den Elementen in praesentia solche in absentia gegenübergestellt werden. Wittgenstein nannte derartige Verhältnisse "Räume". In Russells Autobiographie heißt es dazu: Wittgenstein behauptet, daß, wenn irgend etwas der Fall ist, es gewisse andere Dinge gibt, die sozusagen, in demselben besonderen Tatsachenbereich, auch der Fall gewesen sein könnten. Angenommen zum Beispiel, ein bestimmtes Stück Wand ist blau; es könnte auch rot oder grün oder sonstwie sein. Zu sagen, daß es eine dieser Farben hat, ist falsch, aber nicht sinnlos, jedoch zu sagen, daß es laut oder schrill ist, oder irgendein anderes dem Klang eigenes Adjektiv zu verwenden, hieße Unsinn reden. Es gibt so eine Auswahl von Möglichkeiten einer gewissen Art, die bei jedem Sachverhalt zur Verfügung stehen. Eine solche Reihe von Möglichkeiten nennt Wittgenstein einen 'Raum'. Es gibt auf diese Weise einen 'Raum' der Farben und einen 'Raum' der Töne. Zwischen den Farben gibt es nun verschiedene Beziehungen, die die Geometrie dieses 'Raumes' darstellen (1970, 287). Die Grammatik beschreibt, wie sprachliche Bezeichnung mit der Existenz der verschiedenen "Räume" koordiniert ist. Die Inszenierung assoziativer Bedeutungsbeziehungen und die Aufrichtung ganzer assoziativer Cluster folgt einer solchen Idee der Räume. Sie ist "topographische Methode", philosophische Tätigkeit im Medium des Films. Wir wollen die Art und Weise, wie WITTGENSTEIN sein Sujet vorträgt, als piktoriale Repräsentation bezeichnen. Sie nutzt die Objektwelt, um realistische Personen, Objekte, sogar Handlungen in eigenartig emblematischer Situationalität zusammenzufügen. Die Bilder gehören einem "abstrakten Realismus" an: Ihre Elemente und die Konfiguration von Elementen scheinen ikonisch die Realität nachzustellen. Tatsächlich entstammen zahlreiche Details der Wittgenstein- Biographie (auch wenn sie in ihrem Realitätscharakter nur für den Connaisseur zu entziffern sein dürften). Es heißt von Jarman, er fände Symbole tödlich (Struck 1993, 33), und es darf vermutet werden, daß Eagleton und Jarman auf ein ganzes Feld anekdotischer und biographischer Wittgenstein-Literatur zurückgegriffen haben dürften, als sie das Inventar des Spiels zusammenstellten. Insofern fallen einige Fehlbeziehungen und Falschaussagen auf, und es muß danach gefragt werden, ob diese strategisch und willentlich gesetzt worden sind. Zum Beispiel ist Wittgensteins Bruder in Lake Okeechobee (Florida) umgekommen und nicht, wie im Film behauptet, in der Chesapeake Bay (Maryland/Virginia) ertrunken (in der Anfang der achtziger Jahre eine Sekretärin des Kennedy-Clans unter ebenfalls ungeklärten Umständen ums Leben kam). Maynard Keynes starb schon 1946, kann also unmöglich an Wittgensteins Sterbebett gesessen haben, wie der Film suggeriert. Biographisch belegte Einzelbegebenheiten stehen sehr häufig im Hintergrund der Objektwahl. Ein Beispiel: Der junge Wittgenstein hat ein funktionierendes Modell einer Nähmaschine konstruiert (Wuchterl/Hübner 1979, 28), das im Film über das Objekt einer Nähmaschine herbeizitiert wird. Worauf der Bezug gründet, ist unklar und bedürfte eigener Reflexion: Das Modell wird in einer Art "schiefen Objektbezugs" als Original aufgenommen, oder die Maschine referiert szenisch auf die biographische Anekdote. Jedenfalls ist die Maschine im topikalen Bezugsfeld und in der analytischen Kombinatorik des Films