http://www.gkpn.de/topitsch.htm

 

Prof. Dr. Ernst Topitsch (Graz)

Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts

aus: Aufklärung und Kritik 1/1994 (S. 1 ff.)

 

Immer wieder sind Philosophen mit dem Anspruch aufgetreten, um das "wahrhaft Gute" oder die "wahre" Staats- und Gesellschaftsordnung zu wissen, und nicht selten haben sie sich dabei auf ein "höheres", mit den Mitteln des "gemeinen Menschenverstandes" unüberprüfbares und unkritisierbares Wissen berufen. Dieser Anspruch wurde nicht selten durch die Erwartungshaltung von Menschen anerkannt und verstärkt, die sich von den Worten des "Weisen" Rat und Hilfe in schwierigen Situationen versprachen. Wo sich nun dergleichen nicht auf die Privatsphäre, sondern den Bereich des Politischen bezog, ergab sich nicht selten eine delikate Situation. Einerseits will der "Weise" als "Philosophenkönig" selbst herrschen oder als Mentor des Politikers diesen gewissermaßen als Schwertarm benützen. Andererseits denkt der Politiker nicht daran, sich einer solchen Vormundschaft zu unterwerfen, sondern will den Philosophen als Aushängeschild zu propagandistischen Zwecken benützen. Solange dieser mitspielt, wird er geehrt und hochgelobt, weil sein Ruhm seinen Propagandawert steigert. Ist er aber nicht mehr brauchbar oder gar hinderlich, dann kommt es zum Bruch. Dergleichen ist nicht selten, denn der Philosoph ist häufig von einem übersteigerten Selbstwertgefühl oder Sendungsbewußtsein erfüllt, der Politiker aber will den gebeugten Rücken sehen. Das mag dann bald als Tragödie, bald als Farce enden. Beispiele aus jüngster Zeit sind etwa das Debakel Martin Heideggers im Dritten Reich oder dasjenige Ernst Blochs in der DDR. Man könnte auch artige Betrachtungen über das wahrscheinliche Schicksal von Marx und Engels unter Stalin anstellen. Doch die beiden waren bereits tot und konnten nicht mehr liquidiert werden, sondern wurden zu ikonenartigen Kultfiguren hochstilisiert. Stalin selbst aber ließ sich byzantinisch als "größten Philosophen aller Zeiten" feiern.

Damit hat der Politiker den Philosophen völlig übermächtigt und ihn zum hörigen Funktionär degradiert, der die Unfehlbarkeit des Diktators oder der Partei zu preisen, deren Entscheidungen liebedienerisch zu kommentieren und die offizielle Ideologie – hier die marxistisch-leninistische Staatsreligion – buchstabengetreu zu verkünden hat. Originalität und Kreativität sind da nicht gefragt, sondern eher verdächtig, und reüssieren konnte in der Regel nur, wer sich mangels eigener Gedanken der jeweiligen Parteilinie geschmeidig anpassen mochte bzw. ein solches Intelligenzdefizit auf wies, daß er den Machthabern ungefährlich schien. Ausnahmen wurden höchstens gemacht, wenn man den Betreffenden als auch im Westen vorzeigbaren Propagandisten benützen wollte, da dort die Auftritte der gewöhnlichen Diamatniki eher blamabel wirkten. Doch selbst ein Georg Lukacs hatte mit den Parteiautoritäten genug Schwierigkeiten.

Freilich hat die marxistisch-leninistische Staatskirche zumindest indirekt an den byzantinischen Cäsaropapismus angeknüpft, darüber hinaus aber überhaupt an die Traditionen hierokratisch institutionalisierter Ideologien. Schon Nikolaj Berdjajew hat auf die Ähnlichkeiten zwischen Sowjetphilosophen und katholischen Theologen hingewiesen, und ein so unverdächtiger Zeuge wie der Jesuitenpater Gustav A. Wetter, Professor am Päpstlichen Orientalischen Institut in Rom, hat das dann kurz nach dem Zweiten Weltkrieg weiter ausgeführt: Das kommunistische "Offenbarungsgut" ist in vier "kanonischen" Texten – Marx – Engels – Lenin – Stalin – niedergelegt und "einem ‘unfehlbaren Lehramt’ anvertraut in Gestalt des Zentralkommitees der Bolschewistischen Partei und ‘persönlich des Genossen Stalin’. Aufgabe des einzelnen Sowjetphilosophen ist es nicht etwa, dieses Lehrgut zu bereichern und zu vermehren, sondern lediglich die Menschen seine Anwendung auf alle Lebensbereiche zu lehren und durch ‘Entlarvung’ von ‘Häresien’ für seine Reinerhaltung zu sorgen" (577 f.).

Und wie die Kirche sich ein Wissen um das in der göttlichen Natur- und Schöpfungsordnung niedergelegte "wahrhaft Gute" zuschreibt, so beansprucht der Marxismus nicht erst in seiner spezifisch sowjetischen Ausprägung ein Wissen um das "wahrhaft Gute", das sich im dialektischen Geschichtsprozeß – einer "Weltgeschichte als Heilsgeschehen" – mit unentrinnbarer Notwendigkeit verwirklicht.

Dem allen steht das Selbstverständnis des Philosophen gegenüber, der sich weder aufgrund eines vermeintlichen Wissens um das "wahrhaft Gute" die Rolle eines Heilsbringers und zumal Heilsherrschers anmaßt, aber noch viel weniger zum bloßen Propagandawerkzeug der Mächtigen verkommen will.

