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Datum der Veröffentlichung: 20.12.1998

Jürgen von Kempski:
"Stirner, der so gern Verlachte..."

von Bernd A. Laska

Der Anlass für das folgende Kapitel, das als Ergänzung zu meinem Buch »Ein dauerhafter Dissident« (1996) betrachtet werden kann, waren einige Nachrufe auf Jürgen von Kempski (20.5.1910 - 11.10.1998), die kürzlich in mehreren überregionalen Zeitungen erschienen. Sie brachten mir zur Erinnerung, dass mein Stirner-Archiv ein Kempski-Dossier enthält, das noch unausgewertet ist. Ich sah es erneut durch und fand, dass der "Stirner-Fall" Kempski, in dem bekannte Namen wie Carl Schmitt, Leopold von Wiese und Theodor Adorno, ebenso wie Marx, Nietzsche und Sartre, eine Rolle spielen, instruktiv genug ist, um als ein weiteres Kapitel der Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte der Stirner'schen Ideen dargestellt zu werden.

Jürgen von Kempski Rakoszyn, geboren und aufgewachsen in Osnabrück, studierte von 1930 bis 1935 Philosophie, Mathematik, Nationalökonomie und Jura, zuletzt bei Carl Schmitt (1) in Berlin. Er unterbrach sein Studium 1935, lebte zunächst, so der Klappentext zu seinen »Schriften 1-3« (1992) (2), als "freier Schriftsteller", und danach, von 1939-1945, als "Referent für Völkerrecht am Deutschen Institut für aussenpolitische Forschung" in Berlin. Kempski durfte bald nach Kriegsende wieder publizieren; er promovierte 1951 bei dem aus den USA remigrierten Theodor W. Adorno mit einer Arbeit über Charles Sanders Peirce.

Kempski, laut Klappentext "ab 1945 Privatgelehrter", wirkte seit 1947 als Herausgeber des »Archiv für Philosophie«, später als Lehrbeauftragter, Gast- oder Honorarprofessor an verschiedenen Universitäten. Henning Ritter schreibt in seinem Nachruf (3), dass es wahrscheinlich Kempskis ausserhalb des Üblichen liegende geistesgeschichtliche Verwurzelung, seine "Bindung an eine im Keime erstickte Tradition der Rechts- und Geschichtsphilosophie" des 19. Jahrhunderts -- gemeint ist die von Bruno Bauer vertretene Position -- gewesen sei, die diesen so ausserordentlich befähigten Autor immer ein Geheimtip blieben liessen. Kempski selbst sah, ohne dies näher zu erläutern, seinen "philosophischen Standort ... zwischen den Fronten" und sich selbst "im Bereich der organisierten Wissenschaft zwischen den Stühlen". (4) Erst hochbetagt war es ihm vergönnt, eine Werkausgabe seiner meist kürzeren Arbeiten erscheinen zu sehen.

Wenngleich Kempski als Denker sehr vielseitig war und über vielerlei Gegenstände geschrieben hat, so hat Ritter durchaus recht, wenn er sagt, dass Bruno Bauer, dass der Linkshegelianismus -- »Links von Hegel« ist eine Rubrizierung in seinen »Brechungen« für eine Reihe von Arbeiten aus den Jahren 1948 bis1969 -- für Kempski der geistesgeschichtliche Ort gewesen sei, dem er, wie verschüttet jene Ideen auch sein mögen, die grösste Bedeutung auch noch zum Verständnis der Jetztzeit zumass.

