***************************************************************** * * Titel: Anrennen gegen das Paradox - Wittgenstein, Heidegger und Kierkegaard Autor: Thomas Rentsch Dateiname: 15-2-97.TXT Dateilänge: 28 KB Erschienen in: Wittgenstein Studies 2/97, Datei: 15-2-97.TXT; hrsg. von K.-O. Apel, N. Garver, B. McGuinness, P. Hacker, R. Haller, W. Lütterfelds, G. Meggle, C. Nyíri, K. Puhl, R. Raatzsch, T. Rentsch, J.G.F. Rothhaupt, J. Schulte, U. Steinvorth, P. Stekeler-Weithofer, W. Vossenkuhl, (3 1/2'' Diskette) ISSN 0943-5727. * * ***************************************************************** * * * (c) 1997 Deutsche Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. * * Alle Rechte vorbehalten / All Rights Reserved * * * * Kein Bestandteil dieser Datei darf ganz oder teilweise * * vervielfältigt, in einem Abfragesystem gespeichert, * * gesendet oder in irgendeine Sprache übersetzt werden in * * irgendeiner Form, sei es auf elektronische, mechanische, * * magnetische, optische, handschriftliche oder andere Art * * und Weise, ohne vorhergehende schriftliche Zustimmung * * der DEUTSCHEN LUDWIG WITTGENSTEIN GESELLSCHAFT e.V. * * Dateien und Auszüge, die der Benutzer für * * seine privaten wissenschaftlichen Zwecke benutzt, sind * * von dieser Regelung ausgenommen. * * * * No part of this file may be reproduced, stored * * in a retrieval system, transmitted or translated into * * any other language in whole or in part, in any form or * * by any means, whether it be in electronical, mechanical, * * magnetic, optical, manual or otherwise, without prior * * written consent of the DEUTSCHE LUDWIG WITTGENSTEIN * * GESELLSCHAFT e.V. Those articles and excerpts from * * articles which the subscriber wishes to use for his own * * private academic purposes are excluded from this * * restrictions. * * * ***************************************************************** Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben am jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geredet haben. Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden. Matth. 12, 36f. Wittgenstein äußert am 30.12.1929 inmitten des Wiener Kreises, in einer Diskussion mit Moritz Schlick und Friedrich Waismann, er verstehe, was Heidegger in seiner Analyse der Todesangst zu zeigen versuche und was er mit der Rede vom Sein meint. Er nimmt dabei auf Kierkegaard Bezug, dessen Rede vom Anrennen gegen das Paradox er zitiert. Dieses aufschlußreiche Zeugnis und einige andere Texte sollen im folgenden herangezogen werden, um zu fragen: Wie läßt sich die philosophische, systematische Relevanz Kierkegaards für Wittgensteins Denken inhaltlich und ggf. methodologisch fassen? Die Aufzeichnung Waismanns vom 30. Dezember 1929 wurde zuerst im Januar 1965 in der PHILOSOPHICAL REVIEW veröffentlicht, rätselhafterweise beschnitten um die Überschrift, den ersten und den letzten Satz des hier wiedergegebenen vollständigen Originals: "Zu Heidegger. Ich kann mir wohl denken was Heidegger mit Sein und Angst meint. Der Mensch hat den Trieb, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen. Denken Sie z. B. an das Erstaunen, daß etwas existiert. Das Erstaunen kann nicht in Form einer Frage ausgedrückt werden, und es gibt auch gar keine Antwort. Alles, was wir sagen mögen, kann a priori nur Unsinn sein. Trotzdem rennen wir gegen die Grenzen der Sprache an. Dieses Anrennen hat auch Kierkegaard gesehen und es sogar ganz ähnlich (als Anrennen gegen das Paradoxon) bezeichnet. Dieses Anrennen gegen die Grenzen der Sprache ist die Ethik. Ich halte es für sicher wichtig, daß man all dem Geschwätz über Ethik - ob es eine Erkenntnis gebe, ob es Werte gebe, ob sich das Gute definieren lasse etc. - ein Ende macht. In der Ethik macht man immer den Versuch, etwas zu sagen, was das Wesen der Sache nicht betrifft und nie betreffen kann. Es ist a priori gewiß: Was immer man für eine Definition zum Guten geben mag - es ist immer ein Mißverständnis, daß eigentlich, was man in Wirklichkeit meint, entspreche sich im Ausdruck. (Moore) Aber die Tendenz, das Anrennen, deutet auf etwas hin. Das hat schon der heilige Augustin gewußt, wenn er sagt: Was, du Mistviech, du willst keinen Unsinn reden? Rede nur einen Unsinn, es macht nichts!"*1* Warum der Text 1965 um Heidegger, Sein, Angst und Augustinus verstümmelt wurde, kann nur vermutet werden. Vielleicht war es den Herausgebern selber bange, kurz nach Erscheinen von SEIN UND ZEIT (1927) - Wittgenstein mußte es ziemlich rasch zur Kenntnis genommen haben - einen Wittgenstein zu vernehmen, der seine Nähe zu Grundgedanken Heideggers bekundet. Ich meine, daß dieser Text, der allerdings nur aus einer Gesprächsnotiz stammt, doch unverkennbar bestimmte sehr grundsätzliche Auffassungen Wittgensteins enthält, die seine Beziehung zu Kierkegaard beleuchten können. Der Text ist auch insofern interessant, als er der meines Wissens einzige ist, in dem Wittgenstein auf Heidegger Bezug nimmt.*2* In solchen und ähnlichen Äußerungen redet er oft sehr apodiktisch. Ich glaube, daß man immer auch ein wenig von der Lust an der intellektuellen Provokation seiner Gesprächsteilnehmer in solchen tour-de-force-Statements heraushören kann, so z. B. in vielen der Gespräche mit Drury. Rhetorische Lust am Dogmatismus ist es auch, wenn wir mit Drury hören: "Kierkegaard was by far the most profound thinker of the last century. Kierkegaard was a saint."*3*; ebenso "I am not a religious man but I cannot help seeing every problem from a religious point of view." *4* wohl eine der kürzesten denkbaren Formeln für vollendete Säkularisierung im Karl Löwithschen Sinne. Die Verständniserklärung zu SEIN UND ZEIT und zu Kierkegaard betrifft jedenfalls keine Marginalien, sondern ganz zentrale Aspekte der Existentialontologie Heideggers, d. h. der Heideggerschen Destruktion der traditionellen Ontologie und ihrer Überführung in eine Analytik des Daseins. Wittgenstein muß dieser Zusammenhang präsent gewesen sein. Sonst wäre es ihm nicht möglich gewesen, diesen kurz und treffend zu benennen und ihn sogar auf seine eigenen Kernthesen zur Absolutheit der Ethik sowie auf Kierkegaard als einen gemeinsamen Stammvater der Analysen Heideggers und seines eigenen Denkens zu beziehen. Im Waismann-Text ist es Wittgenstein möglich, in gedrängter Form einen Leitgedanken Heideggers aufzugreifen und auf seine damalige Sprachkritik zu beziehen: den Gedanken der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem: DASS überhaupt etwas ist, ist Grund eines sprachlich zunächst nicht weiter bestimmbaren Sich-Wunderns oder Staunens. Man kann eigentlich nicht DARÜBER reden, weil ein unterscheidbares Etwas, ein Darüber der Rede oder des Staunens nicht benannt werden kann. DASS alles ist - das "Sein des Seienden" - ist selbst keine innerweltlich auf der Ebene normaler Tatsachen anzusiedelnde, aber z. B. nur "sehr große" Tatsache. DASS die Welt ist, DASS jeder einzelne von uns existiert, das ist keine irgend kommensurable Tatsache in der Welt oder in unserem Leben. Es ist aufschlußreich, wie Wittgenstein diese Gedanken, die er selbst auch im TRACTATUS entwickelt, mit Kierkegaard verbindet: nämlich über die Ethik. Sinnkritisch, so können wir ihn verstehen, rangiert das Ethische auf der 'existential-ontologischen' Daß-Ebene. Diese sinnkritische Grundüberzeugung Wittgensteins wird auch in seiner LECTURE ON ETHICS unmißverständlich klar artikuliert. Auch sie müssen wir daher in unsere Betrachtung des Verhältnisses von Wittgenstein zu Kierkegaard einbeziehen. In dieser Vorlesung, die zwischen September 1929 und Dezember 1930 entstand, also zur Zeit auch der Waismann-Gesprächsnotiz, interpretiert Wittgenstein ontologische Grenzerfahrungen als existentiellen Bezugspunkt unbedingter, 'absoluter' ethischer und religiöser Rede. Ein charakteristischer Mißbrauch der Sprache "runs through ALL ethical and religious expressions".*5* Sie sehen zunächst aus wie Gleichnisse (similes) FÜR ETWAS. "Now all religious terms seem in this sense to be used as similes or allegorically. For when we speak of God and that he sees everything and when we kneel and pray to him all our terms and actions seem to be parts of a great and elaborate allegory which represents him as a human being of great power whose grace we try to win, etc., etc. But this allegory also describes the experience which I have just referred to. For the first of them is, I believe, exactly what people were referring to when they said that God had created the world; and the experience of absolute safety has been described by saying that we feel safe in the hands of God. A third experience of the same kind is that of feeling guilty and again this was described by the phrase that God disapproves our conduct.*6* Die Erfahrungen, auf die sich Wittgenstein vorher zur Erläuterung bezog, waren die des Sich-Wunderns über die Existenz der Welt sowie der eigenen Existenz. Er bezieht diese existentiellen Grenz- bzw. Grunderfahrungen sinnkritisch und explikativ auf den traditionellen Gottesbegriff des christlichen Glaubens, auf Gottes SCHÖPFUNG (Daß der Welt), Gottes 'disapprovement', wohl hier ZORN (Schuld) und Gottes GNADE (Geborgenheit). Er erörtert dabei ein klassisches Problem theologischer Rede: Die erwähnten Grenzerfahrungen sind Erfahrungen, das erwähnte Gefühl (feeling) der Geborgenheit eben ein Gefühl, und so "they are facts; they have taken place then and there, lasted a certain definite time and consequently are describable."*7* Als solche gehören sie selbst zur Welt der Tatsachen und es ist Unsinn, ihnen "absoluten" Wert zuzusprechen. Wittgenstein nennt dies "the paradox that an experience, a fact, should seem to have supernatural value."*8* Im letzten Satz gebraucht Wittgenstein die Rede vom Paradox ganz ähnlich, wie Kierkegaard sie insbesondere in christologischem Kontext gebraucht: als das Paradox, daß ein konkretes, weltlich gesehen unscheinbares Geschehen im Glauben den Charakter der Offenbarung und der erlösenden Wahrheit erhält. Durch einen weiteren theologischen Grundbegriff versucht Wittgenstein, das Paradox besser zu erfassen: durch den Begriff des WUNDERS. Dabei geht es ihm zunächst darum, ein Wunderverständnis im Sinne bloßer mirakulöser innerweltlicher Vorgänge abzuweisen. Denn ein solches Verständnis würde das eigentlich Wunderbare, das absolute Wunder gerade verdecken und verstellen. Das Paradox wäre zum Verschwinden gebracht, ein eigentliches Verständnis wäre depotenziert. Wittgenstein fingiert das 'miracle', daß einer Person plötzlich ein Löwenkopf wächst und zu brüllen beginnt. Wir könnten nun mit einer wissenschaftlichen Untersuchung dieser Person alles zunächst Wunderbare an diesem Ereignis nach und nach erklären, vielleicht mit einer Vivisektion. Haben wir etwas davon noch nicht erklärt, so heißt das nur: "we have hitherto failed to group this fact with others in a scientific system." Jeder weitere wissenschaftlich zutage geförderte Befund wäre wieder nur eine Tatsache. Anders steht es mit den eigentlichen Wundern: "And I will now describe the experience of wondering at the existence of the world by saying: it is the experience of seeing the world as a miracle. Now I am tempted to say that the right expression in language for the miracle of the existence of the world, though it is not any proposition in language, is the existence of language itself."*9* Daß der Sprache und Daß der Welt sind absolute Wunder, in denen sich der innerweltlich-innersprachlich unerklärliche, wissenschaftlich nie einholbare Sinn, ein absolut 'Wertvolles' zeigt. Aber Wittgenstein läßt auch und gerade an diesem Punkt seines Aufweises das Paradox wieder herein: Der Aufweis führt nicht zu einem Zustand, in dem wir das Wunder in irgend einer Weise zur subjektiven oder objektiven Verfügung hätten. Weder Sätze, noch Erfahrungen, noch Gefühle geben uns gleichsam etwas in die Hand, das wir dann besäßen, nach Hause tragen oder kontemplieren könnten. Wittgenstein wehrt sich gegen solche Vorstellungen: "You will say: Well, if certain experiences constantly tempt us to attribute a quality to them which we call absolute or ethical value and importance, this simply shows that by these words we DON'T mean nonsense, that after all what we mean by saying that an experience has absolute value is just a fact like other facts (...)."*10* Dies Bestreben, das Absolute doch irgendwie innerweltlich - sprachlich, in der Erfahrung, pragmatisch zur Verfügung haben zu wollen, verfehlt dessen völlige Inkommensurabilität. Das innerweltlich nur als Unsinn Erscheinende muß Unsinn bleiben - deswegen: "Was, du Mistviech, du willst keinen Unsinn reden?" - denn die Unsinnigkeit der angeführten Erfahrungen und Redeweisen "was their very essence": "For all I wanted to do with them was just to go beyond the world and that is to say beyond significant language. My whole tendency and I believe the tendency of all men who ever tried to write or talk Ethics or Religion was to run against the boundaries of language. This running against the walls of our cage is perfectly, absolutely hopeless."*11* Mit der absoluten Hoffnungslosigkeit klingt hier auch bei Wittgenstein das existentiell-ethische Motiv der Verzweiflung an. An diesen grundsätzlichen Ausführungen wird deutlich, daß Wittgenstein die kritische Reflexion auf die Grenzen der Sprache mit existentiellen Paradoxien in Verbindung setzt, die der Problematik der Heideggerschen ontologischen Differenz und, noch klarer, der religionsphilosophischen Grundproblematik im Werk Kierkegaards entspricht. Indem er in der unverstümmelten Waismann-Notiz auch noch auf Augustinus Bezug nimmt, ordnet er den Gesamtzusammenhang dieser Reflexionen selbst in den Kontext der theologischen Tradition ein. Damit sind diese Reflexionen auch als ganz orthodox zu kennzeichnen. Sie wiederholen nur, was traditionelle negative Theologie und Analogielehre seit Beginn des christlichen Abendlandes gelehrt hatten: Daß Gott eigentlich unerkennbar, unfaßbar und unsagbar ist; daß das Gute, das theologisch bzw. besser: religiös betrachtete Ethische in den Kategorien der Sünde und Gnade erscheint und nicht mit relativen menschlichen Maßstäben verrechenbar ist; daß angesichts dieser 'letzten Dinge' alles übrige sich relativiert und klein wird. Und dies ist auch, wenn ich recht sehe, das Selbstverständnis Kierkegaards gewesen: Er wollte in sinnkritischer Reflexion auf die Voraussetzungen von Offenbarung, d. h. ihres Verständnisses und ihrer Mitteilbarkeit ein radikales Verständnis glaubwürdigen Christseins erneuern, die ewige, rettende Wahrheit im "Augenblick" "wiederholen". Weil Wittgenstein sowohl das EXISTENTIELLE Problem: Wie ist absolut glaubwürdiges, ernsthaftes, im emphatischen Sinne gutes Leben mir und jedem von uns möglich? als auch das SPRACHPROBLEM: Wie ist von einem solchen Leben und für es relevanten Erfahrungen und Einsichten überhaupt etwas sinnvoll mitzuteilen? zutiefst vertraut war, kann seine Nähe und Zustimmung zu Kierkegaard nicht überraschen. Sie sind so emphatisch, wie diese Probleme grundlegend sind. Der Lebensweg Wittgensteins zeugt im übrigen, neben seinem Denken, von einem klaren und dauernden Bewußtsein dieser Probleme. Auch an späteren Äußerungen wird deutlich, wovon Wittgenstein überzeugt ist: Kierkegaard hat das Grundproblem gesehen, womit es Ethik und Religion aus seiner Sicht zu tun haben: Läßt sich zum Daß der Welt und der eigenen Existenz ein letztlich 'gutes' - bei Kierkegaard emphatisch: ein in Freiheit liebendes - Verhältnis gewinnen? Und wie läßt sich von einem solchen Verhältnis sprechen? Die übereinstimmende Auffassung beider Philosophen ist: Unmißverständlich jedenfalls nicht. Immer wieder hatte Kierkegaard genau dieses Problem und seine paradoxale Struktur zu artikulieren gesucht, insbesondere in seiner christologischen Zuspitzung. Hier hat auch seine Variante der negativen Theologie, die unter dem Titel 'indirekte Mitteilung' bekannt ist, ihren Sitz.*12* Würde man das Heilsgeschehen der Menschwerdung Gottes auf irgend eine Weise mit normalen, z. B. historischen Berichten auf eine Stufe stellen, so hätte man seinen Status verfehlt. Dann käme es nicht zum Anrennen gegen das Paradox, weil der eigentliche Ärger, der Skandal nicht erregt wären. "Unmittelbar", d. h. FALSCH verstanden wird das ganze Heilsgeschehen "ein leichtes, oberflächliches Etwas", eine "unwahre Erfindung", "welche den unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch vergißt", so daß "kein Mensch es zu begreifen vermag, daß im Verhältnis zu ihm der Anfang und das Ende Anbetung ist."*13* Der "UNENDLICHE QUALITATIVE UNTERSCHIED" ist es, der das Paradox hervorbringt, und er ist es auch, auf den ganz unmißverständlich Wittgensteins Zustimmung zu Kierkegaard in dieser Zeit abzielt. Kierkegaard schreibt: "Der Ernst ist gerade, daß Christus unmittelbare Mitteilung nicht geben kann, daß die einzelne unmittelbare Aussage lediglich in dem gleichen Sinne wie das Mirakel dazu dienen kann, aufmerksam zu machen, auf daß alsdann der Aufmerkende, indem er am Widerspruch anstößt, wähle, ob er glauben will oder nicht."*14* Die aus den VERMISCHTE BEMERKUNGEN bekannten einschlägigen Notizen, die ich hier nicht noch einmal aufführe, belegen es eindeutig: Wittgensteins Verhältnis zu Kierkegaard ist das rückhaltloser Zustimmung, und zwar in PUNCOT CHRISTENTUMVERSTÄNDNIS. Dieses Verständnis ist dezidiert, radikal und kompromißlos, unbedingt und existentiell - und damit wird es ganz traditionell dem emphatischen Wahrheitsanspruch der christlichen als der wahren Religion und unüberbietbaren Offenbarung gerecht. Ich habe schon vor längerer Zeit die These vertreten *15*, daß der TRACTATUS wie auch SEIN UND ZEIT, theologisch betrachtet, eher konservative, orthodoxe Werke sind, die auf ihre Weise, mit den Ausdrucksmitteln ihrer Zeit, also existentialontologisch bzw. sprachkritisch BESTIMMTE TEILE DER DOGMATIK beerben und in nur teilweise neuer Terminologie in ihre Analysen einbauen. Somit ist Wittgensteins Hinweis auf Heidegger in der Waismann-Notiz für SEIN UND ZEIT sehr treffend. Die dortigen Analysen von Schuld, Angst, Tod, Zeit und Eigentlichkeit sind als säkularisierte Form der Sündentheologie (Hamartiologie) und somit auch von Kierkegaards Beschreibung der unerlösten bzw. der christlichen Existenz zu betrachten, als "Protestantismus auf dem Nullpunkt der Säkularisierung" (Habermas).*16* Ebenso enthält der TRACTATUS gegen Ende konventionelle Elemente negativer Theologie: das dort angezeigte Unsagbare, das "Mystische", ist Gott. Und der ganze Aufbau des siebenstufigen Werkes kann als VIA NEGATIVA zur eigentlichen Wahrheit mystagogisch und sogar hierarchologisch-doxologisch aufgefaßt werden, so wie die für das christliche Abendland paradigmatische Form negativer Theologie bei Pseudo-Dionysios Areopagita.*17* Die so skizzenhaft identifizierbaren Dogmatik-Teile bzw. -Reste werden im Rahmen moderner Philosophie mitgeführt, jedoch kaum oder gar nicht auf ihre Herkunft reflektiert - sehr zum Schaden einer aufgeklärten Geschichtserfahrung. Für Wittgensteins Verhältnis zu Kierkegaard im Rahmen des hier explizierten Kontexts gilt also erstens: Er hat dessen Christentumverständnis geteilt und es als gültige Explikation des wahren Sinns von dessen rettendem, erlösendem Wahrhheitsanspruch gesehen. Das entspricht im übrigen auch dem konservativen Selbstverständnis Kierkegaards, der diesen Wahrheitsanspruch retten, bewahren und nur verdeutlichen wollte. Die eigene Übernahme dieses Wahrheitsanspruchs ist von Wittgenstein damit nicht explizit und eindeutig verbunden worden. Viele Lebenszeugnisse sprechen von einem denkbar ernsten, existentiellen Ringen in diesem Punkt; es scheint mir aber manches eher dafür zu sprechen, daß Wittgenstein eine konsequent 'diesseitige', insofern 'säkularisierte' Form mystischer Religiosität lebte. *18* Auch diese Sachlage könnte noch Kierkegaards Indirektheit bei der Mitteilung der christlichen Wahrheit entsprechen; dieser schreibt über die "Doppel-Reflexion der Mitteilung", es gelte, "Verteidigung und Angriff derart zur Einheit zu bringen, daß keiner unmittelbar ersehen kann, ob man angreift oder verteidigt, so daß der eifrigste Anhänger und der ärgste Feind der Sache, beide einen Verbündeten in einem vermuten können - und so selber niemand sein, ein Abwesender, ein objektives Etwas, kein persönlicher Mensch."*19* Der Gedanke der mittelbaren Mitteilung scheint Wittgenstein zutiefst zu prägen: Denn der TRACTATUS ist in seiner Bewegung der paradoxen Selbstaufhebung ein solch mittelbares, indirektes Mitteilen. Er ist indirekte Existenzmitteilung im Sinne Kierkegaards, und daher erfüllt sich seine ethisch-theologische Intention in der FORM DER REINEN GRENZZIEHUNG. DESHALB ist die "richtige Methode der Philosophie" "eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft - also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat -, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend - er hätte nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten - aber SIE wäre die einzig streng richtige." (Tractatus 6. 53) In diesem Sinne schreibt Wittgenstein am 9. 4. 1917 an Paul Engelmann: "Und es ist so: Wenn man sich nicht bemüht das Unaussprechliche auszusprechen, so geht NICHTS verloren. Sondern das Unaussprechliche ist, - unaussprechlich - in dem Ausgesprochenen ENTHALTEN!" Zumindest in dieser frühen Zeit und im Umfeld des TRACTATUS ist also auch ein methodologischer, i.e.S. systematischer Einfluß von Kierkegaard auf Wittgenstein feststellbar, der aber nicht explizit reflektiert wird. Da der 'christentumspezifische' Einfluß eindeutig belegbar ist - auch durch intensive Lektüre - mag es aber sein, daß der methodologische Aspekt der Indirektheit auch eher über die allgemeine Rezeption der christlichen negativen Theologie - szs. ihrer Standardgedanken - erfolgte. Denn die begriffliche Vermittlung von theologischen Einsichten und religiös-ethischen Wahrheiten steht seit Anbeginn unter ganz besonderen Rationalitäts- und Vermittlungsanforderungen. Auch die Sokrates-Rezeption durch Kierkegaard müßte hier genauer auf mögliche Relevanz für Wittgensteins Methoden-Verständnis befragt werden. Im Falle Kierkegaards ist es eindeutig, daß die Indirektheit dem 'Anrennen-Lassen gegen das Paradox' dient; daß sie NEGATIV-KRITISCH gegen 'objektivistisch' oder in falscher Selbstsicherheit sich Verstehende und insbesondere Glaubende gerichtet wird: als praktische Kritik der menschlichen Illusionsverfallenheit. Sie ist also therapeutisch verstehbar, sie soll eine KRISIS DES SELBSTVERSTÄNDNISSES herbeiführen, und insofern ist sie strukturell der Methode der therapeutischen Sprachkritik auch des späteren Wittgenstein verwandt. Die kathartische, paradoxale Selbstaufhebung, ja Selbstvernichtung des TRACTATUS stellt tatsächlich eine existentielle Krisis der eigenen Reflexion selbst dar, sie vollzieht sie. Die späteren Analysen vollziehen diese Bewegung gleichsam mikrologisch immer von neuem, bei jeder Gelegenheit. Der TRACTATUS ist das Ende der Philosophie, die UNTERSUCUNGEN sind die Philosophie ohne Ende. Ob die späteren Werke allerdings darüber hinaus in einem präzisierbaren Sinne indirekte Mitteilung letzter religiöser bzw. ethischer Wahrheit im Sinne Kierkegaards sind, bedarf weiterer Diskussion. ANMERKUNGEN *1* L. Wittgenstein, Zu Heidegger, in: Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis: Gespräche, aufgezeichnet von F. Waismann, hg. B. F. McGuiness, Frankfurt/M. 1967, S. 68f. *2* In meinem Buch: Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 1985, habe ich auch die hier thematisierten Texte bereits interpretiert; vgl. v. a. S. 211-220. *3* M. 0'C. Drury, Some notes on conversations with Wittgenstein, in: R. Rhees (Hg.), Ludwig Wittgenstein: Personal recollections, Oxford 1981, S. 102. *4* Drury, a.a.0., S. 94. *5* L. Wittgenstein, A lecture on ethics, in: Philos. review 74 (1965), S. 3-12, dort S. 9. *6* A.a.O., S. 9f. *7* A.a.O., S. 10. *8* Ebd. *9* A.a.O., S. 11. *10* Ebd. *11* A.a.O., S. llf. *12* Vgl. zum Thema: A. Hügli, Art. Mitteilung, Mitteilbarkeit, indirekte Mitteilung, in: Hist. Wörterbuch der Philosophie Bd. 5 (1980), Sp. 1424-1431; ders., Gibt es Dinge, die sich nicht mitteilen lassen? Kierkegaard und die Nicht-Mitteilbarkeits-These, in: A. Cortese/N. Thulstrup, Liber Academiae Kierkegaardiensis, Annarius, Tomus II-IV, Kopenhagen/Mailand 1982, S. 70-84. *13* S. Kierkegaard, Einübung im Christentum, in: ders., Werkausgabe, hg. E. Hirsch/H. Gerdes, Bd. 2, Düsseldorf 1971, S. 142. *14* A.a.O., S. 138. *15* Vgl. Vf., Heidegger und Wittgenstein, a.a.0. (Anm. 2), S. 210ff. *16* J. Habermas, Martin Heidegger, in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M. 1971, S. 81. *17* Vgl. dazu: J. Hochstaffl, Negative Theologie. Ein Versuch zur Vermittlung des patristischen Begriffs (1976) und vom Vf., Art. Pseudo-Dionysios Areopagites, in: J. Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Bd. 3; ferner Vf., Art. Theologie, negative, erscheint in: Hist. Wörterbuch der Philosophie Bd. 10 (1998). *18* Vgl. dagegen die starke 'Christlichkeitsthese' bei W. Schweidler , Wittgensteins Philosophiebegriff, Freiburg/München 1983, sowie die deutliche Kritik an ihr durch R. Wimmer, Wittgensteins fromme und unfromme Erben, in: Philos. Jahrbuch 92 (1985), S. 415-425. *19* S. Kierkegaard, a.a.0. (Anm. 13), S. 136.