***************************************************************** * * Titel: Metaphysik, Metamathematik, Metasprache Zu Wittgensteins deskriptivem Programm in den Umbruchsjahren Autor: Clemens Sedmak, Innsbruck Dateiname: 09-1-97.TXT Dateilänge: 35 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 1/97, Datei: 09-1-97.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, R. Raatzsch, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1997 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** Metaphysik, Metamathematik, Metasprache Zu Wittgensteins deskriptivem Programm in den Umbruchsjahren Clemens Sedmak, Innsbruck (1) "Wir können beruhigt sein: Genügend Dissertationen werden sich der Fragen bemächtigen, die eine Rekonstruktion der Spätphilosophie im Lichte des jetzt veröffentlichten Manuskripts aufwirft" hatte Jürgen Habermas 1965 nach dem Erscheinen der PB mit dem Spott des Etablierten gegenüber jungphilosophischen Erstinszenierungsversuchen geschrieben.*1* Dieser Spott trifft die nun folgenden Überlegungen umsomehr, als es um sämtliche Manuskripte Wittgensteins gehen soll. Dies soll keine Entschuldigung sein. Dieses paper setzt sich mit dem "mittleren Wittgenstein" auseinander. Über den Begriff des "mittleren Wittgenstein" bzw. das Wort "Umbruchsjahre" läßt sich im Detail streiten*2*, als Arbeitsbegriff kann unter Wittgensteins Umbruchsjahren die Zeitspanne zwischen seiner Wiederaufnahme philosophischer Notizen und der Abfassung des zusammenfassenden Typoskripts 213 ("Big Typescript") verstanden werden. Es handelt sich also um die Jahre 1928-1932/33. Im Folgenden vertrete ich zwei Thesen: Wittgensteins konsequente Ablehnung von Metaphysik hängt mit seinem Kalkülprinzip zusammen, das sich in den Umbruchsjahren durchsetzt und in dieser Zeit auch seine bemerkenswerte Zurückweisung von Metaebenen im Bereich der Sprache und der Mathematik miteinander verklammert (I); dieses "antimetaphysische" Kalkülprinzip hat zur Ausbildung von Wittgensteins deskriptivem Programm geführt und kann damit als Bindeglied in der Philosophie Wittgensteins verstanden werden (II). (2) In den frühen 1930er Jahren hatte Wittgenstein ein ausgesprochen kämpferisches antimetaphyisches Programm verfochten ("Wir jagen die Metaphysik aus all ihren Schlupfwinkeln hervor!"; MS 110: 194) und mit einer konsequenten Ablehnung sämtlicher Metaebenen im Bereich der Mathematik, Sprache, Philosophie, des Regelbegriffs und der Logik verbunden. Dieses nachhaltige Nein zu Metainstanzen fehlt in dieser Form in der Spätphilosophie*3* und darf daher als charakteristisch für die Umbruchsjahre gelten. Die Konsequenz, die Wittgenstein aus dieser Absage an Metaebenen zieht, ist sein "deskriptives Programm", das in den Umbruchsjahren grundgelegt wird. Aus diesem Grund dürfen die frühen 1930er Jahre auch nicht als "Umweg" oder "Irrweg" nach dem trial-and-error Schema gedeutet werden. Wittgensteins deskriptives Programm ist untrennbar mit seiner Ablehnung der Metaphysik verbunden und wird getragen von seinem Kalkülprinzip. Dieses keineswegs revolutionär neue Prinzip wird von Joachim Schulte als "Kontext- oder Sprachspielprinzip" bezeichnet*4* und genetisch mit Freges "Grundlagen der Arithmetik" in Zusammenhang gebracht.*5* Das Prinzip ist simpel: Zum Gelingen sprachlicher Handlungen und für die Sinnhaftigkeit sprachlicher Einheiten ist es notwendig, daß bestimmte Kontextbedingungen gegeben sind. Plastisch drückt dies der Begriff der "Umgebung" ("die Umgebung einer Handlungsweise"; BFGB 44) aus. Sprachliches Handeln ist mit außersprachlichen Kontextbedingungen verbunden: Kann ein Hund Schmerzen heucheln? Man kann ihn eventuell abrichten, in bestimmten Situationen aufzuheulen oder zu hinken. "Aber zum eigentlichen Heucheln fehlte diesem Benehmen noch immer die richtige Umgebung" (PU § 250).