Diese ungewöhnliche Einschätzung hatte Kempski von seinem einstigen Lehrer Carl Schmitt übernommen, der ebenfalls ein starkes Interesse an Bruno Bauer hatte und z.B. in seiner »Weisheit der Zelle« (1947) -- zwar allgemein bleibend, aber mit raunendem Ton -- die "Tiefen des europäischen Gedankenganges von 1830-1848" als ein "Uranbergwerk der Geistesgeschichte" beschwor, das dessen Kenner für ein Verständnis des Gegenwärtigen und Kommenden prädestiniere. (5)

Kempski, der zu Carl Schmitt auch nach dessen Ächtung 1945 Kontakt hielt (6) und ihn immerhin 1953 öffentlich einen "brillanten Kritiker" des Liberalismus nannte, (7) versuchte denn auch wiederholt, jenes Uranbergwerk zu explorieren. Er fuhr dabei jedoch nicht so tief ein, dass er jene "gefährlichen" Flöze erreichen konnte, die Schmitt gemeint -- und selbst auch zeitlebens gemieden -- hatte. Kempski ist aber dennoch zu einem der wenigen näheren Kenner dieser "im Keime erstickten" Episode deutscher Geistesgeschichte zu zählen.

Der erste Versuch Kempskis zum Junghegelianismus erschien 1948, anlässlich des Centenariums des Kommunistischen Manifests von Marx und trug den Titel »Das kommunistische Palimpsest«. (8) Kempski unternimmt es darin, verschiedene überdeckende Schriften und Schichten abzutragen, die sich im Laufe der Zeit über die eigentliche Botschaft von Karl Marx gelegt haben: zunächst politisch motivierte kommunistisch/sozialistische Ideologeme eines unruhigen Jahrhunderts; dann das wissenschaftliche Lebenswerk von Marx selbst (»Das Kapital«); und als unterste Deckschrift sogar die von Marx schon 1848 (im »Manifest«) aufgebrachte Geschichtsphilosophie des sog. historischen Materialismus.

Diese Überdeckungen gelte es zunächst abzutragen. "Nun erst", schliesst Kempski, "sind wir imstande, das letzte Wort, das unauslöschlich auf ihm [dem freigelegten Grund des Palimpsests] eingeschrieben ist, von allen dogmatischen Übermalungen zu befreien und als die schlichte Forderung des Naturrechtes zu begreifen, den Rechtszustand zu realisieren und damit den Zustand, in dem 'die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.'"(9)

Kempskis Text sei, so Henning Ritter, "eine noch heute mit Gewinn lesbare Studie" -- wohl, weil sie den "Humanismus" der Marx'schen Frühschriften hervorkehrt. Von produktiverem, aktuellem Interesse dürfte jedoch eine unscheinbare Fussnote Kempskis darin sein, die folgenden Wortlaut hat: "Es ist immer noch eine lohnende, weil nicht gelöste Aufgabe, die Transformation des Marx'schen Hegelianismus zum historischen Materialismus unter dem Zwang dessen, was ihm durch die Bauer, Stein, Feuerbach usw., aber auch durch seine [Marx'] Befassung mit Politik aufgeht, pünktlich nachzuzeichnen." (10)

Diese Fussnote blieb 1964 im Nachdruck (»Brechungen«) bestehen, und sie steht auch noch im Neudruck des Essays 1992 (»Schriften 1«); sie überdauerte also zwei Textrevisionen und mehr als drei Jahrzehnte und verrät dem aufmerksamen Leser: Kempski hat in seinem langen Gelehrtenleben versäumt, diese "lohnende Aufgabe", die er schon 1948 als "immer noch" überfällig bezeichnet hat, in Angriff zu nehmen, und er hat die Lösungsversuche jener (wenigen) Autoren, die die Rolle Stirners in diesem Transformationsprozess überhaupt thematisierten, übergangen. (Vgl. zu diesem für die Stirner-Rezeption typischen Phänomen der sekundären Verdrängung: Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident. Nürnberg: LSR-Verlag 1996, S. 73-77, passim)

