***************************************************************** * * Titel: Variationen und Bruchlinien einer Lebensform Autor: Rudolf Haller, Graz - Österreich Dateiname: 08-2-95.TXT Dateilänge: 48 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 2/95, Datei: 08-2-95.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1995 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** § 1 Zunächst muß ich sagen, daß ich - ob von der intensiven Lektüre Wittgensteins, dem wiederholten Wiederlesen angesteckt oder hauptsächlich wegen des intensiven Nachdenkens, bleibe dahingestellt - ziemlich unsicher darüber bin, ob meine Deutung, mit der ich vor mehr als einem Dutzend Jahren an die Öffentlichkeit gegangen bin, die Frage, was Lebensformen sind, richtig beantwortet habe. Ich sehe, und sah es natürlich schon damals, daß es mehrere und einander entgegenstehende, nicht miteinander verträgliche Deutungen von Wittgensteins Ausdruck "Lebensform" gibt. Ist aber oder wäre die Verwendung des Ausdrucks in Wittgensteins Texten selbst nicht klar oder eindeutig, dann ist den Interpreten ein Spielraum eingeräumt, den sie nach eigenem Ermessen nützen könnten, wobei man freilich unterstellen und fordern wird, daß das Resultat jedenfalls für sich spricht, der Stellung des Ausdrucks in Wittgensteins Werk angemessen bleibt und (womöglich) zureichende Gründe bestehen, die vorgeschlagene Deutung anderen vorzuziehen. Das ist ein möglicher Aspekt, unter den man die Neuaufnahme der Diskussion der LebensFORMEN sehen kann: Indem vom "Konflikt von Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache" die Rede ist, wird jedoch schon vorausgesetzt, daß es miteinander konfligierende Lebensformen gibt, also, erstens, mehrere Lebensformen und, zweitens, solche, die miteinander in Konflikt stehen. Wenn es nämlich verschiedene gibt, dann ist es nicht ausgeschlossen oder ungereimt, daß einige von ihnen im Konflikt mit anderen stehen. In der Tat hat sich Wittgenstein oft so geäußert, als hätte er die eine oder andere solcher Fragen schon selbst mehrmals überlegt und ausgelegt. Wiederholt taucht die Frage auf, wie eine Gesellschaft aussehe, die andere Züge trüge als jene, die wir aus der Erfahrung kennen: "Wie würde eine Gesellschaft von lauter tauben Menschen aussehen? Wie eine Gesellschaft von 'Geisteskranken'?" fragt er und schließt die Beobachtung an: eine "wichtige Frage! Wie also eine Gesellschaft, die viele unserer gewöhnlichen Sprachspiele nie spielte?" (Zettel 371) Statt sich schwachsinnige und geisteskranke Menschen als zerlumpte armselige Figuren ohne Ordnung vorzustellen könne man sie doch viel besser und angemessener als eine Gesellschaft primitiverer Ordnung als unsere vorstellen. Wir müssen dabei, indem wir dies versuchen, nur den Mangel beheben, d.h. aufheben, daß wir "eben nicht eine Gesellschaft solcher Menschen" SEHEN, sondern uns bestenfalls ein Bild von ihnen machen. Wir dürfen nicht vergessen: "Wir haben VORURTEILE die Verwendung der Wörter betreffend." (Bem. über die Farben, p.101) Und wir sind natürlich auch die Bewahrer solcher Vorurteile. Wir haben Vorurteile darüber, was ein WORT ist, was ein Satz ist, was eine Sprache ist... Und ebenso solche darüber, was ein Freund und was ein Feind ist. So kann im Gespräch jemand, der nicht unserer Meinung ist, als ein Gegner - eine Art von Feind - erscheinen, ohne ein Feind zu sein. Wenn wir auf irgendeine Weise entdecken, daß wer als ein Gegner uns entgegentritt, KEIN Feind, sondern bloß anderer Meinung ist, ist Übereinstimmung über die Grenzen oder Begrenzung der Verschiedenheit der Meinungen möglich und vielleicht sogar nahe. Eine der Einsichten, oder, besser, Entdeckungen Wittgensteins war, daß ohne Gemeinsamkeiten in bezug auf eine Lebensform - und hier setze ich den Plural von Lebensform voraus - Übereinstimmung verletzt werden und im äußersten Fall in Brüche gehen kann. Der tiefere Grund für diese Möglichkeit - zum Glück nicht die einzige in bezug auf fehlende Übereinstimmung - ist, daß wir in jedem Gebiet möglichen Meinungsstreites voraussetzen, daß wer miteinander streitet - sei es über Grenzen oder Farben - gemeinsame Begriffsverwendung voraussetzt. Fehlen solche gänzlich oder nehmen die Uneinigkeiten, z.B. in bezug auf eine Regeldeutung, oder Ausnahmen einer Regel überhand, dann geht der Streit ins Leere. Mit anderen Worten, wo im allgemeinen über Begriffe oder Dinge keine Übereinstimmung besteht, können wir die Begriffe nicht gemeinsam anwenden und die Dinge nicht gemeinsam identifizieren. Dann aber hat auch der Streit keine Aussicht auf ein Ende in Übereinstimmung. Einen Konflikt der Lebensformen kann es freilich nur geben, wenn es mehr als eine Lebensform gibt, wenn also die uns vertraute Lebensform nicht die eine einzige Weise ist, wie Menschen als Produkt und Resultat der Evolution in Natur und Kultur leben. Ich werde so vorgehen, daß ich zunächst in aller Kürze auf die Differenz zwischen Newton Garvers und meiner Auffassung, wie sie sich in den damals publizierten Beiträgen spiegelt, zu sprechen komme. Bei dieser Gelegenheit sind noch kürzere Hinweise auf andere Autoren möglich. Sodann will ich im zweiten Teil den Prototyp einer einfachen Sprache und eines einfachen Sprachspieles in Erinnerung rufen und möchte an diesem aufweisen und klarmachen, daß nicht allein das Sprachspiel, sondern das Sprachspiel als das Ganze der Sprache, ZUSAMMEN mit den natürlichen und sozio-historischen Bedingungen der Lebensweise der am Sprachspiel beteiligten Personen es ist, was die LEBENSFORM bestimmt. Es hieße