***************************************************************** * * Titel: Erinnerung und Philosophie - Kommentar zu Kreuzer Autor: Richard *Raatzsch*, Universität Leipzig Dateiname: 15-1-96.TXT Dateilänge: 78 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 1/96, Datei: 15-1-96.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, R. Raatzsch, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1996 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** Die Literatur über die Philosophie(n) Wittgensteins erscheint als zerfalle sie in disparate, einander partiell überlappende Zirkel größeren und kleineren Umfanges, kreisend um verschiedene Mittelpunkte. Manche Autoren gehen streng textimmanent vor, decken dabei eine Struktur des Textes auf, die man beim einfachen Lesen vielleicht nie gefunden hätte. Andere scheren sich um solche Strukturen gar nicht, sondern suchen sich aus dem, was sie bekommen können, heraus, was sie brauchen können und plötzlich sieht man, wie man mit Wittgensteins Worten Stellung beziehen kann zu scheinbar jedem beliebigen Thema und Autor. Und wenn man manche Wittgenstein-Interpretation liest, kann man dann nicht den Eindruck gewinnen, Hegel, Kierkegaard, Bergson - um nur einige zu nennen - hätten nie etwas gesagt? Und das, obwohl zumindest in Beziehung auf Hegel und Kierkegaard bekannt ist, daß Wittgenstein sie gekannt, den einen - Kierkegaard - sogar über alle Maßen geschätzt hat. Aber muß das etwas bedeuten? Mozart und Beethoven hat er ja sogar für die beiden einzigen Söhne Gottes gehalten. Man kennt inzwischen ja allerorten die "Fassungslosigkeit", mit der einige Wiener dem Mystischen im "Tractatus" gegenüberstanden. Freilich kann dies kein Vorwurf sein, wenn man etwa Neurath weiter einen interessanten Neopositivisten nennen will. Denn mit allem Mystischen zu kämpfen, gehört ja gerade zum Wappen des Neopositivismus, namentlich dem Neurathscher Prägung. Will man es dagegen als Vorwurf anbringen, dann frage man sich, was diesen noch wert macht, angebracht zu werden, wenn man Neurath nicht mehr als interessanten Neopositivisten sehen kann. Es ist klar, was an der ganzen Geschichte das Interessante ist, ist gerade die Frage, wieso man das Mystische im "Tractatus" nicht oder nur schwer fassen kann, wenn man ein interessanter Neopositivist ist. Und Ähnliches, mit umgekehrten Vorzeichen, ließe sich ja von denen sagen, die gerade den Mystizismus in diesem "Buch" so sehr begrüßen. Warum diese lange Vorbemerkung? Weil sie erstens klar machen soll, welchen Stellenwert das hat, was Johann Kreuzer sich vorgenommen hat. Denn sieht es nicht nur auf den ersten Blick so aus, als hätten Wittgenstein und die Kritische Theorie rein gar nichts miteinander gemein, als kämen sie von verschiedenen philosophischen Sternen? Und sieht es nicht sowohl aus der Perspektive der Kritischen Theoretiker wie auch aus der der (analytischen) Wittgensteinianer so aus? Ist Horkheimers Lob des "Tractatus" nicht eher ein Rätsel als eine Bestätigung dessen, was Analytiker schon immer geahnt haben? Wie sonst kann einer, der so schreibt wie Horkheimer, einen loben, der so schreibt wie der frühe und mehr noch der späte Wittgenstein? Auf den ersten Blick scheint viel mehr für Marcuses Verriß als für Horkheimers Lob zu sprechen. Lob von Horkheimer könnte für den Gelobten eher Grund zur Sorge als zur Freude zu sein. Nun kann man dagegen vorbringen, daß es doch immerhin klare Belege dafür gebe, daß Wittgenstein selbst keine solche Schwierigkeiten mit scheinbar völlig anders gearteten Philosophien habe. Etwa wenn er zu den Ausführungen Heideggers über das Sein und die Angst bemerkt, er könne sich wohl denken, was dieser damit meine. Aber wenn er dann sagt, was er sich da denkt, dann hören wir wieder nur solche Sachen ("das Anrennen gegen die Grenze der Sprache", was "auf etwas hindeutet"; fehlt nur noch, daß er sagt, es "zeige sich"), die den Analytikern schon in der ersten Instanz unfaßbar schienen. Was immer Wittgenstein sich gedacht haben mag, sollte es nicht in eine solche Form gebracht werden, daß auch weniger tiefe Geister - "tiefe" im Sinne des unter Analytikern gern gehörten Spruchs: die tiefen Geister erkennt man daran, daß sie besonders schmutzig sind, wenn sie auftauchen - es sehen können? Deshalb ist es nach wie vor bemerkenswert, wenn sich einer traut, zu zeigen, daß und wie man vom Erzfeind etwas lernen kann. Hier muß nun auch gleich das zweite Bemerkenswerte an Kreuzers Aufsatz zur Sprache kommen. Er versucht, das scheinbar völlig Fremde auf eine Weise in Beziehung zu setzen, daß neben den Unterschieden die Ähnlichkeiten sichtbar werden können, indem er, wie mir scheint, beinahe eine Idee Wittgensteins nutzt, die dieser von Goethe, Kierkegaard und James geerbt hat: die übersichtliche Darstellung mittels Zwischengliedern. Wenn man ein anschauliches - gibt es ein besseres? - Bild für diese Idee haben will, so denke man an die neuerdings des öfteren zu sehenden Reihen von Bildern, an deren einem Ende etwa das Foto eines bekannten Politikers und an derem anderen Ende das seines vermeintlich größten Kontrahenten stehen. Und zwischen beiden Fotographien stehen andere, die uns zeigen, wie aus dem Bild des einen ganz allmählich das des anderen wird. Was vorher wie ein scharfer Unterschied aussah, wird jetzt ein Fließen und Gleiten. Man sieht die (konstruierte) Familienähnlichkeit; man sieht, wie man von dem einen Gesicht Schritt für Schritt zu dem anderen gelangen kann. Bei Kreuzer ist das Zwischenglied zwischen Wittgenstein auf der einen und Adorno/Benjamin auf der anderen Seite der Heilige Augustinus. Wenn gesagt wurde, daß Kreuzer diese Idee "beinahe" nutzt, dann deshalb, weil sie bei ihm nicht genau die Gestalt hat, die sie bei Wittgenstein hat. Erstens will er nicht nur zeigen, wie man zwei scheinbar völlig disparate Philosophien fruchtbar in Beziehung setzen kann, sondern es geht ihm auch um eine genetische These: Wittgenstein und Adorno/Benjamin ähneln sich, WEIL sie eine gemeinsame Quelle haben: eben Augustinus. Bei Wittgenstein sind übersichtliche Darstellung (Beschreibung) und Erklärung scharf getrennt. Für ersteres kann man Zwischenglieder auch ERFINDEN, aber eine Erklärung, die auf Erfundenes zurückgreift, kann bestenfalls eine fiktive Erklärung sein: so könnte es entstanden sein. Man muß also diese beiden Aspekte auseinanderhalten, wenn man nicht in unnötige Schwierigkeiten geraten will. Für die Frage, ob es neben den offensichtlichen Unterschieden zwischen Wittgenstein und Adorno/Benjamin auch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten gibt, ist nur die erste Frage von Belang. Wieso es diese gibt, falls es sie gibt, ist eine andere Frage. Es kann sein, daß es diese Ähnlichkeiten gibt, sie aber nicht aus der Tatsache herrühren, daß beide Seiten eine gemeinsame Quelle haben. Und natürlich kann es auch sein, daß es, trotz gemeinsamer Quelle, keinerlei Gemeinsamkeiten gibt. Wenn es nicht leicht fällt, diese Aspekte auseinanderzuhalten, dann vielleicht deshalb, weil eben sich ähnelnde Dinge häufig auch einen gemeinsamen Ursprung haben - weshalb ja auch der Ausdruck "Familienähnlichkeit" so treffend ist. Der Effekt, der sich leicht einstellt, wenn man den Unterschied zwischen beiden Fragen nicht genau im Auge behält, ist eine Haltung des "es muß eine Gemeinsamkeit geben, Ähnlichkeiten müssen zu finden sein". Bewaffnet mit einer solchen Haltung, hört man vielleicht zu schnell auf, zu fragen, ob eine vermeintliche Ähnlichkeit wirklich eine ist, ob, wo man eine Ähnlichkeit zu sehen glaubt, auch für jeden eine zu sehen ist. Nun sollte man nicht erwarten, daß jeder in allem dasselbe sieht wie jeder andere. Deswegen ist es unter Umständen sehr hilfreich, wenn man von einer Beschreibung weiß, von wem - das heißt hier: von welcher philosophischen Position aus - sie gegeben wurde. Soweit ich es erkennen kann, ist Kreuzers Standpunkt irgendwo in der Nähe von Benjamin/Adorno und von Augustinus angesiedelt und etwas weiter weg von Wittgenstein. Die Wendung "soweit ich es erkennen kann" ist natürlich ein Indiz für meinen eigenen Standpunkt: in der Nähe Wittgensteins, hoffe ich. Somit ist klar, wie meine Worte zu nehmen sind: als die von jemanden, dem seine Stadt von einem Auswärtigen beschrieben wird, indem sie anderen Städten ähnlich "gemacht" wird. Und in diesem Bild bleibend kann das, was ich hier tun will, so beschrieben werden: sich fragen, inwieweit man die eigene Stadt in den Worten des Anderen wiedererkennt. Zu sagen, der eigene Standpunkt sei dort und dort, ist insofern eine seltsame Sache, als man gerne wüßte, von welcher Position aus diese Selbstzuschreibung geschieht. Konnte eine tapferer Indianer vor Kolumbus sich als ein solcher bezeichnen? Oder konnte er diesen Namen erst danach bekommen? Würde es Sinn machen - und, wenn ja, welchen - wenn sich jemand "Arbeitgeber" nennen würde, wenn es keine "Arbeitnehmer" mehr gäbe? Ist es eine vierte Position, die man einnimmt, wenn man sagt, man sei näher an X und Y als an Z, oder ist es eher eine Art von Reviermarke, die man (instinktiv) setzt, wenn sich ein Vertreter von Z nähert, nicht aber einer von X und Y? Nun, für uns ist klar, daß durch solche Überlegungen eine weitere Komplikation