*6* Die Umgebung von einem Sinneseindruck ist ausschlaggebend für seine Deutung.*7* Es gibt Freudentränen und Tränen der Trauer, im Fall einer Hochzeit ist zu hoffen, daß die Umgebung für interpretative Entscheidungen eindeutig ist. Außerhalb von Kontexten und erfüllten Kontextbedingungen ist sprachliches Handeln absurd: "Ist es nicht eigentümlich, daß ich nicht soll denken können, es werde bald aufhören zu regnen, -auch ohne die Institution der Sprache und ihre ganze Umgebung?" - Willst du sagen, es ist seltsam, daß du dir diese Worte nicht solltest sagen können und sie MEINEN ohne jene Umgebung?" (PU § 540) Diese Berücksichtigung sprachlicher und außersprachlicher Situationsbedingungen spiegelt eine Weiterführung von Wittgensteins früher Bedeutungstheorie wider: "Der Ausdruck hat nur im Satz Bedeutung" (TLP 3.314) bzw. "Nur im Zusammenhange des Satzes hat ein Name Bedeutung" (TLP 3.3.) bzw. "Ein Zeichen (Wort) hat nur im Satz Bedeutung" (WWK 89). Wittgenstein wird später vom "Lebensteppich" (PU p. 174), dem "Band des Lebens" (PU p. 229), "dem Ganzen" (PU § 23), der "Praxis einer Sprache" (BGM 344) und dem "Weltbild" (ÜG 93-97) sprechen und gewissermaßen immer "holistischer" werden. Für die Umbruchsjahre schlage ich vor, nicht von "Sprachspielprinzip", sondern von "Kalkülprinzip" zu sprechen, redet man doch gerne von der "Kalkülsicht der Sprache"*8*, die Wittgenstein damals hatte und spielt doch der Kalkülbegriff in dieser Zeit eine zentrale (wenn auch heuristische) Rolle: Nicht nur die Mathematik wird von Wittgenstein unter der Rücksicht eines Kalküls betrachtet (MS 110: 10), sondern auch die Grammatik ist nur qua Kalkül interessant (MS 113: 123). Daher wird das Kalkülverständnis auch für die Philosophie erkenntnisleitend (MS 111: 110), die sich mit Kalkülen (sprich: sprachlichen Systemen) zu beschäftigen hat. Wuchterl (1969) hat seine Deutung der Wittgensteinschen Denkentwicklung unter diesen Begriff gestellt und beobachtet eine immer lebendigere Sicht der Sprache, die sich in der Spätphilosophie von einem papierenen Kalkülverständnis und damit einer zu engen Koppelung an die Philosophie der Mathematik entfernt. Wittgenstein, der sich in den Umbruchsjahren mit Philosophie der Mathematik und mit Sprachphilosophie beschäftigt, entnimmt den Kalkülbegriff seinem mathematischen Vokabular: Ein Kalkül ist zuallererst ein System von Regeln. Jeder Kalkül ist vollständig und eine eigene Welt (MS 105: 29). Ändere ich die Regeln eines Kalküls, entsteht ein neuer Kalkül (BT 640). Von Verbesserungen innerhalb eines Kalküls zu sprechen ist daher problematisch. Einen "Überkalkül", der eine Beurteilung von Kalkülen überhaupt liefern kann, lehnt Wittgenstein ab. Denn dies würde einen Standpunkt außerhalb abgrenzbarer Systemeinheiten implizieren und die Möglichkeit, allgemeine Theorien über Regelkontexte aufzustellen, und diese Leistungsfähigkeit gesteht Wittgenstein unserer Sprache (in der Philosophie, in der Mathematik) nicht zu. Wir können nur INNERHALB von Systemen arbeiten, aber nicht allgemein von Systemen handeln (MS 105: 33). Der Kalkül ist als ein Arbeitsinstrument, als Teilnehmerkalkül zu verstehen und nicht als Gegenstand einer Theorie. Ein Kalkül ist damit mit dem Operationsbegriff und mit einem Verständnis von Praxis verknüpft. Kalkül=Kalkulieren. Dies wird auch der Angelpunkt von Wittgensteins Metaphysikkritik sein. Das Kalkülprinzip, wie ich es in diesem Zusammenhang formulieren möchte, besagt: Sprachliche Einheiten sind nur sinnvoll im Rahmen eines Kalküls, d.h. im Rahmen eines regelbestimmten sprachlichen Systems (i); Es gibt keinen Metakalkül, der Kalkül als ganzer ist unhintergehbar, zu den Regeln können keine Metaregeln aufgestellt werden, ich kann nicht mit der Sprache "hinter die Sprache zurück" oder "über die Sprache hinaus" (ii).