blind zu sein oder sich blind zu stellen gegenüber den Variationsmöglichkeiten der Lebensform, wollte man darauf bestehen, nur EINE, etwa die eines Urtyps, des animal rationale, anzuerkennen. Es könnte diese Bestimmung sein oder eine analoge, die jenen vorschwebt, die meinen, es sei die uns durch die Naturgeschichte, die eine Entwicklungsgeschichte war, überlieferte genetisch eingeborene menschliche. Newton Garver hat die Lebensform der Menschen den rindviehartigen, fischartigen, hundeartigen, reptiligen, löwigen entgegengestellt: Vor allem seien Lebensformen jene der NATURGESCHICHTE. Nun, in einer Hinsicht kann er nicht Unrecht haben: Wir sind nach dem gut verbürgten Zeugnis der Naturwissenschaft - ein Zeugnis, das freilich nicht weit in die Menschheitsgeschichte zurückreicht - zuvörderst Produkt und Resultat der Evolution, der Entwicklungsgeschichte und somit der Natur: Wir sind und bleiben animalisch geprägt, sind Lebewesen wie die höher entwickelten Säugetiere. Aber unsere Lebensformen sind - wem sagen WIR das - andere, auch wenn gewöhnliche unserer Verhaltensweisen jenen anderer Lebewesen ähnlich sind und daher ähnlich sein können. Die ERSTE und von Wittgenstein zu Recht als die ENTSCHEIDENDE DIFFERENZ herausgestellt, ist NICHT die Fähigkeit des Denkens und daher des Etwas-Glauben-Könnens, sondern die Fähigkeit, eine SPRACHE zu ERLERNEN, als ein sprechendes Lebewesen zu handeln und zu leben, kurz, SPRECHEN zu können. Es mag durchaus sein, daß in einer Phase der Entwicklung der Sprache die Gebärden der Menschen zu Symbolen wurden und sie als solche gehandhabt wurden. Tatsächlich meint Wittgenstein sogar einmal, man könne "die hinweisende Erklärung auffassen als eine Regel der Übersetzung aus einer Gebärdensprache in die Wortsprache."*1* Noch der wortlose Idiot, der Geistesschwache, kann Zeichen geben und durch Gebärden Bejahung und Ablehnung, ja Wünsche und Bitten zum Ausdruck bringen. Daß die Lebensform des vernünftigen Lebewesens nicht immer den Normen der Vernunft folgt, war Stoff der antiken Mythen und ältesten Sagen. Schon die antike Tragödie erinnert daran, welche Überschreitung und Verletzung die Lebensweise der Menschen und der Mensch selbst erleiden kann: "Vieles ist ungeheuer" hören wir vom Chor der Antigone des Sophokles, "aber das Ungeheuerste ist der Mensch." (Sophokles, Antigone V.332) Sicher war die Lebensform der Sklaven eine andere als jene der Bürger und zwar aus einem tiefen Grund: der Sklave war gar KEINE PERSON, wobei unter Person eben jenes Wesen verstanden wurde, das einzig Subjekt des Rechtes ist und sein kann. Der Sklave hatte also allein schon darum keine Stelle in der Sozietät der Bürger der Polis, weil er nicht einmal als eine Person angesehen werden konnte. Die Bedeutungsverschiebungen der Wörter einer ansonsten gemeinsamen Sprache - der scheinbar gemeinsamen Sprache der Bürger der Polis und der Sklaven - zeigen die Differenz ihrer Lebensformen in einem anderen Sinne, als man sie in den Standesformen feudaler und post-feudaler Gesellschaften entdecken könnte. Freilich, Formen überschneiden sich, so daß von DER Lebensform einer Sozietät zu sprechen, bereits ein Eingangstor zur Ungenauigkeit öffnet. Ich möchte nicht in die farbige Welt der Kulturvergleiche eintreten, aus deren innersten Kern oft die Überzeugung durchleuchtete, daß der sogenannte ursprüngliche Zustand ein reiner und guter gewesen wäre, wofür die biblische Geschichte des Paradieses das reinste Zeugnis bildet. Der unschuldige Mensch, noch jenseits von Gut und Böse, gilt als der Namengeber der Dinge. Namen geben, den Dingen, Gegenständen Namen geben - wie kompliziert der Prozeß auch sein mag und gewesen sein mag - steht AM BEGINN SPRACHLICHEN VERHALTENS. Wo Einigkeit über den Gebrauch der Namen besteht, gibt es Übereinstimmung im Grundlegenden der Sprache, gibt es jedenfalls keinen Streit über Namen. Uneinigkeit über den Sinn der sprachlichen Ausdrücke, genauer, über den Bezirk ihrer Anwendung, erzeugt Streit, wie ja allgemein das Verletzen von Grenzen, insbesondere des Besitzes oder vermeintlichen Besitzes, zum Streite reizt. Es besteht hier ein wesentlicher Unterschied zu jenen Fällen, in denen, aus welchen Gründen immer, es nie zur Ausübung von Handlungsarten kommt, die andere Mitglieder einer Sprachgemeinschaft beherrschen. Wer einzelne oder auch viele solcher in einer Gemeinschaft der modernen Lebenswelt üblichen Tätigkeiten, wie z.B. Schwimmen, Kochen, Autofahren, nicht beherrscht, kann sie nicht ausüben. Das schränkt den Handlungsspielraum auf dem jeweiligen Gebiet der Tätigkeit ein und schließt gemeinsames Tun aus. Wer jedoch, aus welchen Gründen immer, aus einem Teil der Sprachgemeinschaft ausgeschlossen ist, weil er nicht die Schrift einer Sprache oder nicht die Wörter einer Sprache kennt, der kann im wesentlichen Sinne nur partiell an der Lebensform einer Gemeinschaft teilnehmen. Ein Wittgensteinsches Beispiel: "Wenn ein Begriff auf einen Charakter der menschlichen Handschrift abzielt, dann hat er keine Anwendung auf Wesen, die nicht schreiben." (PV II, 489) Hier haben wir den Fall vor uns, wo ein Teil einer Gesellschaft, etwa die Analphabeten, aus einem Anwendungsbereich der Sprache herausfällt. Jedenfalls in dieser Hinsicht unterscheiden sich die Lebensformen derjenigen, die Schrift und Schrifttum verstehen und benützen von jener, die - jedenfalls tatsächlich - in keiner Weise von der menschlichen Fähigkeit zu schreiben und zu lesen Gebrauch machen können. Der Ausdruck "Lebensform", den Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen fünfmal gebraucht, der jedoch an anderen Stellen auch, wenn auch nicht häufig vorkommt, scheint gleichfalls in bezug auf seinen Anwendungsbereich in Streit zu stehen. Es wäre seltsam, wenn Wittgensteins Verwendung des Ausdrucks "Lebensform" im Singular sich einfach auf jene des Menschen als Gattungswesen, als homo sapiens bezöge, im Plural jedoch auf verschiedene Lebensweisen, die etwa durch Unterschiede der historischen und kulturellen Bedingungen entstanden wären. Ich sehe Wittgensteins Anwendung des Ausdrucks "Lebensform" NICHT auf unsere animalisch-natürliche Species - also auf die ALLEN Menschen eigenen Eigenschaften - beschränkt, wie ich schon in meiner Antwort auf Garver aus dem Jahre 1984 gesagt bzw. geschrieben habe.