Hier mögen nun einige Erinnerungen eines Zeitzeugen ihren Platz finden. Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und nach der von wirtschaftlicher Not und politischer Unrast geschüttelten Ersten Republik wurde 1934 der christlich-autoritäre ("klerikofaschistische") Ständestaat etabliert, der 1938 von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft abgelöst wurde, und als ich aus dem Krieg heimkehrte, fand ich meinen Wiener Wohnbezirk in der russischen Besatzungszone und mich selbst als eine Art von Untertanen Stalins. Zugleich aber bemächtigten sich klerikal-restaurative Kräfte des Unterrichtsministeriums und betrieben mit allem Nachdruck eine administrative Verchristlichung der Hochschulen. So erlebte man eine Reihe politischer Systeme, deren oft brutal vertretene Absolutheitsansprüche in schneidendem Gegensatz zu ihrem raschen Wechsel standen. Das war ein höchst eindrucksvoller Anschauungsunterricht zum Thema der "Relativität des Absoluten", zugleich aber stellte sich die Entscheidung zwischen opportunistischer Anpassung oder geistiger Selbstbehauptung.

Nun hatte ich unter dem nationalsozialistischen Terror von eher Wiederherstellung der Geistesfreiheit im Zeichen eines christlichen Humanismus geträumt, doch was dann wirklich kam, war eine erstickende provinzielle Restauration, und ein kläglicher Klerikalismus verbreitete in den Hallen der Alma Mater eine fast mit Händen greifbare Atmosphäre intellektueller Unredlichkeit, ohne auf entschiedenen Widerstand zu stoßen. Palladium dieses ganzen Systems aber waren die ewigen Werte des in der göttlichen Schöpfungsordnung verankerten christlichen Naturrechts.

Dem christlichen Humanisten wurde also eine desillusionierende Lektion erteilt. Überdies war ich als klassischer Philologe und Althistoriker gewissermaßen mit dem Thukydides im Tornister durch den Zweiten Weltkrieg gezogen und hatte auch über diesen Autor dissertiert. Der tiefe Ernst und die männliche Herbheit, mit welcher er der unleugbaren Brutalität der geschichtlichen Tatsachen ins Auge sieht, hatte mich stets beeindruckt. Dazu kam nun ein anderer Lehrer einer illusionslosen Weltbetrachtung: Max Weber. Dann begann ich mir die unter dem Ständestaat und zumal dem Nationalsozialismus verpönten, aber auch von den kulturpolitisch Maßgebenden scheel angesehenen Traditionen der großen österreichischen, teilweise jüdisch bestimmten Aufklärung zu erarbeiten: den "Wiener Kreis", Siegmund Freud, Hans Kelsen, Heinrich Gomperz, Karl Popper.

Als frühes Ergebnis dieser Entwicklung veröffentlichte ich 1950 in der prekären Stellung eines noch nicht habilitierten Assistenten den Aufsatz "Das Problem des Naturrechts" – nach 1945 eine der ersten entschiedenen Kritiken der Naturrechtslehren, die damals den nichtkommunistischen Teil des deutschen Sprachgebiets fast unangefochten beherrschten. An diesem Übergewicht änderte sich bis gegen Ende der fünfziger Jahre sehr wenig, wie auch aus dem Sammelband "Naturrecht oder Rechtspositivismus?" hervorgeht, den Werner Maihofer 1962 in der Reihe "Wege der Forschung" der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt herausgegeben hat.

Zwei Erlebnisse aus dem Jahre 1957 mögen das damalige geistige Klima illustrieren. Als ich auf einem Kongreß in Saarbrücken meine Naturrechtskritik formulierte, sagte Werner Maihofer in der Diskussion, meine Gedanken kämen geradezu von einem anderen Planeten, worauf ich meine damalige Stellung als außerplanmäßiger Professor voll wehmütiger Selbstironie als "Extraplanetarius" latinisierte. Doch das war noch eher harmlos. Im selben Jahr trug ich bei den Alpbacher Hochschulwochen die Grundgedanken meines Buches "vom Ursprung und Ende der Metaphysik" vor, das dann zur kommenden Jahreswende erschien. In der vergleichsweise liberalen Atmosphäre dieser Veranstaltung fand ich lebhaftes Interesse. Doch es sprach auch Gabriel Marcel, ein damals gefeierter Vertreter des christlichen Existentialismus, erntete aber nur einen Achtungserfolg. Vielleicht aus diesem Grunde äußerte er – was mir brühwarm hinterbracht wurde – über mich: "Il est marxiste. Il est très dangereux". Dergestalt als "sehr gefährlicher Marxist" denunziert zu werden, kam im damaligen österreichischen Milieu einem Uriasbrief nahe.

Nun war der Liberale damals an österreichischen Universitäten wirklich etwas wie ein "Linksaußen", und überdies hatte ich in meine Weltanschauungsanalyse tatsächlich marxistische Motive aufgenommen, vor allem in dem Versuch, Grundformen der mythisch-religiösen und metaphysischen Weltdeutungen aus Grundsituationen der sozialen Produktion und Reproduktion des Lebens herzuleiten. Den Marxismus als Heilslehre und Herrschaftsideologie habe ich dagegen stets mit Nachdruck kritisiert. Doch das half nichts. Als ich im Herbst 1959 auf Einladung der Polnischen Akademie der Wissenschaften zu Vorträgen nach Warschau reiste, hörte ich es hinter meinem Rücken tuscheln: "Jetzt war er bei den Warschauer Bolschewiken, jetzt hat er sich entlarvt".

