***************************************************************** * * Titel: Rezension: Philip Kerr: A Philosophical Investigation. - London, 1992 (dt.: Das Wittgenstein -Programm. - Reinbek bei Hamburg, 1994; zuerst im März 1994 als gebundene Ausgabe im Wunderlich Verlag; im Januar 1996 als Taschenbuch in der Reihe der Rowohlt Thriller) Autor: Mathias Iven, Potsdam, Germany Dateiname: 19-1-96.TXT Dateilänge: 39 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 1/96, Datei: 19-1-96.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, R. Raatzsch, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1996 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** WITTGENSTEIN ALS MÖRDER (?) Ludwig Wittgensteins Persönlichkeit und seine Ideen haben immer wieder Eingang in die Kunst gefunden, ob es die Literatur oder der Film, das Hörspiel oder die Malerei waren. Erinnern wir uns: Ingeborg Bachmann verfaßte 1953 einen Radio- Essay über Wittgenstein ("Sagbares und Unsagbares - Die Philosophie Ludwig Wittgensteins"; einziges bekanntes Sendedatum war der 16. September 1954), Thomas Bernhard schrieb 1975 einen Roman über ihn ("Korrektur"), der sich hauptsächlich mit den architektonischen Arbeiten, dem Bau des Hauses für seine Schwester Margarete Stonborough in der Wiener Kundmanngasse 26, beschäftigte, Derek Jarman drehte einen beeindruckenden, wenn auch neben seinem Meisterwerk "Blue" verblassenden, Film über den vielleicht größten Philosophen des 20. Jahrhunderts, Maurice Béjart, der bedeutende Choreograph, ließ in der Deutschen Staatsoper Berlin Tänzer unter dem Titel "Nacht" zu Worten Wittgensteins, zusätzlich unterlegt mit Versen aus den "Hymnen an die Nacht" von Novalis, und der Musik von Arnold Schönberg tanzen und Bo Göranzon und Anders Karlquist legten schließlich 1995 ein Theaterstück vor ("Jenseits aller Gewißheit"), das sich mit der Begegnung zwischen Alan Turing und Ludwig Wittgenstein beschäftigt. Und nun? Nun ist Ludwig Wittgenstein auch noch zur Hauptfigur eines im Jahre 1995 mit dem Deutschen Krimi-Preis des Bochumer Krimi Archivs in der Kategorie "Bester Internationaler Kriminalroman" ausgezeichneten Kriminalromans geworden. Allerdings nicht er selbst: Der Autor verwendete für die Hauptperson seines Buches nur Wittgensteins Namen, eigentlich heißt dieser Paul Esterhazy und ist, wie schon der richtige Wittgenstein vor ihm, in der Apotheke des Londoner Guy's Hospital beschäftigt. Dieser Wittgenstein, der zu Anfang des 21. Jahrhunderts mordend durch die Straßen Londons zieht, versucht - was für den Philosophen sicher das Spannende ist - seine mörderischen Taten mit der Philosophie des richtigen Wittgenstein, speziell mit dessen ethischen Auffassungen in Einklang zu bringen. Doch zuerst kurz zum Autor: Philip Kerr, 1956 in Edinburgh geboren, wuchs in einer schottischen, mittelständischen Familie auf. Über diese Zeit bekannte er im August 1993 in einem Interview mit dem "Observer": "I felt like an outsider. I am dark and no one ever thought that I was a Scot. As a schoolboy I experiencend a lot of racism and consequently never considered myself to be truly Scottish." Er beschreibt sich selbst als einen "creator of fictions, which is perhaps the safest profession for a liar". (Bei Rowohlt liegt mittlerweile sein fünftes Buch in deutscher Übersetzung vor.) Grundintention seines preisgekrönten, philosophisch angehauchten Krimis ist folgende Aussage: "Der Detektivarbeit wie der Philosophie liegt die Vorstellung zugrunde, daß es etwas Wißbares gibt. Der Ort der Tätigkeit ist mit Indizien versehen, die wir richtig zusammenfügen müssen, um ein wahres Bild der Wirklichkeit zu schaffen." (S. 212) *** Worum geht es in diesem Buch? Die Erzählung der durchaus spannend zu nennenden Handlung verläuft auf zwei Ebenen: die Handlung an sich, also alles was an Ermittlungen zu Wittgenstein läuft, steht neben dem inneren Monolog des Täters (deutlich unterschieden vom übrigen Text durch den Kursivdruck). Ort des Geschehens ist London im Jahre 2013: Gewaltverbrechen und Drogenkonsum bestimmen das Bild der technisch hochentwickelten Metropole. Die Menschen flüchten sich in virtuelle Welten, "RA" (Reality Approximation) ist das Stichwort. Verbrecher werden, "weil die Gesellschaft beim Gedanken an die Todesstrafe moralische Bedenken empfand" (S. 253), nicht mehr hingerichtet oder lange Jahre in "zu teure" Gefängnisse gesteckt, sondern ins "Strafkoma" versetzt ("Man war da und doch nicht da. Eine Zwischenexistenz zwischen Leben und Tod." [S. 252]), was billiger, aber gleichzeitig auch schrecklicher sein soll ("fast so schlimm wie der Tod"), da die Gefangenen oder besser gesagt die Verurteilten während der Zeit des Komas von Alpträumen gequält werden; gleichzeitig wurde mit dem Strafkoma in den Augen des Gesetzgebers auch jeder weiteren Kriminalität, wie sie in Gefängnissen üblich ist, vorgebeugt. (Es ist "humaner, einen Menschen zu einem lang andauernden Schlaf zu verurteilen, als ihm bei vollem Bewußtsein über einen gleich langen Zeitraum die Freiheit zu rauben und ihn so allerlei unangenehmen und entwürdigenden Umständen auszusetzen". [S. 254]) Der Kampf gegen das Verbrechen scheint also verloren, die Polizei konzentriert sich nur noch auf die Suche von Massen- bzw. Serienmördern. Als die Handlung einsetzt treibt ein Mörder neuen Typus sein Unwesen: Neben dem "Lippenstiftmörder" (mit richtigem Namen 'Parmenidis'), dem "Hammermörder" oder dem "Motorradboten" tritt, erst noch nebenbei, ein Mörder in Erscheinung, der seine Opfer - zu Beginn des Buches sind es 8 Männer in acht Monaten, und die Serie geht weiter - "mafiamäßig" mit einer lautlosen Gaspistole durch sechs Schüssen in den Hinterkopf tötet. ("Ich ziele immer auf den Kopf, und das nicht nur, weil ich sichergehen will. Eher, glaube ich, weil der Kopf - ihr Kopf und meiner - der Ort ist, wo die ganzen Schwierigkeiten angefangen haben - ihre und meine.", S. 16) Isidora Jakowicz, genannt "Jake", 37 Jahre, seit 13 Jahren bei der Polizei, Chefinspektorin in der Mordkommission, Leiterin des Dezernats für Frauenmord, und selbst ein frühes Opfer des psychischen Terrors ihres Vaters, ein gestörter Fall, einer gegen Männer gerichteten lesbischen, teilweise gewalttätigen Neigung, mit einer neoexistentiellen Therapeutin versehen, übernimmt den Fall. (Diese Isidora Jakowicz ist sicherlich keine unproblematische Figur, die man jedoch oder gerade deswegen sehr schnell versteht und sogar "liebgewinnt".) Nachdem der M.O., der "Modus Operandi", des Täters computergestützt geklärt scheint, stellt sich heraus, daß alle Opfer Probanden eines Verbrechensbekämpfungsprogramms der Polizei gehören. Dieses Programm mit dem Namen "LOMBROSO", was als Abkürzung für "Lokalisierung Organischer Medullärzerebral Bestimmter Resonanzen und Obligater Sozialer Orthopraxie" steht, ist ein Programm zur 'Früherkennung' besonders verbrechensanfälliger männlicher Personen. (Der Name des Programms bezieht sich auf Cesare Lombroso - dieser italienische Kriminalist, so wird auf S. 49 erklärt, hatte im vorigen Jahrhundert versucht, Kriminalität anatomisch zu erklären, er war der erste Kriminalanthropologe.) LOMBROSO hat ermittelt, daß der Mörder und alle seine Opfer VMK- negativ sind (die Parallele zu HIV positiv ist offensichtlich!), d.h. in ihren Gehirnen fehlt ein ventromedialer Kern, der die Aggressivität, in ihrem Falle die Mordlust "dämpft", sie sind potentielle Gewaltverbrecher. Der Mörder hat durch einen Zufall Zugang zu diesem Programm erhalten, seine eigenen Daten gelöscht und sieht sich jetzt in der Funktion eines selbstherrlichen Richters, der das Töten "als die Behauptung des eigenen Seins, als Selbstschöpfung durch Vernichtung" und sich als die Krönung des LOMBROSO-Programms sieht. Er will die Welt von potentiellen Mördern befreien, Mord ist für ihn Selbstzweck. "Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht." (TLP 6.4311) - so heißt es beim richtigen Wittgenstein, und bei Kerrs Wittgenstein liest sich das so: der Tod ist der "Moment, der kein Ereignis seines Lebens sein würde und den er nie erfahren sollte." (S. 19) also, meint er, hat der Tod nichts bedrohliches und, wir werden es noch sehen, ist vor allem nicht unmoralisch. Alle Opfer haben Decknamen, die von den Bearbeitern des LOMBROSO- Programms rein zufällig nach den Autorennamen einer Reihe von "Penguin Modern Classics" ausgewählt worden sind. Die Liste der Opfer enthält u.a. Erasmus Darwin, Charles Dickens, Immanuel Kant, Sokrates und, sollte man sagen "natürlich", als neuntes Opfer Wittgensteins 'Erzfeind' Russell sowie Descartes ("Ich würde ihn aus totaler Skepsis zerstören. ... Ich töte, also bin ich." [S. 258] - eine makabre Abwandlung des Cogito, ergo sum.) Der Täter hat zufällig den Namen von Wittgenstein erhalten. Er ist in einem psychischen Stadium, in dem er nicht mehr zwischen Realität und Computertraum unterscheiden kann. "Reality Approximation", eine elektronische, selbstbestimmte Scheinwelt - dorthin flüchtet er sich jeden Tag nach dem Dienst aufs Neue. Weil die "einzige Realität, deren man sich gewiß sein kann, das Selbst ist" (S. 169), kann er in seiner selbst geschaffenen Welt selbst bestimmen, ohne Schaden anzurichten. Doch die Grenze zwischen Fiktion und Realität wird für ihn zunehmend fließender. Die Biographie und noch mehr die Philosophie Ludwig Wittgensteins spielen verständlicher- und notwendigerweise eine große Rolle in dem Buch. Der Täter fühlt sich durch die Philosophie Wittgensteins angesprochen, vor allem die unausgesprochene ethische Dimension des Tractatus fasziniert ihn so, daß er diese für seine Zwecke pervertiert. Er versucht die Welt, seine Welt, dem Leben und der Philosophie von Wittgenstein anzupassen. Der Roman-Wittgenstein führt zwei Notizbücher, die zusammengenommen sein "System" ergeben. Bezeichnenderweise sind dies ein 'blaues': es enthält Details über seine Opfer, und ein 'braunes': sein eigentliches Tagebuch, "die Bibel seines Strebens", sein innerer Monolog, sein 'philosophisches Selbstgespräch' - "Es ist seltsam, wie dies Braune Buch zugleich als Tagebuch und als Ereignis in meinem Leben funktioniert." (S. 204) Trotzdem beschleichen ihn immer wieder die bekannten Wittgensteinschen Zweifel: "Keines der beiden Bücher ist besonders gut, aber sie sind so gut, wie es mir möglich ist. Ich nehme an, sie werden erst beendet sein, wenn auch mein Leben zu Ende geht. In anderen Worten, ihre Veröffentlichung (an der ich ohnehin zweifle) wird kein Ereignis meines Lebens sein." (S. 158) Schildern wir an dieser Stelle, was für eine "philosophische Rezension" dieses Krimis sicherlich am interessantesten und gleichzeitig für das Buch bestimmend ist, die Motivation des Mörders, die ihr "geistiges Material" aus dem TRACTATUS LOGICO- PHILOSOPHICUS (TLP) bezieht. Alle Handlungen des Romantäters scheinen, seiner Meinung nach, von Logik im philosophischen Sinne bestimmt zu sein. Im ersten 'Monolog' legt er dem Leser sein "ethisches", seine Taten bestimmendes und sie rechtfertigendes Programm vor, daß im weiteren Verlauf der Handlung immer mehr vertieft wird: "Wenn ich etwas verändern kann, so können es nur die Grenzen der Welt sein, die ich verändern kann, indem ich ihn (das Opfer - M.I.) aus ihr entferne. ... Es geht um etwas, das ohne bösen Willen getan werden muß. Es entspricht nur der Logik. Selbst Gott kann nichts tun, das den Gesetzen der Logik zuwiderläuft; und die Anwendung logischer Methoden verleiht eine gewisse Befriedigung, weil sie Sinn verleiht." (S. 18) Und er begründet mit Wittgenstein: "Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen." (TLP 5.61) - "In der Logik ist nichts zufällig." (S. 78 und TLP 2.012) Denn: "Immer kann man die Logik so auffassen, daß jeder Satz sein eigener Beweis ist." (TLP 6.1265) Und schließlich: "Die Logik des Mordes ist das dunkle Wissen, das aus dem emsigen Studium Intellektuellen Hasses hervorgeht." (S. 346) Nachdem der 'rein logische' Begründungszusammenhang hergestellt zu sein scheint, wird klargestellt, welche Rolle "sein Willen" dabei spielt: "Die Welt ist von meinem Willen unabhängig, jedenfalls insoweit mein Wille im wesentlichen Träger des Ethischen ist, ... " (S. 99) (Beim richtigen Wittgenstein liest sich das allerdings so: "Die Welt ist unabhängig von meinem Willen." [TLP 6.373] und "Vom Willen als dem Träger des Ethischen kann nicht gesprochen werden." [TLP 6.423] - hier wollte der Täter/Kerr das offensichtlich ein bißchen anders sehen.) Eine dritte, wertmäßige Begründung seiner Auffassungen sieht wie folgt aus: "Aber wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Tatsache ist, daß alle Sätze gleichwertig sind, und daß es keine Sätze der Ethik geben kann. Die Ethik ist transzendental und unaussprechlich. Kurz gesagt: Ethik ist unmöglich. Warum sonst sollte man sich dagegen auflehnen? Wenn die Existenz eines moralischen Satzes, der den Mord verbietet, möglich wäre, würde ich ihm nicht widersprechen. Aber vom Willen als Träger des Ethischen kann nicht gesprochen werden. Also töte ich, weil es keinen logischen Grund gibt, nicht zu töten." (S. 174) Hier werden, für jeden Wittgenstein-Kenner offensichtlich, die Gedanken aus TLP 6.41, 6.4, 6.421 und 6.423 zusammengefaßt und es scheint nicht verwunderlich, wenn der Mörder dann zu dem Schluß gelangt: "Die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken scheint mir unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Die Endlösung." (S. 174) (Der Vergleich mit den Gedanken, die Wittgenstein im Vorwort des TRACTATUS äußert, liegt nahe!) An dieser Stelle fällt der pervertierte Gebrauch des Begriffes "Endlösung" auf, den er benutzt, um einerseits die Grenze zwischen Sagbarem und Unsagbarem zu definieren und um andererseits seine Taten zu "verniedlichen" - "Üblicherweise gilt die Endlösung der Judenfrage, wie die Nazis sie ausgedacht haben, als etwas Unsägliches. Aber dem ist einfach nicht so. ... Tatsache aber ist, daß der Holocaust sehr wohl in diese Welt gehört, und deshalb kann man davon sprechen, und es ist nichts Unsägliches, das ihn so schrecklich macht. ... Große Verbrechen sind ein Abfallprodukt Großer Zivilisationen." (S. 173/174) Und schließlich viertens denkt der Roman-Wittgenstein bei allem, was er tut, auch über den eigenen Tod nach (S. 204) Neben dem deutlichen Bezug auf die Gedanken des richtigen Wittgenstein dazu ("Der Tod gibt dem Leben erst seine Bedeutung." - GT, 9.5.1916; "Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht." - TLP 6.4311) fallen dem Leser besonders Schopenhauers Gedanken, die er im 41. Kapitel von "Die Welt als Wille und Vorstellung" zu diesem Thema entwickelt, auf. Im Verlauf der Ermittlungen taucht eine Minidiskette, die eine schlechte Parodie auf den TRACTATUS und gleichzeitig eine Vermischung philosophischer Gedanken und homosexueller Phantasien ist (S. 193ff.), auf. Die Wahnvorstellungen des Mörders lassen ihn glauben, daß er durch eine homosexuelle Beziehung die Grenzen des eigenen Seins überschreiten und damit kein Teil der Welt mehr, also in seinen Augen gleichzeitig schuldfrei sein könne. Er formuliert: "Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. Und so spricht schweigend meine Pistole für mich." (S. 195) Schließlich, im Sinne von Satz 7 des TLP: "Worüber wir nicht sprechen können, darüber müssen wir wie beim Vorbeiziehen des Todesengels schweigen." (S. 193) Von Jake wird im Verlauf der Ermittlungen gerade eine Kontaktaufnahme mit dem Täter erwogen, da meldet sich dieser: per Satellitentelefon und damit nicht zu orten. Es bleibt nicht bei diesem Gespräch; und bei einem dieser philosophischen Telefon- Dispute, zu denen Jake Sir Jameson Lang, Philosophieprofessor in Cambridge und Autor einer höchst erfolgreichen Reihe von Kriminalromanen, dessen Held Platon ist, hinzuzieht, wird eine latente psychische Krise bei Wittgenstein ausgelöst. Wittgenstein denkt an Selbstmord: "Gewiß der Selbstmord ist eine sehr alte Lösung für ein sehr altes Problem, aber vielleicht ist er letztlich die einzige Lösung. Auf alle Fälle ist er die endgültige Lösung." (S. 355) (Man denkt unwillkürlich an die Tagebucheintragung Wittgensteins vom 10. Januar 1917: "Wenn der Selbstmord erlaubt ist, dann ist alles erlaubt. Wenn etwas nicht erlaubt ist, dann ist der Selbstmord nicht erlaubt. Dies wirft ein Licht auf die Ethik. Denn der Selbstmord ist sozusagen die elementare Sünde.") Und er stellt sich in dieser für ihn sehr schwierigen Situation die Frage: "Wird denn dadurch ein Rätsel gelöst, daß ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige? Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. Das Rätsel gibt es nicht. Und die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems." (S. 374) - dies eine Zusammenfassung von TLP 6.4312, 6.5 und 6.521. Inzwischen ist der "Lippenstiftmörder" durch einen Zufall überführt worden. Er, Parmenidis, VMK-negativ, mit Decknamen 'Shakespeare', sollte ein Opfer von Wittgenstein werden. Allein durch diese Festnahme, so scheint es, wird es möglich, auch Wittgenstein als Täter zu überführen. 12 Opfer sind zu beklagen, doch jetzt ist klar, wer er ist, wo er arbeitet und wohnt - die Sache nähert sich ihrem Ende. Er erkennt, daß sich der Ring um ihn schließt. Sein letzter Monolog - ganz der Wittgensteinschen Tradition folgend - enthält am Schluß den Satz: "Aber meine Erzählungen erläutern nur dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist." (S. 389) - und setzen wir mit TLP 6.54 fort: Er muß die Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. Auch beim Mörder Wittgenstein heißt es am Schluß: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. (TLP 7) Einer der letzten Sätze des Mörders lautet: "Wenn das Charakteristikum des Glaubens das Fehlen von Logik ist, dann gilt auch das Gegenteil. Wenn man an nichts mehr glaubt, dann ist man nur noch der Logik verantwortlich. Und wenn ein anderer behauptet haben könnte, Gott habe ihn dazu veranlaßt, kaltblütig zwölf Menschen zu töten, dann sage ich, daß ich nicht der Stimme Gottes gehorcht habe, sondern der Stimme der Logik. Ich vernahm die Stimme der Logik und der Diener der Vernunft und unterlag dem Zwang zu töten." (S. 408/409) - das also sein "mörderisches Credo". Isidora Jakowicz ist für die strikte und unbedingte Einhaltung des Gesetzes und rettet zum Schluß der "Jagd" Wittgenstein sogar das Leben. Sie empfindet Faszination, er "hatte ihre Phantasie angeregt", durch "ihn hatte sie gewisse Dinge über die Welt gelernt". "Der Versuch, ihn zu verstehen, der Versuch, ihn zur Strecke zu bringen, war das Anregendste, das Jake je getan hatte." (S. 289) Und sie empfindet Mitleid, bringt ihm rote Blumen - was ihn zu einem Frage- Antwort-Spiel in Analogie zu den Philosophischen Untersuchungen, õ 62ff., veranlaßt - und läßt ihn ihre Hand halten, bevor er ins Koma gespritzt wird. Das Mitgefühl von Jake erinnert einerseits an das Sympathisieren und Kokettieren mit dem/n Täter/n (sowohl "Buffalo Bill", als auch Dr. Hannibal Lecter sind gemeint) aus das "Schweigen der Lämmer". Überhaupt gibt es einige (vielleicht unbewußte [?] oder doch gewollte [!]) Parallelen zu Thomas Harris' Buch: sei es die Darstellung der Hauptperson, der begabten Studentin der FBI- Academy Clarice Starling, sei es die Gegenüberstellung von Handlung und innerem Monolog oder auch das "VI-CAP", das "Violent- Criminal-Apprehension-Programm", ein Verhaftungsprogramm für Gewaltverbrechen. Und andererseits hat auch der unlängst mit dem "Adolf-Grimme-Preis" ausgezeichnete TV-Thriller "Der Sandmann", ein Meisterwerk von Nico Hoffmann, dieses Sujet wieder aufgegriffen. (Henry Kupfer [Götz George] hat für den Mord an einer Prostituierten im Gefängnis gesessen. Nachdem er entlassen wurde, macht er Schlagzeilen als Bestseller-Autor, dessen neuestes Buch das Psychogramm eines Serienmörders ist. Die Macher einer Talkshow setzen alles daran, ihn als Gast in die Sendung zu bekommen. Ina Littmann [Karoline Eichhorn], ehrgeizige Redakteurin, soll sein Leben recherchieren. Sie ist fasziniert von dem undurchsichtigen Mann, doch bald erhärtet sich ihr Verdacht, daß Kupfer selbst ein Serienmörder ist. Allerdings ... ) Dieser Roman ist von Philip Kehr zwar weit komplizierter und intellektueller angelegt, als die Alptraum-Visionen seiner Landsleute George Orwell und Aldous Huxley, aber der Täter hat nicht die "intellektuelle Klasse" des richtigen Wittgenstein und man fühlt sich in manchem Gedankengang sogar eher an Thomas De Quinceys "Mord als schöne Kunst betrachtet" erinnert, als an einen "Philosophie-Krimi". Wenn es um die 'mörderische Seite der Philosophie' geht, ist eigentlich Nietzsche der beliebteste Philosoph für Krimi-Autoren. Und auch Kehr kommt nicht ohne ihn aus. Sein Täter bekennt, "daß ich tötete, als die Stimme zu mir sprach, und daß die Stimme die Stimme Friedrich Nietzsches war"; "jedesmal, wenn ich einen meiner Brüder töte, töte ich natürlich Gott", denn "wenn jemand Gott tötet und Gott nicht existiert, dann tötet er doch offenbar nichts". - "Der Ort, an dem Gott existiert, ist der Geist des Menschen. Wer also einen Menschen tötet, tötet Gott." (S. 257) (So kann man also das "Gott ist todt!" aus Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft" auch auslegen!) *** Was hat das Buch nun mit dem "richtigen" Ludwig Wittgenstein zu tun? Immer wieder werden von Kerr Gedankengänge Wittgensteins aufgegriffen und, oftmals in einer anderen Form, sprich in einem anderen, für den "Nur-Philosophen" oftmals überraschenden Zusammenhang dargestellt: sei es, wenn es um Tatsachen (S. 128f.) oder die Klassifikation durch Namen geht (S. 138f.), um somit dem Leser die geistige Welt Wittgensteins, in der sich der Täter meint zu bewegen, nahezubringen. Es geht um den TRACTATUS, es geht um Sprache, die Unterscheidung zwischen Sagbarem und Unsagbarem, und es geht letztendlich und vor allem um Ethik. Im Briefwechsel mit Ludwig von Ficker spricht Wittgenstein - und darum wird in dem Buch immer wieder angespielt - von der Zweiteiligkeit und der ethischen Dimension des TRACTATUS, die für ihn besonders wichtig sei. "Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von Innen her begrenzt; und ich bin überzeugt, daß es, streng, NUR so zu begrenzen ist. Kurz, ich glaube: Alles das, was viele heute schwefeln, habe ich in meinem Buch festgelegt, indem ich darüber schweige." (Wittgenstein an Ficker, Oktober/November 1919) Die von Wittgenstein angesprochene unaussprechliche Ethik läßt sich seiner Meinung nach nur durch die Menschen selbst zeigen; d.h. für ihn: als gelebte Ethik darstellen. Dieser Grundgedanke des TRACTATUS, der auf die Grenzen der Sprache verweist, durchzieht Wittgensteins ganzes Werk und wird von Kerrs Hauptfigur im "mörderischen Sinne" verinnerlicht. Alle Sprache, und vor allem die der Wissenschaft, hat den Drang mehr zu sagen, als sie an Erkenntnissen vermitteln kann - dem muß Einhalt Geboten werden! Die Sprache kann nur von "innen her begrenzt" werden, wenn das Sagbare klar dargestellt wird. Die Konsequenz seiner ethischen Auffassungen brachte es mit sich, daß außer den wenigen Bemerkungen am Ende des TRACTATUS und seinem Vortrag über Ethik von Wittgenstein kein System der Ethik im üblichen Sinne ausgearbeitet wurde. Er beschränkte sich auf den Verweis der Ethik in den Bereich des Schweigens. Diese Auffassung resultierte aus seiner Meinung über die Aufgabe der Philosophie, die sich auf das Beschreibbare zu beschränken habe. Die Ethik hatte sich für ihn nicht mit dem zu beschäftigen, was ist, sondern mit dem, was sein soll. Wittgenstein entzog zwar die Ethik "der Verfügbarkeit der Sprachhandlung, ohne ihr (jedoch) dadurch die Bedeutung für den Menschen zu nehmen. ... Ganz im Gegenteil, gerade in dieser Unverfügbarkeit liegt ihre Bedeutsamkeit." (F. Wallner: Die Grenzen der Sprache und die Erkenntnis, S. 9/10) Im TRACTATUS beruhte die Möglichkeit der Sprache für Wittgenstein "auf der nicht mehr aussagbaren logischen Form" und wurde damit "im Hinblick auf das einzelne unverbindlich". Die Ethik konnte die "Ebene der Aussagbarkeit" nicht erreichen und blieb "beim Zugang des einzelnen auf 'seine Welt' stehen." (F. Wallner: ebd., S. 169) Konsequent weitergedacht würde der einzelne dem ethischen Geschehen damit sprachlos gegenüberstehen. Für Wittgenstein war es charakteristisch und für seine Sprachauffassung konsequent, wenn er die Fragen der Ethik mit der Suche nach dem Sinn des Lebens verband. "Gut" und "böse" können nicht auf die Tatsachen der Welt angewendet werden, sondern nur auf etwas, was am Grenzbereich des Unsagbaren angesiedelt ist - auf das wollende Subjekt. Wenn es Sätze der Ethik geben würde, würden diese entweder Tatsachen beschreiben, damit wären sie aber dann naturwissenschaftliche Sätze, oder über die Tatsachen der Welt hinausgehen und damit Nicht- Ausdrückbares beschreiben: "Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken." (TLP 6.42) Alle unsere Sätze sollen, nach Wittgensteins Meinung, keine Forderungen, die in der Welt ohne Entsprechung sind, beinhalten, sondern nur Tatsachen, die in der Welt existieren, d.h. alle Äußerungen, die Ethisches betreffen, müssen sich in der Wirklichkeit verkörpern oder darstellen lassen. Jeder Versuch, den Sinn des Lebens zu verstehen, scheint aussichtslos zu sein, sobald ich akzeptiere, daß Sätze nichts Höheres ausdrücken können. Es scheint einen unüberwindbaren Zwiespalt zwischen der Tatsachenwelt und dem "Höheren" zu geben. "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." (TLP 7) Der Satz 7 des TRACTATUS kann als Postulat einer Ethik des Schweigens gelesen werden. Ging es Wittgenstein aber wirklich darum, zu den Lebensproblemen zu schweigen? Nein: Eine solche Aussage besagt nicht, daß ich mich der betreffenden Sache nun nicht mehr zuwenden darf. Es kommt in diesem Fall auf die Art und Weise der Zuwendung an: Wittgenstein war zwar der Meinung, mit dem TRACTATUS alles gesagt zu haben, also sollte geschwiegen werden, aber im Anschluß an das verordnete Schweigen ging es ihm darum, daß das existierende "Unaussprechliche", wenn nicht gesagt, dann aber gezeigt werden mußte. Selbst, wenn Wittgenstein schon in seinen Tagebüchern der Meinung war, daß die Ethik "transcendent" (TB 30.7.1916) und damit jegliches Sprechen über sie sinnlos sei und sich außerdem verbiete, muß man anhand der vorhandenen Texte konstatieren, daß sein Schweigen nicht konsequent war. Ihm kann eine Haltung zum Schweigen unterstellt werden, wie sie schon in Mauthners Sprachkritik, die in einer totalen Aufhebung der Sprache münden sollte, dargestellt wurde und wie sie Lyotard im "Widerstreit" so charakterisierte: "Nicht zu sprechen ist ein Teil der Fähigkeit zu sprechen, da die Fähigkeit eine Möglichkeit darstellt und diese eine Sache und deren Gegenteil impliziert. ... Daß das Gegenteil von Sprechen möglich ist, zieht nicht notwendigerweise das Schweigen nach sich. Die Fähigkeit, nicht zu sprechen, ist nicht identisch mit der Unfähigkeit zu sprechen." (J. - F. Lyotard: Der Widerstreit, S. 28/29) Wie will ich (ethisch) handeln, wenn ich mir über die Tragweite und Bedeutung meiner Handlungen nicht klar bin? Ich muß in jedem Fall über mein Handeln nachdenken bzw. es denkend vorbereiten. Und gerade dieses Nachdenken unterscheidet das positive vom negativen Schweigen. Das heißt, daß es ihm, im Gegensatz zum negativen, als absolutem Schweigen, nicht darum ging, etwas vollkommen sprachlich zu negieren. Im Gegenteil: Wittgensteins positives Schweigen war ein handelndes Schweigen. Wenn ethisch-moralische Sachverhalte sprachlich nicht zu erfassen sind, muß aber trotzdem in ihrem Sinne gehandelt werden. Mit dem TRACTATUS glaubte er, alle Probleme der Philosophie endgültig gelöst zu haben und auch seine Ethikkonzeption schien ihm unerschütterlich: Als Träger des sittlichen Wollens existierte für ihn ein philosophisches Ich. "Das philosophische Ich ist nicht der Mensch, nicht der menschliche Körper, oder die menschliche Seele, von der die Psychologie handelt, sondern das metaphysische Subjekt, die Grenze - nicht ein Teil der Welt." (TLP 5.641) *** Es stellt sich sowohl für den Krimi-Leser, als auch für den Philosophen nach der Lektüre eines solchen Buches die Frage: Was kann uns Wittgensteins Ethik heute noch an Anregungen vermitteln, welche bleibenden Werte sind in ihr enthalten? Nicht alles, was durch seine Schriften und die Gesprächsaufzeichnungen vermittelt werden kann, ist sicherlich widerspruchsfrei hinzunehmen. Besonders die von ihm immer wieder vertretene und praktizierte Position der Negierung des Subjekts (offensichtlich hauptsächlich resultierend aus einer überhöhten Selbsteinschätzung der eigenen Vollkommenheit) ist zu kritisieren. Wittgensteins ethische Ansichten in ein vorhandenes Schema einzuordnen ist nicht ohne weiteres möglich, da er sich gerade durch seine Schreibweise einer eindeutigen Zuordnung entzieht. Trotzdem kann man sagen, daß er mit seinem ganzen Leben, seinem Drang nach Vervollkommnung, Besserung und Erziehung der heutigen Verantwortungsethik, der es immer noch am umsetzenden pädagogisch- praktischen Prinzip mangelt, Impulse geben kann, gerade weil es hier nichts zu theoretisieren gibt, sondern unmittelbar gehandelt werden muß. In einer zeitgemäßen verantwortungsethischen Gesellschaftsauffassung kann es nicht darum gehen, jemand mit Lohn oder Strafe (hier im Sinne des bürgerlichen Gesetzesbuches gemeint!) seine Verantwortung bewußt zu machen, denn kategorische Imperative bewirkten und bewirken überwiegend das Gegenteil. Die politisch-moralische Verantwortung droht sich im Angesicht der komplizierten Probleme der industriellen Kultur und Zivilisation zu verflüchtigen. Verantwortung, die durch Rationalität und Problembewußtsein geprägt war, wird zunehmend zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Im Rahmen widersprüchlicher Argumentationen in parteipolitischen, verbandspolitischen und gruppenpolitischen Interessenkonflikten kommt es zu Verweigerungshaltungen, durch die Verantwortung und Verantwortlichkeit als politisch-moralische Grundwerte gesellschaftlichen Zusammenlebens zunehmend abgebaut werden. Das postmoderne Zusammenwirken von allem mit allem ist dabei, eine politisch, sozial und kulturell verantwortliche Lebenshaltung zu verdrängen. Verantwortung wahrzunehmen heißt deshalb heute immer, einen Schritt ins Ungewisse, Unabgesicherte, ins Risiko zu wagen. Einen Schritt, der in Auseinandersetzung verschiedenartiger Wahrnehmungen, Argumente und Vernunfthaltungen eine Position zu bestimmen sucht. Dabei geht es nicht einfach um eine theoretische Position, sondern um eine Position zum Leben, an der die Gegenbilder eines bedrohten Lebens