***************************************************************** * * Titel: "Ich möchte nicht mit meiner Schrift Andern das Denken." (PU, Vorwort.) Autor: Eike *von Savigny* (Universität Bielefeld) Dateiname: 07-2-97.TXT Dateilänge: 25 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 2/97, Datei: 07-2-97.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, R. Raatzsch, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1997 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** (1) Von einigen anderen Bemühungen um die "Philosophischen Untersuchungen" abgesehen, hat man auch die beiden folgenden Einstellungen wohl auseinanderzuhalten: Da gibt es einerseits die von mir respektierte (nicht akzeptierte!) Ansicht, es müsse das Werk aus seiner unkonventionellen Form heraus verstanden, der Anspruch auf ein Philosophieren ohne Thesen ernst genommen, der Warnung vor dem Streben nach theoretischer Vereinheitlichung gefolgt werden. Andererseits gibt es die Einbildung, die "Philosophischen Untersuchungen" eigneten sich zur Bibel derjenigen, die das Abweichen von konventionellen Regeln mit Unordnung verwechseln, die in Begründungen den Unterschied zwischen These und Argument abschaffen wollen, die den Verzicht auf Konsequenz lustvoll in Widersprüchen ausleben. (2) Der Unterschied zwischen den beiden Einstellungen läßt sich auch durch die Erinnerung daran benennen, daß der Autor der "Philosophischen Untersuchungen" mit beneidenswerter Klarheit, Strenge und Sorgfalt argumentiert. (3) Da mir Wittgensteins Kunst, die Geographie eines Gebiets durch ein Album von Landschaftsskizzen deutlich zu machen, nicht zu Gebote steht, werde ich auf Ernst Michael Langes Polemik *1* nur so antworten können, daß ich versuche, eine Ordnung herzustellen: eine Ordnung zu dem bestimmten Zweck, überhaupt zu einer argumentativen Auseinandersetzung zu kommen; eine von vielen möglichen Ordnungen; nicht DIE Ordnung. Ich gehe in I auf konkrete inhaltliche Fragen der PU-Interpretation ein, in II darauf, ob und wie aus Wittgensteins Verständnis vom Philosophieren etwas dafür folgt, wie man ihn zu interpretieren hat. (4) Auf Kritik an den von mir für unverzichtbar gehaltenen Interpretationsmaximen der Aufmerksamkeit für sprachliche Einzelheiten, der Achtung vor dem Kontext, der hermeneutischen Billigkeit und der Kohärenz antworte ich nicht; ich habe das in Haller-Brandl, Wittgenstein: Eine Neubewertung, Wien 1990, getan, und zwar in Kenntnis der im gleichen Bande veröffentlichten, auf hohem Niveau geübten Kritik von Hans-Johann Glock, die eine sachlich ertragreiche Auseinandersetzung ermöglicht hat. I Konkrete inhaltliche Fragen der Interpretation (5) Gibt es in den PU eine Sprachtheorie? (§§ 12, 13) Lange beläßt im Ungefähren, ob ich dergleichen behaupte, und ich kann ihm das nicht verargen, weil Skepsis gegenüber der Forderung, Texten von intelligenten Leuten Konsistenz zu unterstellen, für das folgende exegetische Problem unempfindlich macht: Wittgenstein hat nicht nur eine Unmenge von Einzelheiten im Gebrauch von konkreten sprachlichen Ausdrücken zusammengetragen; sondern er hat gelegentlich auch Verallgemeinerungen hingeschrieben oder sehr, sehr nahe gelegt, die zusammengenommen nicht mit jedem beliebigen Bild von der Sprache verträglich sind. Für die Formulierungen dieser Verallgemeinerungen hat er Wörter eigener Prägung oder eigener Verwendung benutzt, zum Beispiel "Sprachspiel", "Gebrauch", "Grammatik", "Lebensform"; und er hat unter Benutzung dieser Wörter Zusammenhänge unterstellt, dabei auch mundanere