***************************************************************** * * Titel: Replik auf Olaf Kistenmacher Oder wie sich eine Wolke der Kritik an der Philosophie durch einen Hauch Verhaltenslehre auflöst Autor: Ulrich *Steinvorth* (Universität Hamburg) Dateiname: 09-2-97.TXT Dateilänge: 24 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 2/97, Datei: 09-2-97.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, R. Raatzsch, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1997 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** Olaf Kistenmacher wendet subtile Überlegungen zum Aspektsehen und Truman Capotes MEAN REDS auf, um meine Wittgensteinkritik zurückzuweisen. Es ist vergebliche Liebesmüh, weil ich mich gar nicht auf Feinheiten oder Originalitäten in der Beschreibung eigener Gefühle berufe, um Wittgenstein zu kritisieren, sondern auf die stinknormale Beschreibung. Daher unterscheide ich nicht einmal zwischen der Beschreibung der Erfahrung äußerer Gegenstände und einer Empfindung. Meine Kritik greift Wittgenstein nicht in der Weise an, daß ich zeigen möchte, MANCHMAL müßten wir uns doch auf etwas Privates beziehen, wenn wir einen subjektiven Zustand beschreiben. Ich behaupte vielmehr: Auch in der gewöhnlichsten Beschreibung subjektiver Zustände beziehen wir uns auf etwas Privates, was nur dem Subjekt selbst gegeben ist. Meine Kritik ist weder subtil noch originell. Sie versucht nur, die traditionelle und gern als bewußtseinsphilosophisch belächelte Auffassung gegen Wittgensteins Kritik zu verteidigen. Ich glaube daher auch nicht, wie Kistenmacher mich versteht, "betonen zu müssen, daß man auch, ohne über eine Sprache zu verfügen, Gegenstände wie z.B. rote Bälle sehen und nach ihnen greifen kann". Ich sehe auch nicht, wo ich den Eindruck erwecken konnte, ich meinte, Wittgenstein leugne "die Existenz der 'äußeren' Welt" (Olaf Kistenmacher, ÜBER DEN "TREFFENDEN AUSDRUCK", Abs. 2). Diese Positionen sind zwischen Wittgenstein und der Bewußtseinsphilosophie nicht strittig. Mein Ziel war und ist vielmehr klarzustellen, daß Wittgenstein nicht mit folgender Tatsache fertig werden kann: Menschen WISSEN oder sind sich oft, aber nicht immer BEWUSST, daß und was sie fühlen oder erfahren. Sie sehen nicht nur rote Bälle, sondern wissen es oft, aber, was sehr wichtig ist, nicht immer. Deshalb führte ich das Phänomen der BLINDSICHT an, der blind sight, die Weiskrantz und andere untersucht haben (in meinem Buch WARUM ÜBERHAUPT ETWAS IST. KLEINE DEMIURGISCHE METAPHYSIK, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 64ff). Blindsichtig sind Personen, meist Opfer von Hirnverletzungen, die glauben, blind zu sein, ihre Sehkraft aber nicht (vollständig) verloren haben. Was ihnen fehlt, ist die Fähigkeit, dessen bewußt zu sein, daß und was sie sehen. Sie können nach roten Bällen greifen, auch auf die Aufforderung, das zu tun, aber ihnen wird nicht bewußt, daß sie nach ROTEN Bällen greifen. Irgendwelche Prozesse, die dafür sorgen, daß der Normalsichtige nicht nur mit wachen Augen nach roten Bällen greift, sondern auch weiß oder ein Bewußtsein davon hat, daß er nach ROTEN Bällen greift, sind bei ihnen ausgefallen. Meine These war und ist, daß wir alle blindsichtig sein müßten, wenn Wittgensteins Theorie des Bewußtseins wahr wäre. Die entscheidenden Aussagen dieser Theorie sind, daß das Bewußtsein nicht privat und daß ein privater Bezug