***************************************************************** * * Titel: Frühe Ton-Dokumente zur Wittgenstein-Rezeption "Ludwig Wittgenstein und die Nachwelt" Bearbeiter: Djavid Salehi Dateiname: 20-2-96.TXT Dateilänge: 26 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 2/96, Datei: 20-2-96.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, R. Raatzsch, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1996 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** Frühe Ton-Dokumente zur Wittgenstein-Rezeption "Ludwig Wittgenstein und die Nachwelt" Eine Sendung des Westdeutschen Rundfunks aus dem Jahre 1956 (Übernahme einer Sendung der deutschen Welle der BBC) - BBC London, Kultur - IV - 17977-56, WDR: DOK 2456/2, 1.8.1956 Die Redaktion dankt der Sendeleitung des WDR für die Genehmigung, dieses Tondokument in Transkription reproduzieren zu dürfen. Die Redaktion der STUDIES plant die Veröffentlichung dieses Tondokumentes zu einem späteren Zeitpunkt auf CD-ROM (zusammen mit anderen Tondokumenten und Bildmaterial). Es sprechen: Anscombe, Britten, Rhees und Russell Sprecher: Über Wittgenstein als Philosoph zu sprechen, ist schon darum so schwierig, weil er uns selbst ein tiefes Mißtrauen gegen die Sprache beigebracht hat, in der wir uns ausdrücken. Auf den ersten Blick scheint es, als wollte diese Philosophie den Nachweis bringen, daß Philosophieren überhaupt nicht möglich ist. Daß man nicht einmal zweifeln kann, weil sich die Frage nach dem Woran, nach dem Sinn des Zweifels, nicht stellen läßt. Mit Wittgenstein trat etwas Fremdartiges, beinahe Unheimliches, in die Philosophie. Eine schöpferische Form des Nein-Sagens, eine beglückende Beunruhigung des Denkens, die jahrzehntelang fast unterirdisch auf die Umwelt einwirkte. Von dem Menschen Ludwig Wittgenstein zu reden ist kaum weniger schwierig. Denn in diesem Leben tritt uns soviel Unergründliches, soviel Widerspruchsvolles entgegen, daß man fast mehr Klarheit in seinen Büchern finden kann. Es sind nur drei, d.h. Zeit seines Lebens hat er überhaupt nur ein einziges Buch veröffentlicht - wie Spinoza. Es war die berühmte "Logisch-philosophische Abhandlung", auch der "Tractatus" genannt. Es war eine Schrift von weniger als 100 Seiten - und eine der geistigen Umwälzungen des Jahrhunderts. Das Heftchen hätte in keinem ungünstigeren Augenblick herauskommen können: 1921, mitten in einer aufgewühlten Zeit, im Höllentoben der Inflation. Unwillkürlich denkt man an ein anderes Heftchen, ein anderes Elementarereignis in unserem Weltbild. Fünf Jahre vorher, mitten im Krieg, in einem stürzenden Zeitalter, erschien Einsteins "Allgemeine Relativitätstheorie". Beidemal blieb das Erdbeben, infolge heftigen Gewitters, unbemerkt. Der Traktat war das Selbstgespräch eines im tiefsten aufgestörten Denkers, dem selbst das Allgemeingut der Umgangssprache genommen schien. Es mutete wie das Werk eines unsteten Geistes an, eines rastlos Umhergetriebenen, aus den Wurzeln Gerissenen. Und wo man zu fragen versucht, welches Schicksal, welcher verzweifelte Kampf diese Sprache des Nichts und des Abgrunds eingegeben haben? Nichts von alledem. Er war ein Millionär. Ludwig Wittgenstein, 1889 geboren, stammte aus einer der vermögendsten Familien Österreichs. Selten war einem bedeutenden Menschen, von der Wiege an, ein so großes Erbe an Reichtum und Kultur mitgegeben, selten ein Leben so gesichert. Er hatte seine Millionen buchstäblich verschenkt. Er verzichtete auf sein Vermögen. Nicht in der Nachfolge des Heiligen Franziskus oder Tolstois, sondern, weil ihn das Geld am Denken hinderte. Er wurde Gärtnergehilfe im Kloster. Dann bildete er sich zum Lehrer aus und