In Wirklichkeit hatten die polnischen Kollegen, die mich einluden, mit imponierendem Mut die sowjetische Partei und Staatsscholastik – eben den dialektischen Materialismus – nicht nur abgeblockt, sondern unter Ausschöpfung aller von der modernen Wissenschaftslogik dargebotenen Möglichkeit einer vernichtenden Kritik unterzogen, zu der es im Westen kaum ein Gegenstück gab – und das in einer Situation, in welcher der Bär jederzeit zubeißen konnte. Diese Leistung hat dann Zbigniew A. Jordan in seinem Buch "Philosophy and Ideology. The Development of Philosophy and Marxism-Leninism in Poland since the Second World War" (Dordrecht 1963) dem westlichen Publikum bekannt gemacht, leider ohne die gebührende Beachtung zu finden. Auf dieser glänzenden Folie wirkte die lammfromme Ergebenheit, mit der man bei uns die klerikale Restauration mitmachte, doppelt erbärmlich. Ja, als ich in Wien einem längst arrivierten Ordinarius von meiner Polenreise berichtete und für Österreich wenig schmeichelhafte Vergleich zog, antwortete dieser: "Herr Kollege, ich bin völlig Ihrer Meinung, aber machen Sie bitte davon keinen Gebrauch". Ich wäre fast vom Sessel gefallen.

Doch auch mit der anderen Seite gab es aufschlußreiche Erfahrungen. "Vom Ursprung und Ende der Metaphysik" war vor kurzem erschienen, da vereinbarte der Philosoph Walter Hollitscher, der seinerzeit am "Wiener Kreis" teilgenommen und sich schließlich dem Kommunismus zugewandt hatte, mit mir ein Gespräch. Wir trafen uns bei einer gemeinsamen Bekannten, also gewissermaßen auf neutralem Boden. Offensichtlich sondierte mein Gesprächspartner die Möglichkeit, mich für seine Richtung zu gewinnen. Doch seine Ausführungen waren einfach entlarvend und deprimierend – er sprach, als ob unter dem Tisch ein Tonband liefe, das er dann den Parteiautoritäten vorlegen müßte. Als ich schließlich höflich, aber bestimmt abwinkte, meinte er: "Sie wischen mit leichter Hand einen Kardinalshut vom Tisch" – aber Kardinalshüte um den Preis der geistigen Freiheit sind bei mir nicht gefragt.

Vielleicht als Antwort auf diese Abfuhr ließ der rote Bär ein wahres Wutgeheul vom Stapel. In den ,,Voprosy filosofii", der führenden philosophischen Zeitschrift der Sowjetunion, erschien 1959 unter dem Titel ,,Der feige Nihilismus des heroischen Positivisten" ein ganzer Besprechungsaufsatz über mein Buch, der zwar kaum irgendwelche Argumente, aber um so zahlreichere und intensivere Unmutsäußerungen enthielt. Nichtsdestoweniger war er in doppelter Hinsicht interessant. Da gab es den mir von den Matadoren der Restauration her wohlbekannten Vorwurf des "Nihilismus", der Artikel nahm aber auch auf Äußerungen Bezug, die ich nirgends in meinen gedruckten Veröffentlichungen, sondern nur in meinen Vorlesungen gemacht hatte. Wurden meine Wiener Lehrveranstaltungen von Konfidenten observiert oder waren jene Äußerungen auch in dem Gespräch mit Hollitscher gefallen und von diesem – eventuell sogar auf einem versteckten Tonband festgehalten – seinen Auftraggebern weitergegeben worden?

Immerhin begann sich damals unter den Jüngeren die Opposition gegen das christlich-restaurative Naturrecht zu regen. 1958 erschien etwa gleichzeitig mit meinem erwähnten Buch Gerhard Szczesnys "Zukunft des Unglaubens" und 1961 im "Hochland" der klassische Artikel "Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933" von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Dieser Aufsatz war von einiger Brisanz, da er die nach 1945 sorgsam gehütete Legende radikal in Frage stellte, das scholastische Naturrecht sei das wahre Palladium von Freiheit und Demokratie gegenüber dem braunen Totalitarismus gewesen. Vielmehr zeigte Böckenförde anhand zahlreicher Beispiele, daß angesehene Naturrechtstheologen den Nationalsozialismus ausdrücklich gerechtfertigt hatten, bis dessen kirchenfeindliche Politik eindeutig hervorgetreten war.

Wurde Böckenförde wegen dieser Arbeit verschiedentlich angefeindet, so suchte man in Österreich meinen verehrten Lehrer, väterlichen Freund und späteren Kollegen August Maria Knoll einer regelrechten Zensur zu unterwerfen. Knoll kam aus der Tradition der katholischen Sozialreformer Carl Freiherr von Vogelsang und Anton Orel und war schon früh zur christlichen Arbeiterbewegung gestoßen, war aber auch mit den Lehren Hans Kelsens vertraut und vor allem ein ausgezeichneter Kenner der kirchlichen Moralphilosophie und -theologie. Überdies hatte er als Mitarbeiter der damaligen Christlichsozialen Partei wesentliche Einblicke in deren Interna gewonnen. Freilich war er als "Linkskatholik" zahlreichen Parteifreunden und/oder Klerikern wenig genehm, was ihn als gläubigen Katholiken auch zutiefst schmerzte.

Nun wurde in der "Österreichischen Zeitschrift für Öffentliches Recht" ein Heft als Festschrift zum 80. Geburtstag von Hans Kelsen (11. Oktober 1961) vorbereitet. Redaktor war Prof. Alfred Verdross, ein versatiler Rechtswissenschaftler, der es verstanden hatte, die Umbrüche von 1918, 1934, 1938 und 1945 im wesentlichen unbeschädigt zu überstehen, und der sich nun als Matador des christlichen Naturrechts profiliert hatte. Für jenes Heft sandte nun Knoll einen Beitrag mit dem Titel "Scholastisches Naturrecht in der Frage der Freiheit" ein, in dem er seine theoretischen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen zu diesem Thema verarbeitet hatte. Doch er erhielt das Manuskript mit folgendem, vom 29. Juni 1961 datierten Begleitschreiben zurück:

"Sehr geehrter Herr Kollege!

Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Ihr Aufsatz nicht in ein streng wissenschaftliches Archiv hineinpaßt, da er nicht in einem ruhig-sachlichen, sondern auffallend polemischen Ton geschrieben ist und daher nicht als ein wissenschaftlicher Beitrag, sondern als eine Kampfschrift betrachtet werden muß. Dazu kommt, daß er auch Beleidigungen enthält, so daß ich mich durch die Veröffentlichung einer strafbaren Handlung mitschuldig machen würde.

Ich hoffe sehr, daß Sie nach ruhiger Überlegung meine Gründe würdigen und auch einsehen werden, daß die Veröffentlichung Ihnen Schaden bringen würde. Das Manuskript folgt in der Anlage zurück.

Ich verbleibe mit den besten Sommerwünschen

Ihr

gez. A. Verdross"

Nach Erhalt dieses Schreibens, das er in seinem Tagebuch als "ein Dokument allerersten Ranges" bezeichnete, gab Knoll das Manuskript mehreren Freunden, darunter auch mir, zur Lektüre, ohne daß wir zunächst herausfinden konnten, worin die angeblich darin enthaltenen strafbaren Beleidigungen bestehen sollten. Von seinen Freunden ermutigt, die Schrift an anderer Stelle zu veröffentlichen, entschied sich Knoll ohne Rücksicht auf den ihm in Aussicht gestellten Schaden, sie zu einem Buch auszuarbeiten. Als dieses im Frühjahr 1962 unter dem Titel "Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht. Zur Frage der Freiheit" erschien, löste es in Österreich geradezu einen Sturm der Entrüstung aus. Was den Gegnern an sachlichen Argumenten fehlte, wurde durch Verdächtigungen, Gehässigkeiten und Schikanen kompensiert. Schon vorher hatte Knoll als Präsident des Instituts für Sozialpolitik und Sozialreform zurücktreten müssen, nun aber wurde er auch in kränkender Form von einer Diskussion über das Naturrechtsproblem ferngehalten, die im Anschluß an einen Vortrag seines Lehrers Hans Kelsen in Salzburg stattfand. Türen verschlossen sich und Mienen erstarrten, wenn er sich näherte. Einer der wenigen verständnisvollen Rezensenten schrieb dazu: "Der Angegriffene hatte plötzlich nirgends mehr die Gelegenheit, sich gegen offensichtliche Mißverständnisse zu wehren, weil man ihm nicht verzeiht, daß man dieses Buch nicht widerlegen kann". Abschließend sei ein kleines Erlebnis erwähnt, das mir Knoll damals selbst berichtete. Als er in einem Vortrag seine Naturrechtskritik entwickelt hatte, wurde er in der anschließenden Diskussion von einem Theologen scharf attackiert. Nach Schluß der Veranstaltung traf Knoll im dunklen Treppenhaus zufällig seinen Kontrahenten und dieser sagte ihm: "Herr Kollege, Sie haben vollkommen recht; aber ich mußte Sie angreifen, um nicht selbst Schwierigkeiten zu bekommen".

Nun ist dieses Buch wirklich einer der wichtigsten Beiträge zu unserem Thema, da es zwar nur einen einzigen Traditionsstrang naturrechtlichen Denkens behandelt, den aber so sachkompetent und wohldokumentiert, daß die erwähnte Beurteilung als "unwiderleglich" kaum zu hoch gegriffen ist. Knoll schließt an Kelsen an, sofern er die Naturrechtslehren als Gebilde aus Leerformeln betrachtet, die mit beliebigen moralisch-politischen Inhalten gefüllt werden können und im Laufe der Geschichte erfüllt worden sind. Dafür bringt er aus seinen profunden historischen Kenntnissen eine imponierende Anzahl von teilweise geradezu horriblen Beispielen. So wurde etwa mit dem scholastischen Naturrecht die Kastration der Kirchensänger ebenso gerechtfertigt wie ein Spiegel oder ähnlicher Kram als "gerechter Preis" für einen Negersklaven.

Obwohl das Buch einen beachtlichen Verkaufserfolg erzielte, konnte sich der österreichische Verlag – wohl aus politischen Gründen – zu keiner Neuauflage entschließen. Doch gelang es mir schließlich, eine solche in überarbeiteter Form und mit einem Vorwort aus meiner Feder versehen 1968 im Luchterhand-Verlag (Neuwied-Berlin) herauszubringen. Inzwischen ist aber auch diese längst vergriffen, und es wäre höchst wünschenswert, dieses wichtige Buch abermals neu aufzulegen.

Freilich hatte das Werk im Jahre 1968 an unmittelbarer Aktualität eingebüßt. Konfessionalismus, Klerikalismus und politischer Katholizismus wurden von der "roten Welle" fast im Handumdrehen überspült, ja man konnte bald fragen, ob Gott ein Mitläufer der Linksintellektuellen geworden sei. Nach der Auseinandersetzung mit dem Naturrecht von "rechts" kam jene mit dem Natur recht von "links", wie es etwa Herbert Marcuse in seiner Schrift "Der eindimensionale Mensch" formuliert hatte, damals einem Kultbuch der Studentenrevolte.

Indessen hatte diese Entwicklung bereits ihre Schatten voraus geworfen. Während ich in Wien mir mühsam genug wie das Entlein im zufrierenden Teich ein wenig geistigen Freiraum offenzuhalten suchte, hatte ich die "Frankfurter Schule" als Verbündete empfunden, doch nach meiner Berufung nach Heidelberg im Jahre 1962 begannen die Differenzen hervorzutreten.

Übrigens hatte sich der später – nicht ganz richtig – so bezeichnete "Positivismusstreit" bereits 1959 auf der Tübinger Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie angekündigt, wo Adorno und Popper ihre Standpunkte vertraten. Doch die beiden Koryphäen bataillierten sich auf eine so achtungsvolle Distanz, daß Ralf Dahrendorf mit Recht kritisch bemerken konnte, der Diskussion habe durchgängig jene Intensität gefehlt, die den tatsächlich vorhandenen Auffassungsunterschieden angemessen gewesen wäre. Diese kamen dann in der Kontroverse zwischen Hans Albert und Jürgen Habermas angemessen zum Ausdruck.

Hier mögen auch zwei Details festgehalten werden, die mir charakteristisch erscheinen. Im Winter 1962/63 hatte ich ein Gespräch mit meinem damaligen Kollegen Habermas, wo dieser die These vertrat, ohne das dialektische Wissen um die wahre Gesellschaftsordnung sei das menschliche Gemeinschaftsleben der dezisionistischen Willkür preisgegeben. Mir lag die Erwiderung auf der Zunge, dergleichen Argumentationen seien mir von klerikalen Restaurateuren und Moskauer Diamatniki her bestens vertraut, wo man gegenwärtig sein mußte, als "Nihilist" diffamiert zu werden. Um aber eine Schärfe zu vermeiden, die mir damals noch unangebracht erschien, schluckte ich die Bemerkung hinunter. Habermas hat dann darauf mit der Wendung Bezug genommen "Redliche Positivisten, denen solche Perspektiven das Lachen verschlagen..." Wie wenig es mir das Lachen oder die Rede verschlagen hatte, habe ich in späteren Veröffentlichungen gezeigt.

Vielleicht noch bemerkenswerter ist ein anderer Vorgang. Als die Texte des "Positivismusstreites" in der Reihe "Soziologische Texte" des Luchterhand-Verlages in einem Sammelband herausgegeben werden sollten, war mit dem Redaktor Franz Benseler vereinbart worden, daß Adorno das Vorwort und ich das Nachwort schreiben sollte. Doch dieses wurde mir entzogen. Später berichtete mir Benseler, Adorno hätte gedroht, den Abdruck seiner Beiträge in dem Band zu verbieten, falls ich das Nachwort schreiben sollte. Auch das ein Mosaiksteinchen zum Thema "Frankfurter Schule".

Die Hypokrisie der Frankfurter Dioskuren, der krasse Widerspruch zwischen großbürgerlich-kapitalistischer Existenz und egalitär-emanzipatorischer Ideologie, ist übrigens auch der Studentenrevolte nicht entgangen. So wurde das Institut für Sozialforschung mit dem Slogan "Horkheimer = Bourgeois" besprüht, "Teddy" Adorno wurde von barbusigen Studentinnen verspottet, die ihm einen roten Teddybären überreichten.

So wurde die "Frankfurter Schule" schließlich von ihren eigenen aufsässigen Schülern demontiert. Doch ging es damals um Ernsteres. In Wien hatte ich mich darüber empört, daß ein Anwärter auf eine Philosophieprofessur hinter verschlossenen Polstertüren des damals "kohlschwarzen" Unterrichtsministeriums nach seiner christkatholischen Rechtgläubigkeit befragt wurde – da übrigens seine Antwort unbefriedigend ausfiel, wurde eine kulturpolitisch genehmere Persönlichkeit vorgezogen. Nun aber wurden Bewerber um Dozenturen oder Professuren im offenen Hörsaal von ideologisch fanatisierten Studentengruppen in inquisitorischer Form auf ihre marxistische Rechtgläubigkeit verhört. Über mögliche Hintergründe und Verflechtungen dieser Vorgänge könnten vielleicht auch die nun in der ehemaligen DDR verfügbar gewordenen Stasi-Akten einige Auskunft geben.

Freilich war schon damals im Ostblock ein deutlicher Erosionsprozeß des Marxismus-Leninismus zu erkennen gewesen, der sich nun zu einem völligen Debakel beschleunigt hat. Doch ist ein wenigstens bedingt vergleichbarer Prozeß auch im Christentum zu beobachten, und ob der von römischen Kreisen unternommene Versuch, einen katholischen Neo-Fundamentalismus ins Leben zu rufen, sonderlich erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten.

Nach dem Abklingen der "linken Welle" ist nun bei uns eine eher unübersichtliche Situation eingetreten. Ob Strömungen wie New Age oder Postmoderne mehr sind als kurzlebige Modeerscheinungen, ist zumindest fraglich, ins Gewicht fallende politische Konsequenzen und Implikationen sind kaum festzustellen.

Nun könnte man meinen, angesichts dieser Situation müsse sich der Ideologiekritiker frustriert fühlen, da ihm durch das Debakel des Klerikalismus, Marxismus – und längst auch des Faschismus – gewissermaßen die Gegner abhanden gekommen seien. Doch Ideologien sind keine Lebewesen, die sterben und dann ein für allemal tot sind. Daher ist es keineswegs ausgeschlossen, daß trotz des wohl irreversiblen langfristigen Ausdünnungsprozesses jener Traditionen scheinbar endgültig Erledigtes in dieser oder jener Form wiederkehrt. Überdies bedeutet die wissenschaftliche Widerlegung eines Gedankengebildes noch lange nicht dessen Verschwinden aus dem öffentlichen Bewußtsein – so führt etwa die Astrologie nicht nur in den Spalten der Regenbogenpresse noch immer ein recht auskömmliches Dasein.

Gerade aus diesem Grunde kann man es aber auch als frustrierend empfinden, daß man sich immer wieder aus politischer Notwendigkeit mit Ideologien auseinandersetzen mußte, die man als längst widerlegt betrachtete. Ergab sich da nicht ein erheblicher Aufwand an Zeit, die dann für wissenschaftlich fruchtbare Arbeit fehlte?

Warum ich jene Ideologeme als widerlegt betrachte, habe ich in zahlreichen Veröffentlichungen dargetan und möchte mich hier nicht zu sehr wiederholen. Übrigens waren die meisten wichtigen Argumente schon längst vorgebracht, ehe ich überhaupt die Augen aufgeschlagen habe. So mögen hier einige knappe Hinweise genügen.

Schon seinerzeit hatte David Hume mit seiner Unterscheidung von Sein und Sollen, Tatsachenaussage und Werturteil den Finger auf einen höchst sensiblen Punkt gelegt und seine Religionskritik, besonders seine Einwände gegen die Vorstellung einer gerechten göttlichen Weltordnung, haben gleichfalls weitreichende Konsequenzen für die auf diesen Traditionen beruhenden Naturrechtslehren. Das gilt übrigens nicht nur für einen statischen Kosmos etwa im Sinne der Stoiker, sondern auch für die Auffassung der Geschichte als eines teleologischen Heilsgeschehens, wie sie etwa Karl Löwith umrissen hat.

Kritik am Naturrecht übte auch die Historische Rechtsschule von Savigny und Puchta, doch richtete sich diese einseitig gegen das Natur- und Vernunftrecht der Aufklärung, und außerdem war diese Schule gegen einen Volksgeist-Mystizismus nicht gefeit. An ihrem Ausgang steht Karl Bergbohm, dessen Werk "Jurisprudenz und Rechtsphilosophie" (Leipzig 1892) auch heute noch einen Markstein der Naturrechtskritik darstellt. Vor allem aber hat dieser Autor die Leerheit und beliebige Manipulierbarkeit jener Doktrinen klar erkannt. Die Naturrechtsrichtungen "zeihen sich gegenseitig der verschiedensten intellektuellen und sittlichen Defekte und zertrümmern eine der anderen Luftschloß, das natürlich in den Augen des betreffenden Erbauers unzerstörbar bleibt; sie bekämpfen einander auf das bitterste und jede wirft mit ihrem, dem echten Idealrechte alle anderen, selbstverständlich illegitimen Idealrechte nieder. Aber keine macht sich viel daraus, denn der Streit der verschiedenen Prinzipien, soweit er sich in rechtsphilosophischen, doktrinellen Formen bewegt, hat überhaupt nur die Bedeutung eines Scheingefechtes: der ernsthafte Kampf derselben Ideen ohne Masken, d.h. der reellen Interessen und Ansprüche wird auf ganz anderen Gebieten, insbesondere dem der Politik, ausgefochten" (176). So zieht Bergbohm aus der Tatsache, daß der Naturrechtsbegriff bei allen, unter sich doch so unterschiedlichen rechtsphilosophischen Hauptrichtungen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts eine mehr oder minder bedeutsame Rolle spielt, ausdrücklich den Schluß auf dessen Leerheit (ebd.).

Diese Kritik ist mit oder ohne Bezugnahme auf Bergbohm – zu Beginn unseres Jahrhunderts von nicht wenigen Autoren bestätigt und fortgeführt worden. Im gegebenen Rahmen mögen dafür einige Beispiele genügen.

So zeigte Adolf Menzel in seiner 1912 erschienenen, schmalen aber gehaltvollen Schrift "Naturrecht und Soziologie" anhand zahlreicher historischer Beispiele, daß die naturrechtlichen Argumentationen – einschließlich der Lehren vom Sozialkontrakt – im Laufe der Neuzeit von den verschiedensten Denkern und politischen Richtungen benutzt wurden, um jeweils der eigenen Doktrin oder Ideologie den Anschein höherer oder sogar absoluter Gültigkeit zu verleihen. Absolutisten und Monarchisten, Konservative und Liberale, religiös Gläubige und Atheisten, sozialistische und anarchistische Revolutionäre haben sich auf das Naturrecht berufen.

Die neuzeitlichen Natur- und Vernunftrechtslehren seit Grotius und Pufendorf hat wenig später Vilfredo Pareto ebenfalls ins Visier genommen. Diese bieten ihm zahlreiche Beispiele für die von ihm so bezeichneten "derivazioni" – es ist schwer, für diesen Ausdruck eine deutsche Übersetzung zu finden. Jedenfalls handelt es sich um nicht stichhaltige Formen der Argumentation, die durch folgende Fehler charakterisiert sind:

 

(1) Sie benützen unbestimmte Ausdrücke, die bestimmte Gefühle hervorrufen, aber nichts Genauem entsprechen.

(2) Sie definieren eine Unbekannte durch eine andere.

(3) Sie vermischen Definitionen und Theoreme, die sie nicht beweisen.

(4) Ihr Zweck ist im wesentlichen, möglichst stark die Gefühle zu bewegen, um die Person, an die sie sich richten, zu einem bereits feststehenden Ziel zu lenken. (§ 442). Dabei können beliebige "derivazioni" zur Scheinlegitimierung der verschiedensten, bestehenden oder erwünschten Sozialordnungen benützt werden.

Daß es selbst innerhalb der christlichen Traditionen kaum besser aussieht, hat Ernst Troeltsch schon 1912 mit aller Klarheit formuliert: "Die christliche Theorie des Naturrechts, in der sich das reine Naturrecht des Urstandes, das ganz entgegengesetzte relative Naturrecht des Sündenstandes, das oft die größten Greuel einschließende positive Recht und die trotz allem Naturrecht wahre Güte erst von sich aus mitteilende theokratische Obergewalt beständig stoßen, ist als wissenschaftliche Theorie kläglich und konfus" (173). Doch ist es Troeltsch auch nicht entgangen, daß gerade die theoretischen Mängel des christlichen Naturrechts ihm eine Flexibilität verleihen, die sich in der Praxis als höchst vorteilhaft erweisen kann. Später hat dann Knoll in seinem erwähnten Buch gezeigt, wie vielfältig das scholastische Naturrecht entsprechend den Interessen der Amtskirche manipuliert wurde.

In gleicher Weise manipuliert ist auch die Dialektik, die ja ebenfalls nicht selten mit dem Anspruch auftritt, den Weg zum "wahrhaft Guten" darzustellen, und sei dies auch die klassenlose Gesellschaft. Nun hat bereits Goethe in dem bekannten, von Eckermann überlieferten Gespräch mit Hegel diese gerühmte "Methode" als Medium intellektuellen Falschspiels verdächtigt. Dort heißt es: "Sodann wendete sich das Gespräch auf das Wesen der Dialektik." – "Es ist im Grunde nichts weiter", sagte Hegel, "als der geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist, der jedem Menschen innewohnt, und welche Gabe sich groß erweiset in Unterscheidung des Wahren vom Falschen". "Wenn nur", fiel Goethe ein, "solche geistigen Künste und Gewandtheiten nicht häufig mißbraucht würden, um das Falsche wahr und das Wahre falsch erscheinen zu machen!" – "Dergleichen geschieht wohl", erwiderte Hegel, "aber nur von Leuten, die geistig krank sind" (A). So geschehen am 18. Oktober 1827. Knapp dreißig Jahre später wurde Goethes Verdacht durch einen der dialektischen Großmeister bestätigt. In einem – nicht zur Veröffentlichung bestimmten – Brief an Engels vom 15. August 1857 berichtet Marx von einem Artikel, den er für die "New York Daily Tribune" über einen Aufstand in Indien geschrieben hatte, und fügte nachgerade mit Augurenlächeln hinzu: "Es ist möglich, daß ich mich blamiere. Indes ist dann immer mit einiger Dialektik wieder zu helfen. Ich habe natürlich meine Aufstellungen so gehalten, daß ich im umgekehrten Fall auch recht habe" (A). Die Dialektik ist eben die Kunst, immer recht zu haben.

Diese wenigen Beispiele mögen im gegebenen Rahmen illustrieren, wie schon vor oder um Beginn unseres Jahrhunderts wesentliche, ja wohl entscheidende Argumente gegen Naturrecht und Dialektik vorgebracht worden sind. Doch drangen sie nur langsam durch, und so konnte man im Laufe des Jahrhunderts solche Erfahrungen machen, wie ich sie geschildert habe, und wie sich die Dinge weiterhin gestalten werden, bleibt abzuwarten. Immerhin sprechen neuere und neueste Entwicklungen im Christentum und Marxismus für eine fortschreitende Ausdünnung jener Traditionen. Dies kann aber auch bedeuten, daß der ganze Fragenkomplex aus dem Kampffeld der Politik in die vergleichsweise ruhigere Atmosphäre wissenschaftlicher Forschung gelangt, was eine entspanntere Untersuchung und Analyse der hier hintergründig vorliegenden Motive und gedanklichen Strukturen ermöglicht. In diesem Sinne bin ja auch ich von der Ideologiekritik zu einer neutraleren Weltanschauungsanalyse gelangt. Hier eröffnet sich wohl auch ein für die Zukunft interessantes Forschungsgebiet, und zwar auch dann, wenn man das Naturrechtsproblem als solches für eine causa iudicata erachtet.