auf Gegenstände unmöglich ist. Diese Aussagen sind Negationen desselben Sachverhalts (den ich für eine Tatsache halte): Ein Mensch oder ein vernunftfähiges Wesen kann sich privat, unabhängig von einer öffentlichen Sprache, auf etwas beziehen; wer sich privat aut etwas bezieht, hat Bewußtsein von dem, worauf er sich bezieht, und umgekehrt, wer Bewußtsein von etwas hat, bezieht sich darauf privat. Ein solches Bewußtsein von etwas nenne ich cartesische Evidenz. Meine Berufung auf die CARTESISCHE EVIDENZ diente mir nicht dazu, wie Kistenmacher zu Beginn seiner Ausführungen auch richtig wiedergibt, eine unfehlbare Grundlage für Geltungsansprüche zu behaupten. Daß dergleichen unmöglich ist, habe ich für allgemein anerkannt gehalten. Ich habe dennoch das Bewußtsein, das unsere Erfahrungen begleiten KANN, mit dem Prädikat CARTESISCH belegt, um Wittgensteins wichtigstem Opponenten die Ehre zu erweisen. Die Annahme der cartesischen Evidenz wird nicht funktions- oder bedeutungslos, wenn man Descartes' Unfehlbarkeitsanspruch fallenläßt. Als Bewußtseinsphilosoph nahm Descartes an, daß wir ein Bewußtsein von dem haben können, was wir erfahren, daß dies Bewußtsein privat ist und daß es bei unserem Gebrauch von Worten eine Rolle spielen kann. Ich bin nicht sicher, ob Descartes auch annahm, was für meine Annahme cartesischer Evidenz wichtig ist, daß dies Bewußtsein unsere Erfahrungen NICHT NOTWENDIG begleitet. Wittgenstein dagegen scheint diese Annahme zu bestreiten. Er hat offenbar angenommen, daß unsere Erfahrungen deswegen nicht sinnvoll als BEWUSST beschrieben werden können, weil sie keine Erfahrungen wären, wenn sie nicht bewußt genannt werden könnten *1*. Nach dem üblichen Verständnis von Descartes könnte man diese Annahme cartesisch und Wittgenstein einen gegen Descartes rebellierenden Cartesianer nennen. Wittgenstein irrte in der Annahme, unsere Erfahrungen seien NOTWENDIG bewußt. Er hat daher keinen Grund, die Bewußtheit von Erfahrungen als funktions- und bedeutungslos und damit auch ihre Privatheit als etwas zu behaupten, was, worin immer, jedenfalls nicht in einem privaten Gegenstandsbezug bestehen kann. Denn der Blindsichtige ERFÄHRT, daß unter den Dingen vor ihm ein roter Ball liegt, und WEISS es doch zu seinem Leidwesen nicht. Nur weil er es erfährt, kann er auf die Aufforderung, einen roten Ball herauszugreifen, trotz seiner Versicherung, nicht sehen zu können, einen roten Ball herausgreifen. Natürlich zeigen nicht erst die Phänomene der Blindsicht, daß unsere Erfahrungen nicht notwendig bewußt sind. Viele Erfahrungen werden durch Wiederholung der sie verursachenden eigenen Handlungen bewußtlos. Andere bleiben bewußtlos, weil wir sie nicht wahrnehmen oder wahr haben WOLLEN. Auch das hat nicht erst Freud gezeigt, wenn er daraus auch Konsequenzen ableiten wollte, die die Annahme unbewußter Erfahrungen zu einer spezifisch freudschen Idee werden ließen. Die Phänomene bewußtloser Erfahrung zeigen deutlich genug, daß unsere Erfahrungen und Empfindungen zwar nicht von cartesischer Evidenz begleitet sein MÜSSEN, aber oft genug von ihr begleitet WERDEN. In diesem Fall ist sie, so behauptete ich weiter, eine zweite "Quelle" unseres Sprachgebrauchs neben der Konvention oder Abrichtung, die nach Wittgenstein die einzige Quelle ist. Mit der Quellenmetapher wollte ich mich auf etwas beziehen, was Wittgenstein mit den Bewußtseinsphilosophen verbindet. Auch er sieht unseren Sprachgebrauch von einer bestimmten Instanz (oder "Quelle") geleitet. Wenn wir irgend etwas sagen, ist es auch nach Wittgenstein nicht das Ergebnis von Zufall oder Willkür. Es ist vielmehr bestimmt von Regeln, nach denen wir zu unserem Wortgebrauch abgerichtet wurden. ALLER Wortgebrauch beginnt nach Wittgenstein mit der Ersetzung NATÜRLICHER Äußerungen wie Heulen durch VERBALE wie "Mir tut der Bauch weh". Evidenz oder Bewußtsein ist für den so dressierten Sprachgebrauch nicht nötig. Und sie KÖNNEN auch, was Wittgensteins große Entdeckung und sein bleibendes Verdienst als Philosoph ausmacht, für das Erlernen unserer Muttersprache keine Rolle spielen. Wie Kistenmacher hervorhebt, hat "ein schreiendes Baby, wenn es Schmerzen hat, nicht deshalb eine Intuition davon, was Schmerzen sind" (Kistenmacher, Abs. 3). Mehr: Es hat auch nicht deshalb eine Intuition davon, was Schmerzen sind, wenn es seine Schmerzen VERBAL äußert. Wenn wir sprechen lernen, und das heißt auch, wenn wir eine gemeinsame Sprache lernen, KANN unser Zeichengebrauch nicht von unserem Bewußtsein oder der cartesischen Evidenz geleitet sein. Unsere gemeinsame Sprache kann nur mit der Wittgensteinschen Abrichtung oder dem Sprachspiel beginnen. Nicht deshalb, weil wir beim Sprechenlernen zu klein sind und uns in unseren Gefühlen nicht auskennen, sondern weil eine gemeinsame Sprache nicht von etwas ausgehen kann, was notwendig privat ist wie die cartesische Evidenz oder das Bewußtsein. Die erste Quelle des Gebrauchs unserer gemeinsamen Sprache ist daher Abrichtung oder Sprachspiel, wie Wittgenstein es beschrieben hat. Das ist eine großartige Entdeckung. Aber was sind ihre Konsequenzen? Das scheint Wittgenstein nicht richtig eingeschätzt zu haben. Eine erste Frage, die sich hier stellt, ist: Muß, weil unsere gemeinsame Sprache notwendig mit natürlichen Äußerungen anfängt, nach Regeln der Abrichtung zu verbalen Äußerungen fortgeht und sich zu Zügen in vielfältigen Sprachspielen entwickelt, deshalb auch ALLER Wortgebrauch von den Konventionen des Sprachspiels bestimmt sein? Ist das Sprachspiel seine EINZIGE Quelle? Ich sehe nicht, warum das notwendig sein sollte. Wir brauchen eine gemeinsame Sprache, um uns gemeinsam mit anderen auf etwas zu beziehen. Aber das impliziert nicht, daß wir uns NUR gemeinsam mit anderen auf etwas beziehen können, und ebensowenig, daß wir uns NUR auf etwas beziehen können, worauf sich auch ein anderer muß beziehen können. Ich kann mich auf etwas beziehen, etwa auf einen Bleistift auf meinem Schreibtisch oder den graublauen Farbton auf dem Schirm meines Computers, ohne dabei die Zeichen irgendeiner öffentlichen Sprache zu gebrauchen. Ich KANN solche Zeichen gebrauchen, aber ich kann auch jeden Gegenstand, dessen ich gewahr oder bewußt werden kann, sprachunabhängig (oder ohne eine öffentliche Sprache zu gebrauchen) betrachten und dabei WISSEN oder dessen BEWUßT sein, daß und was ich betrachte. Die cartesische Evidenz, die ich dabei habe, besteht eben darin, daß ich mich auf den Gegenstand meiner Betrachtung beziehe. Nur weil ich mich so PRIVAT auf einen Gegenstand beziehen kann, kann ich ihn überhaupt erst in einer öffentlichen Sprache BESCHREIBEN und nicht nur einen Eindruck ÄUSSERN. Ich kann überlegen, welche Worte der gemeinsamen Sprache dem Gegenstand am angemessensten sind, kann zweifeln, ob überhaupt irgendein Wort