unterrichtete mittellos an Volksschulen in winzigen Dorfnestern. Er war in mancher Hinsicht zum Lehrer geboren: Er wußte die Kinder - wie später seine Universitätshörer - in Bann zu ziehen. Aber es fehlte ihm an Geduld und Geschick im Umgang mit den unbegabten und verständnislosen Eltern. Er gab den Lehrerberuf auf. Er versuchte sich an mancherlei; immer mit aufflammenden Eifer, der bald wieder erlosch. Er baute ein Stadtpalais - nicht für sich - und jedes Fenster, jede Tür, jeder Riegel war mit der gleichen Genauigkeit ausgearbeitet wie später seine philosophischen Formulierungen. Er modellierte eine wenig; er lernte die Klarinette spielen - und trug übrigens das Instrument in einem alten Strumpf mit sich. Der Millionär hielt nichts auf seine äußere Erscheinung und lief in abgetragenen Kleidern mit offenem Hemd umher. Er wollte im Denken nicht behindert sein. In Norwegen, in den Bergen über dem Fjord hatte er eine kleine Blockhütte erworben, um an seinem Buch zu schreiben. Aber was war die schroffe Einsamkeit der Landschaft gegen die unermeßliche Verlassenheit eines Denkers, der mit der Feststellung beginnt: "Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen," und: "Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen". Ein befremdender Anfang. Er schneidet sich gewissermaßen selbst das Wort ab. "Denn im Wort", sagt er, "in der Sprache muß die Grenze gezogen werden. Und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein." Wie kam er zur Philosophie? Den äußeren Anstoß gab wohl die Begegnung mit Bertrand Russel: Der große englische Philosoph, der jetzt sein 84. Lebensjahr vollendet hat, erzählte über seine Freundschaft mit Wittgenstein: Bertrand Russel: Wittgenstein wollte ursprünglich Ingenieur werden und war deshalb nach Manchester gegangen. Zur Ausbildung eines Ingenieurs gehört die Mathematik. Und aus diesem Grunde begann sich Wittgenstein für die Grundlagen der Mathematik zu interessieren. Er erkundigte sich in Manchester, ob es ein solches Fach gäbe und wer darin arbeitete: Man wies ihn an mich - und Wittgenstein kam nach Cambridge. Er war ein merkwürdiger Mensch, dessen Einfälle mir verschroben vorkamen, so, daß es mir ein ganze Trimester nicht klar wurde, ob er Genie war oder nur ein Sonderling. Am Schluß des ersten Trimesters in Cambridge erschien er bei mir und fragte: "Möchten sie mir bitte sagen, ob ich ein kompletter Idiot bin oder nicht?" Ich gab zur Antwort: "Mein lieber, das kann ich ihnen nicht so ohne weiteres sagen. Wie kommen sie eigentlich darauf?" Er erklärte mir: "Wenn ich ein kompletter Idiot bin, werde ich Aviatiker, wenn nicht werde ich Philosoph." Ich gab ihm den Rat, während der Ferien etwas über ein philosophisches Thema zu schreiben. Dann könnte ich ihm Bescheid geben, ob er ein Idiot sei oder nicht. Zu Beginn des nächsten Trimesters brachte er mir seine Arbeit. Ich las einen Satz - nicht mehr - und sagte zu ihm: "Nein, sie dürfen nicht Aviatiker werden!" Er wurde es auch nicht. Der Umgang mit Wittgenstein war nicht leicht: Er kam manchmal um Mitternacht in meine Wohnung und ging stundenlang auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Er erklärte beim Eintreten, wenn er von mir weggehe, werde er sich umbringen. So schläfrig ich war, wegschicken wollte ich ihn nicht. Eines Abends, als er ein, zwei Stunden kein Wort gesprochen hatte, brach ich das Schweigen mit der Frage: "Wittgenstein, worüber denkst du nach, über Logik oder über deine Sünden?" "Beides," antwortete er - und verfiel wieder ins Schweigen. Im Ersten Weltkrieg diente er in der österreichischen Armee und wurde von den Italienern gefangen - zwei Tage nach dem Waffenstillstand. Er