*9* Halten wir fest: Ein Kalkül ist nur sinnvoll als Praxis des Kalkulierens, einen Metakalkül gibt es nicht. Allgemeine Ausführungen über "Welt" und "Sprache" kann es nach Wittgenstein daher nicht geben. Das Selbstverständnis der Metaphysik sieht Wittgenstein nun eben darin, diese "allgemeinen Ausführungen über Welt und Sprache" zu liefern und damit einen Überkalkül zu schaffen, der sich mit den Grenzen der anderen Kalküle beschäftigt (i), und auf diese Weise die Sprache als solche und ganze zu hintergehen (ii). Die Metaphysik würde dem Anspruch nach mit Begriffen operieren, die das Funktionieren des Kalküls überhaupt erst ermöglichen, der Metaphysiker sollte also nicht "mit der Sprache" sondern "über die Sprache" arbeiten"*10*, sich damit vom Gebrauch und der Praxis des Kalkulierens abkoppeln und also einen radikal neuen Kalkül erzeugen.*11* Die Begriffe, mit denen die Metaphysik in den Augen Wittgensteins arbeitet (Beispiele: "Ich, "Welt", "Sein", "Gegenstand")*12*, sind (a) "zu groß", (b) nicht in der Praxis verankert. (a) Sie sind "zu groß"*13*: Wir können hier keine Fehler mehr machen; es lassen sich zu diesen Sätzen keine Alternativen mehr bilden. Denn: Welche Art von Satz ist ein metaphysischer Satz wie "Ich staune über die Existenz der Welt"*14*? Ist es ein Erfahrungssatz (MS 114: 184)? Kann dieser Satz wahr oder falsch sein? Ist dieser Satz eine Hypothese, die durch die Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden kann? Anders ausgedrückt: Gibt es Alternativen zu diesem Satz? Wittgenstein verneint all diese Fragen, weist aus, daß wir keine Kriterien der Unterscheidung von "wahren" und "falschen" metaphysischen Sätzen haben und kommt aus diesem Grund zum Schluß, daß das kritikimmune Unternehmen der Metaphysik aus grammatischen Gründen unhaltbar und aus sprachanalytischen Gründen gefährlich sei. Bedingung für die Sinnhaftigkeit eines Satzes ist ja, daß es Alternativen zu diesem Satz gibt; die Selbstverständlichkeit der Welt drückt sich eben in dem Umstand aus, daß die Sprache nur sie bedeuten kann; es ist keine Sprache denkbar, die nicht diese Welt darstellt (MS 108: 49). Nur was wir uns auch anders vorstellen können, kann die Sprache sagen; was zum Wesen der Welt gehört, kann die Sprache nicht sagen (MS 114: 40). Die Metaphysik arbeitet also mit dem Anspruch einer "radikalen Grammatik", die unsere Sprache nicht leisten kann. Metaphysische Äußerungen fallen unter das Verdikt der Unsinnigkeit. (b) "Sie sind nicht in der Praxis verankert": Die Wörter, mit denen die Metaphysik umgeht, werden in einem "ultraphysischen Sinn" (MS 114:18; BT 430) angewandt*15*. Daher kann der Kalkül nicht mehr mit diesen Wörtern arbeiten, da die entsprechenden Regeln des Gebrauchs mißachtet werden. Die einzelnen Elemente eines Kalküls haben ja nur über die Operationen Sinn, eine Regel, die niemals befolgt wird, ein Spiel, das nie gespielt wird, ein Kalkül, mit dem nie operiert wird, sind unbrauchbar.*16* Die Metaphysik, die am Philosophenschreibtisch entsteht, geht an der konstitutiven Funktion der sprachlichen Operationen vorbei. Man kann nicht etwas Sprache nennen, was nie angewandt wird (MS 110: 59). Und anwenden heißt: im menschlichen Handlungszusammenhang gebrauchen. Metaphysische Äußerungen vernachlässigen die Kontextbedingungen und setzen eine radikale Grammatik voraus, die die "gemeinsame menschliche Handlungsweise"*17* nicht überbrücken kann. Bekanntermaßen besteht ja der Zugang zu fremden grammatischen Strukturen (klassisches Beispiel: der fremde Stamm)*18* darin, sich auf eine gemeinsame Handlungsweise oder wenigstens gewisse gemeinsame Handlungsstrukturen zu berufen. Da metaphysische Äußerungen aber nicht im Lebenskontext verankert sind, bleibt diese Türe der Verständigung verschlossen. Die Begegnung Wittgensteins mit dem Stamm der Metaphysiker scheitert eben daran, daß die Metaphysiker keine Zeremonien, Riten und Brauchtümer pflegen. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind bekannt und in dem Stichwort von der "theoriefreien Philosophie" zusammenzufassen.*19* Das Kalkülprinzip läßt nur ein Handeln innerhalb von Kalkülen bzw. ein Beschreiben von Kalkülen ohne Metaanspruch zu. (3) Das Kalkülprinzip, mit dem Wittgenstein seine Ablehnung von Metaebenen begründet hat, stellt, wie nun bereits angedeutet, auch das Bindeglied zwischen seiner Philosophie der Mathematik und seiner Philosophie der Sprache dar. Wenn man sich die Texte aus den Umbruchsjahren ansieht, wird man zunächst den Eindruck gewinnen, es handele sich um "two sets of problems", die nebeneinander behandelt werden, da sich Überlegungen zum Unendlichen in der Mathematik, zur Zahl Pi, zum mathematischen Beweis neben und zwischen Untersuchungen zur Umgangssprache, zur Bedeutungstheorie, zur kulturtheoretischen Grundlegung der Sprache finden. Dennoch läßt sich auf den zweiten Blick über den Kalkülbegriff, der als System in die Mathematik und von dort als Satzsystem in die Sprachphilosophie Einzug genommen hat, eine Verklammerung herstellen. Das Kalkülprinzip ist es auch, das Fragestellungen und Begriffe der Mathematik in die Sprachphilosophie überführen*20* sowie Methoden der Sprachphilosophie in der Mathematik anwenden*21* läßt. Damit werden konstruktive Elemente einer operativ verstandenen Mathematik über den Kalkülbegriff als konventionalistische Bausteine in die Sprachphilosophie transferiert. Interessanterweise führt Wittgenstein die Begriffe "Logik" und "Grammatik" in den frühen 1930er Jahren parallel. Das Kalkülprinzip trägt auch konsequent zur Ablehnung von "Metamathematik" und "Metaphilosophie" bei: Wittgenstein betrachtet mathematische Systeme als "eine Welt" (MS 105: 29); ich kann nur INNERHALB eines Systems reden, nicht allgemein VON Systemen (MS 105: 33), jeder Satz der Mathematik muß einem Kalkül angehören (BT 637). Da es einen Metakalkül nicht geben kann, weil der Kalkül den Kalkül voraussetzt (MS 107: 209), kann in der Mathematik alles "auf einer Stufe" behandelt werden (MS 106: 163), in der Mathematik gibt es kein "Noch-nicht"*22*, keine prinzipiell unbeantwortbaren Fragen (MS 106: 139), Wirklichkeit und Möglichkeit liegen auf einer Ebene (MS 113: 196). Es gibt keine Metamathematik, weil die Mathematik - eben weil sie ein Kalkül ist - nur "Unwesentliches" ausdrücken kann (MS 110: 10). Operationen mit den logischen Kalkülen können keine Wahrheiten ÜBER die Mathematik zutage fördern (MS 110: 11). Und eben der Operationsbegriff und damit ein Verständnis von Praxis ist grundlegend für die Mathematik: Die Mathematik besteht aus Rechnungen, die Mathematik besteht ganz aus Rechnungen (MS 111: 62). Es gibt auch keine "führenden Probleme der Logik" (MS 110: 189), so wie es keine Metaphysik gibt, so gibt es keine Metalogik (MS 110: 189). Wie alle Kalküle sich auf einer Ebene befinden (MS 113: 11), so ist jede Sprache, was sie ist, und eine andere Sprache ist nicht diese Sprache (MS 112: 204). Die Mathematik erfährt damit bei Wittgenstein eine pragmatische Wende und erhält eine anthropozentrische Note. Die Philosophie hat es gemäß dem Kalkülprinzip ebenfalls mit Kalkülen, nämlich mit regelgeleiteten Sprachkontexten zu tun, nicht mit einem ausgezeichneten Kalkül und nicht mit einem Kalkül vor allen Kalkülen (MS 111: 110) - wäre dem nicht so, gäbe es eine Metaphilosophie und die kann es aufgrund des Kalkülprinzips nicht geben. Wittgenstein weist darauf hin, daß man alles, was er zu sagen habe, so darstellen könnte, daß dies als ein leitender Gedanke erschiene (ibd). Die Philosophie verfügt nicht über eine Metasprache, die der Praxis gegenüber entpflichtet wäre. Und über eine Rede von "Metapraxis" würde Wittgenstein bestenfalls lächeln. Die Philosophie ist daher ein deskriptives Unternehmen, ein klärendes Handeln auf der Ebene der Grammatik, sie schafft eine "übersichtliche Darstellung" des Gegebenen und läßt alles unverändert.