lesbar, gleich in zweierlei Hinsicht: Das Bild zeigt den jungen Wittgenstein an der Maschine; er ist umgeben von erwachsenen Lehrerfiguren, die alle gleichzeitig in einem Stakkato von Stimmen unverständlich und bedrohlich auf den Jungen einreden. Zum einen instantiiert die Nähmaschine in diesem szenischen Kontext den Gegensatz von Kopf- und Handarbeit, von Überforderung und Entlastung. Zum anderen macht der Junge "Mädchenarbeit", er bedient die Nähmaschine; die Szene signalisiert eine Abweichung von prototypischen kindlichen Geschlechterrollen-Identifikationsmustern - in der topikalischen Fortschreibung des schon in der oben beschrieben zweiten Einstellung des Films ("Spartaner-Maske") angelegten Homosexualitätsthemas somit ein weiteres Argument liefernd. Piktoriale Repräsentation und topographische Methode instrumentieren einen Diskurs, in dem der narrative Zusammenhang einer biographischen Lebensbeschreibung stark zurückgenommen ist. Das bedeutet nicht, daß der lineare Fortgang der Biographie ausgesetzt wäre - die Episoden des Films folgen wie auf einer Perlenkette aufgereiht durchaus der Chronologie der Ereignisse im Leben Wittgensteins. Das Emblematisch- Topikale dominiert aber das Narrative ganz eindeutig. Das Bestreben des Emblematischen, Abstraktes im konkreten Bildvorgang zu erfassen und Bildvorgängen durch originelle Deutung einen hintergründigen Sinn zu geben, verkoppelt die Konkretheit der photographischen Darstellung und der vorfilmischen Objektwelt mit der Abstraktheit der topikalen Bezüge, in denen Wittgenstein exponiert ist. Das Emblem unterscheidet sich vom hintergründigeren, vielschichtigeren Symbol, indem es auf eine klar umgrenzte Bedeutung aus einem ganz anderen Bereich außerhalb des Dargestellten verweist. Die Allegorie ist ein verwandtes Verfahren, in der die bildhaft belebte Darstellung eines abstrakten Begriffes oder klaren Gedankenganges versucht wird. Das Emblem hat dagegen immer zwei (oder mehr) Lesarten, und es gibt diverse Motivationen, die das Emblem und den dadurch angezeigten hintergründigen Sinn verbinden. Das assoziative Verweissystem des Textes vernetzt die Emblemata auf dem Wege der Indizierung topikaler Einheiten. Das Kohärenzprinzip, das diesem Verfahren entspringt, produziert die symbolische Textur des Wittgenstein-Films. 4. Konstellationen Es hängt unmittelbar mit der zentralen Rolle der Herausbildung assoziativer und topikaler Beziehungen zusammen, daß die Konstellation von Elementen die Bedeutungsstruktur des Films trägt und wesentlich ausmacht. Das Spiel, in dem Keynes, Lydia und Wittgenstein die komplizierten Kreisbahnen von Sonne, Erde und Mond mit Bällen zu choreographieren versuchen, mag als eine Metapher für die Wirkmächtigkeit des Konstellativen dienen: Das Ganze wird nur dadurch zusammengehalten, daß Anziehungs- und Abstoßungskräfte ein dynamisches Gleichgewicht halten. Die Konstellation bildet zudem ein System, das nicht auf seine Einzelelemente reduziert werden kann. An manchen Stellen stellt der Film die Frage nach der Relativität des dynamischen Gleichgewichts der Beziehungen in einem System: So, wenn Keynes das "Planetenspiel" erschöpft abbrechen will und Wittgenstein vorschlägt, im nächsten Spiel könne er doch die Sonne darstellen, das sei sehr viel weniger anstrengend als die Erde zu spielen. Dieses theoretische Konzept manifestiert sich in den