eintritt: es kann geschehen, daß einem Leser von Kreuzers Artikel ganz andere Sachen einfallen, wenn er liest, was Kreuzer von Adorno/Benjamin und Augustinus zitiert, berichtet und referiert, als diesem selbst. Ich werde im folgenden versuchen, beiden Problemem insofern zu begegnen, als ich lediglich hinsichtlich Wittgensteins Bemerkungen ausführlich auf ihre Behandlung durch Kreuzer eingehen werde. Da mir diese, wie gesagt, wie die eines Auswärtigen vorkommen, werde ich versuchen, seine Worte vorsichtig zu behandeln - also wenig zusammenfassen, kaum referieren und dafür lang und breit und ausführlich zitieren. Da mir scheint, daß Kreuzer ein etwas schiefes Bild von Wittgenstein zeichnet, werde ich (bis auf den Übergang des Wittgenstein-Abschnitts zum Dialektik-Teil) für den Rest des Aufsatzes auf die explizite Auseinandersetzung mit Kreuzer verzichten. Stattdessen will ich versuchen, ausgehend von der in Auseinandersetzung mit Kreuzers Wittgenstein-Bild umrissenen eigenen Sicht, einige der Stellen zu betrachten, auf die Kreuzer sich in seinen Ausführungen zu Adorno/Benjamin und Augustinus stützt. Ich hoffe, daß auf diese Weise eine alternative Lesart hinsichtlich der Frage, inwieweit Wittgenstein und Adorno/Benjamin wechselseitig Licht aufeinander werfen können, sichtbar wird. Es sei aber ausdrücklich hinzugefügt, daß durch die kritische Behandlung des kleineren Teils und die mehr kursorische des weitaus größeren Teils von Kreuzers Arbeit ein Zug von Ungerechtigkeit in meine Ausführungen kommt. Ich hoffe, dieses Geständnis macht deutlich, daß dies nicht beabsichtigt ist. Im Gegenteil, ich habe in Kreuzers Aufsatz - neben dem, was unten kritisch vermerkt wird - sehr viel An- und Aufregendes gefunden. Und schließlich: wenn Kreuzers Bemerkungen zu Wittgenstein mit die eines Auswärtigen sind, dann werden meine zur Kritischen Theorie es auch sein. Eine erste Anmerkung: Von dem Unterschied zwischen einer textimmanenten und einer genetischen Interpretation vernimmt man in Kreuzers Aufsatz kein Echo. Dort wird genommen, was in das Konzept paßt, sei es aus den "Philosophischen Untersuchungen", aus den "Philosophischen Bemerkungen" oder wo auch immer her. Wenn man sich der Unterschiede zwischen diesen Herangehensweisen bewußt ist (diese Bemerkung soll zu diesem Bewußtsein beitragen), richtet es keinen Schaden an, wenn man so vorgeht, wie Kreuzer es tut. Aber ist sich jeder intendierte Leser dieses Unterschiedes bewußt? Wer nicht weiß, daß Wittgenstein seine Ansichten in einer Reihe von Punkten radikal änderte und daß diese Änderungen auch in die Zeit zwischen den beiden genannten Werken fiel, könnte der nicht glauben, es sei schon immer Wittgensteins Ansicht gewesen, was Kreuzer als diese darstellt? Während es doch korrekter wäre, wenn man sagte, wann er welche Ansicht hatte. Freilich, wenn man dies sagt, dann ist nicht klar, was eine Phrase wie "Wittgensteins Ansicht zu dem und dem Problem, in Beziehung gesetzt zu den Ansichten von X und von Y" - so wie sie dasteht - noch bedeuten soll. Da auch ich im folgenden keine Unterschiede zwischen verschiedenen Textarten (frühe vs. mittlere vs. späte, autorisierte vs. nicht- autorisierte etc.) bei Wittgenstein machen werde, gilt dies auch für diese Bemerkungen. Das Thema, hinsichtlich dessen Kreuzer Verbindungslinien zwischen Wittgenstein und Augustinus sowie Augustinus und Adorno/Benjamin, und also zwischen Wittgenstein und Adorno/Benjamin zu ziehen versucht, ist der Begriff der Erinnerung. Allerdings geht es Kreuzer nicht um diesen Begriff sozusagen an sich, sondern um seine Funktion als Schlüssel zu einem, wie es scheint, viel tieferen Problem: dem des Charakters der Philosophie - oder sollte man im Falle von Augustinus vielleicht besser "der Theologie" sagen? - als Kritik, sei es ihrer jeweiligen Zeit oder der bisherigen Menschheitsgeschichte. Auf den ersten Blick sieht das Schema recht einfach aus: bei Wittgenstein finden wir eine erkenntnistheoretische Bestimmung der Erinnerung, bei Adorno/Benjamin eine geschichtsphilosophische, die Synthese beider finden wir bei Augustinus. Oder, von Augustinus her gesehen: was bei diesem noch eine Einheit bildet, spaltet sich bei den drei beiden Späteren auf. Weil man das nicht mehr sieht - ein bekanntes Phänomen von Arbeitsteilung, welches in bestimmten philosophischen Schulen unter dem Titel "Entfremdung" ein prominentes Leben führt - ist es wichtig, es wieder sichtbar zu machen, indem man den gemeinsamen Ursprung zeigt. Weil dieser nun gerade Augustinus ist, wird ein weiterer wesentlicher Zug sinnfällig: daß Philosophie nicht etwas ist, was man so oder so treiben kann und dabei alles andere lassen, wie es ist. Denn wenn es jemanden gegeben hat, der versucht hat, sozusagen aus dem Geist zu leben, dann ist dies gewiß der Heilige Augustinus gewesen. Philosophie ist kein Glasperlenspiel, sie hat eine Aufgabe zu erfüllen; wie sie sie erfüllt - daran ist sie zu messen. Diese Aufgabe ist: Messen dessen, was ist, an seinem Sinn, gegebenenfalls also Kritik, zumindest der eigenen Zeit. Wenn man die Sache allein in diesen Kontext stellt, gehen zwei Dinge verloren: erstens die Idee, daß es vielleicht doch keine Hierarchie, kein System philosophischer Probleme gibt, daß ein philosophisches Problem für sich selbst steht und demzufolge für sich selbst (auf)gelöst werden könnte. Und zweitens die Überlegung, daß das Phänomen der Erinnerung an sich schon philosophisch wichtig genug ist. Könnte man nicht - etwa wie Dewey - der Ansicht sein, daß es gerade das Vermögen, sich zu erinnern, ist, welches den Menschen vom Tier unterscheidet und zwar ganz unabhängig davon, wie die Weltgeschichte zu betrachten ist? (Bei Kierkegaard ("Die Wiederholung", in: "Die Krankheit zum Tode und anderes", hg. v. H. Diem und W. Rest, München 1976, S. 351f.) lesen wir: "Hat man die Kategorie der Erinnerung oder Wiederholung nicht, dann löst sich das ganze Leben in einen leeren und inhaltlosen Lärm auf." Und Benjamin schreibt - in "Der Erzähler", in: GS II, a.a.O.,S. 453 - ganz ähnlich Klingendes: "Die Erinnerung stiftet die Kette der Tradition." Beides zitiert aus Kreuzers Aufsatz.) Und wenn man dann, etwa mit Augustinus, auf die Idee kommt, daß es leider nicht so klar ist, wie es so etwas wie Erinnern überhaupt geben kann, obwohl es doch klar sein sollte, da wir es ja ständig tun und keinerlei Probleme dabei haben, reicht dies nicht hin, um sich philosophisch beunruhigt zu fühlen? Braucht es da noch einer geschichtsphilosophischen Perspektive? Verdienen es die anderen Fragen dann nicht, gestellt zu werden? Und wenn sie es verdienen und man sie zufriedenstellend beantworten kann - was gewinnt man dann noch dazu, wenn man dann auch noch geschichtsphilosophische Zusammenhänge sieht? Es ist doch gar nicht klar, daß in der Philosophie der Spruch gilt: Je mehr man weiß, desto besser. Jedenfalls ist es alles andere als klar, daß Wittgenstein ihn akzeptiert hätte. Für ihn sind philosophische Probleme gelöst oder nicht gelöst, aber nicht heute ein wenig und morgen ein bißchen mehr gelöst. Und wenn es so aussieht, als wäre eine schrittweise Annäherung möglich, dann deshalb, weil man die Lösung schon hat und jetzt sagen kann: Wenn Du zu diesen zehn Sätzen noch diese fünf hinzufügst, dann hast Du die Lösung. Mit anderen Worten: die Lösung philosophischer Probleme ähnelt weit mehr etwa dem Komponieren als dem Transkribieren: man kann nicht sagen, man hätte schon zwei Drittel der Sinfonie, wenn man nicht schon weiß, wie die ganze Partitur aussehen wird. Und dies zu wissen heißt, die Sinfonie schon zu haben. Wenn dies stimmt, was heißt es dann, die erkenntnistheoretische und die geschichtsphilosophische Bestimmung der Erinnerung "zusammenzudenken"? Vielleicht geht es ja um ganz verschiedene Probleme, die nur verwischt werden, wenn man sie nicht auseinanderhält. Schon Einer, welcher der Wittgenstein-Orthodoxie unverdächtig ist, hat ähnliche Gedanken gehabt: Bertolt Brecht, als er empfahl, philosophische Systeme wie Verbrecherbanden zu betrachten, wo ein Halunke (sprich: philosophischer Begriff) dem anderen in die Hände (sprich: philosophische Verwirrung) arbeitet. Seine Empfehlung: Spalte die Bande auf und bekämpfe ihre Mitglieder einzeln! Also, was Kreuzer uns hier schuldig bleibt, ist der Nachweis, daß die erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Probleme wesentlich zusammengehören. Es ist KEIN Argument, daß alle Welt dies einfach annimmt und das Gegenteil nicht einmal der Erwägung für Wert befindet. Denn die Annahme, daß alles mit allem zusammenhängt und man also damit rechnen muß, eine weiten Weg zu gehen, wenn man ein einzelnes Problem lösen will, und die Annahme, daß man ein Problem überhaupt nicht lösen kann, ohne zuvor ein anderes in gleichem Maße gelöst zu haben - also die Annahme, daß die Wahrheit nur als System möglich ist -, trennt mehr als nur eine Trivialität. Wenn es richtig ist, daß beide Probleme nicht wesentlich zusammenhängen müssen, dann kann es sein, daß was für das eine gilt, für das andere nicht gilt. Wer sich etwa für ein Spiel unter dem Gesichtspunkt des Schiedsrichters interessiert, wird zu anderen Einsichten gelangen als der, welcher sich für dasselbe Spiel hinsichtlich seiner Bedeutung als Symbol unserer Zeit interessiert. So kann es geschehen, daß es in erkenntnistheoretischer Hinsicht vor allem um die Frage geht: Was nennen wir alles "Erinnerung", und was nicht? Demgegenüber kann es in geschichtsphilosophischer Perspektive um das Problem gehen: Welche kritische Rolle kommt der Erinnerung - verstanden in diesem und jenem Sinne - zu? Hat man diesen Unterschied nicht klar genug gefaßt, kommt man leicht zu Äußerungen wie dieser: "Erinnern begründet die Fähigkeit zur Kritik und stellt zugleich die Wirklichkeit solcher Kritik dar." und "Erinnern ist ohne Vergessen sinnlos. Die Akte des Erinnerns sind solche der Wiederinnerung - und Wiedererinnern ist die Erkenntnis, etwas erinnert UND vergessen zu haben." (Kreuzer, 2) Abschnitt) Wenn ich mich erinnere, wie süß die Kirschen aus Nachbars Garten waren: in welchem Sinne begründet DIES Kritik und stellt zugleich die Wirklichkeit von Kritik dar? In dem Sinne, daß ich zuweilen sage: "Wenn ich diese Kirschen hier esse, dann erinnere ich mich immer, wie süß die aus Nachbars Garten waren und dann sehe ich, wie sehr der Geschmack inzwischen gelitten hat."