*23* Im Hintergrund steht hier augenscheinlich die Idee des Kalküls, dessen Regeln übersichtlich und klar sind. Aufgabe der Philosophie als "Verwalterin der Grammatik" ist es, die grammatischen Regeln nach Vorbild eines Kalküls übersichtlich und klar darzustellen. Das illustrierende Beispiel UND Modell, das an der Schnittstelle von Philosophie der Mathematik und Sprachphilosophie von Wittgenstein gegeben wird, ist das Schachspiel, das nach Regeln funktioniert und bei dem es keine "Metaschachsteine" gibt. Wenn Wittgenstein von "Kalkül" spricht, kann es hilfreich sein, an das Schachspiel zu denken, das einen kulturellen Aspekt ("Spielen") mit dem mathematisch relevanten Aspekt ("Klare Regeln") verbindet. (4) Die Ablehnung der Metaebenen über das Kalkülprinzip, die sich in den Umbruchsjahren am nachhaltigsten manifestieren, hat gravierende Auswirkungen und eine nicht zu unterschätzende Reichweite: Die Konsequenzen lassen sich über die Stichwörter "Metaregel" (a), "Metalogik" (b) und "Metasprache" (c) andeuten. Diese Stichwörter stehen zugleich für Wittgensteins "praxeologischen Fundamentalismus" (Haller), für Wittgensteins Bedeutungstheorie und für Wittgensteins Hinwendung zur Umgangssprache. (a) Der Ausdruck einer allgemeinen Regel ist auch ein Zeichen, das in einem Kalkül verwendet werden muß (MS 109: 221) und nicht etwa eine "Regel über Regeln". Hinter die Regeln kann man nicht kommen, weil es kein Dahinter gibt (MS 111:70). Eine Regel, um der Regel eines Kalküls zu folgen, gibt es nicht. Die Begründung von Regeln findet ein Ende. Und dieses Ende ist die Praxis. Der Punkt, an dem ich sage "So handle ich eben"*24* oder "Dieses Sprachspiel wird gespielt"*25* oder "So rechnet man"*26* oder "So ist das menschliche Leben"*27* macht jeden weiteren (gerade auch: metaphysischen) Begründungsversuch zunichte. Die in ÜG 34 aufgeworfene Frage, ob man denn auch dem Lehrer, der uns das Regelfolgen beibringt, trauen könne, unterstreicht die Absurdität dieses Verlangens: "Kann man aus einer Regel ersehen, unter welchen Umständen ein Irrtum in der Verwendung der Rechenregeln logisch ausgeschlossen ist? Was nützt uns so eine Regel? Könnten wir uns bei ihrer Anwendung nicht wieder irren?"*28* Insofern es sich um eine Regel handelt und insofern diese Regel im Handeln grundgelegt ist, ist sie ein Letztes und nicht weiter begründbar.*29* Damit wird der innere Zusammenhang von Praxis und dem Kalkülprinzip für die Fundierung des Regelfolgens konstitutiv. (b) Wittgenstein fühlte sich durchaus nicht immer von der Idee einer Metaebene unversucht. Stephen Hilmy weist auf Manuskriptstellen aus den 1930er Jahren hin, in denen Wittgenstein von seiner früheren Versuchung, eine Metalogik anzunehmen, spricht.*30* Unter Metalogik versteht Wittgenstein in den Umbruchsjahren die Bestrebung, die Bedeutung psychologischer Begriffe wie "Verstehen", "Meinen", "Beabsichtigen" ausschließlich auf psychische Phänomene zurückzuführen und damit eine psychologische Hintertür zu einer Bühne einzusetzen, die auf die Sprache im Zuschauerraum hinabblicken läßt. Diese Metaebene macht Konstellationen wie "das Verstehen verstehen", "das Deuten deuten", "das Meinen meinen" möglich.