Nicht nur das "usw." im letzten Zitat, auch eine Reihe anderer Textstellen im »Palimpsest« verweisen darauf, dass Kempski Stirner aus seinen Betrachtungen ausblenden will -- obwohl er bei seiner profunden Kenntnis der hegelianischen Literatur jener Zeit natürlich auch, wie er an anderer Stelle unbeabsichtigt zeigt, Stirners »Einzigen« gut kannte. (11) Stattdessen versucht er, "die entscheidende Bedeutung, die Bauer Bruno für Marx gewonnen hat" hervorzuheben. Marx' philosophische Innovation, der historische Materialismus als Basis der gesamten Marx'schen Theorie, sei "keineswegs [wie meist gesagt] die Folge einer Umstülpung des originalen Hegel, sondern eines bereits atheistisch modifizierten Hegel. - Diese Modifikation hatte der Theologe Bruno Bauer vollzogen." (12)

Doch erst ein gutes Jahrzehnt später geht Kemspki näher auf die intrikate Rolle ein, die er dem "Schicksalsmann" (13) Bruno Bauer zuschreibt: in einer Arbeit, die er, in Anlehnung an Engels' berühmtes Feuerbach-Buch "eine Studie zum Ausgang des Hegelianismus" untertitelt. (14) Auch hier bringt er es fertig -- wie vor ihm übrigens auch Engels -- Stirner fast vollständig auszublenden.

Doch warum will Kempski Stirner in seinen Studien ausblenden? Wie in vielen Fällen der Re(pulsions- und De-)zeptionsgeschichte des »Einzigen« ist es auch bei Kempski kaum möglich, die Gründe für das Ausweichen vor Stirner durch einschlägige Belege zu erfahren. Nur hin und wieder finden sich Andeutungen, die zumindest die Art des Stirner-Verständnisses des jeweiligen Autors erahnen lassen.

So schreibt Kempski zur Zeit der Abfassung des »Palimpsests« in einem Aufsatz über den »Geist der europäischen Philosophie« im Zusammenhang mit Nietzsche: "Dies alles verschwindet vor jener Relativierung und Pragmatisierung der Wahrheit, die ihren reinsten Ausdruck in dem Aphorismus [Nr. 493] aus dem 'Willen zur Macht' gefunden hat: 'Wahrheit ist die Art von Irrtum ohne welche eine bestimmte Art vom lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.' Stärker und schärfer nun freilich kann die Absage an den Geist der europäischen Philosophie nicht ausgedrückt werden. Dass mit diesem Schritt freilich alle mögliche Notwendigkeit in bezug auf den Menschen als erkennendes und moralisches Wesen ein Ende hat, das lehrt jede konkrete Situation, in der es gilt, den Wert, den etwas für das Leben hat, zu entscheiden, und so mochte wohl manchem erscheinen, dass hier in letzter Konsequenz 'der Einzige' Max Stirners, dem nichts über sich selbst geht, das letzte Wort auch über die neuen Werttafeln behalten könnte, die gegen die alten aufzurichten Nietzsche nicht müde geworden war." (15)

Kempski scheint hier sagen zu wollen, dass die verbreitete Meinung, Nietzsche habe das Wenige, das bei dem banausischen Stirner allenfalls bedenkenswert sein könnte, auf ein kulturvolles Niveau gehoben und -- dies vor allem -- antiquiert; dass diese nie und nirgends in Frage gestellte, allgemein etablierte Auffassung einer näheren Prüfung nicht standhalten könne.

Und im Zusammenhang mit Marx schreibt Kempski kurze Zeit später in einer begriffsgeschichtlichen Studie: "Marx und Engels polemisieren gegen Stirner: 'Um "einzig" in seinem Sinn zu sein, muss er uns vor allem seine Voraussetzungslosigkeit beweisen.' [Aber] bei Stirner kommt, soweit ich sehe, das Wort 'Voraussetzungslosigkeit' bzw. 'voraussetzungslos' nicht vor." (16)

Kempski scheint auch hier zu meinen, eine zweite allgemein etablierte und nie ernsthaft angezweifelte Auffassung, nämlich die von der Geschichte des Junghegelianismus als einer Verfallsgeschichte des Hegelianismus, aus der einzig Marx mit einer grossen Theorie hervorgegangen ist, sei nicht wirksam zu verteidigen, wenn sie denn einmal in Frage gestellt würde. (Nebenbei verrät er hier seine profunde Kenntnis der Stirner'schen Texte -- die nicht durch ein Sachwortregister erschlossen sind, vgl. Anm. 11).

