***************************************************************** * * * File: 26-1-95.TXT Dateilänge: 12 KB * * * * Autor: Otl Aicher * * * * Titel: Wittgensteins Griff * * * * Erschienen in: WITTGENSTEIN STUDIES, Diskette 1/1995 * * * ***************************************************************** * * * (c) 1995 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für seine privaten * * wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind von dieser * * Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** * * * Aicher, Otl (1995) Wittgensteins Griff; in: * * Wittgenstein Studies 1/95, File: 26-1-95; hrsg. von * * K.-O. Apel, F. Börncke, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, * * R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, * * Th. Rentsch, A. Roser, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, * * U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl * * (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727 * * * ***************************************************************** Das Unternehmen Franz Schneider Brakel GmbH + Co (FSB) hat in sein Firmen-Logo einen von Ludwig Wittgenstein entworfenen Türgriff aufgenommen. Dieser Türgriff, aus dem Wiener Haus der Schwester Wittgensteins, wird auch im Sortiment dieser Firma angeboten (FSB Nr. 1147, vgl. hierzu das PCX-Bild). Der 1991 verstorbene Grafiker Otl Aicher, der maßgeblich den Martkauftritt von FSB mitgeprägt hat, schrieb über den Zusammenhang von "greifen" und "begreifen" einen Text, der sich auf diesen von Wittgenstein entworfenen Türgriff bezieht *1*. Wir möchten diesen Text hier wiedergeben, weil er den originellen Gedanken enthält, Wittgenstein könnte über seine Beschäftigung mit Architektur und Design zur Gebrauchstheorie der Sprache gelangt sein. ------------------------ Die folgende ASCII-Grafik vermittelt einen Eindruck über die Gestalt des Türgriffs. Auf der Diskette finden sie zusätzlich eine Datei mit einer PCX-Grafik des Türgriffs. ###################################################################### ##########@08OooooO0@################################################# #######0o-. ..:-+8@############################################# #####8: ..:::=o0########################################### ####- .::----=O@0OOoo@######################################### ###- .=+++oO8@##@8+--+=+######################################### ##8 ::=+O@##@@@Ooo++o+=8######################################## ##o :-oooo0@0o+oO@0+=-:::O######################################## ##O :==-=+++=----==+=-::::-+oooooOOOOOOOOOO88888880000000000000@@### ###: =++o-O##0OOOOOOOooooOoooooooooooo+++++++++++++++=======-=+oO8o8# ###@: =+o@###@+-----------====+++++++++oooooooooooooooooOOoOOooO0Oo.=8 #####O::=o0@#0+:::::::::::::--------------------:::::::::::::::=8==-+0 #######8o====+oooOOOOOoOOOOOOOOOooooooooooooooooooooooooooooooooooOO0# ##########@0Oo+==++oO0@##################################@@@@@@@@@#### ###################################################################### ###################################################################### ------------------------ WITTGENSTEINS GRIFF Otl Aicher Ludwig Wittgenstein ist wohl der bedeutendste Philosoph dieses Jahrhunderts. Er selbst hat nur ein kleines Buch veröffentlicht, aber die Welt liest jeden seiner unzähligen Zettel. Wir denken, meint Wittgenstein, im Maßstab der Sprache. In der Sprache wird das Gedachte deutlich. Deshalb bedeutet Philosophie Reinigung der Sätze. Philosophie ist Sprachkritik. Sobald die logische Struktur des Satzes freigelegt ist, ist auch der Gedanke richtig: 'Alles was man sagen kann, kann man klar sagen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen', heißt es am Schluß seines berühmten Büchleins 'Tractatus logico-philosophicus'. Ursprünglich sollte es den Titel tragen: der Satz. Im Satz sieht Wittgenstein weniger ein grammatikalisches als vielmehr ein logisches Gerüst. Und diese Logik will er entwickeln, so daß ein für allemal klar ist, was sich denken läßt. Er tut dies mit Hilfe mathematisch-logischer Operationen. Die meisten Sätze, die geschrieben worden sind, hielt Wittgenstein logisch für unsinnig.