Beziehungen, die Wittgenstein im Ensemble der anderen Filmfiguren eingeht. (1) Wittgenstein steht in freundschaftlicher und kollegialer Beziehung zu Keynes und Russell, die als wissenschaftlich gleichrangig bestimmt sind. Perspektiviert ist diese Triade - genauso wie das ganze Personensystem des Films - von Wittgenstein her. (2) Sowohl in Konjunktion zu Keynes wie zu Russell tritt jeweils eine Frau auf - Ottoline und Lydia. Beide Frauen sind den Künsten zugeordnet. Die Beziehung "ihrer" Männer zu Wittgenstein führt zu einer Ambivalenz der Beziehung der Frauen zu Wittgenstein. (3) Ein Liebhaber Keynes' und Wittgensteins ist Johnny, ein junger Philosophiestudent proletarischer Herkunft. Russell ist an Johnnys Karrierre gelegen, unterhält aber keine weitergehenden Beziehungen zu ihm. Andere Figuren sind dieser zentralen Konstellation der erotischen Beziehungen zugeordnet, ohne daß ihnen eine aktive Rolle zugemessen wäre. Eine Nebenfigur ist z.B. die junge Frau, die Wittgensteins Schwester nackt Modell sitzt; sie ist auf dem linken Oberarm mit einer ähnlichen Tätowierung geschmückt, wie sie auch Johnny trägt - ein klassifikatorisches Markenzeichen, nach dessen Grund man sich fragt. Die Konstellation der erotischen Beziehungen liest sich wie eine enzyklopädische Auflistung der Beziehungstypen "homosexuell, heterosexuell, bisexuell". Verändert man das Thema der Personenkonstellation und interessiert sich für die Lehrer-Schüler- Beziehungen, treten andere Bezüge in den Vordergrund: (1) Zwischen Wittgenstein und Russell besteht ein sich umkehrendes, asymmetrisches Verhältnis: In den frühen Cambridge-Tagen Wittgensteins ist er aufsässiger Student bei Russell, der die Ebene der Sachverhalte gegen die der Dinge ins Feld führt (Probleme der Objektivität und Gewißheit). Russell ist in dieser Zeit in der Position, evaluative Äußerungen über Wittgenstein machen zu können. In Wittgensteins Spätzeit in Cambridge ist (zumindest nach Jarmans Film, aber wohl nicht historisch belegbar) Russell ein Teilnehmer an Wittgensteins Vorlesungen. Auf Einwände Russells reagiert jetzt Wittgenstein ähnlich gereizt wie seinerzeit auf seine kindlichen Schüler in Österreich. (2) An Johnny scheiden sich die pädagogischen Stile von Russell und Wittgenstein sehr deutlich: Während Russell den jungen Mann zu fördern versucht und ihn zur akademischen Karrierre ermutigt, überträgt Wittgenstein seine eigenen Zweifel am Sinn des Philosophierens auf seinen Schüler, besorgt ihm einen Arbeitsplatz in der Fabrik, ohne sich zu vergewissern, ob der Zögling dies akzeptieren oder überhaupt wollen kann. Während Russell die Rolle eines jovialen Patrons spielt, ist Wittgenstein egozentrisch auf seine eigene Tätigkeit und Existenz fixiert, deren Probleme auf das pädagogische Verhältnis projizierend, ohne sich auf die Perspektive des Gegenübers einzulassen. (3) Wiederum als Nebenfiguren treten Hörer der Wittgensteinschen Vorlesungen auf, von denen einer als derjenige spezifiziert ist, der immer wieder das Problem der Möglichkeit von Privatsprachen artikuliert. Die Nebenfiguren differenzieren die pädagogischen Beziehungen nicht weiter. Wollte man die interne soziale Struktur in den Kategorien der Morenoschen Soziometrie (1954) modellieren, so existiert eine Asymmetrie zwischen den von Wittgenstein ausgehenden Personenpräferenzen und den Vorzugswahlen der anderen Figuren