Dass Kempski Stirner für einen kritischeren Kopf als Marx hält, zeigt sich noch einmal kurz in einer späteren Schrift. Hier geht es um die Kritik an Eugène Sues Roman »Die Geheimnisse von Paris« im Jahre 1844. "Genauer als Marx hatte damals Max Stirner den Charakter von Sues Roman durchschaut..." (17) Wobei Kempski zu vermerken vergass, dass Stirners Kritik der Marx'schen voranging und Marx sie vor Abfassung der seinen kannte.

Diese sporadischen Äusserungen Kempskis erscheinen in ihren Kontexten zwar als marginal und werden vom Normalleser übergangen; sie sind aber allen Anzeichen nach Auswirkungen eines von Kempski gespürten, aber nicht gelösten und ihn deshalb vage und ambivalent machenden philosophischen Grundproblems.

Noch einmal deutlich wird diese Ambivalenz Kempskis, als er sich in einem Essay mit dem Kern des atheistischen Existenzialismus' Sartres befasst. Er konstatiert eine "deutliche Parallele", eine grosse "Nähe" zwischen Sartre und Stirner. Sartre sei derjenige, der die "existenzialistische Bewegung ... auf den extremsten Ausdruck gebracht" habe. Dennoch: Sartre "biegt den so radikalen Individualismus Stirners, den auch sein eigener Ansatz enthält, ab", er erliegt Täuschungen. Sartres "Vorgänger" indes, wie Kempski Stirner auch nennt, "sieht klar", "sieht schärfer als Sartre", "zieht die einzige Konsequenz" (aus dem Postulat der moralischen Autonomie des Menschen), erscheint in allen Punkten, zu denen Kempski ihn aufruft, als der Überlegene. Gleichwohl: Stirners immer wieder bewunderte unübertroffene Konsequenz nennt Kempski letztlich "devastierend" -- und er setzt als selbstverständlich voraus, dass jedermann ohne Erklärung weiss, inwiefern sie dies ist. (18)

In einer anderen, ungefähr zur gleichen Zeit verfassten Schrift sagt Kempski vielleicht noch am deutlichsten, was er unter der devastierenden Konsequenz des Stirner'schen Denkens versteht: "Die Junghegelianer glaubten, den Staat streichen und die Gesellschaft übrigbehalten zu können. [Nur einer von ihnen,] Stirner, der so gern verlachte, war konsequent: was bleibt, ist eine Gesellschaft von 'Egoisten', in der jeder sein' Sach' auf Nichts stellt und 'Eigner' seiner Macht ist." (19)

*

Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten:

1) Kempski war einer der wenigen guten Kenner des Jung- bzw. Linkshegelianismus.

2) Kempski hielt den Linkshegelianismus für eine bedeutende und allgemein unterschätzte Periode der europäischen Geistesgeschichte. Er widmete ihm mehrere Studien, die zusammen genommen Buchformat haben (»Links von Hegel« in seinen Schriften 1).

3) Kempski nennt darin den Namen Stirner relativ selten, dann aber meist in wichtiger Funktion, nämlich, um auf die Inkonsequenz von als radikal geltenden, einflussreichen atheistischen Philosophen (Marx, Nietzsche, Sartre) hinzuweisen, die nach Stirner sozusagen an Stirner vorbei denken wollten.
Vgl. hierzu:
»Den Bann brechen! Teil 1: Stirner, Marx und Marxforschung«
»Den Bann brechen! Teil 2: Stirner, Nietzsche und Nietzscheforschung«

4) Kempski hielt es für inadäquat, dass Stirner von den Experten für Philosophie bzw. für die Humanwissenschaften im allgemeinen nicht ernst genommen wird; dass man ihn "verlacht", statt sich mit ihm argumentativ auseinanderzusetzen.

5) Kempski postulierte also zwar, man solle Stirner ernstnehmen, tat dies selbst aber ebenfalls nicht, setzte sich jedenfalls trotz sonstiger Publizierfreudigkeit nicht öffentlich mit ihm auseinander.

*

Kempskis Einschätzung der Rolle Stirners in der Geistesgeschichte sowie seine eigene Stellung Stirner gegenüber kommt derjenigen recht nahe, die Roberto Calasso in einem Kapitel seines Buches »Der Untergang von Kasch« (20) mit etwas weniger Zurückhaltung beschrieben hat. Calasso gab seinem Stirnerkapitel die sprechende Überschrift »Der künstliche Barbar« (S. 312-347). Einige Zitate daraus: (vgl. a. hier)

"Stirner ist eines der vielen Zeichen, an denen das Ende der Bildung zu merken ist. (S. 312)
[...]
Von mancher Seite verlautet auch, es sei davon auszugehen, dass sich ein zünftiger Philosoph mit so etwas wie Stirner nicht befassen könne. [...] Aus der Kultur ist Stirner weiterhin ausgestossen, obwohl ihm Hunderte und Aberhunderte von Abhandlungen gewidmet sind. (S. 313)
[...]
Besonders fühlbar wird Stirners Präsenz ... bei Autoren, die sich über ihn ausschweigen oder ihn in nie veröffentlichten Texten besprechen, bei Nietzsche und Marx. Viele ihrer Worte können nur dann begriffen werden, wenn man sie als ungeduldiges, mitunter fieberhaftes Flüstern liest, das sich an das sie verfolgende Gespenst Stirner richtet. Im direkten Austausch haben Marx und Nietzsche einander nie viel zu sagen gehabt, doch sie verständigen sich wie zwei Personen, denen, obwohl sie einander nicht kennen, ein Traum (oder ein Grauen) gemeinsam ist. Daher sind sie genötigt, wenigstens im verbissenen, komplizenhaften, empörten, finsteren und zirkulären Ringen mit ihrem Gespenst zusammenzukommen. Dieser Kampf fesselt sie aneinander wie Häftlinge im selben Kerker. Bei Stirner finden diese beiden klardenkenden und provozierenden Erstbefürworter der "experimentellen Philosophie" einen geheimen Teil ihres eigenen Denkens wieder, allerdings jenen, den sie in seinen Konsequenzen nicht anerkennen wollen. Durch ihre ganze Lebensgeschichte lassen sich die Phasen der geduldigen Verheimlichungsarbeit verfolgen..." (S. 314)

In diesen Passagen finden sich wichtige Übereinstimmungen mit meiner Sicht der Wirkung Stirners, wie ich sie u.a. in »Ein dauerhafter Dissident« dargestellt habe und für die Fälle Marx und Nietzsche detailliert in späteren »Stirner-Studien« darstellen werde. Calassos grundsätzliche Interpretation des »Einzigen« steht jedoch zu meiner im Gegensatz. Das signalisiert dem mit dem »LSR-Projekt« Vertrauten bereits Calassos Kapitelüberschrift; das zeigt sich im Tenor seines Stirner-Kapitels, deutlich z.B. in folgenden Passagen:

"Der Einzige stand in der Bibliothek des jungen Dostojewski. ...das von Stirner vorgeführte anthropologische Monstrum, das dann in Dostojewskis Romanen weiterlebt... ...Bei Dostojewski bricht eine ähnliche Zerrüttung alles Menschlichen ... in den Roman ein... ...Das von Stirner als Einziger bezeichnete Wesen ist vor allem eine formlose Höhlung, aus der Dostojewski ein Wimmeln von Gesichtern heraufbeschwört, zu denen nicht nur Raskolnikow, Kirillow und Iwan Karamasow gehören, sondern auch der Mann aus dem Kellerloch, der sie in seiner angemessenen Anonymität in gewisser Weise alle umfasst." (S. 328f)

*

Kempski hatte seine leicht tadelnde Bemerkung über jene, die Stirner, den einzigen konsequenten atheistischen Denker, so gern verlachen, mit vorsichtiger Beiläufigkeit in einem Aufsatz über Ernst Bloch gemacht. Er meinte wohl Bloch und viele derjenigen, die damals, in Auseinandersetzung mit Problemen, die durch die Existenzphilosophien aufgeworfen worden waren, sich an die gerade noch rechtzeitig gekommene Erstpublikation der Marx'schen Frühschriften hielten und bereitwillig in Marx' (seinerzeit privat gebliebenes) sardonisches Verlachen von »Sankt Max«, den "dürftigsten Schädel unter den Philosophen", einstimmten. Doch so wie Marx seine inadäquate Reaktion auf Stirner nach einiger Besinnung beschönigend als private "Selbstverständigung", nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, ad acta  legte, so blieb der Ort des von Kempski allenthalben bemerkten "Verlachens" Stirners der philosophische Stammtisch. Kempski wird dies am eindrucksvollsten im Umkreis seines Doktorvaters Adorno erlebt haben. Dieser gab zwar intern den Spass zum besten, Stirner sei der einzige, der wirklich "den Hasen aus dem Sack gelassen" habe, liess aber nach aussen hin kein Wort über ihn verlauten. (21)

Einige der damaligen Autoren liessen ihren Spott auf Stirner auch in ihre Werke ein. Ernst Bloch spricht von dem "Oberlehrer Schmidt" und dessen "merkwürdiger Schrift". Diese erscheint ihm angeblich als "eine einzigartige, grossartige, gefährliche Spielerei. Selbstverständlich ist sie nicht ernst gemeint, beinahe eine Parodie, und doch wieder keine Parodie, sondern eben eine Paradoxie..." (22) Ulrich Sonnemann nennt Stirner eine "verkrachte Existenz", um "unsere heutige 'anonyme' Gesellschaft" wegen ihrer "menschlichen und geistigen Verarmung" als "stirnerisch durch und durch" zu denunzieren. (23) Günther Anders, dessen Vater, der "Wertphilosoph" William Stern, schon gegen Stirners "Gesinnung" als "seltsames Gemisch von Ernsthaftigkeit, Selbstironisierung und Ironisierung des Publikums" polemisierte, (24) bedient sich, wie Bloch, Georg Lukács und viele andere im Gefolge von Marx, der Klischeegestalt des "wildgewordenen Kleinbürgers", um Stirner lächerlich zu machen. Er nennt ihn einen "verbockten Monopolisten seiner selbst", sein Buch "roh", seinen Ansatz "absurd" und seine als "Homunkulus-Idee" charakterisierte Doktrin "komisch" (25) -- alles in allem eine Mischung aus Verlachen und Beschimpfen.

Das von Kempski 1962 wie nebenbei ausgesprochene Wort vom zu Unrecht verlachten Stirner kann als Signal eines gewissen Wandels im Ton der informellen Diskussionen aufgefasst werden. Man begann wohl selbst zu spüren, dass jenes Stammtischlachen nicht unbedingt ein Zeichen der eigenen Stärke oder Überlegenheit ist.

Einer der ersten, die ihrer Bedenklichkeit öffentlichen Ausdruck gaben, war Leopold von Wiese [und Kaiserswaldau], einer der einst tonangebenden deutschen Soziologen. Wiese (1876-1970) -- Kempski war einer seiner Schüler und Mitherausgeber der Festgabe zu dessen 70. Geburtstag -- hatte als Student sich "dem Radikalismus und skeptischem Nihilismus [Stirners] hingegeben", (26) diesen bald jedoch zugunsten einer glänzenden Berufskarriere verdrängt. In Wieses zahlreichen Schriften -- und trugen sie auch einen Titel wie »Das Problem der Ichheit« (27) -- spielte Stirner keine Rolle mehr. Jetzt, im Alter von 86 Jahren, besann Wiese sich auf den Verfemten und Verlachten: "Zu schnell und kurzsichtig ist oft dieser ungewöhnliche Denker als nicht ganz zurechnungsfähig abgetan worden." Das ist nicht zuletzt eine Art Geständnis. Wiese ist natürlich kein Adept Stirners geworden, aber er fordert: "Ehe man ihn ablehnt, muss man mit ihm ringen und seine Denkweise verarbeiten." Wiese will offenbar nachholen, was er ein Leben lang versäumt hat. "Hier, wo die Kernfrage aller Ethik und Sozialordnung ... geprüft werden soll, kann nicht darauf verzichtet werden, zunächst die wohl weitgehendste Auffassung von dem, was man Individualismus nennt -- eben die Stirners -- heranzuziehen." Wieses Haltung bleibt freilich ambivalent. Einerseits stellt er die rhetorisch klingende Frage: War die Menschheitsgeschichte, "diese unaufhörliche Kette der Einschüchterung des Ich, eine heilvolle und unvermeidliche Entwicklungsbahn? [wie allgemein behauptet wird] [...] Hätten die Menschen, wenn sie nicht entschieden vom Wege der Eigenheit (in Stirners Sinne) abgedrängt worden wären, nicht vielleicht glücklicher und grossartiger gelebt? Ist der Triumph des Wir [des Über-Ich?] über das Ich ein Segen?" Andererseits: Dass "man" Stirner schliesslich abzulehnen hat, steht, wie im obigen Zitat so auch in einigen sonstigen Bemerkungen, nach wie vor als Selbstverständlichkeit fest. (28)

Wenig später, 1964, trat ein weiterer Autor, der während seiner akademischen Karriere nicht als an Stirner Interessierter aufgefallen ist, der Rechtsphilosoph Carl August Emge (1886-1970), mit einer Monographie an die Öffentlichkeit, die den Titel trug: »Max Stirner -- Eine geistig nicht bewältigte Tendenz.« (29) Emge, der behauptete, all seine Arbeiten würden, ohne dass Stirner erwähnt sei, dessen Spuren tragen, (30) versucht hier "die Grundthese Stirners ["Mir geht nichts über Mich"] neu zur Diskussion zu stellen." (31) Das Ergebnis seiner Schrift ist kaum zu fassen. Eines jedenfalls tut Emge, wie Wiese, nicht mehr: Stirner "verlachen".

Parallel zu diesen als Beispiele aufgeführten Arbeiten älterer Autoren entstand Anfang der 60er Jahre ein weiteres Werk, das Stirner zwar in bisher nicht gekanntem Ausmass (qualitativ und quantitativ) verächtlich machte, ihn zwar auch etwas "verlachte", in erster Linie jedoch dämonisierte: als den ideologischen "Protofaschisten" (32): »Die Ideologie der anonymen Gesellschaft« (1966) von Hans G. Helms. Die Arbeit des jungen, 1932 geborenen Autors, die im Umkreis des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (Horkheimer, Adorno) entstand, stiess trotz ihrer hanebüchenen Grundthese auf relativ grosses Interesse, vor allem bei der jungen, sich neomarxistisch orientierenden Intelligenz. Helms' Buch und die von Helms 1968 edierten Auszüge aus Stirner waren der Beginn der sog. zweiten Stirner-Renaissance. (33)


Anmerkungen:

(1) Zu Carl Schmitts Verhältnis zu Stirner vgl. Bernd A. Laska: "Katechon" und "Anarch". Nürnberg: LSR-Verlag 1997

(2) Jürgen von Kempski: Schriften. Bände 1-3 (m.eig.Titel). Frankfurt/M.: Suhrkamp-Verlag 1992 [zus. ca. 1500 S.]