*2* Sonst könnte Wittgenstein nicht so oft Beispiele erfinden und besprechen, andere Bilder und Begriffsbildungen vorstellen, die eben Verschiedenheit voraussetzen. Vielmehr hat der Ausdruck "Lebensform" mit dem zu tun, was Wittgenstein "Tatsachen des Lebens" genannt hat. In ihrem Umkreis gehört zu unseren Lebensformen, daß wir Tatbestände registrieren, Tatbeständen nachforschen, Berichte sammeln und Berichte verfassen wie erstatten, uns über Unrecht erregen und uns gegenüber der ungerechten Behandlung zu erwehren trachten, bestimmte Handlungen bestrafen, andere belohnen. Und, wie das Wittgensteinsche Sprachspiel verdeutlicht, können wir uns (ohne weiteres?) vorstellen, daß zwei Menschen miteinander so verkehren, daß der eine nur befiehlt und der andere bloß gehorcht. Auch ist denkbar, daß ein Mensch sein ganzes Leben hindurch stumm bleibt. Aber auch die gewöhnlichen Tatsachen und Ereignisfolgen des Liebens und Leidens, des Zeugens und der Erziehung von Kindern, des Lebens in der Familie, zu zweit oder alleine, Berufe zu lernen, auszuüben oder zu wechseln, Naturalwirtschaft oder Geldwirtschaft, Krieg und Frieden zählen zu den Tatsachen des Lebens. Die Konventionen freilich, welche die Formen solchen Geschehens bestimmen, sind gewiß nicht Ergebnisse oder Manifestationen der Naturgeschichte. Und erst die Religion, und die Missionen, Kämpfe und Kriege in ihrem Zeichen: ist sie nicht, wie Wittgenstein schreibt, "sozusagen der tiefste ruhige Meeresgrund, der ruhig bleibt, wie hoch auch die Wellen oben gehen.-"? (VB 1946) Dies also sind Tatsachen des Lebens. Aber nicht solche, die so sein müßten wie sie sind. Ebenso natürlich, wie das Bestrafen einer Tat, oder auch nur einer Einstellung zu einer Tat, zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten (kulturellen) Umgebung sein und wirken mag, so anders wird die gleiche Handlung des Strafens zu einer anderen Zeit geradezu als unnatürlich und verwerflich beurteilt. Der Ruf, daß Karthago zerstört werden müsse, diese Strafandrohung und ihre Realisierung hat in vielen Formen seine Vorgänger und Nachfolger in der Geschichte. Strafen, so könnten wir sagen, IST EINE TATSACHE DES LEBENS. Aber sicher ist Strafen keine Naturtatsache und ebenso sicher keine Handlung, die man nicht unterlassen könnte. Daß wir strafen wollen oder strafen zu müssen glauben, hängt an der Form unseres Lebens. Historisch gewordene und historisch modellierte Formen des Lebens in Sozietäten wandeln sich und haben sich oft gewandelt. Und ebenso wandelt sich das Verstehen der Wörter, mit Hilfe derer wir die Formen und den Wandel beschreiben oder in Frage stellen. Wie wenden wir JETZT ein Wort an, wie etwa das Wort "vielleicht", Wittgensteins Beispiel zu Beginn der Dreißigerjahre? So wie es in den Beispielen, die wir hunderte Male geliefert haben, angewendet wurde, so wenden wir das Wort auch heute an, so wird das Wort gebraucht. Das heißt jedoch nicht, daß andere als die bisherigen Anwendungen ausgeschlossen wären. DARUM SAGT WITTGENSTEIN ZU RECHT, DASS DAS KRITERIUM DES VERSTEHENS (EINES WORTES) DIE RICHTIGE ANWENDUNG DES WORTES SEI. Aber wenn sich die Form des Lebens geändert hat, wenn z.B. das Strafen der Kinder für unvernünftig und falsch gelte, dann änderten sich die "angelernten" Eigenschaften der Menschen, und neue Gewohnheiten führen dazu, die Bedingungen der Angemessenheit des Gebrauches gewisser Ausdrücke zu ändern. "Ist denn die Bedeutung wirklich nur Gebrauch des Wortes? Ist sie nicht die Art, wie dieser Gebrauch in das Leben eingreift?" So Wittgensteins Frage, die er mit einer anderen Frage beantwortet: "Aber ist denn sein Gebrauch NICHT Teil unseres Lebens?!" (Philosophische Grammatik II, 29, p.65) Wohl gemerkt, der Gebrauch ist der Gebrauch des Wortes (oder der Wörter) IN DER Sprache. Aber eben diese ist nicht isolierbar vom Leben, wenn ihr Gebrauch - so wie die Sprache - Teil unseres Lebens ist. "Wir reden und handeln. Das ist in allem, was ich sage, schon vorausgesetzt", heißt es in den "Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik" (BGM VI, 17, p.321) Wir sind REDENDE LEBEWESEN, und wir können nur reden, wenn wir in einer Sprache zu reden, d.h. den Gebrauch der Sprache GELERNT HABEN. Kaspar HAUSER lebt auch, aber sprachlos und furchtsam gegenüber den sprechenden Lebewesen. Der behinderte Mensch, der Mensch, der keine Sprache lernt oder lernen kann, weil er z.B. taub und stumm geblieben ist oder weil sein Geist schwach und nur im geringen Maße lernfähig ist, lebt ohne Hilfe am Rande der Grenze, welche "die gemeinsame menschliche Handlungsweise" um die Sprachspiele der Menschen zieht.