? Na gut, wenn dies Kritik sein soll, was ist daran geschichtsphilosophisch interessant? Wir sind ja nicht einmal bereit, dies immer zu sagen. Sicher, diese plebejischen Beispiele hat wohl nicht im Auge, wer Obiges sagt. Nur, es sind auch solche Beispiele, an denen sich zeigt, was "Erinnern" bedeutet. Gilt nun, was für diese Beispiele gilt, auch für die erhabeneren? Wie soll man das wissen, ohne es zu untersuchen? Für viele Fälle von Erinnerung wissen wir gar nicht, was wir mit dem Spruch über die Begründung und gleichzeitige Wirklichkeit der Kritik anfangen sollen. So reift der Verdacht, den auch Brecht hatte: es verbünden sich (philosophische) Begriffe zu einer Bande von Nebelwerfern, die uns das klare Sehen unmöglich machen will. "Erinnern ist ohne Vergessen sinnlos." - Was heißt hier "sinnlos"? Soll es heißen, man kann nur von Erinnern sprechen, wo man auch von Vergessen sprechen kann? Soll es heißen, man kann nur erinnern, was man auch vergessen kann? Oder soll es heißen, man kann nur sagen, man habe sich erinnert, wo man auch sagen könnte, man habe es zuvor vergessen? Welchen Fehler macht dann der, der meint, er habe sich an etwas erinnert, was er NICHT vergessen hatte, sondern woran er nur nicht mehr gedacht hat? Was ist mit dem, der uns mitteilt, er habe geglaubt, er erinnere sich daran, daß ihm in seiner Kindheit dies und dies geschehen sei, und nun wisse er, daß er sich nicht erinnert habe, weil es nie geschah? Hat der es dann nicht vergessen? Wenn ja, dann kann "nicht vergessen" ganz Verschiedenes heißen. Wer sagt, er erinnere sich nicht, weiß aber auch nicht, ob er es vergessen hat, weil es ja sein kann, daß er es nie geglaubt hat - sagt der Falsches oder Sinnloses? Wer ist hier der Richter? "Die Akte des Erinnerns sind solche der Wiederinnerung - ..." Kann man also jeden korrigieren, der meint, er erinnere sich an etwas, indem man sagt: Du meinst, daß Du dich WIEDERerinnerst! Sind also alle Akte der Erinnerung solche der Wiedererinnerung? Und sind sie es notwendigerweise? Sind wir dann ein wenig nachlässig, wenn wir immer nur von Erinnerung reden? Oder näht der Philosoph doppelt, wenn er diesen Spruch aufsagt? Wenn alle Akte der Erinnerung solche der Wiedererinnerung sind, wie kann es dann einen ersten dieser Akte geben? Oder besagt "wieder" hier nicht "erneut", sondern vielleicht "nicht nicht, sondern ja", wie etwa in dieser Wendung: "Ich erinnere mich nicht, wie das damals war - ... doch, jetzt erinnere ich mich wieder". (Vergleiche aber, was Kreuzer im Augustinus-Abschnitt schreibt (nach Fußnote 75).) Oder sind es zufälligerweise solche der Wiedererinnerung? Werden sie es dann auch morgen noch sein? Woher weiß der Philosoph dies? Hat er ein Fernrohr, mit dem er in's Morgen sehen kann? "... und Wiedererinnern ist die Erkenntnis, etwas erinnert UND vergessen zu haben." Wenn ich mich wieder der Süße der Kirschen des Nachbarn erinnere - dann habe ich zugleich eine Erkenntnis, sozusagen etwas für nichts? Kaufen Sie eine Wiedererinnerung und Sie kriegen eine Erkenntnis dazu! Aber woher weiß ich, daß es eine Erkenntis ist? Woher weiß ich, daß ich etwas ERINNERT und VERGESSEN habe? Weiß ich also, was Erinnern und Vergessen sind und erkenne jetzt einzelne Fälle? Wozu dann die ganze philosophische Anstrengung? Und wenn Wiederinnern die Erkenntnis ist, "etwas erinnert UND vergessen zu haben", ist es dann eine zusammengesetzte Erkenntnis oder die Erkenntnis von etwas Zusammengesetztem? WIE zusammengesetzt? Untrennbar? Physikalisch oder begrifflich? Und wenn begrifflich: was hat das Zusammengesetzte dann mit Erinnern zu tun? Ist es so wie Lügen und die-Wahrheit-sagen? Und wenn physikalisch: seit wann und wie lange noch ist es dann zusammengesetzt? Überhaupt: wenn Erinnern Wiedererinnern ist, sollten wir dann nicht sagen: "... und Wiedererinnern ist die Erkenntnis, etwas wiedererinnert UND vergessen zu haben." Aber wie soll dies gehen? - Wohlgemerkt, dies sind keine Einwände, die besagen, daß Kreuzer ZUWENIG sagt, daß noch viele Fragen offenbleiben, nach dem, was er sagt. Dies wäre unbillig. Es sind Einwände, die darauf hinauslaufen, daß nicht klar ist, wie das, was gesagt wird, zu verstehen ist, insbesondere, wenn die Rede von Wittgenstein ist. Aber gehen wir ein wenig systematischer vor. Kreuzer schreibt (vgl. für die folgenden Zitate Abschnitt 1) von Kreuzers Aufsatz), daß Wittgenstein auf Augustinus' Überlegungen aus dem X. Buch der "Bekenntnisse" zurückkomme. Richtig ist m.E., daß man das, was Wittgenstein - zumindest in den "Philosophischen Untersuchungen" (unter anderem im Kapitel xiii von Teil II, ansonsten verstreut im Teil I) - zum Begriff der Erinnerung sagt, zu einer Auseinandersetzung mit Augustinus' grandiosen Ausführungen zusammenstellen kann. Das heißt aber nicht, daß diese Bemerkungen in Wittgensteins "Philosophischen Untersuchungen" auch diese Rolle spielen. Lassen wir dies aber dahingestellt sein. Wichtiger scheint mir, was, Kreuzer zufolge, Wittgensteins Übersicht uns lehren kann: "Erinnern ist nicht bloß das Hervorholen eines 'aufbewahrten Bildes eines vergangenen Ereignisses'. Das meinen wir mit Gedächtnis. >Wenn wir das Gedächtnis als ein Bild auffassen, dann ist es ein Bild eines physikalischen Ereignisses. Das Bild verblaßt, und ich merke sein Verblassen, wenn ich es mit anderen Zeugnissen des Vergangenen vergleiche.< (Zitat aus den "Philosophischen Bemerkungen", S. 81, alle Verweise beziehen sich auf die achtbändige Suhrkamp-Taschenbuchausgabe; fast alle Zitate werden aus Kreuzer übernommen, einschließlich ihrer Quellenangaben, R.R.) Gedächtnis ist der Fundus sozusagen abgespeicherter Sinnesdaten, die, erkennen wir sie wieder, erinnert werden. Erinnern ist aber nicht damit erklärt, daß wir das Erinnerte dem Vergangenen (wie das Erwartete dem Zukünftigen) zuordnen. Erinnerung ist nicht auf das Nachsehen in einem Archiv möglicher Gegenstände des Erinnerns, die 'von draußen nach drinnen kommen', zu reduzieren." Wenn Kreuzer Recht hat, haben wir also zunächst Folgendes: (1) das Gedächtnis (ein Bild eines Ereignisses, der Fundus, das Archiv) und (2) das Erinnern als Nachsehen im Archiv, Holen aus dem Fundus und (3) eine Leerstelle für etwas (oder mehreres), was zu (1) und (2) noch hinzukommen muß, da das Erinnern nicht auf dieses Nachsehen etc. zu reduzieren ist. Was aber muß man für (3) einsetzen? Hier zitiert Kreuzer den Paragraphen 604 der "Philosophischen Untersuchungen": "Von den Vorgängen, die man >Wiedererkennen< nennt, haben wir leicht ein falsches Bild; als bestünde das Wiedererkennen darin, daß wir zwei Eindrücke miteinander vergleichen. Es ist, als trüge ich ein Bild eines Gegenstandes bei mir und agnostizierte danach seinen Gegenstand als den, welchen das Bild darstellt. Unser Gedächtnis scheint so einen Vergleich zu vermitteln, indem es uns ein Bild des früher Gewesenen aufbewahrt, oder uns erlaubt (wie durch ein Rohr) in die Vergangenheit zu blicken." Kreuzers Erläuterung: "Das Erinnerte ist weder Abbild von Vergangenem, noch heißt Erinnern, daß Vergangenes wiederkehrt. Wenn wir erinnern, vergleichen wir nicht zwei Eindrücke - gleichsam außerhalb der Zeit -, sondern bemerken ihre zeitliche Verschiedenheit. Wenn wir erinnern, kehrt nicht Geschehenes zurück, vielmehr bemerken wir 'jetzt', daß etwas vergangen ist." Hieran ist mir manches unverständlich: "Das Erinnerte ist weder Abbild von Vergangenem, noch heißt Erinnern, daß Vergangenes wiederkehrt." Was heißt hier "weder ..., noch ..."