(3) Henning Ritter: Brechungen. In: FAZ, 16.10.1998, S. 44

(4) Jürgen von Kempski: Brechungen. Reinbek: Rowohlt-Verlag 1964, S. 328

(5) Carl Schmitt: Ex captivitate salus. Köln: Greven-Verlag 1950. S.79-91 (81)

(6) vgl. Nachlass Carl Schmitt. Verzeichnis des Bestandes im Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv [Düsseldorf], bearbeitet von Dirk van Laak und Ingeborg Villinger. Siegburg: Respublica-Verlag 1993. 698 S. Im Nachlass befinden sich von Kempski 2 Briefe (1953, 1974), 2 Bücher, 7 Aufsätze bzw. Sonderdrucke, davon einige mit persönlicher Widmung des Verfassers.

(7) Jürgen von Kempski: Über den Liberalismus. In: Merkur (1953), zit.n. Schriften 2, a.a.O., S. 300-320 (301)

(8) Jürgen von Kempski: Das kommunistische Palimpsest. In: Merkur 7, 1948. Nachgedruckt in: ders., Brechungen (1964), a.a.O., und Schriften 1 (1992), a.a.O., S. 127-145

(9) ebd., S.145

(10) ebd., S. 138, Fn. 6

(11) Jürgen von Kempski: Voraussetzungslosigkeit (1951), siehe Schriften 1, a.a.O., S. 174-197. S. 183 sagt Kempski, das Wort "Voraussetzungslosigkeit" komme bei Stirner nicht vor, was eine sehr gute Textkenntnis bezeugt, da Stirners Schriften nicht mit einem Sachwortregister versehen sind.

(12) Kempski, Palimpsest, a.a.O., S. 139

(13) Jürgen von Kempski: Universalgeschichte und Gegenwartsdiagnose (1952), zit.n. Schriften 1, a.a.O., S. 62-81 (64)

(14) Jürgen von Kempski: Über Bruno Bauer. Eine Studie zum Ausgang des Hegelianismus (1962), in: Schriften 1, a.a.O., S. 146-173

(15) Jürgen von Kempski: Kant und der Geist der europäischen Philosophie (1947). Zit.n. Schriften 3, a.a.O., S. 44-77 (63)

(16) Kempski: Voraussetzungslosigkeit.., a.a.O., S. 183

(17) Jürgen von Kempski: Literatur und Lukács (1962), zit.n. Schriften 1, a.a.O., S.224-247 (226)

(18) Jürgen von Kempski: Sartres "Wahrheit" vom Menschen (1960), zit.n. Schriften 1, a.a.O., S. 263-284 (275-279)

(19) Jürgen von Kempski: Bloch, Recht und Marxismus (1962), zit.n. Schriften 1, a.a.O., S. 218-223 (218)

(20) Roberto Calasso: Der Untergang von Kasch. (it. Orig. 1983). Frankfurt/M.: Suhrkamp-Verlag 1997

(21) vgl. Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident. Nürnberg: LSR-Verlag 1996. S. 77

(22) Ernst Bloch: Neuzeitliche Philosophie II. Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie 1950-1956. Frankfurt/M.: Suhrkamp-Verlag 1985. S. 419f

(23) Ulrich Sonnemann: Entmachtung einer verkrachten Existenz. In: Kölner Stadtanzeiger Nr. 184. Beilage zu: Kölnische Zeitung, 10. August 1967, S. 16

(24) William Stern: Wertphilosophie. Leipzig 1924. S. 58

(25) Günther Anders: Nihilismus und Existenz. In: Die Neue Rundschau, 1947, S. 48-76 (61)

(26) Leopold von Wiese: Erinnerungen. Köln 1957. S. 21

(27) Leopold von Wiese: Das Problem der Ichheit. In: Das Neue Deutschland 10 (1922), S.115-119

(28) Leopold von Wiese: Das Ich-Wir-Verhältnis. Berlin 1962. S. 21-29

(29) Carl August Emge: Max Stirner. Eine geistig nicht bewältigte Tendenz. Mainz: Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1964

(30) vgl. Laska, Dissident, a.a.O., S. 46

(31) Emge, Stirner, a.a.O., S. 45

(32) vgl. Laska, Dissident, a.a.O., S. 84-87

(33) vgl. Bernd A. Laska: Ein heimlicher Hit. Nürnberg: LSR-Verlag 1994

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