Wörter wie "Sinn", "Bedeutung", "Wort" oder "Satz" benutzend. Solche Zusammenhänge gibt es etwa zwischen Sinn und Verwendung, Gebrauch und Bedeutung, Gebrauch, Verwendung und Sprachspiel, Grammatik und Gebrauch, Sprachspiel und Sprache, Sprachverwendung und Lebensform. In summa lassen diese Zusammenhänge nicht mehr viele Bilder von der Sprache übrig, und man kann schaün, ob eines davon am besten zu dem paßt, was sonst noch in den PU steht. Wenn es ein solches gibt, dann hat Wittgenstein sich darauf festgelegt, falls Äußerungen wie "Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen" (PU 19) nicht bloßes Wortgeklingel sind. Und wenn dann herauskommt, welche Verwechslung hinter der Meinung steht, unabhängig von einer Verwendungssituation könne man Sätze wie "Ich bin hier" oder "Die Rose ist auch im Finstern rot" nicht verstehen (PU 514), spricht das nur für die Interpretation; denn sie unterstellt dem Autor, auf Grund seiner eigenen Vorstellungen einen Fehler diagnostizieren zu können, den er nun einmal gemacht hat. Oder wollte jemand bestreiten, daß man Übersetzungen der beiden Sätze ins Englische auf ihre Korrektheit prüfen kann? Ich habe von Wittgenstein eine höhere Meinung als die, er hätte auf einen solchen Hinweis damit reagiert, die Unterscheidung zwischen Satz- und Äußerungsbedeutung "sei ihm einfach nicht wichtig gewesen" (§ 13); wenn uns die Unterscheidung erst seit der Sprechakttheorie geläufig ist, darf man Wittgenstein wohl unterstellen, er habe sie in der Ausführung seiner therapeutischen Absicht in PU 514 (und anderswo) nicht berücksichtigt. Ich sehe auch keinen Grund für die Annahme, Wittgenstein habe sich um die Folgen seiner Annahmen nicht gekümmert; schließlich hat er etwa beim Weiterdenken seiner Vorstellung von Regeln aus den "Philosophischen Bemerkungen" nicht kläglich gewimmert: "Ich will mich nicht systematisch auslegen", sondern diese Vorstellung gnadenlos auf das Regelparadox festgenagelt und eben deshalb zu einer Alternative gefunden. (6) Was für Sprachspiele haben mit Bedeutungen zu tun? Wittgenstein benutzt das Wort "Sprachspiel" für verschiedenartige Veranstaltungen, wie Lange (§ 15) bemerkt (wofür ihm der Beifall aller Leser der PU und der Benutzer der Konkordanz von Kaal und McKinnon gewiß ist). Die Schilderung solcher Veranstaltungen dient Wittgenstein zu mehr als einem Zweck; wenn er etwas über ihre Nützlichkeit für philosophische Diagnosen und Therapien ausführt, spricht er über die normalen "Sprachspiele mit" gewissen philosophisch tückischen Wörtern. Wenn es um seine Vorstellungen vom Sprechenlernen geht, behandelt er "Spiele, mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlernen", also das "Sprachspiel" im Sinne "einer primitiven Sprache" (PU 7). Aber das ist entschieden uninteressant für eine Interpretation von Wittgensteins Vorstellungen davon, wie sprachliche Ausdrücke dank ihrer Verwendung in Sprachspielen bedeutungsvoll sind (bedeutungsvoll nicht im Sinne von "wichtig" - was Lange dazu in § 14 eingefallen ist, mag er im Rahmen einer sich an den Einzelheiten bewährenden Interpretation erst einmal verständlich machen -, sondern so verstanden, daß die Abbild-Theorie als philosophischer Aberglaube erkennbar wird). Bestimmt das Verhalten von Kleinkindern, die mit dem Wort "Auto" umgehen lernen, die Bedeutung von "Auto"? Was lernen sie in ihrem Lernsprachspiel, wenn nicht das Sprachspiel der kompetenten Sprachbenutzer? Gewiß umfaßt das Autofahren des geübten Autofahrers eine Unmenge von kompetenten Verhaltensweisen; aber doch ganz