? Welchen Sinn könnte der Satz "Weder ist zwei mal zwei gleich fünf, noch liebe ich Vanillepudding." haben? Nun, den, zu bestreiten, was jemand gerade gesagt hat: "Zwei mal zwei ist fünf, und du liebst Vanillepudding." Und was könnte nun der Sinn DIESES Satzes sein? Könnte man jemandem mit Sätzen dieser Bauart den Gebrauch der Form "weder ..., noch ..." beibringen, oder würden wir eher sagen, dies seien Beispiele für einen eher abweichenden Gebrauch, der nur deshalb sinnvoll ist, weil es den nicht-abweichenden Gebrauch gibt? Was wäre ein solcher? Etwa dieser: "Weder ist zwei mal zwei gleich fünf, noch ist es gleich drei." oder "Weder liebe ich Vanillepudding, noch irgendein anderes süßes Zeug.". Wir sehen: "weder ..., noch ...." braucht in Normalfällen Einsetzungen bestimmter Art, und zwar solche, die, wie man sagen könnte, in interner Beziehung zueinander stehen, Einsetzungen, die sich einerseits ausschließen ("Weder ist zwei mal zwei drei, noch ist zwei mal zwei drei." ist nur deshalb ein besonders wertvolles Exemplar von Satz, weil es uns zeigt, wie man die Form nicht gebrauchen soll) und andererseits zueinander gehören ("Weder kam sie in einer Sänfte, noch kam sie in einer Flut von Tränen" wäre ein Rylesches Lehrstück). Aber gegen diese Bedingung wird in "Das Erinnerte ist weder Abbild von Vergangenem, noch heißt Erinnern, daß Vergangenes wiederkehrt." verstoßen, solange nicht klar ist, daß es sich bei "das Erinnerte" und "das Erinnern" um dieselben Dinge handelt. Und das soll es ja gerade nicht, wenn wir uns an die Aufzählung von oben erinnern. Andererseits kann dieser Satz aber auch nicht so verstanden werden, wie der "Weder ist zwei mal zwei gleich fünf, noch liebe ich Vanillepudding." in dem oben angedeuteten Sinn. Denn dann nähme Kreuzer im dritten Absatz seines 1) Abschnitts zurück, was er im vorhergehenden gesagt hatte. Diese sprachliche Not ist, wie in der Philosophie allzu häufig, ein Indiz für eine begriffliche Unklarheit. Diese wird sichtbar, wenn wir unterscheiden zwischen dem, was wir sagen wollen, wenn wir gefragt werden, was das Gedächtnis, das Erinnerte und die Erinnerung sind und dem, was uns eine Betrachtung des Gebrauchs der Worte "Gedächtnis", "Erinnertes" und "Erinnern" zeigt. Was wir sagen wollen, wenn wir uns die Was-Frage stellen, ist eben etwas, aus dem man ablesen kann, daß wir uns etwa das Gedächtnis als eine Art Bildersammlung vorstellen. Wenn wir dies tun, dann scheint es, als wäre klar, wie man sich nun das Erinnern vorzustellen habe: als das Hervorholen von Bildern. Das Erinnerte wäre dann ein solches Bild (oder vielleicht das vom Bild Abgebildete). Aber wenn wir uns in dieser Vorstellung bewegen, tauchen etliche Probleme auf. Das Einfachste: für viele Fälle ist es unproblematisch zu sagen, was ein Bild von ihnen sein könnte. Aber was ist mit solchen Dingen wie der Langeweile, der Süße der Kirschen, der Feldspannung u.ä.? Haben diese Dinge ein AUSSEHEN, welches ein BILD wiedergeben könnte? Angenommen, diese Frage läßt sich klären, so bleiben weitere. Woher wissen wir, daß dieses Bild ein Bild des Gegenstandes ist, den wir jetzt gerade betrachten, so daß wir ihn wiedererkennen? Könnte es nicht das Bild eines anderen, ihm ähnlichen Gegenstandes sein? Haben wir denn hier überhaupt zwei Bilder? Wenn ich einen Gegenstand heute wiedererkenne und in einem Jahr, woher weiß ich, daß ich ihn beidemale mit demselben Bild verglichen habe? Wieviel Zeit muß zwischen zwei Akten des Wiedererkennens verstreichen? Wenn ich, im Schuppen umherblickend, mein altes Fahrrad wiedererkenne und dann mein Blick weiterstreift und eine halbe Minute später wieder mein Fahrrad trifft - habe ich es dann schon wieder wiedererkannt? Wenn ich dies verneine, heißt dies, ich hätte es nicht wiedererkannt? Es sei mir also fremd? Ist Wiedererkennen dann die Abwesenheit von Fremdheit? Ist Wiedererkennen überhaupt ein Akt? Wenn es einer ist, kann es dann als Abwesenheit von Fremdheit charakterisiert werden? Kann man es absichtlich tun? Man kann sich jedenfalls anstrengen und es zumindest versuchen. Kann man es jemandem befehlen, ihn darum bitten? Woher wissen wir, daß er unserer Bitte tatsächlich entsprochen hat, wenn er sagt, er erkenne es wieder? Kann er sich nicht irren? Wenn wir uns diese Fragen vor Augen halten, dann liegt es nahe, Wittgenstein so zu interpretieren, daß er nicht sagen will, Gedächtnis sei ein Archiv, Erinnern das Hervorholen von Bildern aus diesem und dann komme noch etwas hinzu, sondern, daß er sagt: Wenn Du Dir das Gedächtnis so und so vorstellst, dann kommst Du in die und die Schwierigkeiten mit dem Erinnern, denn dieses Bild vom Gedächtnis schreibt Dir gewissermaßen das Bild vor, welches Du Dir nun vom Erinnern machen kannst, wenn Erinnern etwas mit Gedächtnis zu tun haben soll. Aber das, was nun das Erinnern scheinbar sein muß, ist nicht IMMER das, was wir "Erinnern" nennen. Deshalb nimm Deine Vorstellung als das, was sie ist: ein Bild, welches für MANCHE Fälle zutrifft, aber nicht für alle. Zum Beispiel spricht für dieses Bild, daß wir, wenn wir etwa gefragt werden, ob wir dieses Fahrrad wiedererkennen, uns Bilder von Fahrrädern in's Bewußtsein rufen, die wir einmal hatten. Und dann kann es geschehen, daß wir sagen: Ja, das ist mein erstes Fahrrad, so sah es aus. Aber natürlich können wir uns irren. Es kann das Fahrrad des Bruders sein, oder ein anderes. In anderen Fällen kann das Wiedererkennen ganz anders aussehen: Ich höre eine Melodie, sie kommt mir bekannt vor (ist mir nicht fremd), aber ich kann nicht sagen, welche es ist; dann plötzlich fällt es mir ein: ich kann sie mitsummen. Wenn sie dann verstummt, kann ich sie nicht mehr summen, fängt sie wieder an, kann ich wieder einsetzen. Ist so etwas unmöglich? Ist das kein Wiedererkennen? Paßt hier das Bild vom Gedächtnis als Archiv noch? Haben wir es hier mit einem Vergleich zu tun oder eher mit einem Vorgang ganz anderer Art? Ist es nicht eher so als fiele wie bei einer Musikbox eine Münze in einen Schlitz und löse nun einen Mechanismus aus? Und Gedächtnis haben hieße hier soviel, wie Schlitze verschiedener Form haben, die mit verschiedenen Mechanismen verbunden sind. Und warum soll es nicht noch viel mehr solcher Gleichnisse für das Gedächtnis geben? Wenn also ein Gleichnis uns nicht vollständig befriedigt, dann muß es nicht sein, daß zu dem, was dieses uns zeigt, noch etwas hinzukommen muß, damit das Bild wieder mit unserer "Intuition" übereinstimmt, sondern es kann sein, daß wir ein anderes Gleichnis für die störrischen Fälle brauchen. Wenn Kreuzer von einem noch fehlenden Element spricht, dann deshalb, weil es dieses ist, welches uns auf die Frage antworten soll, was garantiert, daß die Erinnerung etwas mit der Vergangenheit zu tun hat, worin sie sich also etwa von der Wahrnehmung und der Erwartung unterscheidet. Dies scheint das Wesentliche an der Erinnerung zu sein, wenn wir sie so konstruieren, daß sie zum Bild vom Gedächtnis als Archiv paßt. Denn was die Erinnerung dann von der Wahrnehmung und der Erwartung unterscheidet, kann nicht das Bild sein, sondern die Beziehung des Bildes zur Zeit. Bleiben wir beim Gedächtnis als Archiv: Nehmen wir an, wir vergleichen tatsächlich Bilder - ein aufbewahrtes und ein aktuelles - wenn wir uns erinnern. Woher wissen wir, welches Bild das archivierte ist? Können sie uns nicht durcheinandergeraten? Wenn wir das Foto eines Bankräubers mit den Fotos aus der Verbrecherkartei vergleichen sollen, dann kann dies sehr wohl geschehen. Wenn wir kein Zeichen auf den Bildern haben, kann es geschehen, daß wir dies nicht bemerken. Haben wir ein Zeichen, können wir die Bilder wieder richtig einsortieren. Aber angenommen, wir bringen die Bilder nicht durcheinander, woher wissen wir dann, daß es ein archiviertes Bild ist, womit wir den aktuellen Eindruck vergleichen und nicht ein Bild dessen, was wir erwarten? Könnte man nicht auf die Idee kommen, es müsse für das Erinnern und das Erwarten je charakteristische Gefühle geben, die von den Bildern verursacht oder heraufbeschworen werden? Denn es fühlt sich doch anders an, ob ich gespannt bin auf das Kommen des Erwarteten oder in der Erinnerung schwelge. Dies sind Fragen, die entstehen, wenn man am Bild vom Gedächtnis als Archiv festhält. Kreuzer zufolge muß eben als weiteres Element hinzugenommen werden: "Wenn wir erinnern, vergleichen wir nicht zwei Eindrücke - gleichsam außerhalb der Zeit -, sondern bemerken ihre zeitliche Verschiedenheit. Wenn wir erinnern, kehrt nicht Geschehenes zurück, vielmehr bemerken wir 'jetzt', daß etwas vergangen ist." Was Kreuzer mit seinem "nicht ..., sondern ..."- Satz meint, ist wohl dies: die Probleme, die eben angedeutet wurden, entstehen dann, wenn man die Zeit als unabhängig vom Gedächtnis und vom Erinnern betrachtet. Erinnern ist etwas, was auf die Vergangenheit bezogen ist, so wie die Erwartung auf die Zukunft. Nun scheint es möglich, sich zu fragen, woran man diesen zeitlichen Bezug jeweils erkennt. Denn es sieht aus, als habe man ja nur Bilder. Also dürfen sie nicht in einer externen Beziehung zur Zeit stehen. Das Problem ist, daß diese Beziehung aber gerade in dem Bild begründet liegt, welches wir uns in der ersten Instanz vom Gedächtnis gemacht haben. - "Wenn wir erinnern, vergleichen wir nicht zwei Eindrücke - gleichsam außerhalb der Zeit -, sondern bemerken ihre zeitliche Verschiedenheit."