*31* Einem infiniten Regreß sind damit ebenso Tür und Tor geöffnet wie einer privaten Sprache. Um dies zu vermeiden, verklammert Wittgenstein sprachliches (gemeinschaftliches) Handeln und psychische Ausdrücke: Das Verstehen fängt erst mit dem Satz an - dadurch hat man die Bedeutung des Wortes "Verstehen" auf ein bestimmtes Gebiet festgelegt. Es gibt keine Metalogik, auch das Wort "Verstehen" ist nicht metalogisch (MS 114: 62).*32* Wiederum federt das öffentliche Handeln die Gefahr privater Metainstanzen ("Nur ich kann wissen, ob ich wirklich Schmerzen habe")*33* ab. Mit der These "Man hat nicht die Sprache und daneben die Gedanken" kann Wittgenstein seine pragmatische Bedeutungstheorie fundieren, den sprachlichen Umgang mit psychischen Phänomenen vergemeinschaften sowie die Installierung einer privatsprachlichen Metaebene*34* und einer psychologischen Hintergehbarkeit der Sprache*35* vermeiden. (c) Eine derartige Hintergehbarkeit hätte eine "phänomenologische Basissprache" nahegelegt, von der Wittgenstein Anfang der 1930er Jahre gesprochen hatte und die die unmittelbare Erfahrung exakt abbilden sollte. Dies war wohl mit Wittgensteins Versuchungen gemeint, eine Metalogik anzunehmen. Die diesbezüglichen Thesen Jaakko Hintikkas sind seit den 1980er Jahren bekannt.*36* Das Projekt einer phänomenologischen Basissprache, die geeignet ist, Sinnesdaten adäquat wiederzugeben, kann auch als Projekt einer Metasprache verstanden werden, die die Sprachspiele der Umgangssprache transzendiert und sogar eine ausgezeichnete Instanz schafft, die unseren normalen Sprachgebrauch kritisiert. Das Scheitern einer solchen Basissprache kann mit dem Scheitern von Metaebenen ineins gesetzt werden. Entscheidend bei diesem Scheitern war ja die Einsicht, daß unsere Umgangssprache für unsere Zwecke hinreichend exakt ist und daß auch gewisse Begriffe in der Mathematik ("Zahl", "Kalkül") unscharfe Bedeutungsränder aufweisen. Damit kann der Zusammenhang zwischen "Ablehnung der Metaebenen" und "Hinwendung zur Umgangssprache" nicht unterschätzt werden. (5) Wittgenstein lehnt also die Metaphysik mit Berufung auf sein Kalkülprinzip ab. Über dieses Prinzip kann er sich auch gegen eine Meta- (und damit theorieerzeugende) Philosophie und die Möglichkeit einer Metamathematik wenden. Die Fundierung von Kalkülen in der Praxis bringt die Ablehnung von Metaregel, Metasprache und Metalogik. Das Kalkülprinzip wird Wittgenstein später zum Sprachspielprinzip unter zunehmender Berücksichtung außersprachlicher Kontextbedingungen ausbauen. Sein deskriptives Programm ist jedoch bereits grundgelegt: Die Mathematik wird von Wittgenstein in der weiteren Folge konstruktiv verstanden, das Erbe des Kalkülgedankens, die Idee des Regelfolgens, ist im menschlichen Handeln grundgelegt, unsere Sprache ist prinzipiell als Teilnehmersprache zu verstehen, die Umgangssprache fungiert als oberstes Korrektiv, die Philosophie gestaltet sich als grammatisches Unternehmen mit therapeutischem Auftrag. Bereits Hilmy (1987) hat hervorgehoben, daß sich Wittgensteins "Denkweise" bereits in den Umbruchsjahren herausgebildet hat; dem ist auch von dieser Forschungsperspektive zuzustimmen. Es kommt nicht von ungefähr, daß wesentliche Teile der PU auf diese Zeit zurückgehen.*37* Die Demontierung säntlicher Metaebenen in den Umbruchsjahren hat Wittgenstein befähigt, sorgsam die Problemlandschaft "kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen"*38* Aus der Vogelperspektive wäre das Ergebnis anders ausgefallen - man möchte sagen: it wouldn't be him. LITERATUR Die Werke Wittgensteins werden in der gebräuchlichen Weise zitiert. D. Davidson, Der Mythos des Subjektiven. Reclam. Stuttgart 1993 R. Haller, Die gemeinsame menschliche Handlungsweise. In: R. Haller (hg), Sprache und Erkenntnis als soziale Tatsache. Wien 1981, pp. 57-68 M. Hark, Beyond the Inner and the Outer. Wittgenstein's Philosophy of Psychology. Kluwer. Doordrecht 