gewiß nicht die typischen Verhaltensweisen des Fahrschülers. Wäre zu lernen, x zu tun, Bestandteil davon, x zu tun, dann gehörte dazu, daß man lernt, x zu tun, daß man lernt zu lernen, x zu tun. Was das wohl soll. Einzig das Sprachspiel der kompetenten Sprachbenutzer kann für den Gebrauch wesentlich sein, der sprachliche Ausdrücke für Wittgenstein bedeutungsvoll macht. (7) Dasselbe ungläubige Kopfschütteln befällt den Leser, wo unter Berufung auf PU 560 behauptet wird (§ 14), daß Bedeutungen wenigstens teilweise durch Bedeutungserklärungen festgelegt werden. "Teilweise" scheint dabei heißen zu sollen, daß Bedeutungserklärungen ihre Wirkungsmacht jedenfalls bei Mißverständnissen entfalten können. Zwischen hinsichtlich der fraglichen Äußerungen kompetenten Sprachbenutzern wird man durch eine solche Erklärung darüber aufgeklärt, was der Sprecher mit der Äußerung gemeint hat (dazu siehe unten); zwischen Lehrer und hinsichtlich der Äußerung noch nicht kompetentem Schüler ist die Erklärung keine Festlegung, sondern eine zur Nachahmung vorgemachte Lautgestalt oder eine richtige oder falsche Information darüber, welche Bedeutung die Äußerung tatsächlich hat. Die Vorstellung, diese Information sei wesentlich für die Bedeutung (daß also "Bedeutung und Bedeutungserklärung intern zusammenhängen", § 14), kann wohl nur auf einer Wiederholung des augustinischen Mißverständnisses beruhen, wenn Gott die Zukunft wisse, sei diese vorher bestimmt, weil sie nicht anders sein könne, als er sie wisse. (Was in § 14 die Kritik an meiner Interpretation von PU 560 im zweiten Band des Kommentars angeht: Lange kann mir nicht einerseits in § 8 bescheinigen, daß ich Wortlaut und Kontext virtuos berücksichtigte, und gegen ein Ergebnis solcher Berücksichtigung weiter nichts einwenden, als daß ihn das Ergebnis enttäuscht.) (8) Was kann einen Leser der PU dazu verleiten, den bedeutungsrelevanten Gebrauch außerhalb des Sprachspiels der kompetenten Sprecher zu suchen? Lange ist (§ 15) darüber bekümmert, daß nach Wittgenstein fürs bedeutungsrelevante Sprachspiel wesentlich sein solle, daß der Gebrauch der sprachlichen Ausdrücke mit nicht-sprachlichen Tätigkeiten "verwoben" sei (PU 7). Sprachspiele könnten eben autonom sein, meint er, und beruft sich dafür bemerkenswerterweise auf Typoskripte von 1932 und 1933. Was immer das Ausmaß an Lernfähigkeit sein mag, das dieser Verweis Wittgenstein unterstellt: Die im gleichen Atemzug erhobene Behauptung, das Sprachspiel des Rechnens erfülle die Bedingung nicht, ist scharf zurückzuweisen. Die Lektüre von PU 200 sei angeraten: Das Manipulieren von Ziffern, die keinen Zusammenhang zum Zählen haben, wäre für Wittgenstein kein Rechnen. Es drängt sich der Eindruck auf, daß Lange sich im Bilde eines Sprechers, dessen Äußerungen ihre Bedeutung dank ihrer "Auffassung" (PU 201) durch kompetente andere Sprecher haben, nicht wiederfindet. Nur der autonome Sprecher kann eben reden, ohne sich um Verständlichkeit kümmern zu müssen. (9) Vermutlich liegt hier der Hase im Pfeffer. Lange befürchtet, durch meine Interpretation von Wittgensteins Bild vom Regelfolgen zu einem "ideellen Gesamtsozialdemokraten" gestempelt zu werden, dem die "Initiativefähigkeit" im Sinne von "situierter Freiheit oder Autonomie" abgesprochen werden soll (§ 20). Um Himmels willen! Aber eins nach dem anderen: Mir erstens die Wortlautfeststellungen zu PU 198, 199 zuzugeben, zweitens den sozialen Charakter des Regelfolgens als für Wittgenstein lediglich "empirisch ganz überwiegend" zu kennzeichnen und dann den Wortlaut