? Ja, wie können wir denn die Verschiedenheit von etwas bemerken - egal ob es nun zeitliche oder andere Verschiedenheit ist -, ohne es zu vergleichen? Und selbst wenn man es könnte - wenn ich weiß, daß zwei Bilder solche von zeitlich verschiedenen Ereignissen sind -, muß ich noch immer nicht wissen, welches Bild das frühere Ereignis abbildet. Nein, man muß die ganze Betrachtung drehen. Wenn Wittgenstein in den "Philosophischen Bemerkungen" von zwei Zeitbegriffen spricht (siehe Kreuzer, Endnote 20) - einem Begriff, der dem Bild vom Gedächtnis als Archiv entspricht und einem Begriff, wo das Gedächtnis als Quelle der Zeit fungiert -, dann muß man nicht annehmen, er hätte nur versäumt hinzuzufügen, wie man beide Begriffe "zusammendenken" kann. Der Witz ist gerade die Betonung der Verschiedenheit beider Begriffe, Bilder oder Gleichnisse. Denn aus der Nichtbeachtung dieser Verschiedenheit resultieren Verwirrungen. Wittgenstein: "Könnte man sich diese Situation denken: Einer erinnert sich zum ersten Mal in seinem Leben an etwas und sagt: >Ja, jetzt weiß ich, was 'Erinnern' ist, wie erinnern TUT.< Wie weiß er, daß dies Gefühl >Erinnern< istJa, jetzt weiß ich, was 'bremseln' ist!< (er hat zum erstenmal einen elektrischen Schlag gekriegt). - Weiß er, daß es Erinnern ist, weil es durch Vergangenes hervorgerufen wurde? Und wie weiß er, was Vergangenes ist? Den Begriff des Vergangenen lernt ja der Mensch, indem er sich erinnert." (Philosophische Untersuchungen, Teil II; Kap. xiii) Kreuzer greift, wie schon angedeutet, eine Unterscheidung auf, die in "Wittgenstein und der Wiener Kreis" (S. 53) von Waismann so festgehalten wird: ">Zeit< hat zwei verschiedene Bedeutungen: a) Zeit der Erinnerung b) Zeit der Physik." Kreuzer referiert: "Es geht dabei nicht um eine 'innere' oder 'eigentliche' Zeiterfahrung im Gegensatz zu einer 'uneigentlichen' Erfahrung 'äußerer Zeit'(man beachte, wie aus der alternativen Prädikation der Zeiterfahrung eine konjunktive Verknüpfung zweier prädizierter Subjekte wird und auch Kreuzers Gebrauch von Anführungszeichen, R.R.) die bloße Chronologie wäre. Das Faktum der äußerlich vorübergehenden, chronologischen Zeit ist Voraussetzung unserer Zeiterfahrung, aber es fällt nicht damit zusammen, wie wir Zeit erfahren. Wie wir Zeit erfahren, verweist auf verschiedene Arten des Erinnerns von zeitlich Vorübergehendem. >Die Zeitlichkeit der Uhr und die Zeitlichkeit in der Musik. Sie sind durchaus nicht gleiche Begriffe.< (Zitat aus: "Vermischte Bemerkungen", S. 564, R.R.) Die Gegenstände des Erinnerns unterliegen der Sukzession der Zeit, aber das Erinnern unterliegt ihr nicht." Hieran scheint mir fast alles irgendwie schief. In welcher Beziehung sollen die beiden Zeitbegriffe aus den Gesprächen in Wien zu denen aus den "Vermischten Bemerkungen" stehen? Soll die Zeit der Physik die der Uhr sein und die Zeit der Erinnerung die der Musik? Aber was hat die Zeit der Musik mit der Erinnerung zu tun? Bei der Zeit der Musik geht es um den Takt, in dem man ein Stück zu spielen hat. Wenn ein Stück im Dreivierteltakt steht, dann ist es anders zu spielen, als wenn es in einem anderen Takt steht. Aber, und dies ist der Witz der Bemerkung, Spielen im Dreivierteltakt muß nicht bedeuten: Spielen nach genau diesem Gang des Metronoms. "Er hat sich zu sehr an's Metronom gehalten." ist ein Vorwurf, der in der Musik durchaus am Platz sein kann, während es ein seltsamer Vorwurf wäre, wenn man einem Physiker sagte, er habe sich bei seinen Messungen zu sehr an die Uhr gehalten. Hier geht es in einem Sinne überhaupt nicht um das Erinnern, sondern darum, daß wir nicht nur einen Maßstab des zeitlichen Ordnens von Vorgängen haben. Diese Frage ist aber eine ganz andere, als die nach der Zeit der Physik und der der Erinnerung. Eher könnte man sagen, die Zeit der Musik sei eine ästhetische Zeit, die zusammen mit der Zeit der Physik der Zeit der Erinnerung gegenüberstehe. Bei dem Gegensatz von "Zeit der Physik" und "Zeit der Erinnerung" geht es dagegen um den Unterschied, den es macht, wenn ich eine Aussage über etwas einmal durch verschiedene Instanzen und einmal nur durch die Erinnerung verifiziere. In Wittgensteins Beispiel: Der Satz "Caesar lebte früher als Augustus" kann verifiziert werden durch allerlei historische Dokumente. "Kann verifiziert werden" heißt: es könnte auch anders sein, wir könnten anderslautende Dokumente haben, etwa eines, welches besagt, daß Caesar später geboren wurde als Augustus. Aber wenn wir außer der Erinnerung nichts haben, wie kann man dann sagen, man könne sich die Sache auch anders vorstellen? WELCHE Sache? Sicher, man kann sich vorstellen, daß man eine andere Erinnerung hätte. Aber auch aus dieser kann man nicht heraus. Aber nicht, weil es so schwer ist, sondern weil wir ja gerade festgelegt hatten, daß wir den Fall betrachten wollen, wo wir keine externe Verifikation haben. Wo wir eine haben, können wir sagen, daß wir unter "Caesar" und "Augustus" etwas verstehen, was jeweils unabhängig von der zeitlichen Beziehung beider zueinander ist, woraus sich aber die zeitliche Beziehung ergibt oder womit sie verträglich ist, so daß, wenn die anderen Dinge anders wären, die zeitliche Beziehung eine andere sein könnte. Aber wenn wir nur die Erinnerung haben, dann können wir dies nicht. Und deshalb können wir in diesem Fall nicht sagen, vielleicht sei Augustus ja doch vor Caesar gewesen, weil alles, was wir über Caesar und Augustus wissen, eben ihre zeitliche Relation ist. Caesar ist per definitionem früher als Augustus, denn alles, was wir auf die Frage "Wer war Caesar?" antworten können, soll laut Voraussetzung sein: "Der Mann, der - lang, lang ist's her - vor Augustus geherrscht hat.". Und dies hat Folgen für Kreuzers Satz "Die Gegenstände des Erinnerns unterliegen der Sukzession der Zeit, aber das Erinnern unterliegt ihr nicht." In einem Sinne ist dies schlicht falsch: in dem Sinne, in dem wir fragen können, WANN sich jemand einer Sache erinnert habe. Wenn man diese Wann-Frage stellt, stellt man eine Frage nach dem Platz einer Sache im Verlauf der Zeit. Natürlich kann ich sagen, morgens habe ich mich erinnert, daß ich um 9.00 Uhr einen Termin habe und mittags habe ich mich erinnert, daß ich ihn vergessen hatte. Die Frage ist, wie man das begründen oder verifizieren will. Wenn ich etwa ein Tagebuch führe, wo ich alle paar Minuten Aufzeichungen mache, dann kann ich abends mein Tagebuch durchgehen und sagen: "Schau an, heute früh hattest du diese Erinnerung und mittags jene." Und es könnte sein, daß jemand anderes ebenfalls Tagebuch über mich führt und wir könnten dann vergleichen. Wenn ich aber nur meine Erinnerung habe, dann stellt sich die Frage: Welche Erinnerung? Die Erinnerung, daß ich mich morgens erinnert habe, daß ich einen Termin habe und daß mir mittags einfiel, daß ich ihn vergessen hatte? Wenn ja, dann kann man sagen, diese Erinnerung ist bestimmt durch die zeitliche Ordnung der Ereignisse. Mit Wittgenstein gesagt: "Meine Erinnerungen sind geordnet. DIE ART, WIE DIE ERINNERUNGEN GEORDNET SIND, IST DIE ZEIT. Die Zeit ist also unmittelbar mit der Erinnerung gegeben." ("Wittgenstein und der Wiener Kreis", S. 89.) Die Art der Ordnung ist die Zeit - ja, die Zeit der Erinnerung, nicht die der Physik. Die Zeit der Erinnerung ist intern, die der Physik extern. "Die Zeit ist quasi die Form, in der ich Erinnerungen habe." (Ebenda, nicht von Kreuzer zitiert.) Das Problem ist nicht, daß man sagt, jemand habe sich von dann bis dann an etwas erinnert, dann habe er ein wenig geträumt, anschließend ein wenig die Welt betrachtet und sich dann wieder an etwas erinnert - und so strömte sein Leben dahin. Die Schwierigkeit ist, daß man versucht, beide Zeitbestimmungen zu mischen. Denn dann sieht es so aus, als könne man den Fall, wo man keine unabhängige Verifikation hat, charakterisieren, indem man sagt: hieran könne man sich NUR erinnern, während er, wenn er die Welt betrachtet, alles hat, was er sich nur wünschen kann. "Dabei kommt es uns so vor, als wäre die Erinnerung eine etwas sekundäre Art der Erfahrung, im Vergleich zur Erfahrung des Gegenwärtigen (im Unterschied zur Erwartung oder zum Traum ist es aber immerhin eine Erfahrung, R.R.). Wir sagen, >daran können wir uns NUR erinnern<. Als wäre in einem primären Sinn die Erinnerung ein etwas schwaches und unsicheres Bild dessen, was wir ursprünglich in voller Deutlichkeit vor uns hatten." ("Philosophische Bemerkungen", S. 84, zitiert bei Kreuzer) Worin liegt hier das Problem? Darin, daß, wie Kreuzer meint, wir von einer "primären Erfahrung, die dem Erinnern vorherginge, ... doch nur deshalb sprechen (können), weil wir uns an sie erinnern können"? Erinnern wir uns also, wann immer wir uns erinnern, an zwei Sachen: an das, was geschah, von dem wir eine primäre Erfahrung hatten und daran, daß wir diese hatten? "Erinnerungen sind nicht die Kopie einer ursprünglichen Erfahrung - und 'Erfahrung' (sic! R.R.) selbst ist nichts, was ohne Erinnern geschieht." (Kreuzer) Dann erinnern wir uns, wann immer wir uns an etwas erinnern, das geschah, daran, daß wir es erfuhren und daran, daß dies nicht ohne (also mit? wie - daneben, darinnen?) Erinnern geschah? Nein, der Kontrast, den man aufbaut, wenn man sagt, man könne sich NUR erinnern, kann einmal der Kontrast sein zwischen dem Fall, wo man Belege, Fotos, Dokumente etc. eines vergangenenen Ereignisses hat und dem, wo dies nicht der Fall ist, also einem Fall, wo man seine Erinnerung überprüfen kann und dem, wo dies nicht geht. Und wenn man diese Fälle unterscheidet, bewegt man sich im Raum des physikalischen Zeitbegriffs. Was Kreuzer nicht zitiert, ist der Satz, der auf die gerade zitierte Stelle aus den "Philosophischen Bemerkungen" unmittelbar folgt: "In der physikalischen Sprache stimmt das: Ich sage, >ich kann mich NUR UNDEUTLICH an dieses Haus erinnern.