angemessen ist, ob ein anderer mich je verstehen kann, kann in alle bekannten Fragen der Skepsis geraten. Das alles wäre nicht möglich, könnten wir uns nur in einer gemeinsamen Sprache und nicht auch privat auf einen Gegenstand beziehen. Die unstrittige Möglichkeit der BESCHREIBUNG von Empfindungen impliziert skeptische Ideen. Wenn man daher anerkennt, daß es skeptische Ideen gibt - und wie sollte man es leugnen - , muß man auch die Möglichkeit der BESCHREIBUNG und nicht nur der Äußerung von Empfindungen anerkennen, und zwar der Beschreibung in einem ordinären und nicht subtilen Sinn. Das wiederum scheint unmöglich, ohne daß man die Möglichkeit eines privaten Bezugs oder einer Privatsprache anerkennt. Um dieser Konsequenz zu entgehen, führt Wittgenstein seinen Angriff auf die Möglichkeit einer Privatsprache. Tatsächlich hätte er diesen Angriff, zu dessen Kritik ich hier nichts hinzufügen will, nicht nötig gehabt. Er hätte nur zwischen einer unhaltbaren radikalen und einer unvermeidlichen milden Skepsis unterscheiden müssen. Diese Unterscheidung aber hat er selbst durch seine Entdeckung des Ursprungs der gemeinsamen Sprache in der natürlichen Äußerung und ihrer Abrichtung zu den verbalen Äußerungen im Sprachspiel möglich gemacht. Denn Wittgensteins Entdeckung liefert ein wichtiges Argument gegen die radikale Skepsis. Wenn es einen vernünftigen Grund dafür gibt, daß Wittgenstein viele intelligente und junge Philosophen fasziniert, liegt er offenbar darin, daß er einerseits für alle Fragen der Subjektivität und der Skepsis ein tiefes Interesse zeigt, anderseits aber ein überzeugendes Argument zur Kritik der radikalen Skepsis und zur Einbettung der Subjektivität in die Normalität alltäglichen Verhaltens anbietet. Man muß hier aber zwischen seiner schlüssigen Kritik der radikalen Skepsis und den falschen Folgerungen unterscheiden, die er aus ihr ableitet. Nach der radikalen Skepsis kann ich nicht wissen, ob das, worauf ich mich beziehe oder was mir bewußt ist, etwas ist, worauf sich auch ein anderer je beziehen könnte. Ich habe nach ihr keine ausreichenden Gründe anzunehmen, daß der Bleistift, den ich auf meinem Tisch liegen sehe, etwas ist, worauf sich auch ein anderer beziehen kann; ich kann nicht einmal annehmen, daß der Bleistift oder der andere, von dem ich zu zweifeln beginne, ob er sich auf denselben Bleistift wie ich beziehen kann, mehr ist als ein Datum meines Bewußtseins. Die radikale Skepsis führt zum Solipsismus. Das Argument, das Wittgenstein zur Kritik des Solipsismus liefert, ist folgendes. Wenn ich bestimmte Erfahrungen mache, kann ich auf sie mit natürlichen oder verbalen Äußerungen Bezug nehmen, auf die wieder andere mit ihren Äußerungen so reagieren können, daß ich sie verstehen und in ihren Äußerungen ein Verstehen meiner Äußerungen und ihres Bezugs erkennen kann. Sage ich nun, die Äußerungen der anderen seien auch nur Erfahrungen, die ICH habe; ich könne nicht WISSEN, ob sie mehr seien als MEINE Erfahrungen, so kann man dagegen mit Wittgenstein anführen: Wenn auf meine Bezug nehmenden Äußerungen solche Äußerungen folgen, die ich verstehe und in denen ich ein Verstehen meiner Äußerungen erkenne, dann IST das ein gemeinsamer Bezug auf das, worauf ich mit meinen Äußerungen reagiere. Die Idee einer gemeinsamen Bezugnahme auf denselben Gegenstand rührt von eben solchen Äußerungen, die ich verstehe und in denen ich ein