in Bezug auf seine Person. Während alle anderen in Wittgenstein einen bedeutungsvollen Interaktionspartner sehen, mit dem sie in der einen oder anderen Funktion zu tun haben möchten, und dies bringt Wittgenstein ins Zentrum des gesamtenen sozialen Netzes der Figuren des Films, verhält sich Wittgenstein selbst in seinen Wahlen passiv und indifferent. Ihm liegt wenig an den Beziehungen zu den anderen Personen. Dies ist eine Entsprechung zu seiner egozentrisch- selbstbezüglichen Persönlichkeitsstruktur. (Dieser Befund läßt sich auch als ein Widerspruch zwischen dem Persönlichkeitsbild des Protagonisten des Films und seiner Philosophie der Sprachspiele auffassen.) Beziehungsinitiative Handlungen zeigt Wittgenstein äußerst selten - und diese sind dann um so auffallender. Eigentlich nur in einer kurzen Phase seiner homosexuellen Beziehung zu Johnny ist Wittgenstein tatsächlich initiativ. Selbst die Anbahnung dieser wichtigen Beziehung geht nicht von Wittgenstein aus, selbst wenn der naive Rezipient dies auf Grund der zweiten Kino-Szene unterstellen wird. So ausgestellt und auffallend die wenigen beziehungsinitiierenden Handlungen Wittgensteins sind, so komplex und beziehungsreich ist die Art und Weise, wie der Film sie inszeniert: Während des ersten gemeinsamen Kinobesuchs verlangt Wittgenstein von Johnny, der in seinem Mitschriftenheft liest, er möge dieses beiseite legen und der Handlung des Films folgen. Johnny erwidert, es gebe keine, legt aber nach kurzem Zögern lächelnd das Heft weg. Dabei fragt er: "What did you say about Fortnum & Mason?" Wittgenstein antwortet auf die scheinbare Informationsfrage sonderbarerweise mit: "Don't be ridiculous!" Für den Rezipienten ist der Wortwechsel opak und wird auch nicht wiederaufgenommen oder aufgelöst. Dem genauen Kenner des Wittgensteinschen Werks mag aber nun die Stelle aus den "Vermischten Bemerkungen" einfallen, an der vom Autor für das Jahr 1941 folgende, ebenfalls dort dunkel und kontextlos bleibende Äußerung protokolliert wird: "Ich könnte mir denken, daß Einer meinte, die Namen 'Fortnum' und 'Mason' paßten zusammen" (Wittgenstein 1989, 506 (MS 124)). Durch die Umformung in einen Sprechakt bekommt eine ansonsten kaum interpretierbare, sinnlos bleibende Stelle aus Wittgensteins Werk einen entzifferbaren sozialen Sinn, weil die Beziehung zwischen den beiden Akteuren hinterfragt wird! Somit erscheint auch die Antwort keinesfalls sonderbar. Jarman nimmt Wittgensteins Spätphilosophie als Programm, wenn er mit dem Kontext der Beziehungen ein Spiel ermöglicht, das Frage und Antwort in einen dyadischen Bedeutungsraum einbindet. Während des zweiten gemeinsamen Kinobesuchs bezieht sich dann Wittgenstein auf Johnnys Angebot, das in der Frage implizit enthalten war, wenn er Johnny bei der Hand nimmt. An dieser Stelle wird deutlich, daß abhängig vom Grad der Kenntnis von Biographie und Werk des Philosophen neue Interpretationshorizonte für den Film eröffnet werden, die die filmische Struktur immer kohärenter werden lassen. Und das Beispiel belegt zugleich, daß sich soziale Konstellationen in Beziehungshandlungen oder im Beziehungsaspekt von Handlungen manifestieren, die wiederum in anderen Bezüglichkeiten stehen. Die manifeste Handlung bildet so einen Schnittpunkt ganz unterschiedlicher assoziativer Bedeutungsbeziehungen. Die wohl auffälligste Codierungsform, in der