<" Es stimmt in der physikalischen Sprache, aber nicht in der Sprache der unmittelbaren Erlebnisse, wenn man diesen Unterschied einmal akzeptiert. In dieser Sprache besagt der Satz, man könne sich NUR erinnern, etwas ganz anderes, nämlich daß das Erinnern etwas Unwirkliches ist, daß nur die gegenwärtige Erfahrung Realität hat. Gefährlich wird es, wenn man beide Sprachen vermischt. Dies geschieht deshalb leicht, weil man den Unterschied beider nicht klar sieht. Die philosophische Aufgabe besteht darin, ihn sichtbar zu machen, nicht ihn durch eine "dialektische Synthese" hinwegzuerklären. Und deswegen ist es schief, wenn man nun sagt: "Wie objektiviert sich der >innere Vorgang< des Erinnerns? Wie erscheint er in der Zeit - welches ist die Gestalt des Erinnerns, d.h. seine reale Geschichte. Nach einer Theorie der Erinnerung, die diese Fragen beantwortet, fragen Benjamin und Adorno. Sie fragen nach einer dialektischen Theorie des Erinnerns, in der der Zusammenhang von Erinnern, Vergessen und Verdinglichung reflektiert erscheint." (Kreuzer, Schluß von Abschnitt 1)) Es ist schief, so zu reden, aber sicher nicht uninteressant; insbesondere weil wir so auf ein neues, spannendes Gebiet gelangen. Kreuzer beginnt seine Ausführungen zur "Dialektik der Erinnerung" mit einem Zitat aus der "Dialektik der Aufklärung" (Frankfurt a.M. 1969, S. 19): "Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein." (Für die folgenden Zitate aus Kreuzer siehe dessen Abschnitt 2)) Dies nennt Kreuzer die "Grundeinsicht dieses Basisbuchs der Kritischen Theorie". (Die Sprache verrät: wir nähern uns den erhabeneren Gefilden, für deren Beschreibung man philosophische Kraftausdrücke braucht.) An die Stelle des "Brechens der Natur" tritt das "Erinnern als >Eingedenken der Natur im Subjekt< (Zitat aus "Dialektik der Aufklärung", S. 47, R.R.) ... Erinnern bedeutet keine Rückbindung an einen geschichtlichen Ursprung, auch nicht die endlose Wiederholung 'Desselben'. Seiner selbst bewußtes Erinnern ist das 'Neue' an jedem Erinnerungsakt, verglichen mit dem, was erinnert erscheint. Kierkegaard variierend ließe sich sagen, daß die 'Dialektik der Erinnerung leicht' ist; 'denn was erinnert wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht erinnert werden, aber gerade, daß es gewesen ist, macht seine Erinnerung zu etwas Neuem'. Dieser 'geschichtsphilosophische' Gehalt des Erinnerns entspricht Wittgensteins Einsicht, daß Erinnern keine bloß 'sekundäre' Kopie einer primären oder ursprünglichen Erfahrung ist." Natürlich gehört das Zitat von Kierkegaard, auf das hier angespielt wird, zum Besten, was ein Philosoph überhaupt in einem Satz verpackt liefern kann. Aber spüren, daß hier ein ganz Großer spricht, heißt noch nicht: ihn verstanden haben. Schauen wir uns also seine Worte an: "denn was erinnert wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht erinnert werden". Was ist das für ein Satz? Kann man sagen, er ist wahr? Wenn er wahr ist, könnte er dann auch falsch sein? Wie wäre es, wenn er falsch wäre? Wäre dann eine Negation von ihm wahr: "denn was erinnert wird, wird sein, sonst könnte es nicht erinnert werden"? Kann es sein, daß man sich an die Zukunft erinnert? Wie müßte man sich das vorstellen? Welches Bild macht man sich hier? Nun, eine Antwort könnte sein: Man könnte es sich so vorstellen, wie es sich die Leute vorgestellt haben, die den Film "Erinnerungen an die Zukunft" gemacht haben. (Es tut nichts zur Sache, daß es ein alberner Film ist.) Sicher ein ungewöhnlicher Titel, aber ist er so seltsam, wie es der Titel "Besuch der runden Dreiecke" wäre? Wie könnte ein solcher Film aussehen? Vielleicht will man hier sagen, einen solchen Film kann es nicht geben, weil der Ausdruck "rundes Dreieck" unsinnig ist, was heißen soll, man kann sich unter ihm nichts vorstellen. Aber wie wäre es hiermit: die Erde wird von Wesen besucht, die ständig ihre Form wechseln, und zwar von einer dreieckigen zu einer runden, dann wieder zu einer dreieckigen, dann wieder zu einer runden Form und das in für uns unvorhersehbarer, scheinbar völlig regelloser Weise. Wie sollte man solche Wesen nennen? Könnte es nicht dem einen oder anderen natürlich erscheinen, sie eben "runde Dreiecke" zu nennen? Aber muß es allen natürlich erscheinen? Die Fragen zeigen: wir wissen, welcher Form wir den Titel "Dreieck" und welcher das Prädikat "rund" zu verleihen haben. Wir zweifeln nicht, wir folgen den Regeln blind. Aber wenn die Welt nur ein bißchen anders würde, als sie jetzt ist, könnten uns tiefe Zweifel befallen, was wir nun sagen sollen. Das Faktum, daß ein Titel wie "Der Besuch der runden Dreiecke" seltsam klingt, aber in bestimmten Situationen durchaus Sinn machen könnte, zeigt uns erstens, wie wir die Worte normalerweise verwenden und zweitens, was zu dem gehört, was wir unter "normalerweise" verbuchen. Im Fall der runden Dreiecke ist dies alles leicht zu sehen, insbesondere auch, daß es eine ÄNDERUNG oder, wenn man diesen Ausdruck vorzieht, eine ERWEITERUNG unseres bisherigen Sprachgebrauchs wäre, wenn man von runden Dreiecken sinnvoll reden könnte. Denn so, wie wir heute reden, gilt "rundes Dreieck" als Modell für Unsinn. Wie könnte nun der folgende Satz, der in Analogie zum Kierkegaardschen gebildet ist, betrachtet werden: "denn was dreieckig ist, ist nicht rund, sonst könnte es nicht dreieckig sein"? Nun, einer könnte sagen, er sei falsch - wie ja gerade die angedeutete Geschichte gezeigt habe. Und ein anderer könnte darauf erwidern, daß diese Geschichte den Satz nicht falsch mache, weil die Figuren in diesem Film eben weder Dreiecke noch rund wären, und der Satz also wahr sei. Und ein Dritter könnte sagen, daß er weder wahr noch falsch sei, sondern angibt, wie wir die Worte gebrauchen (sollen) und daß der Film mit den Besuchern uns lediglich zeigen könne, daß die Festlegungen, die wir haben, für diesen Fall nicht greifen. Will man alle drei Reaktionen unter einen Hut bringen, könnte man vorschlagen: Der Satz gibt eine Regel für den Gebrauch der Worte "Dreieck" und "rund" an, und wer ihn unter Berufung auf den geschilderten fiktiven Fall für falsch erklärt, gibt damit zu verstehen, daß er bereit wäre, den bestehenden Gebrauch in einem solchen Fall zu ändern, während der, der ihn hier für weiterhin wahr hält, den geänderten Gebrauch nicht übernehmen will. Was man im Fall der runden Dreiecke leicht sieht, sieht man im Fall der Erinnerung dagegen nicht so leicht. Hat man es aber einmal am Fall der runden Dreiecke gesehen, kann man sich fragen, ob die Lage im Fall der Erinnerungen nicht genauso charakterisiert werden könnte. Dann wäre, was wie ein Satz über den Zusammenhang von Erinnerung, Erinnertem und Gewesenem aussieht, der Ausdruck einer Regel für den Gebrauch der Worte "erinnern", "Erinnertes" und "Gewesenes". Und wenn man einmal auf dieser Spur ist, dann ist leicht zu sehen, daß dasselbe von dem Rest von Kierkegaards Satz gilt: "aber gerade daß es gewesen ist, macht seine Erinnerung zu etwas Neuem". Wieso sehen wir nun im Fall der runden Dreiecke gleich, wie es sich verhält, und in dem der Erinnerung nicht? Weil wir, wie wir oben gesehen haben, verschiedenen Regeln folgen, wenn wir von Erinnerung, Erinnertem und Gewesenem sprechen. In einem Sinne ist es richtig, zu sagen, man könne sich an etwas nur erinnern, und in einem anderen ist es nicht richtig. Die Schwierigkeit ist die, beide Fälle als verschiedene - und nicht als einander (scheinbar) widersprechende - zu sehen. Und weil dies schwierig ist, sieht es so aus, als habe Kierkegaard eine wichtige DIALEKTISCHE EINSICHT gehabt. während er doch nur einen Satz Regeln angibt. Und wie im Fall der runden Dreiecke sehen wir hier auch, daß diese Regeln gewissermaßen zufällig sind: wenn die Welt anders wäre, als sie ist, könnten andere Regeln uns natürlich erscheinen. Eine solche alternative, wenn auch mit unserer eng verwandten Welt haben wir ja in dem Film "Erinnerungen an die Zukunft" vor uns. Aber erinnern wir uns an die Begründung dessen, der es ablehnte, den Satz "denn was dreieckig ist, ist nicht rund, sonst könnte es nicht dreieckig sein" für falsch zu erklären: die Figuren in diesem Film sind weder Dreiecke noch rund - so wie wir die Worte heute gebrauchen! Wenn Wittgenstein uns dagegen die "Einsicht, daß Erinnern keine bloß 'sekundäre' Kopie einer primären oder ursprünglichen Erfahrung ist", liefert, dann ist auch dies ein Hinweis auf die Regeln, denen wir folgen, wenn wir die Worte verwenden. Allerdings sind es in diesem Fall andere Regeln als die, die Kierkegaard ausdrückt, denn dessen Satz ließe sich in Wittgensteins Terminologie ganz einfach paraphrasieren: "denn was sekundär erfahren wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht sekundär erfahren werden, aber gerade daß es gewesen ist, macht seine sekundäre Erfahrung zu etwas Neuem". Und somit ist klar: wenn Wittgenstein sagt, die Erinnerung sei KEINE bloß sekundäre Erfahrung, dann geht es ihm um den Gebrauch von "sekundär" auf eine Weise, die es nahelegt, daß das Erinnern gegenüber der augenblicklichen Wahrnehmung nur eine