*3* Um an der Lebensform jener teilzunehmen, die sich in einer Sprache verständigen, ist Übereinstimmung über den Gebrauch der Wörter eine notwendige Voraussetzung. Aber Wittgenstein macht darauf aufmerksam, daß ein Kriterium für eine solche Übereinstimmung mehrschichtig ist. Außer in den Bestimmungen der Bedeutung der Wörter, in Definitionen, ist auch eine Übereinstimmung "in einer großen Anzahl von Urteilen" nötig.*4* Wenn nicht die meisten Mitglieder darin übereinstimmten, wie ein Wort in einem gewissen Zusammenhang verwendet wird, wie in einer gewissen Situation geurteilt werden kann, besteht Gefahr, die Grundlage der Verständigung, d.h. der sprachlichen Mitteilung selbst zu verlieren. Als ich 1984 auf Garvers These, die eigentliche Bedeutung von Wittgensteins Gebrauch des Ausdrucks "Lebensform" sei die naturgeschichtlich-sozio-biologische, antwortete, war ich mir sicher, daß "Lebensform" ein Ausdruck ist, der nach dem Plural verlangt. Und der Grund war wohl, daß die Mehrzahl von Sprachspielen und Sprachen nicht nur durch EINE Lebensform begründet und bedingt sein könne. Eine Sprache, die nur aus Befehlen besteht und deren Wirken im Gehorchen und Ausführen von Befehlen erkannt wird - ein bevorzugtes Beispiel des Lehrers und Leutnants Wittgenstein - bedingt eine andere Lebensform als etwa die Lebensformen einer Reformschule, wie jene in Russells Telegraph-house oder in einer Waldorfschule. So jedenfalls könnte ich mir denken. Wir stellen fest, es gibt es JEDENFALLS Variationen einer Lebensform, wie es verschiedene Verwendungen der Sprache gibt. Aber es gibt auch andere Meinungen: "Die Vorkommnisse des Ausdruckes "Lebensform" sind nicht so zahlreich und sind verträglich damit, daß es nur eine Form menschlichen Lebens gibt, auch wenn imaginierte Lebensformen (imagined forms of life) im Vermögen der menschlichen Sprache wesentlich für das philosophische Verstehen sind, das uns von uns selbst (überhaupt) möglich ist." So lesen wir bei Robert John Ackermann.*5* Und doch - so meint dieser Autor - gibt es in Wittgensteins Text nur als Metapher für die Sprache nur EINE Stadt, die Metapher einer alten und ständig weiter gebauten Stadt als der auf uns gekommenen Heimstätte, fast so etwas wie ein "Haus des Seins", in das wir geworfen sind, wie die Philosophen der Dreißiger- und Vierzigerjahre zu sagen pflegten. Es käme mir freilich seltsam vor, wenn jene, die dem Einfluß von Spengler und Sraffa auf das spätere philosophische Werk Wittgensteins Wert beimessen, zögerten, die Veränderlichkeit und den Wandel von Lebensformen in Geschichte und Gegenwart zu registrieren. Nicht weniger sonderbar wäre es, wenn an die Stelle des VARIATIONSREICHTUMS der menschlichen Lebensformen, über deren ursprüngliche Gestalt Wittgenstein sich in seinen Bemerkungen zu Frazer und an anderen Stellen äußert, der dürre Gedanke EINES gleichbleibenden WESENS des Menschen, etwa als animal rationale gesetzt würde. Wer wie Wittgenstein darauf aus ist, UNTERSCHIEDE aufzuzeigen - und, wo solche nicht offenkundig sind, sie eher zu erfinden als zu verdecken - der wird nicht vergessen, daß "Befehlen, fragen, erzählen, plauschen... zu UNSERER Naturgeschichte gehören so wie gehen, essen, trinken, spielen" (PU 25), also jene Tätigkeiten, die wir auch bei Tieren beobachten. Aber was heißt in diesem Zusammenhang NATUR-Geschichte? Hier stößt man auf einen Begriff, den jene zur Bekräftigung ihrer Deutung hervorheben, die wie Garver, eben die menschlichen Eigenschaften insgesamt, also jene, die sie NICHT mit anderen Lebewesen gemein haben, ebenso als naturgegebene ansehen wie bei den Fischen die Art der Atmung, Fortbewegung und Fortpflanzung. Ist "Plauschen" ein Produkt der Natur? Auch eine Rede halten ein solches? Autolenken, Television schauen, Computer-Software entwickeln? Nein, wird man einwenden: nur jene Formen, die allen Menschen eigen oder zugänglich sind, wie Fragen und Antworten, Befehlen und Gehorchen, Erzählen und Zuhören, Rechnen, Planen und Pläne Ausführen, Beten und Fluchen, Bitten und Danken. Aber, so könnte man einwenden, während Essen und Trinken und Gehen kaum für längere Zeit aus der Lebens- und Naturgeschichte des Menschen gestrichen werden können, ohne ihre Existenz zu gefährden bzw. zu vernichten, gibt es Formen des Lebens, in denen Fragen, Erzählen, Plauschen fehlen oder abhanden gekommen sind. Zu derart elementare Bedürfnisse restringierenden Formen sagen wir manchmal, es seien UNMENSCHLICHE LEBENSFORMEN. Wenn wir Variationen einer Lebensform von Bruchlinien unterscheiden wollen, so sollen unter Variationen zunächst jene Veränderungen und Abwandlungen verstanden werden, welche eine ursprüngliche Form so bestehen und auffassen lassen, wie sie als Prototyp oder Vorbild wirken kann. Sprachspiele mögen, aber sollen nicht als Vorurteile wirken; ihre Rolle ist, wie Wittgenstein sagt, als "Vergleichsobjekte" zu fungieren. So lassen sich auch die Variationen von Stilen und Lebensformen vorstellen. (PU 130,131)*6* Wittgensteins Texte (der Zeit nach 1929) führen uns zahlreiche Beispiele von Sprachspielen vor, deren Zweck oft darin besteht, durch besondere Verstärkung EINER möglichen Eigenschaft oder EINES hervorstechenden Zuges sprachlicher Verhaltensform, das Typische, oder Verquerte, oder die verborgene Bedeutung der tatsächlichen Redeweise vorzustellen. Der Ausdruck "Sprachspiel" ist vielleicht selbst ein ausdrucksvolles Beispiel dafür, was unter Variation in bezug auf ein bestimmtes Sprachspiel verstanden werden kann. Freilich gibt es viele Fragen, die man zur Einführung des Begriffes SPRACHSPIEL bei Wittgenstein stellt, aber der Prototyp, der uns am Beginn der Philosophischen Untersuchungen vorgestellt wird, zeigt EINES der Beispiele von Sprachspielen