Konstellationen markiert sind, ist das Farbschema des Films. Die Grundfarben Rot, Grün und Blau bestimmen immer wieder als leuchtende, hochgesättigte Farbflächen die Komposition der Bilder. Sie treten an allen Objekten auf, vor allem aber an Kleidung und Masken. Der Eindruck der Leuchtkraft der Farben wird verstärkt durch die Schwärze des tiefenlosen Hintergrundes. Die Isolation der Objekte vor dem Hintergrund ist nicht allein auf jenen zurückzuführen, sondern auch auf die Tatsache, daß sie als Farbobjekte farbig klar vom Umfeld abgesetzt sind (vgl. Wulff 1988). Den leuchtenden Grundfarben stehen die Abschattungen von Grau gegenüber. Wittgenstein ist den nichtleuchtenden, dunklen Grau-Farben und Grau- Tönen zugeordnet. Ähnlich, wie er im Zentrum des multiplen Soziogramms des Films steht, ist er dem Zentrum des Farbensechsecks (Küppers 1978) zuordenbar, während die relationale Peripherie um ihn herum mit den grellen und bunten Farben des Randes des Farbensechsecks assoziiert ist (Rot, Violett, Purpur, Blau, Grün und Gelb). Die als Komplementärfarben bezeichneten einander gegenüberliegende Farben des Sechsecks dienen dazu, eine formale Ordnung herzustellen, die die Personen sowohl kontrastiert als auch gruppiert. So wie Russell durchgängig mit den Rot-Tönen assoziiert ist, ist Keynes mit dem Blau- Bereich verbunden. Die Frauen im Beziehungsgeflecht variieren systematisch in ihrer Farbgebung, wobei immer Teilbereiche des Farbensechsecks belegt werden. Die großen Lebensorientierungen des "Römischen" und des "Spartanischen" sind mit den Farbcharakteristiken der Helligkeit und der Sättigung assoziiert, nicht so sehr mit einzelnen Farben: Das Feld der Askese ist dunkel, kontrastarm und grau; auch die "unbunte Reihe" ist ihm vorbehalten. Das Feld des Genusses ist dagegen bunt, satt und grell. Die diffizile szenographische und ikonographische Mikroanalyse sowie eine Untersuchung syntagmatischer Aspekte der Farbenfolgen können wir hier nicht leisten, sie ist einer eigenen Untersuchung vorbehalten. Wir wollen unsere Überlegungen zur Konstellation als einem Grundprinzip der Bedeutungskonstitution in WITTGENSTEIN hier abbrechen, drei Dinge aber festhalten: (1) Die Kombinatorik und Binnenstruktur der Farben im Farbensechseck geben Jarman die Möglichkeit, assoziative Verweisungszusammenhänge im Bereich der Konstellationen und der topikalen Ordnung einem analytischen Permutationsspiel einzugliedern, das an das "Glasperlenspiel" oder auch an die "Lullische Kunst" erinnert. Wer die Regeln des Spiels rekonstruiert, findet das generative Prinzip, das die Organisation eines Teils der assoziativen Verweise steuert. (2) Das Farbschema ist nicht allein als eine poetische Struktur des Films anzusehen, sondern - und gerade seine Verknüpfung mit der semantsichen Struktur weist darauf hin - auch als eine ästhetische Struktur, die das Sinnliche als Element und Mittel der Argumentation und der Erkenntnis faßt. (3) Das Farbenschema bricht aus dem Signifikationsmodus des Films, den wir als "emblematische Situationalität" bezeichnet hatten, gleichwohl nicht aus: Auch die Farben stehen in emblematischer Beziehung, als man ihre Ordnung im Farbensechseck (oder Farbenkreis) kennen muß, will man ihre Verwendung zur Markierung von Konstellationen nachvollziehen. Man könnte, sehr frei nach Wittgenstein, formulieren: "Eine Farbe verwenden, heißt, das Farbspiel beherrschen" (vgl. zu diesem Problemkomplex Westphal 1987). 5. Schlußbemerkungen Warum und wie kann ein Film wie WITTGENSTEIN für eine philosophische Untersuchung von Interesse sein? Wir denken, daß sich mehrere verschiedene Antworten geben lassen. (1) Die Frage nach der Popularisierung der wissenschaftlichen Erkenntnisse stellt sich seit der Aufklärung immer wieder und unter veränderten medialen Bedingungen immer wieder neu. WITTGENSTEIN war ursprünglich ein Film in einer Reihe von Filmen, mit denen berühmte Philosophen und ihr Denken im Fernsehen vorgestellt werden sollten. WITTGENSTEIN ist deshalb (wie auch die anderen Filme der Reihe) aber kein Lehrfilm im herkömmlichen Sinne geworden. Ist der Film überhaupt ein Film, der etwas über "Wittgenstein" vermittelt? Immerhin hat auch der naive Zuschauer am Ende des Films eine differenzierte und detaillierte Vorstellung von den Stationen des Lebensweges Wittgensteins. Die Person ist vom Film in zahlreichen Brüchen und Widersprüchen gezeichnet worden, wobei (latente) Homosexualität und Depressivität ebenso Charakterzüge abgeben wie die obsessive Erkenntnissuche und die Zuwendung zu existentiellen, ja sogar religiösen Tatsachen (selbst wenn nur der Eindruck bleibt, der Held sei in sich selbst zerrissen). Und vom Werk dürfte der Zuschauer am Ende mindestens soviel wissen, daß einem strengen logizistischen Frühwerk ein sprachanalytisches Spätwerk gegenübersteht, in dem die apodiktische Schärfe der Beschreibung von einer spielerischen Untersuchung des tatsächlichen Gebrauchs von Sprache im Leben der Sprachbenutzer abgelöst wird. Erweist sich der Lehrfilmcharakter allein darin, daß er abfragbares Wissen produziert? Erschöpft sich Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnis im puren Informationstransfer von Fakten? Wir können diese Fragen hier weder beantworten noch vertiefen. Eine mögliche Methode, mit der man diesen Fragenkomplex angehen könnte, ist die kontrastive Analyse verschiedener medialer Umsetzungen des gleichen Themas (*1*). (2) Wittgenstein konstatierte (und im gewissen Sinn beklagte er es), daß man mit dem Kopf an die Grenzen der Sprache renne - nach den Vorlesungen lief er aber bekanntlich ins Kino. Das Kino (als Institution) und die darin gezeigten Filme lassen sich in zweierlei Hinsicht auf Wittgenstein beziehen: Zum einen existiert ein psychologisch-biographischer Kontext, in dem nach den intellektuellen und emotional-affektiven Funktionen des Kinos für die Person Wittgensteins gefragt werden kann. Ohne präzisieren zu können, wie die einzelnen Funktionen im psychodynamischen Gesamtsystem Wittgensteins gewichtet waren, läßt sich sicher konstatieren, daß Kinobesuche für die Person Wittgenstein eine psychische Entlastungsfunktion innehatten: Ausstieg aus der permanenten Notwendigkeit, mit Sprachspielen konfrontiert zu sein, die eine bewußte und metainstantiell-reflexive Haltung des Philosophen forderten. Zum anderen ist danach zu fragen, ob das Kino zumindest in der Spätphilosophie für den Philosophen Wittgenstein heuristisch- erkenntnismäßige Funktionen besessen hat. Wenn das letztere zutrifft, wäre zu fragen, welche Heuristiken - Kino als Erlebensform, Kino als Generator szenischer Phantasien, Kino als Zugang zu einem kasuistischen Denkmodus usw. - dabei im Vordergrund standen. (3) WITTGENSTEIN mag als ein Fall stehen, an dem eine