untergeordnete Rolle spielt, eigentlich sogar unwirklich ist. (Es geht um die Gefahr des Solipsismus.) In diesem begrifflichen Zusammenhang bewegt sich Augustinus, wenn er schreibt: "Nicht völlig sind wir nämlich dessen vergessen, wovon wir uns immerhin erinnern, daß wir es vergessen haben. Das also, was wir gänzlich vergessen hätten, könnten wir auch nicht als entgangen suchen." (Bekenntisse X, 19,28) Wenn das Gedächtnis ein Archiv ist, dann heißt "es benutzen": "in ihm nach etwas suchen". Aber dann müssen wir wissen, wie das ausschauen soll, wonach wir suchen. Weil es aber Vergangenes ist, dessen Bild wir suchen, scheint es, als müßten wir uns erst erinnern, bevor wir das Gedächtnis benutzen können. Sich erinnern soll aber gerade Benutzen des Gedächtnisses sein. Also muß man unterscheiden zwischen einem vollständigen und einem nur partiellen Vergessen. Das vollständige Vergessen ist jenes, welches ausgeschlossen sein soll. Aber wiederum nicht, weil es so schwer zu bewerkstelligen ist, sondern weil es sinnlos wäre, so zu reden. Sinnlos - vorausgesetzt, wir machen uns ein bestimmtes Bild vom Gedächtnis und von seinem Zusammhang mit dem Erinnern. Was Augustinus uns gibt, könnte man also wieder eine Sprachregel nennen. Zu sagen, man könne sich an etwas NUR erinnern, kann also zweierlei heißen, und die Gefahr ist, daß man genau dies nicht sieht. Deswegen ist es wieder schief, scheint mir, von einer ENTSPRECHUNG zwischen einem "'geschichtsphilosophischen' Gehalt des Erinnerns", auf den uns Kierkegaard hinweist, und einer erkenntnistheoretischen Einsicht Wittgensteins" zu sprechen. Dies hat nun Auswirkungen auf das ganze Progamm. Nehmen wir noch einmal die Grundeinsicht "Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein." und ihre "Ergänzung" "Erinnern als >Eingedenken der Natur im Subjekt<". Wenn die Grundeinsicht eine empirische sein soll - wenn sie also wahr oder falsch sein können soll - dann hat sie einfach mit dem, was Wittgenstein (und auch Kierkegaard und Augustinus) machen, nichts zu tun, denn dort geht es nicht um empirische Aussagen, sondern um Regelausdrücke. Bei Kierkegaards (und Augustinus') Sätzen - nicht bei Wittgensteins - kann man leicht den Eindruck haben, daß ihr Autor sich wohl über ihren nichtempirischen Charakter im Klaren war und auch darüber, in welche Verwirrung alles gerät, wenn man dies übersieht. Aber waren sie sich auch darüber im Klaren, daß sie Regeln ausdrücken? Will man dies auch für die Grundeinsicht in Anspruch nehmen, dann stehen zwar Frankfurter Schule und Kierkegaard/ Wittgenstein al pari - aber was soll man dann noch unter "Kritik" verstehen? In welchem Sinne ist dann Kritische Theorie noch Kritik des TATSÄCHLICH GESCHEHENDEN (GEWESENEN, KOMMENDEN), wenn - Wittgenstein zufolge - die logische (philosophisch-grammatische) Betrachtung "sich nicht um das So oder So des tatsächlichen Geschehens kümmern (soll)"? ("Philosophische Untersuchungen", Paragraph 89) Wenn nun die Kritische Theorie Kritik am "So oder So des tatsächlichen Geschehens" sein soll, dann muß man fragen, aus welchem Grund und zu welchem Zweck die Kritik erfolgen soll. Etwas zu kritisieren heißt, es für unzulänglich, unbefriedigend zu erklären. Man sieht dies daran, daß Äußerungen wie "Seine Kritik bestand darin, daß er ihn einen famosen Kerl nannte." und "Deine Handlung, die nicht besser hätte sein können, verdient harte Kritik." als erklärungsbedürftig oder als Ironie oder Persiflage erscheinen. Nun lesen wir aber im Basisbuch auch diesen Satz: "Natur an sich ist weder gut, wie die alte, noch edel, wie die neue Romantik es will." (Dieses, wie die folgenden Zitate, die nicht von Wittgenstein sind, stammen alle aus Kreuzers Aufsatz.) Was könnte Kritik hier heißen? Etwas zu kritisieren heißt auch, daß das Kritisierte anders sein könnte - besser, angemessener, zweckmäßiger oder was auch immer. Andernfalls haben wir es nicht mit Kritik, sondern mit Mißfallen zu tun. Schlechtes Wetter kann uns mißfallen, aber kann man es kritisieren? Wenn ein Mensch es verursacht hat, dann wissen wir immerhin, wen wir ranzukriegen haben. Er hätte es ja (vielleicht) nicht tun müssen. Hiermit paßt nun wieder gut zusammen, was auf die gerade zitierte Stelle folgt: "(...) Der herrschenden Praxis (...) ist nicht die Natur gefährlich, mit der sie vielmehr zusammenfällt, sondern daß Natur erinnert wird." Es scheint also, wir haben es hier mit einem Schillern zwischen begrifflichen (grammatischen, logischen, transzendentalen) und sachlichen (empirischen, erfahrbaren) Bemerkungen zu tun. Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn wir einen weiteren Satz aus der "Dialektik der Aufklärung" anführen: "Verlust der Erinnerung als transzendentale Bedingung der Wissenschaft. Alle Verdinglichung ist ein Vergessen." Und bei Adorno heißt es: "Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergißt. ... Wäre es aber nicht die Aufgabe, den ganzen Gegensatz von Erfahrung und Erlebnis an eine dialektische Theorie des Vergessens anzuschließen? Man könnte auch sagen, an eine Theorie der Verdinglichung. Denn alle Verdinglichung ist ein Vergessen: Objekte werden dinghaft im Augenblick, wo sie festgehalten sind, wo (...) etwas von ihnen vergessen ist. ..." (aus dem "Briefwechsel ...", S. 417/18, R.R.) Es ist nun nicht schwierig, wesentliche Teile dieser Bemerkungen so zu interpretieren, daß sie ihrem Charakter und partiell auch ihrem Inhalt nach mit dem zusammenpassen, was oben zu Wittgenstein gesagt wurde. Erinnern wir uns an das drastische Beispiel mit den runden Dreiecken. Dort hatten wir gesehen, daß man einen scharfen Unterschied zwischen dem Gebrauch von Worten nach Regeln und dem Festsetzen dieser Regeln machen kann. Wenn man Feststellungen über die Welt treffen will - um nur ein weniger wichtiges Beispiel als etwa Bitten, Fluchen, Danken, Befehlen, Trösten usw. zu nehmen -, dann BEDIENT man sich dabei der Sprache. Dies tut man, indem man die Worte den Regeln entsprechend verwendet. Die Regeln sind also vorausgesetzt. Die Wissenschaft hat, jedenfalls in den Augen vieler, als ihren idealen Lebensweck das Treffen von Feststellungen über die Welt. Sie wurde quasi zu dem Zwecke geschaffen, Erfahrungen, die ein Mensch mit mehr oder weniger Glück auch allein und zufällig so machen kann, zu organisieren. Weil es dabei um das Folgen von Regeln und nicht das Aufstellen derselben geht, könnte man also durchaus versucht sein zu sagen: Verlust der Erinnerung ist die transzendentale Bedingung der Wissenschaft; so wie, ob ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, in letzter Instanz davon abhängig ist, wie er vergißt, und so wie man dann DINGE in den Griff bekommt, wenn man sie sprachlich festhält, den Fluß der Sachverhalte in der Sprache verdinglicht. Oder, mit Wittgensteinschen Worten gesagt: ob einer Einsicht in das, was der Fall ist, erlangen kann, hängt davon ab, wie blind er sein kann bezüglich den Regeln, denen er folgt. So verstanden, haben wir es eindeutig mit grammatischen Bemerkungen im Sinne Wittgensteins zu tun. Von diesen heißt es in den "Philosophischen Untersuchungen" im Paragraphen 415: "Was wir liefern, sind eigentlich Bemerkungen zur Naturgeschichte des Menschen; aber nicht kuriose Beiträge, sondern Feststellungen, an denen niemand gezweifelt hat, und die dem Bemerktwerden nur deshalb entgehen, weil sie ständig vor unsern Augen sind." Insofern es sich aber um Bemerkungen zur Naturgeschichte handelt, haben sie auch nichts mit Kritik zu tun! Auf welche Weise könnte man, sozusagen mit Wittgenstein, nun dem kritischen Moment doch Rechnung tragen? Hier können wir auf den Begriff der Aura zu sprechen kommen. "Wenn man die Vorstellungen, die, in der mémoire involontaire beheimatet, sich um einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben, dessen Aura nennt, so entspricht die Aura am Gegenstand einer Anschauung eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt." (W. Benjamin, "Über einige Motive bei Baudelaire", in: GS I, Frankfurt a. M. 1974, S. 644) Dazu Kreuzer: "Der Begriff der Aura hat es mit der Erklärung der inneren Form von Erfahrung zu tun, die im Zusammenhang von Erinnern und Vergessen und der Notwendigkeit von Verdinglichung gründet. Die Aura am Gegenstand einer Anschauung meint den Augenblick der Präsenz von Geschichte in den Gegenständen der Erfahrung. Qua Vergessen wandert Geschichte in die Form der Gegenstände der Erfahrung ein. In der Form, in der uns die Gegenstände erscheinen, zeigt sich die Geschichte, die wir mit den Gegenständen gemacht haben. Auf die Frage - >Ist nicht die Aura allemal die Spur des vergessenen Menschlichen am Ding und hängt sie nicht durch eben diese Art des Vergessens mit dem zusammen, was Sie Erfahrung nennen?< - antwortet Benjamin: >Aber wenn es sich in der Aura in der Tat um ein 'vergessenes Menschliches' handeln dürfte, so doch nicht notwendig um das, was in der Arbeit vorliegt.