sehr deutlich: die einfache auf EINE Art von Sprechakten beschränkte Sprache, in der eine Person befiehlt und die andere gehorcht, wobei die Person, die gehorcht, gar nicht spricht und nur durch das Handeln und die Ausführung zeigt, ob und wie sie, was befohlen wurde, verstanden hat. Wenn ein Kind die Wörter der primitiven Vier-Wort-Sprache der Bauleute, "Würfel", "Säule", "Platte", "Balken", lernen sollte, so stellt Wittgenstein den Lernprozeß so dar: "Der Lernende BENENNT die Gegenstände", indem er das entsprechende Wort sagt, wenn der Lehrer auf einen der Bausteine zeigt. (PU 7) Hier ist das BENENNEN WESENTLICHER TEIL DES SPRACHSPIELES, und man kann sich leicht einfache Variationen dazu vorstellen. Wittgensteins eigene: der Lehrer spricht das Wort, DIE SCHÜLERIN (bei Wittgenstein gibt es nur Schüler) spricht es nach. Aber in einem anderen Sprachspiel ist das Benennen so wenig Teil des Sprachspieles wie das Aufstellen einer Schachfigur Teil des Schachspieles sein soll (aber wer sieht hier eine genaue Grenze?). Sprachspiele sind vornehmlich Darstellungsweisen, und die Darstellungsweisen des gewöhnlichen Sprachgebrauches sind uns gewöhnlich selbstverständlich. Was nicht selbstverständlich ist, ist, welches Kriterium wir dafür verwenden, daß uns eine Ausdrucksweise, eine Darstellungsweise selbstverständlich ist. Selbstverständlich ist uns jedenfalls alles, worüber wir ohne Zweifel und Zögern mit anderen einig und selbst im klaren sind, daß etwas so, wie es gesagt wird oder wurde, offenkundig richtig ist, also keiner weiteren Untersuchung bedarf. Es sind die Anwendungen einer Regel, die uns im Sprechen Sicherheit oder Unsicherheit bereiten, wobei wir nicht umhin können zuzugeben, daß wir gewöhnlich den Regeln des Gebrauchs der Wörter "blind" folgen. Und selbst, wenn es so wäre, daß ich gemeinhin trachte, meine Verwendung der Wörter zu rechtfertigen, bliebe die beste und angemessene Rechtfertigung keine andere als die Versicherung durch die Praxis*7*: Im Allgemeinselbstverständlichen stimmen wir mit den anderen überein. Wittgenstein sagt in ähnlichem Zusammenhang, daß dies keine Übereinstimmung von Meinungen, sondern eine Übereinstimmung der LEBENSFORM sei. Übereinstimmung im Selbstverständlichen, das keiner Erklärung bedarf, kann daher auch als EIN Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Lebensform selbst aufgefaßt werden. Und Lebensformen sind, wie man weiß, eo ipso nie privat, sondern Gemeingut an Handlungs- und Auffassungsweisen. Es scheint mir allerdings keinen triftigen Grund dafür zu geben, das Selbstverständliche und Allgemein- Selbstverständliche nicht auf Meinungen ausdehnen zu dürfen. § 2 Jeder, der sich in die Lektüre der PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN einließ oder versenkte, konnte nicht umhin, die Einfachheit bemerkenswert zu finden, mit der zunächst und vor allen anderen Augustinus beschreibt, wie das Bezeichnen der Gegenstände durch Laute und natürliche Gebärden erfolgt. Durch Zuwenden zu den Gegenständen und das Aussprechen von Lauten WIESEN die Erwachsenen - so die Erinnerung Augustinus' an seine eigene Kindheit - auf einen Gegenstand. Und mehr noch, AUS DEN GEBÄRDEN, "durch das Mienen- und Augenspiel", durch "Bewegungen der Glieder", der Arme und des Körpers sowie des Klanges der Stimme fand Augustinus "die Empfindungen der Seele angezeigt, wenn diese irgendetwas begehrt oder festhält oder zurückweist"... So lernt man, wie Augustinus sagt, nach und nach verstehen, wessen Zeichen die Wörter sind, die an bestimmten Stellen verschiedener Sätze vorkommen, d.h. welche Dinge die Wörter bezeichnen. Wittgenstein faßt in einem kurzen Abschnitt die Augustinische Sprachauffassung zusammen. Sie scheint ihm typisch, man könnte sagen prototypisch, für eine bestimmte Sprachauffassung oder - wie er selbst sagt - für "ein bestimmtes Bild von dem Wesen der menschlichen Sprache. Nämlich dieses: die Wörter der Sprache benennen Gegenstände. Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen." Aus dieser Zusammenfassung ergibt sich ein Bild von der Sprache, demzufolge gilt: unum nomen, unum nominatum: "Jedes Wort hat eine Bedeutung ... sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht." (PU 1) Es ist keineswegs die einzige Erläuterung, die Wittgenstein der Augustinischen Darstellung widmet, und es ist nicht meine Absicht, sie einzeln in Erinnerung zu rufen, wohl aber auf einige ihrer Momente oder Unterstreichungen hinzuweisen, weil es ja in deren Zusammenhang geschieht, daß wir zum erstenmal in Wittgensteins BUCH*8* auf den Ausdruck "Lebensform" stoßen. Wittgenstein charakterisiert den Bedeutungsbegriff, wie er ihn im Augustinischen Text verborgen findet, als Ausdruck einer primitiven Auffassung von der Funktion der Sprache, aber auch als einen solchen, der ANGEMESSEN ist für eine primitive Sprache, jene primitive Sprache der beiden Bauarbeiter, die mit den vier Wörtern "Würfel", Säule", "Platte", "Balken" angeblich "vollständig" wäre. Viele, ja die meisten Darstellungen und Interpretationen des Anfangs der PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN vergessen offenkundig, daß Wittgenstein zuläßt, ja vorschlägt, die primitive Sprache der Verständigung, die bloß aus vier Wörtern besteht, als eine "vollständige primitive Sprache" aufzufassen. (PU 2)*9* Und desgleichen unterstreicht er, daß das Lernen der Sprache, wie man es beim Kinde beobachten kann, ebenso "solche primitiven Formen der Sprache" einschließt. (PU 5) Mehr noch, Wittgenstein schlägt vor, wir könnten uns vorstellen, daß