*2* Diesen Standpunkt hat Wittgenstein später verworfen. Er lernte Sprache in einem anderen Licht zu sehen. Sprache ist nie fertig. Sie wandelt sich. Worte erlangen ständig neue Bedeutungen. "Sprachspiele" ist ein neuer philosophischer Terminus Wittgensteins. In ihnen finden wir die Regeln für den Gebrauch der Worte. "Die Sprache ist ihr Gebrauch". Mit seinem neuen Ansatz, wie Erkenntnis zustande kommt, bietet Wittgenstein ein funktionalistisches Prinzip an, den Gebrauch. Der Gebrauch macht die Sprache. Im Gebrauch und in den Spielregeln der gemeinsamen Verwendung entsteht Einsicht, entfaltet sich Philosophie. Es wird nicht unerheblich für die Entwicklung dieses Prinzips gewesen sein, daß Wittgenstein für seine Schwester in Wien ein Haus entworfen und gebaut hat, zusammen mit einem befreundeten Architekten, Paul Engelmann. Bezeichnend ist dabei, daß er jedem Detail, wie den Heizkörpern, den Geländern, aber auch den Türgriffen größte Bedeutung beigemessen hat. Wittgenstein war ursprünglich Ingenieur, studierte Flugzeugtechnik und fertigte von allen Lösungen genaue Zeichnungen an. Seine Schwester schreibt dazu, daß er Entwürfe behandelte als wäre es Präzisionsinstrumente. Das Haus war von extremer Sachlichkeit. Es bestand aus wenigen aneinandergelehnten Kuben, hatte glatte Wände, versetzte ebene Dächer und klare Reihungen der Fenster, oft mit einem hohen Zuschnitt. Der Einfluß Adolf Loos, einem der Väter der modernen Architektur in Wien, ist unverkennbar, weniger was die Erscheinung betrifft als die Entwurfsmethodik, alles rational zu überprüfen und auf den Gebrauch hin zu optimieren. Fenster und Griffe waren aus Stahl, damals ungewöhnlich, und die ausführende Firma hatte Schwierigkeit, dem Anspruch Wittgensteins an Genauigkeit gerecht zu werden. Es wurden zahlreiche Modelle hergestellt und Versuche gemacht. Wittgenstein lebte zu jener Zeit noch in den Denkansätzen seiner ersten Philosophie. So kann sich der Aspekt des Gebrauchs noch nicht durchsetzen. Alle Entwürfe sind gekennzeichnet durch den Versuch, eine formale Qualität, eine Gestalt oder eine Idee zu verwirklichen und als eine Art endgültiger Lösung darzustellen. Der Abolutheitsanspruch und die Überzeugung, eine definitive Lösung finden zu können, herrschen vor. Insofern gibt es, wie auch bei Loos, klassizistische Ansätze. Der Klassizismus sucht "das Ideale". So entwickelt Wittgenstein den zylindrischen Türgriff, ein einfaches im rechten Winkel gebogenes Rohr mit einem halbkugeligen Ende. Es ist für ihn der Idealgriff. Und in der Tat, kein Griff hat im 20. Jahrhundert eine so allgemeine Verbreitung gefunden wie diese Form. Auch wenn man kaum mehr weiß, daß er von Wittgenstein stimmt. Allerdings erscheint er meistens mit einem glatt abgeschnittenem Ende. Nun wird man Wittgenstein sicher nicht als Erfinder dieses Griffes reklamieren dürfen. Ähnliche Griffe gab es schon früher, meist geschmiedete Griffe an einfachen Türen, so bei Gartentoren oder Werkstattüren. Trotzdem sollte man Wittgenstein als denjenigen ansehen, der diesen Griffen eine definitive unverrückbare Gestalt gegeben hat, entsprechend seinem Suchen nach letztgültigen Formulierungen. Der Griff ist eine Art Idealgriff. Er kannt nicht als optimale Handform verstanden werden, sondern als Griff für alle möglichen Arten des Zugreifens, auch für das Öffnen mit dem kleinen Finger. Er ist die Summe aller Griffe, das absolute Substrat. Demgegenüber stehen die Griffe, die immer gleichartig angefaßt und geöffnet werden und die sich organisch der Hand anpassen. Bei Werkzeugen kennen wir viele solcher Optimalgriffe, die eine größere Sicherheit verleihen. Auch bei Türgriffen gibt es viele, die eine handliche Paßform besitzen. Wittgensteins Griff ist das nicht. Er wollte nicht den speziellen Griff, sondern den allgemeinen. Mit dem Bau des Hauses tritt Wittgenstein in eine neue Phase seines Philosophierens ein. Nach dem "Traktat" hatte er jahrelang geschwiegen und sich Gedanken gemacht, die Philosophie ganz aufzugeben. Nun gewinnt er einen neuen Ansatz durch das Entwerfen für den Gebrauch, das Erkennen durch das Machen. Einen Griff nach den Prinzipien seiner späteren Philosophie hat Wittgenstein nicht mehr entworfen. Er hätte anders ausgesehen, wie wohl? An die Stelle des formal eindeutigen Prinzips wäre als Ausgangspunkt das Greifen getreten. Somit hätte es unterschiedliche Griffe geben können, je nach der Bedeutung, die man unterschiedlichen Greifvorgängen beimißt. --------------------------- Fußnoten: *1* Dieser Text von O. Aicher ist durchgängig in Kleinschreibung verfaßt. Wir haben diese Schreibweise nicht übernommen, um unseren nicht- deutschsprachigen Lesern die Textlektüre zu erleichtern. Wir danken dem Unternehmen FSB für die Reproduktionsgenehmigung der Abbildung des Türgriffes Nr. FSB 1147 und des Textes von O. Aicher. *2* Anmerkung der Redaktion: Korrekt lautet die Wittgenstein Stelle im TLP (4.003): "Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig."