Colloquiumsrede aus Anlass der Verteidigung meiner Habilitationsschrift

(gehalten am 14.3.03 im Juristensitzungssaal der Universität Wien)

von Manfred Füllsack


 

Das zentrale Anliegen meiner Schrift[1] ist die Klärung der Bedingungen der Möglichkeit von Aufklärung, – ein, vor allem in dieser Formulierung, wohl auf den ersten Blick klassisch philosophisches Anliegen.

Allerdings – und damit dürfte sich die Skepsis erklären, die dieser Schrift von philosophischer Seite entgegengebracht worden ist[2] – ziehe ich zur Klärung der Bedingungen der Möglichkeit von Aufklärung an zentraler Stelle soziale Phänomene, und nicht so sehr wie frühere Aufklärungsunternehmen epistemologische, kognitive, neuronale, psychologische, linguistische oder materialistische Faktoren in Betracht.

In Anbetracht dieser beiden Umstände schien es mir zunächst nicht fern zu liegen, meine Arbeit als Habilitationsschrift für das Fach „Sozialphilosophie“ einzureichen.

 

Allerdings hat der Wunsch, die Arbeit in dieser Weise zu klassifizieren, und damit die Frage zu beantworten, ob sie nun dem Fach Sozialphilosophie oder dem Fach Soziologie zuzurechnen ist, nicht von Anfang an im Fokus meiner Aufmerksamkeit gestanden. Für die Schrift selbst war die Frage nicht relevant, da ich zu keinem Zeitpunkt ihrer Erarbeitung daran gedacht hatte, nur Argumente in Betracht zu ziehen, die ihre Geltungsansprüche ausschließlich innerhalb der Grenzen einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin erheben.

Erst durch die mit den Gutachten entstandene Diskussion hat sich die Frage nach einer Klassifikation meiner Tätigkeit mit Nachdruck gestellt.

 

Zunächst einmal möchte ich diesbezüglich darauf hinweisen, dass meines Wissens nach keine einheitliche Definition der Disziplin „Sozialphilosophie“ existiert. Sämtliche der von mir diesbezüglich konsultierten Nachschlagewerke führen unterschiedliche und sich zum Teil sogar widersprechende Definitionen an.[3] Auch die insgesamt bisher vorliegenden Gutachten zu meiner Schrift sind von sehr unterschiedlichen Auffassungen von Sozialphilosophie ausgegangen.

Es scheint mir daher legitim, um meine persönliche Auffassung von „Sozialphilosophie“ zu verdeutlichen, im folgenden zunächst kurz auf einen historischen Umstand zu verweisen.

Es gibt, aus meiner Sicht, eine allseits bekannte und viel diskutierte gesellschaftliche Organisationsform, die zumindest in ihren Ursprüngen eindeutig auf sozialphilosophischen Anliegen und Überlegungen aufruht. Es ist dies der „realexistierende Sozialismus“ der ja eindeutig im Zeichen der Aufklärung initiiert worden ist, um Gesellschaften „besser“, „gerechter“, oder „menschlicher“ etc. zu organisieren, der allerdings aus heutiger Sicht Folgen gezeitigt hat, die wohl kaum den ihm zugrunde liegenden sozialphilosophischen Anliegen gerecht werden dürften.

Es sind die zum Teil auch persönlich gemachten Erfahrungen mit diesen Folgen des sozialistischen Großexperimentes, die eine der Rahmenbedingungen meiner Arbeit darstellen, und die mich dazu veranlasst haben, die normativen Ansprüche, die traditionell in der Sozialphilosophie eine große Rolle spielen – und die vielleicht auch ihre eigentliche differencia specifica zur Soziologie darstellen –, entsprechend differenzierter und vorsichtiger zu ihrer Geltung kommen zu lassen. Meiner Meinung nach kann die Sozialphilosophie heute angesichts der Erfahrungen mit dem Verlauf und den Folgen des sozialistischen Großexperiments nicht mehr so unbedarft auftreten, wie dies den Anhängern von Karl Marx vor hundert oder hundertfünfzig Jahren offensichtlich noch möglich erschienen ist.

 

Die Gründe für diesen Umstand möchte ich im folgenden kurz in sozialtheoretischer Hinsicht zu erläutern versuchen.

 

II.

 

Eine der Rahmenbedingungen meiner Schrift bildet die, wie ich denke, heute in den Sozialwissenschaften und in der Wissenschaftstheorie weitgehend etablierte Einsicht, dass auch wissenschaftliche Theorien ihren spezifischen sozio-historischen Raum-Zeit-Punkt haben, an dem sie ihre jeweilige Gültigkeit beanspruchen. Ich gehe in meiner Konzeption – Niklas Luhmann folgend – davon aus, dass einer der Faktoren, die diese Gültigkeit insbesondere für Sozialtheorien wesentlich determinieren, die soziale Struktur, oder genauer gesagt, die Differenzierungsform von Gesellschaften ist.

 

So man unter diesem Blickwinkel zum Beispiel die soziale Struktur (oder genauer müsste ich sagen: die Wahrnehmung der sozialen Struktur) jener Gesellschaft betrachtet, die für den Start des sozialistischen Großexperimentes verantwortlich gewesen ist, nämlich die Sozialstruktur der vorrevolutionären Gesellschaft Russlands, so lässt sich daraus m.E. ein Bezug zur gesellschaftstheoretischen Konzeption, die diese Gesellschaft zu ihrer „Selbstbeschreibung“ herangezogen hat, ableiten. Ohne diese soziale Struktur hier in all ihren Details beschreiben zu können, scheint mir argumentierbar, dass eine als hierarchisch, in „obere“ und „untere“, oder noch deutlicher: in „ausbeutende“ und „ausgebeutete Klassen“ geteilt beschriebene Gesellschaft, die zu dieser Zeit noch dazu stark unter dem Einfluss von sozialtheoretischen Ideen aus anders organisierten (nämlich aus west- und mitteleuropäischen) Gesellschaften steht, Standpunkte begünstigt, von denen aus angenommen werden kann, dass sich eindeutige normative Aussagen über die Organisation dieser Gesellschaft und auch über ihre zukünftige Entwicklung machen lassen. Mit anderen Worten: von den relativ privilegierten Positionen an der Spitze einer solchen hierarchischen Gesellschaftsform aus betrachtet, sieht es so aus, als ließe sich relativ genau wissen, was in dieser Gesellschaft „gut“ oder „schlecht“, was in ihr „wahr“ oder „falsch“ und was in ihr „gerecht“ oder „ungerecht“ ist.

Diese Positionen ermöglichen, anders gesagt, so etwas wie einen Glauben an eine privilegierte Einsicht in das Gefüge der Gesellschaft und legen es damit auch nahe, normative Richtlinien zur ihrer Gestaltung als verbindlich festzusetzen. Sie begünstigen mit anderen Worten nicht nur eine Beschreibung des Ist-Zustandes der Gesellschaft selbst, sprich also im weitesten Sinn eine Sozialwissenschaft, sondern auch eine Beschreibung des Soll-Zustandes der Gesellschaft, nämlich eine Sozialphilosophie im klassischen Sinn.

 

Gerade die normative Wirkung dieser Sozialphilosophie – im Fall des realsozialistischen Großexperimentes etwa die des Marxismus-Leninismus – hat aber nun selbst dazu beigetragen, die Gesellschaft nach und nach grundsätzlich neu zu organisieren. Auch im Fall der Sowjetgesellschaft lässt sich diesbezüglich im Verlauf ihrer Geschichte eine weitreichende Differenzierung auf vielen Ebenen feststellen und damit einhergehend auch eine gewisse Enthierarchisierung, die genau jene privilegierten Standpunkte, die für den ideologischen Background dieser Entwicklung verantwortlich waren, als problematisch wahrnehmbar werden lassen. Angesichts der Situation der späteren Sowjetgesellschaft und endgültig angesichts der Situation der postsowjetischen Gesellschaft, die nun obendrein wie andere Weltgesellschaften auch noch den vielfältigen Einflüssen der Globalisierung ausgesetzt ist, ist m.E. nicht mehr zu übersehen, dass privilegierte Standpunkte, und damit verbunden: privilegierte Problemsichten in modernen Gesellschaften nicht mehr auf Dauer argumentativ legitimiert werden können.

 

Freilich lässt sich auch heute noch behaupten, dass man unumwunden wisse, was für die Gesellschaft „besser“ wäre und was für sie „schlecht“ ist. Politiker werden von ihrer spezifischen Verständigungspraxis auf Schritt und Tritt zu solchen Behauptungen gezwungen.

Übersehen lässt sich meines Erachtens allerdings auch diesbezüglich nicht mehr, dass sich in der Komplexität der sozialen Struktur moderner Gesellschaften zu jeder Problemsicht, die eine solche Behauptung nahe legt, sofort auch eine entgegengesetzte Problemsicht finden lässt, die genau die entgegengesetzte Behauptung ebenfalls zu legitimieren scheint.

 

Und davon sind, das möchte ich angesichts meines eigenen Falles betonen, auch „Expertenverständigungen“ nicht mehr ausgenommen. In der „Polykontexturalität“ der Moderne, wie dies Luhmann nennt, sind privilegierte Positionen, wie sie einst die marxisitische oder auch die christliche Sozialphilosophie bezogen haben, wissenschaftlich, das heißt also: rein argumentativ nicht mehr vertretbar.

 

Selbstverständlich soll dies nun aber eben nicht heißen, dass sich damit die Sozialphilosophie als solche erübrigt hätte, dass die Gesellschaft keiner normativen Zukunftsentwürfe, keiner sie leitenden „Ideen“ und Perspektiven mehr bedarf. Ganz im Gegenteil: angesichts der vielfältigen Probleme der Moderne scheint mir Sozialphilosophie heute so gefragt zu sein wie eh. ABER: eine zeitgemäße Sozialphilosophie ist, wenn sie in irgendeiner Weise zur Lösung der aktuellen Probleme beitragen will, meiner Meinung nach zutiefst dazu angehalten, sich dem von der Struktur der Moderne nahegelegten Relativismus zu stellen. Und dazu genügt es meiner Ansicht nach nicht, diesen „philosophisch“, etwa mit dem Hinweis auf die „Bodenlosigkeit“ seiner Konzeption oder auf die „transzendentale Obdachlosigkeit“, zu der er verurteilt, zurückzuweisen. Eine zeitgemäße Sozialphilosophie muss diesen Relativismus vielmehr verinnerlichen und in Auseinandersetzung mit ihm die Bedingungen ihres Stattfindens neu klären.