schrieb mir aus Montecassino, wo er interniert war. Zum Glück habe er sein Manuskript bei sich gehabt, als er den Italienern in die Hände fiel. Dieses Manuskript, das dann veröffentlicht wurde - es war der berühmte Tractatus - war an der Front geschrieben. Wittgenstein hatte ein riesiges Vermögen von seinem Vater geerbt, aber weggeschenkt, weil Geld für einen Philosophen nur eine Last sei. Um sich sein Brot zu verdienen, wurde er Dorfschullehrer, in dem kleinen Nest Trattenbach und von dort schrieb er mir ganz unglücklich: "Die Trattenbacher sind schlechte Menschen." Ich schrieb zurück: "Alle Menschen sind schlecht," worauf er antwortete: "Stimmt, aber die Menschen in Trattenbach sind schlechter als anderswo." Ich erwiderte darauf, daß sich mein logischer Sinn gegen eine solche Behauptung sträubte. Und dabei ließ er es bewenden - bis er übersiedelte und durch den Ortswechsel die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschen näher kennenlernte. In späteren Jahren war er Professor für Philosophie in Cambridge; und die meisten Cambridger und Oxforder Philosophen wurden seine Schüler. Mich selbst beeinflußten seine früheren Lehren stark. Aber mit der Zeit gingen unsere Ansichten immer mehr auseinander. Später sah ich ihn kaum noch, aber zur Zeit unserer Bekanntschaft war er eine ungemein eindrucksvolle Persönlichkeit: Ein Mensch von einer inneren Ruhe, einem Scharfsinn und einer geistigen Lauterkeit, die ihn zu einem Ausnahmefall machten. Sprecher: Er war ein Ausnahmefall, bis zum Sonderbaren, auch als Lehrer. In Cambridge, am Trinity College der Universität, hielt Wittgenstein Seminar: Jeden Freitag von fünf bis sieben vor etwa zwanzig Teilnehmern. Gäste wurden nur mit besonderer Erlaubnis zugelassen, Frauen sah er nicht gern unter seinen Hörern, vielleicht weil er fürchtete, Rücksicht nehmen zu müssen - und Wittgenstein nahm keine Rücksicht - am allerwenigsten auf sich. Zu seinen Hörern zählte damals auch Karl Britten, der Wittgenstein als Lehrer anschaulich schildert: Britten : Wittgenstein war schonungslos in der Diskussion. Es fehlte ihm an Geduld. Für den Neuling in der Philosophie brachte er Geduld auf, aber nicht für jemand, der sich seine eigenen Ansichten gebildet hatte. Er sprach häufig im Stehen, er ging aufgeregt hin und her, schrieb an die Tafel, schlug die Hände vors Gesicht und versank in Nachdenken. Aber besonders charakteristisch war das plötzliche Erstarren des Blicks, wenn er sich langsam etwas Neuem näherte. Oft blieb er stecken, wandte sich hilfesuchend an die Hörer, die ihm doch nicht helfen konnten, ging herum und murmelte verzweifelt: "Ich bin ein Narr, ein Narr." Wir fanden dieses Ringen nicht übertrieben - so übermenschlich schwer erschien uns das Thema. Sprecher: Es gab große Philosophen und Lehrer, von denen Ähnliches erzählt wird. Mathematiker, die in den kühnsten Abstraktionen zu Hause waren und bei einer einfachen Multiplikation steckenblieben. Bei Wittgenstein war es anders: Er rang nicht um die Antwort, sondern um die Frage: "Wir haben nicht das Problem zu analysieren, sondern die Frage nach dem Problem. Wir haben nicht zu fragen: Wie ist das?, sondern: Was heißt es, wenn wir fragen, wie das ist? Was erwarten wir als Antwort und wie können wir wissen, ob wir richtig fragen - wie eine richtige Antwort erwarten, wenn die Frage nicht richtig gestellt ist? Was ist eine Frage? "Was ist," sagt Wittgenstein, "eine Schachfigur?" Der Tractatus beginnt mit den Worten: "Die Welt ist alles, was der Fall ist." Es ist vielleicht einer der schlichtesten Sätze, mit denen jemals eine geistige Tat eingeleitet wurde. Und an anderer Stelle steht die Bemerkung: "Wer mich versteht, wird meine Lehren am Ende als unsinnig erkennen." Es war eines der stolzesten und schmerzlichsten Worte, die je ein Philosoph geschrieben hat. Es schien eine Absage an das philosophische Denken überhaupt: Die Lehre, daß man nicht lehren kann, ja, sogar dies nicht feststellen darf. Professor Karl Britten sagt dazu: Britten: Er stellte seinen Schülern nicht nur die schwersten Aufgaben - er legte denen, die Philosophie studieren wollten, die größten Schwierigkeiten in den Weg. Mir sagte er einmal, ich könne unmöglich die Philosophie ernst nehmen, wenn ich den Doktor der Philosophie machen wolle. Ich müsse den Lehrstoff aufgeben, um nicht das Interesse am Gegenstand zu verlieren. Über das akademische Leben im allgemeinen äußerte er sich mit stärkstem Widerwillen. Ein einziges Mal, sagte er, hatte er an den Tischgesprächen der Professoren teilgenommen und sich die Ohren zugehalten und war weggegangen. "Sie redeten nur, um Recht zu behalten, und es machte ihnen nicht einmal Freude." Er verübelte es mir, daß ich an der philosophischen Jahrestagung teilnahm. Er fand es leichtfertig und oberflächlich. Und damals, bei einer unserer letzten Begegnungen - das ist nun zehn Jahre her - entrang sich ihm der Ausruf: "Was kann EIN Mensch allein tun!" Sprecher: 1953, nach 30 Jahren Schweigen, erschienen aus dem Nachlaß die "Philosophische[n] Untersuchungen", denen jetzt ein zweiter Nachlaßband folgt. Im Vorwort spricht Wittgenstein davon, daß er sich dazu nur entschloß, weil seine Ergebnisse mißverstanden, mehr oder weniger verwässert oder verstümmelt im Umlauf waren. Der Mitherausgeber des Nachlasses, Dr. Rhees, von der Universität in Wales, hat Wittgenstein gut gekannt. Er faßt die Wirkung seiner Lehren so zusammen: Rush Rhees: Manchmal heißt es, nach Wittgenstein sei es das Ziel der Philosophie, sich selbst aufzuheben. Man könne nur philosophieren, um zu der Erkenntnis zu gelangen, daß philosophieren sinnlos ist. Das ist ein Mißverständnis. Für Wittgenstein ist jedes philosophische Problem eine tiefe Beunruhigung, die durch die philosophische Arbeit bewältigt werden soll. Aber er hat die Philosophie niemals nur als Heilmittel angesehen. Diese tiefe Beunruhigung, von der ich eben sprach, steht im natürlichen Zusammenhang mit allem, was man Verstand und Verständigung nennt. Gerade das gibt der philosophischen Arbeit ihre Tiefe, daß sie mit Schwierigkeiten zu tun hat, die in der Sprache, in unseren Verständigungsmitteln wurzeln. So dachte er jedenfalls in späteren Jahren. Man braucht nicht erst nach philosophischen Schwierigkeiten zu schürfen; wer sie nicht selber spürt, taugt nicht zur Philosophie. Das soll kein Tadel sein. Wittgenstein fand, daß die philosophischen Schwierigkeiten in der Sprache liegen; Sprache ist eben das, worin aller Verstand, alle Verständigung, alles, was wir Denken und Einsicht nennen, zustande kommt. Man darf aber nicht glauben, daß die Hindernisse und Widersprüche, auf die das philosophische Denken stürzt, nur in der Mißverständlichkeit und Vieldeutigkeit der Worte und Redewendungen beruhen. Wittgenstein sagte mir einmal, was ihn interessiere, seien die Schwierigkeiten, über die Sokrates, 24 Stunden in tiefes Nachdenken versunken, stehen blieb. Sokrates hat dabei bestimmt nicht über einen unklaren Ausdruck nachgedacht. Es war die tiefe Beunruhigung, und wer sie nicht fühlt, wird wohl kaum an die Philosophie herankommen. Ich sprach einmal mit Wittgenstein über einen berühmten Psychologen von großem Einfluß und meinte, sein Einfluß sei schädlich, schon deshalb, weil sich die Leute leicht mit Scheinlösungen zufrieden gäben. Wittgenstein sagte sehr ernst: "Und dabei ist sein Einfluß nicht so schädlich wie meiner." Solche Anwandlungen bedrückten ihn oft. Aber wenn seine Stimmung umschlug, wußte er, daß sein Einfluß damit nicht erschöpft war. Er war keineswegs der Ansicht, daß es besser wäre, überhaupt keine philosophischen Untersuchungen anzustellen. "Hören sie niemals auf nachzudenken," war oft sein Rat für seine Schüler vor Beginn ihrer beruflichen Laufbahn. "Gerade in unserer Zeit," meinte er, "kann die Philosophie einen zusätzlichen Sinn gewinnen." Heute könnte man eher in der Philosophie suchen, was man in früheren Zeiten in der Dichtung und anderen Kunstformen fand. Nicht als ob Philosophie eine Art Dichtung sein könnte, niemand war schärfer als er gegen jeden Versuch, die trockene Darstellung durch poetischen Anstrich zu ersetzen. Aber gerade solche trockenen Untersuchungen entsprechen einem tiefen Bedürfnis und können eine ähnliche Rolle übernehmen wie früher die Dichtung. Nichts kann dem Geist soviel inneren Halt geben wie die harte Beschäftigung mit den Fragen der Logik. Sprecher: In den Jahrzehnten nach dem Erscheinen seines ersten Werkes war Wittgensteins Lehre in die Welt gedrungen und sein Einfluß ins Unbestimmbare gewachsen. Vielleicht sogar ins Verhängnisvolle. Er wußte es, aber er sagte: "Ich glaube nicht, daß es meine Schuld ist." Denn inzwischen war er über sein erstes Buch hinausgegangen und rückte davon ab, fast schon aus dem Grabe. Er spricht von schweren Irrtümern, die er darin niedergelegt habe. Es klingt schwermütig und hart gegen sich, aber man hört einen Unterton von Erkenntnisfreude heraus, von unbändiger Lust am Fragen und am Denken. Selten treten uns persönliche Züge in seinen Schriften entgegen; der Mensch ist hinter seinem Werk verschwunden. Die Stimme scheint entkörpert, beziehungslos von jenseits des Denkens herzukommen. Und doch muß der Weg, der in solche Einsamkeit führte, irgendwo begonnen haben. Er schätzte Plato, d.h. den Sokrates, der ein Sonderling und Einzelgänger war - wie er - und Schule gemacht hat - wie er. Er liebte die Bekenntnisse des Heiligen Augustinus und über eine Stelle bei Lichtenberg, die man ihm zeigte, sagte er: "Ja, das könnte ich geschrieben haben." Die verdienstvolle Übersetzerin seiner Bücher, Elisabeth Anscombe, sagte nach Erscheinen des ersten Nachlassbandes in einem Vortrag: Elisabeth Anscombe: Nur ganz wenige Philosophen haben ihn beeinflußt, wenn auch nachhaltig. Mit 16 Jahren las er "Die Welt als Wille und Vorstellung" und fand sie gewaltig. Später nannte er Schopenhauer einen tiefen Denker, aber in Grenzen. Am stärksten wirkte auf ihn Gottlob Frege. Ihn hat er am meisten bewundert. "Der Stil meiner Sätze," sagte er viele Jahre später, "ist erstaunlich stark von Frege beeinflußt." Von allen anderen Philosophen wußte Wittgenstein so gut wie nichts. Manchmal fing er an, sie zu lesen, aber nach ein paar Seiten mußte er es aufgeben. Wenn er einen Philosophen erwähnte, dann immer nur eine bestimmte Stelle, nicht seine Weltanschauung. Bertrand Russell verdankte er viel, namentlich seinen Gesprächen mit ihm, in den Jahren 1911 bis 14. Und Russell wieder sagte von seinen eigenen Vorlesungen über Logistik, 1918: "Sie sollen vor allem gewisse Ideen erklären, die ich meinem Freund und früherem Schüler Ludwig Wittgenstein verdanke." Der Tractatus war damals noch nicht erschienen. Man hört oft, daß Wittgenstein keine Philosophie gelehrt hat, sondern eine Methode, wie man es machen muß. Das stimmt in gewisser Hinsicht nicht. Wenn jemand eine Methode lehrt, muß ein anderer sie erlernen und verbreiten können. Man kann bestenfalls gewisse Kunstgriffe von Wittgenstein lernen, z.B. wenn ein Satz aufgestellt wird, zu fragen: "Zum Unterschied von Was?"; oder zu fragen: "Was wäre, wenn dem nicht so ist?" "Unter welchen Voraussetzungen wird das gesagt und zu wem?" - Das sind nur einige Beispiele von vielen, für die Art der Fragestellung; aber sie alle zusammen bieten keine Gewähr dafür, daß man ein Problem lösen, eine Antwort finden kann. Denn hier wird eben keine Methode gelehrt, nach der sich bestimmen läßt, wann ein solcher Kunstgriff am Platze ist und tiefer führt zum Kern des Problems. Wo immer Wittgenstein sich eines dieser Kunstgriffe bedient, hat es seinen Sinn. Aber er lehrt nicht, wann es Sinn hat, ihn anzuwenden. Sprecher: Wenn Wittgenstein zuweilen selber seinen Einfluß für schädlich hielt, dann zum Teil wohl darum, weil er sah, daß er die Philosophie kopfscheu vor der Sprache machte, bis sie fast verstummte. Es war, als hätte die Philosophie, seit sie sich auf die Sprache nicht mehr verlassen konnte, den Glauben an sich verloren und als rettete sie sich in die Analyse und Kritik der Sprache bis sie in linguistischer Logik fast aufging. "Aber," sagt Wittgensteins Übersetzerin Elisabeth Anscombe: Elisabeth Anscombe: Sprache und Sprachgebrauch sind nicht dasselbe. Der Unterschied zwischen den wesentlichen und den unwesentlichen Eigenschaften eines Ausdrucks: Wesentlich ist an einem Ausdruck, daß man sich seiner bedient, um einen nicht vertrauten Ausdruck zu ersetzen. Was korrekter Sprachgebrauch ist, geht die Philosophie nichts an. Es schadet auch nichts, wenn ich Wörter in ungewöhnlichem Sinn gebrauche, solange es klar ist, was ich mit ihnen meine. Andererseits schärfte er immer ein, sich den Sprachgebrauch eines Wortes genau anzusehen; und das ist nicht leicht. Man läuft dabei Gefahr, zu viel auf das Unwesentliche eines Wortes zu achten, und "das," sagte er einmal, "ist so, als wollte man einen Marine-Offizier nach seinen Armlitzen und Abzeichen beschreiben, statt nach seinen Kommandoaufgaben." Sprecher: Er sprach das berühmte Wort von der "Verhexung unseres Verstandes, durch die Mittel unserer Sprache". Was heißt das anderes als: Laßt euch von den Philosophen nichts vormachen! Jeder Ausdruck darf nur eine Bedeutung haben, die gleiche Bedeutung wie im Alltag, ohne Hintergründe, ohne Umsteigstellen ins Abstrakte, kurz, ohne Metaphysik. Unakademisch, wie er im Denken, im Sprechen und im Schreiben war, sagte er das in dem ihm eigenen Plauderton, in den gleichsam vor sich hin gemurmelten Sätzen, einzelnen numerierten Sätzen, aus denen seine Bücher bestehen. Dieser Tonfall ist leider zu viel nachgeahmt worden und es kam dabei eine peinlich falsch klingende Umgänglichkeit in die Philosophie, so daß viele Leute zu der Frage verleitet wurden: "Und das ist alles?" Vor seinem zweiten Buch steht das Motto: "Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist." Es könnte von Kant sein, aber es ist von Nestroy. War Wittgensteins Philosophie eine Fortschritt? Die Frage kann nicht beantwortet, nicht einmal gestellt werden. Denn sein Werk setzt nirgends ein anderes, früheres voraus. Es setzt nicht einmal einen anderen, früheren Teil von sich selber voraus. Nirgends wird eine Frage vom Standpunkt eines Systems behandelt. "Sie wird," sagt Wittgenstein, "behandelt wie eine Krankheit". Ist es die Aufhebung des Systems, zum System gemacht? Ist es ein endgültiger Verzicht auf die Lösung oder die Erschließung eines neuen Weges? Ein Ende oder ein Beginn? So groß Wittgensteins Einfluß auf die Nachwelt ist, seine Wirkung hat erst eingesetzt. Verhexung des Verstandes. Sein Werk war ein Hexenhammer der Philosophie, eine Teufelsaustreibung der Metaphysik. Die Philosophie ist wieder möglich.