die Vier-Wörter-Sprache der Bauleute nicht nur die GANZE Sprache der beiden miteinander kommunizierenden Bauleute ist (die sich nicht mehr zu sagen haben als "Balken", "Platte", "Würfel", "Säule"), sondern daß es die GANZE SPRACHE eines Volksstammes ist. Das jedenfalls ist das eine Bild, das Wittgenstein gewissermaßen als ein Verständigungsmodell anführt. Und um sich das vorzustellen, wolle man sich vorstellen, die Kinder würden so aufwachsen und dazu erzogen werden, "DIESE Tätigkeiten zu verrichten, DIESE Wörter dabei zu gebrauchen und SO auf die Worte des anderen zu reagieren." (PU 6) Mit dieser Erläuterung werden wir - gewissermaßen mit der Nase - darauf gestoßen, daß das Erlernen der Sprache ein Abrichten DURCH DRILL UND TRAINING ist, etwas, was mit gelenkter Aufmerksamkeit des Lernenden wie mit dem Vorzeigeverhalten der Lehrenden zu tun hat. "Dieses hinweisende Lehren der Wörter", von dem Wittgenstein zu Recht sagt, daß es zwar nicht notwendigerweise so geschieht wie es geschieht, aber eben geschieht, ersetzt im Beispiel des Stammes der Bauleute alle anderen Lernprozesse, weil es eben nur eine einzige Anwendung gibt; das Ausrufen eines der vier Wörter und das Herbeibringen eines der entsprechenden Bausteine, welche das gerufene Wort bezeichnet. Es ist wahr, es gibt wohl kaum eine mögliche Handlungsweise, die im Laufe der Geschichte und Entwicklung menschlicher Gesellschaften nicht schon ausprobiert worden wäre. Man muß seine Phantasie nicht allzusehr anstrengen; nicht nur in den grauen Vorzeiten und in den Frühzeiten der Antike gab es die grausamsten und verquertesten Absonderlichkeiten in der Behandlung von Menschen, z.B. von Sklaven und Gefangenen. Noch heute sind Gesellschaften, in denen Kinder eine wortarme Erziehung zur Zwangsarbeit erleiden, nicht ausgestorben. Zugegeben, es ist schwer vorstellbar, daß es eine Sozietät geben könne, die so erzogen wäre, daß sie nur vier Wörter anzuwenden lernte und alle anderen Bedürfnisse und Mitteilungen etwa durch wortlose Gebärden ausdrückte. Wenn es jedoch der Fall wäre, dann hätten eben diese Gebärden und Akte wie Kopfnicken und Kopfschütteln etc. den Charakter und die Funktion von Mitteilungen, wenn sie gemeinhin verstanden werden. Auch wenn mit dem Modellfall solch vorstellbarer Sprachen nicht ein unserer Sprache angemessener Fall beschrieben ist, so gelten doch gewisse Minimalbedingungen hier wie dort. "Das Kind lernt, indem es dem Erwachsenen glaubt." (ÜG 160) Wie aber könnte ein Kind glauben, wenn es nicht auch in der Lage wäre, etwas anderes zu glauben, als was der Wortschatz - im gegenständlichen Fall eine contradictio in adjecto - von vier Wörtern zuließe? Nichtsdestoweniger ist die einfache Beschreibung einer Regel des Spracherwerbs auch die bleibende: Ohne das Vertrauen, das im Lernen und Nachahmen vorausgesetzt wird, ist die Bedingung der Übereinstimmung in der Anwendung des Gebrauchs einer Regel nicht zu erzielen, denn der Glaube der Übernahme des Gebrauchs ruht auf dem Vertrauen. Nichtsdestoweniger - und man verzeihe die Wiederholung von längst Bekanntem - hat Wittgenstein das gleiche sprachliche Verhalten wie jenes der rufenden Bauleute und ihrer stummen Gefolgsleute an anderer Stelle (PU 7) als ein Spiel oder "eines jener Spiele" gedeutet, "mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlernen." Wie wir wissen, erfolgt an dieser Stelle zum erstenmal die Anführung und Einführung des Terminus SPRACHSPIEL, wobei Wittgenstein nun die Sprache der Bauleute (bei denen ja nicht jedes Mitglied der Sprachgemeinschaft die ganze Sprache verwendet) von ALLEN Mitgliedern sprechen läßt. Im Falle der spielenden Kinder, die wir uns nun vorstellen sollen, ist vom BENENNEN der Steine und Nachsprechen der vorgesagten Wörter die Rede, während im Falle des primitiven Volksstammes ein Teil der Mitglieder die Wörter ruft, und "der andere handelt nach ihnen." (PU 7) Wenn das reaktive und wortlose Verhalten Handeln genannt wird, statt "Reagieren", "Folgen" o.ä.m., dann verdünnen wir jedenfalls die Bedeutung des Begriffes einer Handlung, denn der dressierte Hund wird dem Ruf des Herrn "Sitz!" nicht anders folgen als die Bauleute dem Ruf "Balken!" oder "Platte!" Die Eigenschaft "natürlich" kann man diesem Verhalten nicht zusprechen, und so fragt man, ob es zur Naturgeschichte gehören sollte. Zu einem bestimmten Verhalten "abgerichtet" zu werden läßt analoge Reaktionen bei Tier und Mensch zu. Und wie sollte es anders sein, da wir Wittgenstein wohl zustimmen werden, wenn er z.B. vom Hunde zugibt, daß er seinen Herrn ERWARTEN kann, wie wir eben erwarten, daß unser Hausgenosse, wenn er weggegangen ist, auch wieder zurückkehrt. Im Oktober 1937 notiert Wittgenstein: "Der Ursprung und die primitive Form des Sprachspiels ist eine Reaktion; ERST auf dieser können die komplizierten Formen wachsen."*10* Wenn wir das ernst nehmen - und das ist doch unsere erste Maxime im Verstehen und Interpretieren seines Textes - dann ist die oft erprobte Deutung der Vier-Wort-Sprache als eine propositionale, in der die Bauleute, die den Rufen "Säule", "Platte", "Säule" zu folgen haben, in Wirklichkeit "Bring mir (jetzt) eine Säule!" verstehen, durchaus inadäquat. Die prompte Reaktion bedeutet nicht, verstanden zu haben, daß jeweils eigentlich "Bring mir eine Säule!" etc., gemeint ist, auch nicht, daß dies die eigentliche, aber nicht artikulierte Bedeutung des Wortes "Säule" oder "Platte" ist. Sie bedeutet einfach, so zu reagieren, als wäre es selbstverständlich. Wie Wittgenstein selbst die reaktive Auffassungsweise nimmt, zeigen jene späten Überlegungen, wo es nicht um die Auffassung geht, ob ein Wort eigentlich ein Satz ist, nicht darum, ob ein Ausdruck, der einen Gegenstand nennt, die Meinung ad absurdum führt, daß ein Sprachspiel überhaupt "auf einem Wissen ruhen" müsse. (ÜG 477) Demnach muß den Bauleuten im Sprachspiel der vier Wörter keine Art von Glauben unterstellt werden und uns als Interpreten kein Glauben oder Wissen, daß z.B. "Säule" eigentlich "Bring mir eine Säule" bedeutete.