Verstehen meiner Äußerungen erkenne. Ich könnte gar nicht zweifeln, ob es eine gemeinsame Bezugnahme gibt, hätte ich nicht eine Idee davon; aber die Idee habe ich von paradigmatischen Situationen derart, daß ich in den Äußerungen anderer ein Verstehen meiner Äußerungen erkenne. Solche Situationen sind zugleich die, durch die ich sprechen, genauer: die regelmäßigen Folgen meiner natürlichen Äußerungen und die notwendigen Bedingungen des Herbeiführens natürlicher oder verbaler Äußerungen und anderer Handlungen anderer kennen gelernt habe. Es sind die Situationen meiner erfolgreichen Abrichtung, die ich bei meiner Abwägung skeptischer Zweifel als die Garantien dafür erkennen kann, daß ich mich mit anderen auf denselben roten Ball beziehen kann. Wittgenstein liefert aber kein Argument gegen eine milde Skepsis. Nach dieser können wir nicht wissen, ob der andere das, was er mit denselben Worten beschreibt wie ich und dem gegenüber er sich verhält wie ich, auch ebenso empfindet wie ich; ob er nicht etwa immer, wenn wir das gemeinsame Wort GRÜN gebrauchen, etwas empfindet, was ich empfinde, wenn wir das gemeinsame Wort VIOLETT gebrauchen. Die Frage ist unentscheidbar, aber deswegen doch nicht sinnlos. Wir können sie sehr wohl verstehen. Wir können zwar sicher sein, daß wir uns auf denselben roten Ball beziehen, den wir gemeinsam einen roten Ball nennen, aber nicht, daß der Gegenstand unserer gemeinsamen Bezugnahme bei uns dieselben Empfindungen weckt. Die Kritik der radikalen Skepsis läßt diese milde Skepsis unberührt. Daß wir die milde nicht wie die radikale Skepsis als sinnlos verwerfen können, bestätigt noch einmal, daß wir alltäglich die Erfahrung machen können, uns unabhängig von einer öffentlichen Sprache auf etwas zu beziehen. Wir können uns auf einen roten Ball nicht nur als auf die Referenz von Zeichen der öffentlichen Sprache beziehen. Er kann auch das sein, wovon wir ein Bewußtsein haben, von dem wir nicht wissen können, ob es mit dem Bewußtsein eines anderen übereinstimmt. Ich kann mich nicht nur auf den öffentlichen roten Ball (oder einen Schmerz, über den sich alle verständigen können) beziehen, sondern auch auf ihn als den bloßen Inhalt meines Bewußtseins oder, was dasselbe ist, auf ihn unabhängig von Zeichen der öffentlichen Sprache. Deshalb können wir uns fragen, wie wir das, was uns bewußt oder als cartesische Evidenz gegeben ist, am besten beschreiben und ob wir es überhaupt je angemessen beschreiben können. Auch wenn wir erkennen, daß es nicht den radikalen Zweifel rechtfertigt, ob wir uns überhaupt je mit anderen auf denselben Gegenstand beziehen können, können und sollten wir auch erkennen, daß es eine zweite Quelle unseres Zeichengebrauchs neben der der Konventionen des Sprachspiels ist. Die typische Antwort eines Wittgensteinianers auf eine Kritik der Kritik der Unmöglichkeit einer Privatsprache ist die Versicherung, er könne erstens ebensogut den Tatsachen Rechnung tragen, die man gegen ihn anführt, und brauche zweitens nicht auf die Annahme eines Reichs der Privatheit oder Subjektivität zurückzugreifen, aus dem es kein Entrinnen vor dem Solipsismus gebe. Wittgensteins Verwerfung einer nur dem Subjekt zugänglichen Sphäre folgt dem Programm Wiener Intellektueller des frühen 20. Jahrhunderts, alles Überflüssige oder Funktionslose in Kunst, Architektur, Literatur und Ontologie deshalb zu beseitigen, weil es die Quelle falscher Lebensführungen sei.*2* Dies Programm hat nichts von seiner Dringlichkeit verloren; es sollte nach wie vor auch Philosophen verpflichten. Aber es verpflichtet auch zu einer notfalls wiederholten Prüfung, ob etwas wirklich funktionslos ist, das als funktionslos be- und verurteilt wurde. Wittgenstein irrte in seiner Annahme, das Bewußtsein im Sinn eine irreduzibel privaten Sphäre der Subjektivität sei funktionslos, und dieser Irrtum kann verheerende Konsequenzen auch für die Lebensführung haben. Wittgenstein kann den angeführten Tatsachen jedenfalls nicht Rechnung tragen. Daher hoffe ich auf eine andere Reaktion auf meine Kritik als die typische. Die angeführten Tatsachen beweisen, daß das Bewußtsein nicht funktionslos ist. Auch hat die Annahme einer Sphäre der Privatheit nicht die befürchtete solipsistische Konsequenz. Die Tatsachen, auf die ich mich berufe, sind die Phänomene der Blindsicht und weniger spektakuläre Fälle bewußtloser Erfahrung. Sie zeigen, daß die Privatheit des Bewußtseins oder die cartesische Evidenz eine Funktion hat, die nicht in der Funktion der Erfahrung aufgeht. Die Funktion der Erfahrung ist, die auf einen Organismus einwirkenden Reize so zu verarbeiten, daß er die von ihm verfolgten Ziele optimal erreichen kann. Die Funktion des Bewußtseins ist, dem Organismus anzuzeigen, daß er erfährt und will und was er erfährt und will. Erst durch diese Funktion wird aus einem Organismus ein Subjekt der Erfahrung und des Handelns. Die philosophischen Konsequenzen der Einsicht in diese Funktion und ihres Unterschieds zur Funktion der Erfahrung reichen weit genug, um mit Wittgenstein gegen ihn zu sagen: Eine Wolke der Kritik an der Philosophie löst sich auf durch einen Hauch Verhaltenslehre *3*. Daß aber die Annahme einer unreduzierbar privaten Sphäre keinen Solipsismus impliziert, das zu erkennen ermöglicht ironischerweise gerade Wittgensteins eigene Entdeckung der ersten Quelle unseres Gebrauchs von Worten, der Abrichtung oder des Sprachspiels. Sie zeigt, was es heißt, sich gemeinsam auf einen Gegenstand zu beziehen, nämlich in den Äußerungen anderer die auf etwas Bezug nehmenden eigenen Äußerungen verstanden zu sehen, und garantiert, daß die cartesische Evidenz nur eine milde Skepsis impliziert. *1* Vgl. Philosophische Untersuchungen I §§ 246f. *2* Vgl. U. Steinvorth, Wittgenstein, Loos und Karl Kraus, ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHISCHE FORSCHUNG 33, 1979, 74-89. *3* Vgl. Wittgenstein, Philos. Untersuchungen II, Abschnitt XI, Frankfurt 1960, S.534, ed. Anscombe, Oxford 1958, p. 222: "Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre." Wittgensteins Sprachlehre ist, es sei "richtig zu sagen 'Ich weiß, was du denkst', und falsch: 'Ich weiß, was ich denke'" (ebd.). Hier unterstellt Wittgenstein wie in §§ 246ff. für Schmerzen und Absichten, Gedanken seien (wie Schmerzen und Absichten) NOTWENDIG bewußt; daher sei die Behauptung, ich WISSE, was ich denke, funktionslos (außer zur Erläuterung, daß man notwendig wisse, was man denkt, vgl. §§ 247f. und 251f.); daher sei auch ein von der Erfahrung unterscheidbares Bewußtsein funktionslos. Der Dogmatismus von Wittgensteinianern besteht in der Kunst zu übersehen, daß ihr Bild vom Bewußtsein ebenso unhaltbar ist, wie es heute als fast trivial wahr anzuerkennen ist, daß man oft genug NICHT weiß, was man denkt, beabsichtigt oder empfindet. ??