< ("Briefwechsel", a.a.O., S. 418 und 425, R.R.)" Diese Bemerkungen können uns helfen, einen Aspekt der bisherigen Darstellung von Wittgensteins Bemerkungen zu problematisieren. Es schien bisher so, als könnte man zwischen dem Festsetzen der Regel und dem Anwenden der Regel eine scharfe Grenze ziehen: hier die Festsetzung, dort die Anwendung, erst das Eine, dann das Andere. Dies war aber nur eine für bestimmte Zwecke nützliche, für andere vielleicht hinderliche Zuspitzung. Denn erstens verwischt sie den Unterschied zwischen einer expliziten Festsetzung von Regeln und einem "making up the rules as we go along". Und zweitens verdeckt sie dies: "Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam das klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen. Dies scheint die Logik aufzuheben; hebt sie aber nicht auf. - Eines ist, die Meßmethode zu beschreiben, ein Anderes, Messungsergebnisse zu finden und auszusprechen. Aber was wir >messen< nennen, ist auch durch eine gewisse Konstanz in den Messungsergebnissen bestimmt." ("Philosophische Untersuchungen", Paragraph 242) Ein Beispiel: was ein Meter ist, war für lange Zeit festgelegt als "die Länge, die das Urmeter in Paris hat". Das brauchten viele, die die Länge eines Tisches etwa messen wollten, nicht zu wissen. Und ob ihr Maßstab nun mit dem Urmeter übereinstimmte oder nicht, ist eine ganz andere Frage als die, wie lang denn dieser Tisch sei. Insofern kann man also, wie gesehen, auch sagen, der Messende sollte dies besser vergessen. Aber angenommen, dies alles sei geklärt, wäre es dann immer noch "Messen der Länge des Tisches", wenn jeder immer etwas anderes herausbekäme? Fazit: Anwendung von Regeln und Festsetzen von Regeln sind nicht so getrennt, wie etwa Kaufen der Fahrkarte und Antreten der Reise, also so, daß man das Eine tun kann und das Andere lassen. In der Praxis der Sprache gehen sie Hand in Hand. Dies ist die eine Seite. Wenn wir uns nun aber fragen, welchen Regeln wir folgen, dann wollen wir die Sprache nicht anwenden, sie nicht - in Benjamins Worten - Arbeit verrichten lassen, sondern untersuchen. Hier gibt es folgendes Problem: "Augustinus (Conf. XI/14):> quid est ergo tempus? si nemo ex me quaerat scio; si quaerenti explicare velim, nescio.< - Dies könnte man nicht von einer Frage der Naturwissenschaft sagen (etwa nach dem spezifischen Gewicht des Wasserstoffs). Das, was man weiß, wenn uns niemand fragt, aber nicht mehr weiß, wenn wir es erklären sollen, ist etwas, worauf man sich BESINNEN muß. (Und offenbar etwas, worauf man sich aus irgendeinem Grunde schwer besinnt.)" ("Philosophische Untersuchungen" im Paragraphen 89) Und im nächsten Paragraphen setzt Wittgenstein fort: "Wir besinnen uns, heißt das, auf die ART DER AUSSAGEN, die man über die Dauer von Ereignissen, über ihre Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft macht. (Dies sind natürlich nicht PHILOSOPHISCHE Aussagen über die Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.)" Daß es keine philosophischen Aussagen sind, auf die wir uns besinnen, heißt, daß sie nicht die Antwort auf unsere philosophische Frage nach dem Wesen der Zeit sein können. Sie sind Antworten auf Fragen danach, wann etwas geschah, wie lange es dauerte, was früher und was später war, wie oft es geschah und in welcher Reihenfolge, welchem Rythmus es folgte, welchem es hätte folgen sollen, in wieviel Teile man die Dauer dieser Art von Ereignissen zerlegt, wie genau man solche Vorgänge messen kann, wann zwei Ereignisse dieser Art gleichzeitig sind und wann solche von jener Art usw. usf. - also Antworten auf all' die Fragen, die sich ergeben, wenn die Sprache arbeitet. Wenn sie uns dennoch etwas über das Wesen der Zeit verraten können, dann eben weil sie Aussagen über die Erscheinungen der Zeit sind. Mit anderen Worten: wenn man wissen will, was DIE ZEIT ist und mit den Worten, in denen man die Frage formuliert, das meint, was gewöhnlich damit gemeint wird, dann zeigen uns die Aussagen über die Dauer von Ereignissen, was die Zeit ist. Meint man mit den Worten etwas anderes, dann will man offensichtlich nicht wissen, was DIE ZEIT ist. Da man aber, wenn die Sprache arbeitet, nicht wissen will, WAS die Zeit ist, sondern eine von den vielen Fragen von oben beantwortet haben möchte, sagen uns die Antworten auf diese Fragen nur indirekt, was die Zeit ist. Die ART der Aussagen sagt es uns - oder ihre GRAMMATIK. "Unsere Betrachtung ist daher eine grammatische.", heißt es an der schon zitierten Stelle. "Das WESEN ist in der Grammatik ausgesprochen." ("Philosophische Untersuchungen", Paragraph 371) Ist dann aber nicht wenigstens die Grammatik ein Spiegel der Welt? - Wenn das ein Spiegel ist, was etwas wahr oder falsch, gut oder schlecht, getreu oder verzerrt widergibt, dann ist die Grammatik - wie wir anläßlich des Besuchs der runden Dreiecke gesehen haben - KEIN Spiegel. "Man kann die Regeln der Grammatik (d.h. die Regeln, aus denen die Grammatik besteht, R.R.) >willkürlich< nennen, wenn damit gesagt sein soll, der ZWECK der Grammatik sein nur der der Sprache." Die Grammatik ist aber nicht in jedem Sinne des Wortes willkürlich - wie wir ebenfalls am Beispiel der runden Dreiecke gesehen haben. "Es hat den Anschein, als würde aus der Natur der Negation folgen, daß eine doppelte Verneinung eine Bejahung ist (so wie aus der Natur der Dreiecks folgt, daß es nicht rund sein kann, R.R). (Und etwas Richtiges ist daran. Was? UNSERE Natur hängt mit beiden zusammen.)" ("Philosophische Untersuchungen", S. 447) "Es hat den Anschein" - aber es ist nicht so. Die Grammatik ist - könnte man versucht sein zu sagen - vergessenes Menschliches. Wenn es nun keine Natur der Welt gibt, die wir so erforschen können, wie wir das So oder So des tatsächlichen Geschehens erforschen, wie soll dann Kritik an diesem So oder So möglich sein? Woran kann man es messen? Was es nicht gibt, ist ein Jenseits. Wenn es kein Jenseits gibt, warum soll man dann, was jetzt und hier ist, ein "Diesseits" nennen? Wenn es kein Diesseits gibt, was kann uns dann Benjamins Messianismus bedeuten? Benjamin schreibt: "Die (...) bedeutenden Tage sind Tage der vollendeten Zeit (...). Es sind Tage des Eingedenkens. Sie sind von keinem Erlebnis gekennzeichnet. Sie stehen nicht im Verbande der übrigen, heben sich vielmehr aus der Zeit heraus." (W. Benjamin, "Über einige Motive bei Baudelaire", in: GS I, a.a.O., S. 637, R.R.) Fragen wir uns im Lichte unserer bisher von Wittgenstein gewonnenen Einsichten: Was hebt sich aus dem So oder So heraus? Es sind die Festsetzungen! Diese stehen nicht neben oder vor ihren Anwendungen, sondern, wenn man so will, ÜBER, UNTER oder IN ihnen. Deshalb kann Benjamin sagen: "Jede Sekunde (ist) die kleine Pforte, durch die der Messias treten kann. Die Angel, in welcher sie sich bewegt, ist das Eingedenken." (W. Benjamin, "Vorarbeiten zu den Thesen >Über den Begriff der Geschichte<", in: GS I, a.a.O., S. 1252) Und in "Das Passagen-Werk" (S. 577): "Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand." "Nur dialektische Bilder sind echte (d.h. nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache." (W. Benjamin, ebd. S. 577) Auf diese Weise wird sichtbar, in welchem Sinne Augustinus sagen kann, das Jüngste Gericht sei nicht etwas, was - physikalisch-zeitlich gesprochen - am Ende der Geschichte kommt, sondern was ständig und allmählich passiert. Der siebte Tag ist - logisch betrachtet - der Tag, an dem sich der erste das siebte mal wiederholt; es ist die Ruhe Gottes in der Schöpfung, die Transzendenz im Profanen. Bei Wittgenstein heißt es: "Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. (Theologie als Grammatik.)" (Philosophische Untersuchungen", Paragraph 372) Wir ahnen vielleicht, in welchem Sinn man PHILOSOPHISCH von der Erlösung reden kann. Aber dies ist sicher nicht das, wonach die Philosophie gefragt wird, WENN sie nach der Erlösung gefragt wird. Was ein Mensch hier hören will - hat dies jemand so tief empfunden wie Augustinus und vielleicht noch William James? -, ist eine Antwort, mit der er ARBEITEN kann. Und gerade die kann der Philosoph nicht geben. Daher die Frage an die Philosophie: "Woher nimmt die (grammatische, R.R.) Betrachtung ihre Wichtigkeit, da sie doch nur alles Interessante, d.h. alles Große und Wichtige, zu zerstören scheint?" Antwort: "Aber es sind nur Luftgebäude, die wir zerstören, und wir legen den Grund der Sprache frei, auf dem sie standen." (Philosophische Untersuchungen", Paragraph 118) Dieser Grund ist das Arbeiten der Sprache. Wenn dieses - die geschichtliche Welt - Einem zu Fragen nach der Erlösung Grund gibt, dann kann die Philosophie nur sagen: Frage nicht! Ändere Dein Leben und mit ihr die Welt! Weil: Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen. ("Tractatus Logico-philosophicus" 6.43) Jetzt verstehen wir auch, weshalb die Kunst als Paradigma einer glücklichen Welt erscheinen kann. "In jedem wahren Kunstwerk gibt es die Stelle, an der es den, der sich darein versetzt, kühl wie der Hauch einer kommenden Frühe anweht. Daraus ergibt sich, daß die Kunst, die man oft als refraktär gegen jede Beziehung zum Fortschritt ansah, dessen echter Bestimmung dienen kann. Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs sondern in seinen Interferenzen zu Hause: dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht." (W. Benjamin, "Das Passagen-Werk", a.a.O., S. 593) Ein "wahrhaft Neues" ist ein neues Spiel, mit neuen Regeln. Wir sehen, in welchem Sinne man philosophisch von Mozart und Beethoven als den wahren Söhnen Gottes reden kann.