*11* Was nämlich das Sprachspiel der Bauleute betrifft, so sollte man nicht darüber hinwegsehen, daß Wittgenstein zweierlei Information beifügt, welche deutlich macht, daß die Präsentation des Beispiels bereits eine Deutung, eine Interpretation auf zwei Stufen mit sich führt: erstens wird uns die soziale Stellung der Bauleute mitgeteilt: ein Bauender und sein Gehilfe. Und zweitens werden die Zwecke angegeben, daß nämlich der Gehilfe dem Bauenden die einzelnen Bausteine zuzureichen habe, so als bestünde darüber schon Einverständnis oder eine Art von Kontrakt. Und schließlich wird bei der Annahme der Vollständigkeit dieser primitiven Vier-Wörter-Sprache zusätzlich angenommen, daß beide das Spiel schon gelernt haben: der EINE, das Wort, das die Art der Bausteine benennt, zu RUFEN; der ANDERE dem Bauenden die Steine in der Reihenfolge der Rufe einzeln zu REICHEN. Das Spiel gelernt zu haben inkludiert dann für den Gehilfen zu akzeptieren, jemandem anderen etwas auf ein Zeichen: hier den Ruf "Säule" etc. zu bringen, entweder weil er der Herr ist, der Brotgeber oder was immer seine Rolle als Bauenden bestimmen mag. Der Ernst dieses Spiels liegt also schon in der Rollenverteilung, denn der Säulen und Platten schleppende Gehilfe hat NICHTS ZU SAGEN sondern nur zu tun, während der Bauende selbst nicht nur baut, also mit Hilfe der Bausteine etwas - ein Haus, einen Tempel (wer weiß) - errichtet, sondern auch einen Gehilfen hat, dessen Arbeit und Arbeitsrhythmus er bestimmt. Mit seiner Aussprache der Wörter dirigiert der Bauende die Arbeit des Gehilfen und fügt die Bausteine nach seinem Willen in DER Reihenfolge zueinander, die man der Reihenfolge seiner Rufe entnehmen kann. Obschon diese Sprache nur vier Wörter kennt und eigentlich nur in aufforderndem Gebrauch vorgestellt wird oder - wie Wittgenstein selbst sagt - "nur aus Befehlen" besteht, läßt er den Einwand, sie sei nicht vollständig, nicht gelten. Seine Begründung: Man frage sich, "ob unsere Sprache vollständig ist". (PU 18) Wenn jedoch Wittgenstein behauptet, daß zur Verständigung durch die Sprache nicht nur Übereinstimmung in Definitionen, sondern auch in Urteilen gehört, dann muß man entweder annehmen, daß sich der Gehilfe ein Urteil gebildet haben muß: "Das ist eine Säule" oder "x=Säule, wobei x durch eine hinweisende Gebärde ersetzt werden, er muß also doch über ein breiteres aktives Sprachvermögen verfügen als wir zunächst annehmen, ODER es handelt sich um keine Sprache, die der Verständigung dient, was das Beispiel jedoch ausschließt. Wir können unter den angeführten zusätzlichen Bedingungen akzeptieren, daß es sich um eine fast vollständige Sprache handelt, eben eine extrem PRIMITIVE SPRACHE. Und es bedarf keiner ausgedehnten Phantasie, sich Variationen dieser oder anderer primitiver Sprachen auszudenken und vorzustellen. Beispielsweise könnten bei sozial gleichgestellten Bauleuten die Rollen des Sprachspieles abwechselnd gespielt werden, sodaß dem, der heute befiehlt, morgen befohlen wird und jener, der heute die Bausteine schweigend zuträgt, morgen die Befehle erteilt. Variationen sind immer Abwandlungen einer Grundstruktur, einer Norm oder Regel, wobei die Veränderungen in bezug auf verschiedene Hinsichten (Momente) eintreten oder vorgenommen werden können. In welcher Hinsicht etwa ein musikalisches Thema variiert wird, ob in melodischer, rhythmischer oder harmonischer, ist eine Sache, eine andere, ob ein Thema die Grundfigur von Abwandlungen bildet. Weichen Abwandlungen einer Regel so sehr von der vorausgesetzen Grundstruktur ab, daß sie unerkennbar und nicht mehr identifizierbar wird (d.h. in der Praxis des Spiels wie des Hörens nicht "entdeckt" werden kann), dann werden diese Abwandlungen nicht mehr als Variationen anerkannt, erhalten also eine andere Bedeutung. Freilich ist die Praxis der Spielenden und Zuhörenden von Musik oder der Kenner und Bewunderer von architektonischen Stilen nicht so verbreitet wie die Praxis des Sprechens einer Sprache; es scheint mir jedoch offenkundig, daß es Analogien zwischen Sprachspielen und anderen Manifestationen der Praxis des Regelverständnisses und Regelfolgens gibt. Im Kleinen wie im Großen sehen wir Wittgensteins Behauptung, daß es die Sprache selbst ist, in der die Menschen einer Lebensform übereinstimmen, bestätigt. Die Praxis gibt den Worten ihren Sinn, und die Praxis beruht auf Übereinstimmung. In diesem Sinn ist ÜBEREINSTIMMUNG der zentrale Begriff, dem zukommt, auch das blinde und rechtfertigungslose Regelfolgen verständlich zu machen, ja mehr noch: Übereinstimmung ist der Schlüssel zum Verständnis dessen, was "LEBENSFORM" bedeutet. Erinnern wir uns des wichtigsten Hinweises in den PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN, wo es heißt: "Richtig und falsch ist, was Menschen SAGEN; und in der SPRACHE stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform." (PU 241) Und unmittelbar anschließend schreibt Wittgenstein: "Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen." (PU 242) Dies, so möchte mir scheinen, sind Grundbedingungen für das Verständnis der Variationsmöglichkeiten einer Lebensform. Innerhalb dieser Grundbedingungen der Selbstverständlichkeit entspricht unser Handlungsspielraum, zu dem auch unsere Sprachspiele zählen, derselben Lebensform. Wie Kripke formuliert: "Die Klasse der Reaktionen, in denen wir übereinstimmen, und die Art ihrer Verflechtung mit unseren Handlungen bilden unsere Lebensform."*12* Darin, daß er nicht in den Urteilen, und oft auch nicht in den Definitionen, mit uns übereinstimmt, sagen wir etwa vom Geistesschwachen, seine Lebensform sei von der unsrigen unterschieden, oder, wie Wittgenstein meint, auf einer primitiveren Stufe. Bruchlinien einer Lebensform hingegen zeigen sich dadurch an, daß Übereinstimmung selbst in Zweifel steht und kein Kriterium zur Verfügung ist, das Verständnis wieder herzustellen. Bruchlinien sind oft auch Grenzen von Lebensformen, deren Verletzung Streit hervorruft, ja oft Streit bedeutet. Geraten nämlich zwei Lebensformen miteinander in Streit, weil die Menschen ihre Weise zu handeln oder zu denken nicht anerkannt und geduldet finden oder gar bedroht oder verletzt sehen, dann ist auch klar, daß Übereinstimmung - die Basis und das Kriterium des Sprachgebrauchs - wie Verständigung in Gefahr ist oder, im extremen Fall, unmöglich geworden ist. Die Aufhebung der Übereinstimmung in der Anwendung der Sprache zeigt ihre Bruchlinien: Sie sind der vermeinte Boden des Streites. Was wohl für Garvers Deutung und analoger Interpretationen zu sprechen scheint, ist, daß Wittgenstein selbst gerne darauf hinweist, daß unsere Begriffsbildung sich aus Naturtatsachen erklären läßt. (PU, II,XII) Auch wenn er diese NICHT kausal erforschen will, weil er - wie er sagt - nicht Naturwissenschaft und auch nicht Naturgeschichte betreiben möchte, so liefert er doch Bemerkungen zur Naturgeschichte des Menschen als einer Geschichte, wo vieles dem Bemerktwerden entgeht. Und es kann dem Bemerktwerden entgehen, weil es eigentlich offenkundig ist, "ständig vor unseren Augen" liegt. (PU I, 425) So steht man vor der paradoxen Aufgabe zu entdecken, was "ständig vor unseren Augen" ist. Die Aufgabe, die wir uns stellen, ist eine andere, unsere Auffassungsweise darzustellen und zu rechtfertigen, d.h. sie als sinnvoll und begründet darzustellen. Und eben hier zeigt uns Wittgenstein einen überraschenden Realismus, den ich hier durch EIN Beispiel verdeutlichen lassen kann: ÜG 212: "Wir betrachten z.B. eine Rechnung unter gewissen Umständen als genügend kontrolliert. Was gibt uns dazu ein Recht? Die Erfahrung? Konnte sie uns nicht täuschen? Wir müssen irgendwo mit Rechtfertigungen Schluß machen, und dann bleibt der Satz: daß wir so rechnen." Ich bin am Ende dieser kurzen Überlegung, die uns zum Schluß vom Anfang der Sprache - der einfachsten Sprachspiele - zu ihrem Ende, der Überprüfung und Begründung des Gesagten führt. So verschieden die Sprachspiele sind, so verschieden Sprache funktioniert, in der Rechtfertigung durch Gründe und Tatsachen scheint die letzte, die wir anführen, immer von gleicher Art: So machen WIR es eben, so handeln WIR. Wie ist es aber, wenn wir an den Streit, an den Ursprung des Streites denken? Ist es nicht denkbar, daß es dieser ist: daß der EINE sagt, so machen WIR es eben, und der andere auch das gleiche sagt? Aber wenn zwei das gleiche SAGEN, sagt ein altes Sprichwort, ist es nicht das gleiche. Denn im Streit herrscht oft Unklarheit darüber, ob etwas so IST oder SO AUSSIEHT, so war oder so geschehen ist, wie gesagt wurde. Wenn alle Klärungsversuche durchgespielt sind, zeigt es sich oft, daß am Ende des Streites keine Übereinstimmung erzielt wurde. Die Gründe sind alle vorgelegt und abgewogen; eine Fortsetzung des Gespräches der Streitenden nicht mehr gewollt: Es ist keine gute Antwort, an dieser Stelle zu sagen: so handeln wir eben. Auch ein Streit hat eine Physiognomie, und zu dieser gehört, daß Versöhnung nicht das einzige Ziel sein mag. FUSSNOTEN: *1* L.Wittgenstein, Philosophische Grammatik IV, p.88 *2* R.Haller, "Lebensform oder Lebensformen? - Eine Bemerkung zu Newton Garvers Interpretation der 'Lebensform'", in: Grazer philosophische Studien 21 (1984) 55-64 *3* Vgl. R.Haller, "Die gemeinsame menschliche Handlungsweise", in: Zeitschrift für philosophische Forschung 33 (1979) 521-33; wieder abgedruckt in: Sprache und Erkenntnis als soziale Tatsache. Hg. R.Haller, Wien 1981 *4* Vgl. L.Wittgenstein, BGM 39, p.342f *5* R.J.Ackermann, Wittgenstein's City. Amherst 1988, p.219; zu Sprache vgl. E.von Savigny, Zum Begriff der Sprache, Stuttgart 1983 *6* Siehe unter §2 p.17f. Vgl. H.R.Fischer, Sprache und Lebensform, Heidelberg 19912 *7* Vgl. zum Problem des Regelfolgens S.A.Kripke, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, dt. H.Pape, Frankfurt 1987, pp.111, 117 *8* Das war die Bezeichnung, die er an verschiedenen Stellen und auch einmal in einem Brief an seine Schwester Margarethe... verwendete, um auf die geplante Herausgabe seiner Philosophischen Bemerkungen hinzuweisen. *9* Ähnliche Bemerkungen über die primitive Sprache bei: R.J.Ackermann, Wittgenstein's City. Amherst 1988, p.43 *10* L.Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Neubearbeitung des Textes von A.Pichler, 1994, p.70 *11* Vgl. N.Malcolm, "Wittgenstein: The relation oft language to instinctive behaviour", in: Philosophical Investigations 5 (1982) 6ff. *12* S.Kripke, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, p.121. "Wesen, die in anhaltend grotesken quus-artigen Reaktionen übereinstimmen würden, hätten eine andere Lebensform", ebd.