1990 S. Hilmy, The Later Wittgenstein. Blackwell. Oxford 1987 J. Hintikka, Die Wende der Philosophie. Wittgenstein's New Logic of 1928. Akten des Wittgenstein Symposiums. Wien 1988, pp 380-396 J. Hintikka, Wittgenstein's Annus Mirabilis: 1929. Akten des Wittgenstein Symposiums. Wien 1986, pp. 437-447 S. Kripke, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. FfM 1986 V. Richter, Untersuchungen zur operativen Logik der Gegenwart. Freiburg i.Br. 1965 W. Röd, Der vorgebliche Mißbrauch der Sprache in metaphysischen Aussagen. In: Haller (hg) 1981, 84-96 W. Röd, Wittgensteins Bedeutungslehre und die Idee einer theoriefreien Philosophie. Acta Universitatis Nicolai Copernici, Filologia Germanska X, Nauki Humanistyczno-Spoleczne, Zeszyt 1987 J. Schulte, Chor und Gesetz. Wittgenstein im Kontext. FfM 1990 J. Schulte, Wittgenstein. Eine Einführung. Reclam. Stuttgart 1992 J. Schulte, Nachwort zu: Davidson 1993 A. Siitonen, On the operational interpretation of logic and mathematics in the Tractatus. Akten des Wittgenstein Symposiums. Wien 1989, 411-413 K. Wuchterl, Struktur und Sprachspiel bei Wittgenstein. FfM 1969 Fußnoten: 1 FAZ v. 20.2.1965; zugleich: Wittgensteins Rückkehr. in: Politisch-Philosophische Profile, FfM 1971, 141-146, 145. 2 Problemherde: Inwieweit fließt die "lost decade" (1918-1928) in die Bewertung der Umbruchsjahre ein? Suggeriert der Begriff "Umbruchsjahre" bereits Diskontinuität in Wittgensteins Werk, eine Diskontinuität, die heute immer präziser und differenzierter gesehen wird (Hintikka, Hilmy, Hark)? Legt man sich mit der Verwendung der Rede vom "mittleren Wittgenstein" bereits auf ein Modell seiner Denkentwicklung fest? 3 In den PU beispielsweise wird das Wort "metaphysisch" nur zweimal verwendet (§§ 58, 116). 4 Schulte (1990), 147. 5 ibd., 146. Auch im TLP hat Wittgenstein zweimal auf dieses Prinzip angespielt (3.3., 3.314). 6 siehe auch LSPP §§ 861f; vgl. Schulte (1990), 149. 7 vgl. PU § 539. 8 So bei Schulte (1992), Wuchterl (1969). 9 Zur Entwicklung des Kalkülprinzips ist anzumerken, daß sich der Gedanke der Kontextverwiesenheit sprachlicher Einheiten inhaltlich nicht mehr weiterverschoben hat, sondern nur in der Komplexität (außersprachliche Kontextbedingungen rücken ins Blickfeld) und in der Akzentsetzung (kulturtheoretische Momente treten in den Vordergrund) weitergeführt wurde. Für Wittgensteins Auffassung vom Funktionieren der Sprache hat diese "Kalkülperspektive" gravierende Konsequenzen: Man kann nicht von "verschiedenen Auffassungen der Sprache" reden (MS 108: 246), ich kann mit der Sprache nicht aus der Sprache heraus (MS 108: 103), wir können nicht weiter reden, als unsere Sprache reicht (MS 110: 261), die gesprochene Sprache kann nur durch die gesprochene Sprache erklärt werden, darum kann man DIE Sprache nicht erklären (MS 108: 277). Die Verwendung der Sprache läßt sich nicht rechtfertigen (MS 109: 225), zur Rechtfertigung der Verwendung der Sprache muß ich wieder die Sprache verwenden. Allgemeine Ausführungen über Welt und Sprache gibt es nicht (MS 110: 210f). 10 Man denke an das Bild von den leerlaufenden Rädern (PU § 132). 11 "Im Sinne der angedeuteten Überlegungen Wittgensteins, die darauf hinauslaufen, daß wir keine neuen Regeln für Sprachspiele einführen können, die nicht im Zusammenhang mit bereits vertrauten Sprachspielen entwickelt würden, wäre im Hinblick auf metaphysische Äußerungen zu sagen, daß sie Niederschlag eines Versuchs seien, ein absolut neues Sprachspiel zu begründen, dieser Versuch aber zum Scheitern verurteilt ist und daher jede metaphysische Äußerung ... notwendig sinnlos ist. Wenn wir zum Beispiel ein Sprachspiel einführen wollten, innerhalb dessen die Wendung 'Existenz der Welt' vorkommt, so könnten wir dies nur auf