in eine Kennzeichnung für wiederholte Anwendungen zu verdrehen (§ 18) ist exegetische Schlamperei. (Wie Lange den Menschen mit angeborener Sprache aus PU 495 in diese Debatte bringt, bleibt in § 17 sein Geheimnis; ebenso, wie Selbstkorrektur ohne Fremdkorrektur charakterisierbar sein soll, § 16.) Wer sich ohne die Absicht Einzelner, Regeln in Geltung zu setzen, das Entstehen von Regelbefolgung begrifflich nicht vorstellen kann (§ 18), kann das zum Beispiel bei Schiffer nachlesen (Meaning, Oxford 1972, 120-128), und wer es für empirisch ausgeschlossen hält (§ 18), sollte seinen Mangel an Phantasie beweinen. Aufmerksame Leser der PU werden freilich Geschichten von Individuen, die Praxen in Gang setzen (§ 18), mit solchen von Individuen, die - nicht ohne Benutzung vorgängiger Regelsysteme! (PU 204) - Regeln in Geltung setzen, nicht verwechseln: Diese legen fest, was richtig und falsch ist. Jene setzen eine Praxis durch, in deren Rahmen etwas richtig und falsch ist; hätte ihr Handeln eine andere Praxis bewirkt, wäre anderes richtig und falsch. Aufmerksamkeit dafür, daß man nur auf Grund eines verfügbaren Regelsystems etwas als richtig und falsch festlegen kann, hätte möglicherweise ein weniger barsches Urteil über meine Interpretation von PU 120, 121 erlaubt (§§ 29, 30), das dann vielleicht auf mehr gestützt wäre als ausschließlich auf ein im hier entscheidenden Punkt grob textverfälschendes Referat von Wittgensteins Bemerkung über die "Rechtschreibelehre, die es auch mit dem Wort 'Rechtschreibelehre' zu tun hat, aber dann nicht eine solche zweiter Ordnung ist" (PU 121), nämlich "die ja auch Vorschriften zur Schreibung der Wörter macht" (so Lange in § 30). (10) Um auf die existentiellen Ängste zurückzukommen: Jedermann ist freundlich eingeladen, sich der erwartbaren Reaktionen seiner Genossen Sozialdemokraten weiterhin zu bedienen, um ein Verständnis seiner Äußerung vorauszusehen und, ihren so festgelegten Inhalt kennend, sie zu tun - oder eine andere mit genauso festgelegtem anderen Inhalt. Es beeinträchtigt ja auch niemandes Initiativefähigkeit, Autonomie und situierte Freiheit, daß er Eigentum an wen und wann er will nur deshalb übertragen kann, weil gewisse seiner Handlungen dank den etablierten Reaktionen der anderen eben die Bedeutung einer Schenkung oder eines Verkaufs haben. Ein Hoch der "hochstufigen Leistung" (§ 20), die darin besteht, sich eines Regelsystems zu bedienen! (11) Dasselbe gilt natürlich fürs Meinen. Wittgenstein hat nun einmal unmißverständlich gesagt: "Nur in einer Sprache kann ich etwas mit etwas meinen." (Blackwell S. 18, Werkausgabe S. 260) Um die sorgfältige Begründung in PU 189, 190 macht Lange einen Bogen: Wir können einen Ausdruck irgendwie meinen, dergestalt, daß unser Meinen seine Anwendung festlegt, wenn wir ihn wie einen Ausdruck zu benutzen bereit sind, der eine in seinem etablierten Gebrauch manifestierte Bedeutung hat. Stattdessen die angebliche Endstellung des individuellen Meinens in den PU als Wittgensteins gradatio ad maius zu verkaufen (§ 20), paßt zum sonstigen exegetischen Anspruch: Ich kenne keinen haltbaren Grund (jedenfalls ist keiner publiziert), in PU 633 - 693 zum "individuellen Meinen" anderes zu finden als nachdrückliche Hinweise auf das dem Sprecher eingeräumte Vorrecht, in einer von allen benutzten Sprache zu erklären (im Sinne von "to declare"), was er habe sagen wollen, meine oder gemeint habe, und einleuchtende Warnungen davor, diese autorisierten Erklärungen mit privilegierten Berichten über ein die Bedeutung festlegendes