sichtbar werden sollen. Verantwortung ist deshalb nicht auf bestimmte Bereiche zu reduzieren wenn sie so verstanden wird, daß sie Entscheidungen mit ihren Konsequenzen zu überblicken hat, mögliche, diesen Zielstellungen zuwiderlaufende Handlungen verhindern bzw. deren Auswirkungen vermindern muß und aus den Resultaten der Handlungen Schlußfolgerungen zu ziehen hat. Verantwortung unterliegt immer der Bewertung, sei es durch das eigene Gewissen, andere Personen oder durch von der Gesellschaft geschaffene Institutionen politisch-rechtlichen Charakters. Diese Bewertung bedingt, daß sich keiner der Verantwortung entziehen kann und sich individuell oder kollektiv den Folgen seines Handelns zu stellen hat. Denn: "Die Verantwortung leugnen, heißt, den Menschen nicht zur Verantwortung ziehen." (L. Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, [1947], S. 540) Gerade, weil sich Grenzen zwischen individueller und kollektiver Verantwortung nicht exakt angeben lassen, muß gesichert werden, daß jeder Mensch Verantwortung zuerst als seine ureigenste Verantwortung erkennt und akzeptiert. Akzeptanz fordert aber unweigerlich die Schaffung von Möglichkeiten für die Wahrnehmung von Verantwortung. Durch die Gesellschaft ist heute durch auf Demokratie beruhenden Mechanismen zu sichern, daß Verantwortung überhaupt von jedem wahrgenommen werden kann. Hierzu ist das Prinzip der Gewaltenteilung neu zu durchdenken und besonders der zukünftig stärker zu berücksichtigenden vierten Gewalt, in Gestalt der Öffentlichkeit und ihrer Medien, Verantwortungsbewußtsein zuzubilligen. Schon Wittgenstein fragte: "Wie könnte die Umgebung den Menschen, das Ethische in ihm, zwingen?" (Vermischte Bemerkungen, [1947], S. 540) Entscheidender Antrieb verantwortlichen Handelns muß der Wille zur konkreten Selbstverantwortung sein. Verantwortung als politisch- moralisches Prinzip muß individuell erfahren werden, um sich kollektiv entwickeln zu können. Aus diesem Grund muß ein soziales Gefühl für Verantwortung und Verantwortlichkeit entwickelt werden, das Verantwortung als speziellen Fall der Verpflichtung auffaßt. Als soziales Gefühl muß Verantwortung Eingang in die Politik finden und zum bestimmenden moralischen Prinzip erhoben werden. Verantwortungsbereiche klar abzugrenzen bedeutet immer, einem bestimmten Maß an Verantwortungslosigkeit Raum zu geben, deshalb muß die Hierarchie bürokratischer Begrenzungsverantwortung durch staatsbürgerliche Verantwortungsbereitschaft abgelöst werden. Will ich diese aufgezeigten Aufgaben einer zukünftigen Verantwortungsethik vor dem Hintergrund Wittgensteinschen Denkens stellen, bleibt nur zu sagen, daß die Art und Weise seiner "gelebten Ethik" Eingang in unsere Erziehungsprozesse finden kann und muß. Die in uns angelegten moralischen Handlungsweisen müssen von der Pädagogik geweckt, gefördert und in sinnstiftend- lebenserhaltende Zusammenhänge gebracht werden. Dabei spielen sowohl die Methode der Vermittlung, als auch die, von Wittgenstein selbst erfahrene, Art und Verständlichkeit der Sprache eine wichtige Rolle. *** Im Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur wird das Buch als ein "dekadentes Kunstprodukt voller Gewalt", als "eine modernistisch-futuristisch-dekadente Show mit vielen eingestreuten Essays", "weniger eine Analyse als ein Symptom der Zeit", abgetan, das an die Romane von Andrew Vachss erinnert. Vielleicht sollte auch einmal ein Krimi mit einem Vorwort versehen werden. Gerade bei diesem Buch könnte es bei einer Nachauflage nützlich sein, daß einmal zu tun. Allein schon deshalb, weil sich hier ein Autor die Mühe gemacht hat, in die Gedankenwelt eines Philosophen einzudringen, selbst wenn er dessen Philosophie nur als eine "Rechtfertigungslehre" für einen Mörder umdeutet. Sicher liest der "Nur-Krimi-Leser" dieses Buch anders, als ein Philosoph oder ein philosophisch interessierter Leser, zumal einer, der mit dem Leben von Ludwig Wittgenstein vertraut ist. (Und selbst der sollte oder wird sich den TRACTATUS zur Hand nehmen und vergleichen, welche Worte "authentisch" sind.) Einiges, was sonst für den "reinen Krimi-Freund" unklar oder auch unverständlich bleibt, könnte in einem Vorwort im philosophischen Kontext vermittelt werden und vielleicht sogar neugierig machen auf mehr von und über Wittgenstein. Alles in allem also ein Buch, das nicht nur Krimi-Leser ansprechen sollte.