Grund neuer Regeln, die wir aber letztlich im Zusammenhang mit vertrauten Sprachspielen festlegen müßten. Alle vertrauten Sprachspiele betreffen aber Tatsachen der Welt, niemals die Existenz der Welt selbst..." (Röd 1981, 95). Röd weist an dieser Stelle auch auf Hintikka (1977) hin, der die These von der Unüberschreitbarkeit der Grenzen der Sprache scharf kritisiert hatte: Da sich Sprachen, die sich grundsätzlich von der Alltagssprache unterscheiden, DE FACTO aufbauen lassen, ist die Möglichkeit, die Grenzen der gewöhnlichen Sprache zu überschreiten, anzuerkennen. 12 vgl. PU § 116. Man möge an dieser Stelle, an die "mystische Lesart" des TLP denken, der die Grenzen von Welt nicht ziehen läßt - TLP 5.6 ff, 6.41, 6.45. 13 Man mag an diesem Punkt versucht sein, an Kants Bedenken gegenüber einer Rede von "Welt", "Seele" und "Gott" zu denken und an den diesbezüglich eingeklagten Erfahrungsbezug erinnern; vgl. auch ÜG 51. 14 vgl. VE 14ff. An diesem Punkt kann eine Parallele zur Philosophie der Mathematik hergestellt werden: "Ist also die HYPOTHESE möglich, daß es alle die Dinge in unserer Umgebung nicht gibt? Wäre sie nicht wie die, daß wir uns in allen Rechnungen verrechnet haben" (ÜG 55). 15 ebenfalls PU § 116. 16 "Wird ein Zeichen NICHT GEBRAUCHT, so ist es bedeutungslos" (TLP 3.328). 17 vgl. Haller (1981). 18 Dies ist die "Ursituation der neueren analytischen Philosophie" (Schulte 1993, 112), die den Philosophen zum Ethnologen, das Projekt einer Bedeutungstheorie zu einer Expedition ins Reich der gavagais macht. 19 vgl. Röd (1987). 20 Nicht nur der System- und der Regelbegriff, sondern auch der Kalkülbegriff selbst werden von Wittgenstein aus der Mathematik in die Sprachphilosophie übergeführt. 21 Beispielsweise wählt Wittgenstein einen sprachanalytischen Zugang zum Problem des "Unendlichen" (was bedeutet dieses Wort?) und zur Frage nach der Allgemeinheit mathematischer Sätze. 22 vgl. TLP 2.012: "In der Logik ist nichts zufällig"; 5.552: "Die Logik ist VOR jeder Erfahrung"; 6.1261: "In der Logik sind Prozeß und Resultat äquivalent. (Darum keine Überraschung.)"; zum operativen Charakter der Logik im TLP siehe Richter (1965), Siitonen (1989). 23 Dieser Gedanke ist ja entscheidend für Wittgensteins BFGB geworden. Eine Metakultur gibt es nicht, an der die anderen Kulturen gemessen werden könnten. Dieser Verzicht auf Vergleichsambitionen ("die Kultur der Azteken in Peru ist hochstehender als die Kultur der Cisena in Mozambique") bringt einen Rückzug auf ein Beschreiben des Beobachteten mit sich. Diese Beobachtungen können geordnet, "Übersichtlich dargestellt" werden. 24 PU § 217. 25 PU § 654. 26 ÜG 39. 27 BFGB 31. 28 ÜG 26. 29 Darin liegt m.E. die intellektuelle Überanstrengung von Kripkes "Hyperskeptizismus" (Kripke 1986). Kripke fordert eine Begründung ein, die innerhalb des Kalkülprinzips nicht mehr gegeben werden kann. Kripke vindiziert eine Metaebene, die Wittgenstein in den Umbruchsjahren in sämtlichen Facetten demontiert hat. Wittgensteins "ÜG" kann nur auf diesem Hintergrund gelesen werden. 30 Hilmy 1987, 42f. Nach Hilmy bezieht sich die "Stunde der Versuchung", auf die Wittgenstein anspielt, auf die Zeit VOR 1929, eventuell durchaus auf den TLP. 31 vgl. die Diskussionsgrundlage im Abschnitt über das Denken in PU §§ 316-362. 32 Am eindrucksvollen Beispiel des taubstummen Mr. Ballard hat Wittgenstein dies illustriert (PU § 342). 33 PU § 246. 34 In diesem Punkt kann auch Wittgensteins steter Kampf gegen den Solipsismus mit seiner Ablehnung der Metaebenen in Zusammenhang gebracht werden. 35 Wittgenstein hat sich in dieser Frage explizit von Ogden und Richards, aber auch von W. James und Russell abgesetzt. 36 vgl. Hintikka (1986,1988). 37 vgl. Hark (1990), 15-24; Hilmy (1987), 35f. 38 PU, Vorwort.