Meinen zu verwechseln. - Natürlich kann man diese Auffassung vom Meinen für höchst problematisch halten; aber sie Wittgenstein bloß wegen dessen diffuser Abneigung gegen Thesen in der Philosophie abzusprechen (§ 24), ist doch kein ganz besonders überzeugender Grund, wenn er sie nun einmal dem klaren Textbefunde nach vertreten hat. (Ist die Auffassung vielleicht blöd und deshalb nach dem Prinzip der hermeneutischen Billigkeit wegzuinterpretieren? Ich sehe keine Gründe dafür.) (12) Warum man im Zusammenhang einer Rettung von Initiativefähigkeit, situierter Freiheit und Autonomie auch die (freidemokratische?) Fähigkeit zu Aspektsehen und Bedeutungerlebnis zu einem für Wittgenstein grundlegenden Charakteristikum des sprachfähigen Individuums macht (§§ 22 - 23), würde ich ja gern verstehen. Aber die notwendigen Klärungen müssen wohl der angekündigten Gesamtinterpretation vorbehalten bleiben. Soweit die Interpretation von PU 43 betroffen ist, werfe ich schon jetzt den Hut in den Ring. II Wittgensteins Verständnis von Philosophie, und ob daraus etwas dafür folgt, wie man ihn zu interpretieren hat (13) Schon andere Leute haben darüber den Kopf geschüttelt, daß ich PU 89 - 133 nicht als Wittgensteins konzentrierte Artikulation seines Verständnisses vom Philosophieren verstehen kann. Die Seltenheit von Gegenargumentationen beruht wohl auf dem Eindruck, angesichts der Herkunft vieler Bemerkungen aus dem Kapitel "Philosophie" von TS 213, des unbefangenen Eindrucks vom Text und der herrschenden Meinung könnte ich das selbst nicht ernst meinen oder wäre so grotesk im Unrecht, daß die Argumentation sich nicht lohnte. Hanjo Glock, auf dessen von Lange (§ 27) referiertes, nüchternes Textargument ich ebenso geantwortet habe, ist kaum überzeugt, würde aber die Diskussion gewiß mit weiteren nüchternen Argumenten fortsetzen. Lange hingegen stützt sich (§ 27) auf zweierlei: Erstens unterdrückt er für seine Kritik an der Interpretation des in PU 89 wichtigen Wortes "sublim" als "rein" meinen Verweis auf Wittgensteins explizite Übersetzung in PU 94 und meine Begründung für einen argumentativen Zusammenhang mit PU 38; zweitens versteht er sich zu dem herrlichen Satz: "Wenn aber die Disziplin Logik etwas Sublimes ist, (...) dann liegt es für sie überaus nahe, die Sprachregeln (sc. als ihren Gegenstand) zu sublimieren (...)." Wenn die Disziplin Geschichte etwas Vernünftiges ist, dann liegt es für sie überaus nahe, die historische Entwicklung zu etwas Vernünftigem zu machen; haben wir das nicht bei Hegel gelernt? - Man mag von solchen Argumenten halten, was man will: Die Begründung meiner Interpretation von PU 89 - 133 als eine Diskussion von Fragen, die mit verwendungsunabhängigen Sprachregeln zu tun haben, beruht nicht nur auf dem Nachweis, daß PU 89 dazu paßt (dafür ist die Bedeutung von "sublim" wesentlich), sondern entscheidend auch darauf, daß die Abschnittsfolge sich einleuchtend so interpretieren läßt. Alle mir bekannten Interpretationen haben mit einzelnen von diesen Abschnitten Schwierigkeiten; man vergleiche in Ruhe ihre Meriten. (14) Jedenfalls ist die beweinenswerte Tatsache, daß ich mich "geweigert (habe), Ws Auffassungen über die Philosophie, die (ich) nur als 'Metaphilosophie' verstehen kann (...), in allgemeiner Weise auszulegen und als Leitfaden der Auslegung der Sachprobleme zu verwenden" (§ 27), in keiner Weise dafür verantwortlich, daß ich nichts mit der Forderung anfangen kann, man müsse "den Charakter der Bildung (des) Ganzen (der PU) aus ihm selbst bestimmen" (§ 26) oder "Wittgenstein