Aus alledem folgt aber nichts hinsichtlich der Einschätzung der moralisch-politischen Inhalte, die im Laufe der Zeit unter Berufung auf das Naturrecht oder die Dialektik vertreten wurden. Zumal die freiheitliche Demokratie hat den natur- und vernunftrechtlichen Traditionen der Aufklärung viel zu verdanken, aus denen auch die Idee der Menschenrechte hervorgegangen ist. Doch können wir diese moralisch-politischen Grundsätze heute als Fundament unserer Staats- und Gesellschaftsordnung betrachten, ohne an den ordre naturel der Aufklärung zu glauben. Man darf auch daran erinnern, daß diese Ideen auch eine Komponente – freilich nur eine Komponente der Lehre von Marx und Engels gebildet haben.

Doch muß zugleich darauf hingewiesen werden, wie leicht die Ideale der Menschheitsbefreiung und Menschheitsbeglückung in den Dienst massiver Machtinteressen gestellt werden können. Das gilt etwa für die moralisch-missionarische Ideologie der Vereinigten Staaten, besonders aber für den Sowjetimperialismus. Dabei kann man letzteren keineswegs als bloße Perversion der Gedanken des Karl Marx betrachten. Vielmehr bildet schon bei diesem die Prophetie vom nicht mehr entfremdeten Menschen Tarnung und Waffe eines messianischen Sendungsbewußtseins und cäsarischen Machtanspruchs, zu dessen praktisch-politischer Durchsetzung das Proletariat dem Advokatensohn aus Trier dienen sollte, ähnlich wie einem Napoleon seine Armeen. Doch selbst abgesehen von solch düsteren Aspekten sind die Menschenrechte nicht so ehern wie das manchmal dargestellt wird: in ihren historisch wandelbaren Katalogen manifestieren sich die Wünsche und Ansprüche jeweils konkreter sozialer Gruppen.

Freilich begegnet eine solche Kritik wie die hier skizzierte auch heute noch oft dem Einwand, ohne jene höheren Prinzipien sei das menschliche Zusammenleben dem Nihilismus oder Dezisionismus von Diktatoren, Technokraten oder naturrechtlich bzw. dialektisch unerleuchteten Parlamenten einer bloß formalen Demokratie ausgeliefert. Indessen helfen da, wie zum Teil schon Bergbohm gesehen hat, weder Naturrecht noch Dialektik weiter, da sie als Leerformeln in den Dienst beliebiger moralisch-politischer Positionen genommen werden können. Schon seit der Sophistik gibt es, wie Kallikles in Platons "Gorgias" bezeugt, ein Naturrecht des Herren- und Übermenschen, und die Dialektik hat allein in unserem Jahrhundert in Vorbereitung und im Dienste des "rechten" und "linken" Totalitarismus eine chronique scandaleuse produziert, die sich in Kürze gar nicht referieren läßt.

Einen einigermaßen wirksamen Schutz kann nur die politische Entscheidung zugunsten einer institutionellen "Zähmung der Macht" bieten, eines Systems von checks and balances, wie es die freiheitliche Demokratie zunächst vor allem im angelsächsischen Raum entwickelt hat. Im Rahmen eines solchen Systems kann man auch divergierende rechtspolitische Auffassungen zur Diskussion stellen und für sie werben, ja solche Aktivitäten sind für die Weitergestaltung der positiven Rechtsordnung unerläßlich. Allerdings bleibt auch eine solche Ritualisierung des politischen Kampfes stets gefährdet, vor allem durch jene, welche totale Macht anstreben. Daraus folgt: auch die gezähmte Macht muß Macht bleiben, um das Zusammenspiel von Anarchie und Despotie zu verhindern, das unzählige Opfer gefordert hat.

Man fragt sich, was unter diesen Voraussetzungen eine weitere Behandlung der Themen von Naturrecht bzw. Dialektik heute noch soll. Sicherlich ist in der geistesgeschichtlichen Erforschung dieser Doktrinen noch einiges zu leisten und deren Analyse mag auch weiteres Licht auf wichtige Formen menschlicher Weltauffassung und Selbstinterpretation werfen. Darüber hinaus aber scheint doch das Korn ausgedroschen zu sein, was freilich – wie bereits angedeutet – nicht hindert, daß gegebenenfalls aus politischen Gründen weitergedroschen werden muß, welch letztere Tätigkeit sogar den Anschein intellektueller Relevanz erwecken mag.

Dieser Anschein mag sogar – man entschuldige einen milden Alterszynismus – einer Art Eigendynamik mancher philosophischer Betätigungen zugutekommen. Man kann für dergleichen Aktivitäten die Mittel öffentlicher und privater Sponsoren in Anspruch nehmen, und da, was etwas kostet, auch etwas wert sein muß, mag man sich in der Überzeugung bestärkt fühlen, etwas wissenschaftlich Wertvolles geleistet zu haben. Im äußersten Fall kommt dabei sogar etwas heraus, das eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem bekannten Trick indischer Fakire aufweist, ein Seil in die Luft zu werfen, das dann stehen bleibt, worauf der Fakir dann daran emporklettert. So wird mitunter die Bedeutung philosophischer Probleme, Scheinprobleme oder einzelner Persönlichkeiten emporgesteigert, um dann an ihnen Klimmzüge zu unternehmen, die den Anschein der Wichtigkeit besitzen sollen. Neu ist das freilich nicht. Schon die antiken Rhetoren praktizierten die Kunstgriffe der Auxesis, einer Technik, dem Publikum die unsägliche Bedeutsamkeit ihrer oft inhaltsarmen Ausführungen zu suggerieren. Dies alles fordert eine Kritik heraus, die dann freilich vom wissenschaftlichen Standpunkt eher den Charakter eines Schattenboxens trägt.

Copyright: Prof. Dr. Ernst Topitsch (Graz)