weit über die Beschäftigung mit Wittgenstein hinausweisende Fragestellung entwickelt werden kann: Wenn man den perspektivischen Fokus der Sprachphilosophie öffnet und von der Sprache auf andere Zeichensysteme fortschreitet, läßt sich entsprechend die Frage stellen, ob sie in dem Sprachspiel/Lebensform-Konzept gefaßt werden können, ob also der Film eine eigenständige "innere (Spiel- )Form" besitzt vergleichbar derjenigen der Alltagssprachen. Und es müßte dann gefragt werden nach solchen Signifikationsmodi, die in der Sprache vielleicht ganz unüblich und randständig oder gar überhaupt nicht realisierbar sind, in jenem veränderten Rahmen dagegen zentral werden (oder zumindest vorkommen können). (4) Zu fragen wäre schließlich nach den stilistischen Verwandtschaften zwischen WITTGENSTEIN und den Stilistiken von Spät- und Frühwerk Wittgensteins: Sind sie bewußt herbeigeführt und bilden sie so eine Facette der Darstellung Wittgensteins im Film? Repräsentieren sie einen "Stil des Philosophierens", eine Art und Weise der Problematisierung und des Aufwerfens von Fragen? (5) Und auch die Möglichkeit, Kategorien und Verfahren der Wittgensteinschen Philosophie für die Filmbeschreibung selbst fruchtbar zu machen, könnte einen Anlaß für philosophische Neugierde bilden: Läßt sich z.B. die Vorstellung der "Familienähnlichkeiten" mit der Untersuchung topikaler Reihen zusammenschließen? Wie müßte das Konzept der Familienähnlichkeit präzisiert werden, um ein besonderes Ensemble von Instantiationen eines Topos als "zusammengehörig" bestimmt über Familienähnlichkeiten auszeichnen zu können? Literatur Burke, Kenneth (1965) Dichtung als symbolische Handlung. Eine Theorie der Literatur. Frankfurt: Suhrkamp (Edition Suhrkamp. 153.). Darke, Chris (1993) WITTGENSTEIN. In: Sight and Sound NS 3,4, 1993, p. 63. Eagleton, Terry / Jarman, Derek (1993) WITTGENSTEIN. The Terry Eagleton Script. / The Derek Jarman film. Pref. by Colin MacCabe. London: British Film Institute 1993, 160 pp. Eco, Umberto (1972) Einführung in die Semiotik. München: Fink. Gass, Lars Henrik (1994) Körperdispositive. Für eine Epistemologie des Sichtbaren und der Aussagen In: 6. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium / Berlin '93. Hrsg. v. Jörg Frieß, Stephen Lowry & Hans J. Wulff. Berlin: Gesellschaft für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, S. 10-17. Kaczmarek, Ludger (1995) Verstehen Sie Film? Zwei neue deutsche Arbeiten zur Filmpsychologie. In: Montage/AV 4,2 [i.Dr.]. Küppers, Harald (1978) Das Grundgesetz der Farbenlehre. Köln: DuMont. Leslie, Charles (1980) Wilhelm von Gloeden 1856-1931. Eine Einführung in sein Leben und Werk. Innsbruck: Allerheiligenpresse. Moreno, J.L. 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Filmographie LUDWIG WITTGENSTEIN: EINE TELE-DOKUMENTATION (BRD 1989 [?], Ferry Radax & Co.; 2 Teile à 45 min; P: Saarländischer Rundfunk, Sender Freies Berlin, Westdeutscher Rundfunk) M.A. NUMMINEN SINGS WITTGENSTEIN: WOVON MAN NICHT SPRECHEN KANN, DARÜBER MUSS MAN SCHWEIGEN (Finnland [?] o.J.; ca. 3 min) DIE WAHRHEIT DER WORTE: LUDWIG WITTGENSTEINS PHILOSOPHIE (BRD 1988, Joseph Krautmann; 45 min; Nord3, 10.4.1989) Anmerkungen *1* Wir bitten die Leser, uns auf weitere Kino- und Fernsehfilme über Wittgenstein hinzuweisen. Nachfragen bitte an die folgende E-Mail- Adresse richten: ohler@brain.phil.uni-passau.de