in seinem Text (...) verstehen" (§ 31), wenn das etwas anderes heißen soll, als Wittgensteins Text zu verstehen. Das scheint interpretiert zu werden durch die Forderung, "sich von dem Interpretierten über sein Verständnis von Philosophie belehren zu lassen und dieses Verständnis als Leitfaden der Auslegung seiner Philosophie zu verwenden" (§ 32; die zweite Hälfte des Zitats ist in dem mir vorliegenden Manuskript hervorgehoben). Darauf legt Lange Wert, weil an Wittgensteins "philosophischem Verständnis der Sprache etwas unverstanden bleibt, wenn die Philosophiekonzeption nicht berücksichtigt wird." (§ 32) (15) Darüber kann man ja ganz ruhig reden. Aber schaün wir, was daraus wird: Wittgensteins frühe Vorstellung davon, daß sich dies oder jenes nur zeige und nicht sagen lasse, wird zur Auffassung, in der Sprache lasse sich nicht alles ausdrücken (§ 34). Am "Fundament der sprachlichen Erklärung von Sprachlichem" liegt "die Einübung in ein Handeln"; "man kann also (sic!) die Bedeutung von Formen und Ausdrücken ein Stück weit erklären, aber nicht restlos." (§ 34) Philosophische Klärungen "betreffen Sinn und Unsinn, nicht (sic!) Wahrheit und Falschheit" (§ 35). An die Stelle der Argumentation tritt die Technik, durch Zusammenstellung von Einzelheiten den "hilfreichen Aspekt aufzuweisen" (§ 35). Dieses Verfahren kompensiert "die fehlende Möglichkeit zwingender Argumentation (...), weil es die auf der Ebene des Sinns nur begrenzt gibt" (§ 35). (16) Armer Wittgenstein. Hätte er doch lieber nicht behauptet, Einüben könne ein restloses Erklären sein (PU 69, 71, 75 und öfter). Hätte er doch lieber nicht so oft mit dem Anspruch auf Wahrheit behauptet, da sei eine Ausdrucksweise sinnlos oder eine andere bedeute dies und jenes. Hätte er doch nicht den "grammatischen Satz" geprägt, um solche Behauptungen zu begründen. Er wird sich vorhalten lassen müssen, sich in seinem Text nicht verstanden zu haben. Ob das für Langes Interpretation spricht? Jedenfalls nicht dagegen, sie als vom Text nicht erzwungenen Ausdruck der Scheu des Interpreten vor verständlicher Argumentation zu verstehen. (17) Ich wäre der letzte, der bestreiten wollte, daß Wittgensteins spätes Philosophieren ein therapeutisches Ziel hat, und ich glaube, das an mehr als einer Stelle konkret erläutert und aus dem Text begründet zu haben. Aber niemand hat mich bisher davon überzeugen können, daß dieses Ziel im Widerspruch dazu stünde, daß Wittgenstein Behauptungen mit Wahrheitsanspruch aufstellt; daß er sieht, daß eigene Behauptungen strittig sind, und sie deshalb begründet; daß er im Zuge therapeutischer Bemühungen Ergebnisse für philosophische Sachfragen erzielt; und daß sich sein Interesse an diesen Sachfragen über das therapeutische Ziel hinaus weitgehend selbständig macht. Nichts am therapeutischen Ziel spricht dagegen, im Text nach Behauptungen über Sinn und Unsinn, nach Begründungen, nach philosophischen Einsichten im traditionellen Sinne und dem Verfolgen von philosophischen Problemen im traditionellen Sinne zu suchen. Wenn man sie nicht sucht, findet man sie natürlich nicht; aber wenn man sie findet, sind sie halt da, und keine Vorurteile über Wittgenstein können sie in Luft auflösen. Was sich dann auflöst, ist die Hoffnung, in Wittgenstein einen Heiligen des wilden Denkens gefunden zu haben. *1* Wittgenstein Studies, diese Lieferung. Lange hat mir durch Numerierung der Abschnitte den Verweis auf Stellen in seinem Text ermöglicht; ich tue das mit dem Paragraphenzeichen und numeriere die Absätze meines Beitrags ebenfalls durch.