Wenn die Sozialphilosophie damit zu einer „soziologischen Wende“, wie ich das in meiner Schrift genannt habe, oder zumindest zu einer gewissen Annäherung an die Wissensstände und Methoden der Soziologie gezwungen wird, und damit die Grenzen der Disziplinen zu verschwimmen drohen, ja selbst wenn einzelne Statements dadurch – so wie in meinem Fall – Gefahr laufen, im institutionellen Dickicht hängen zu bleiben und kein Gehör zu finden, so ist all dies nichtsdestotrotz eine Konsequenz von Phänomenen und Argumenten, die eine wissenschaftliche Konzeption, wie ich sie vorlegen möchte, meiner Meinung nach nicht ignorieren kann.

 

III.

 

Im weiteren möchte ich nun kurz etwas näher auf einen (ich betone: einen) zentralen Punkt meiner Konzeption eingehen, der mir geeignet scheint, diese gerade beschriebene Rahmenbedingung meiner Schrift noch einmal aus einer etwas anderen Perspektive zu beleuchten. Dieser Punkt ruht im Prinzip auf der Alltagserfahrung auf, dass uns die Welt begrifflich in unterschiedlichen Dichtegraden „zugänglich“ ist und dass die jeweilige Tiefenschärfe, die dabei möglich ist, (unter anderem) von der sozialen Konstitution der Situation abhängt, in der die Welt jeweils „erfasst“[4] werden soll, sprich: in der wir uns über die Welt verständigen.

 

Ich möchte dazu ein Beispiel aus meiner Schrift (S. 155f) heranziehen, das eine Verständigungssituation beschreibt, in der die zur Verständigung bereitstehenden Mittel und Möglichkeiten ganz allgemein von mir zunächst einmal als „Verständigungsvoraussetzungen“ bezeichnet werden.

Zu diesen Vorraussetzungen gehören zum Beispiel die Begriffe der von den Verständigungssuchenden gemeinsam verwendeten Sprache. Selbstverständlich – dies nur als Anmerkung – werden diese Begriffe natürlich stets in gewissen Konstellationen mit anderen Begriffen verwendet, was ihre Bedeutung entsprechend verändern kann. Die Begriffe sind ihrerseits wieder in Sätze eingebunden, in denen gewisse grammatikalische Regeln gelten. Und diese Sätze kommen ihrerseits wieder in größeren Verständigungszusammenhängen zu stehen, in denen gewisse soziale Regeln und Verkehrsformen gelten, usw.

Für all diese verschiedenen Ebenen und Aspekte dieser Verständigungssituation gilt nun analog das, was ich im folgenden anhand der Begriffe, die in dieser Verständigungssituation verwendet werden, exemplarisch erläutern möchte.

 

In dieser Situation – wie gesagt, es handelt sich um ein Beispiel aus meiner Schrift – steht ein Mitglied einer fiktiven Urgesellschaft vor dem Problem, seinen Mitgesellschaftern die Sichtung eines jagdbaren Tieres, sagen wir, einer Antilope an einer Stelle am Fluss zu kommunizieren, an der Tags zuvor die weiblichen Mitglieder der Gesellschaft ihre Kleidung gereinigt haben. Damit sich die potentielle Nahrungsquelle nicht bevor die Jäger zur Stelle sind wieder entfernt, muss dieser Informant seine Information über den Ort seiner Sichtung so schnell und unmissverständlich wie möglich übermitteln. Er verwendet dazu, anstatt sämtliche weibliche Mitglieder der Gesellschaft einzeln und damit zeitraubend aufzuzählen, den Begriff „Frauen“ – er sagt also: „Eine Antilope dort, wo tags zuvor die Frauen ihre Kleider gereinigt haben“ – und es macht weder für ihn noch für seine Mitgesellschafter in diesem Zusammenhang einen Unterschied, dass an dem bezeichneten Waschvorgang gar nicht alle Frauen der Gesellschaft, aber dafür, sagen wir, doch auch zwei Männer teilgenommen haben, dass also der Begriff „Frauen“ in diesem Zusammenhang eine gewisse Unschärfe aufweist.

In der infragestehenden Situation liegt der Fokus der Kommunikation eindeutig auf dem jagdbaren Tier, beziehungsweise auf dem Ort seiner Sichtung. Die Tiefenschärfe auf die tatsächlich dort anderntags anwesenden Gesellschaftsmitglieder kann deswegen relativ gering bleiben. Sie steht in diesem Fall nicht zur Debatte.

 

Anders verhält sich dies freilich mit der Information, die im Fokus der entsprechenden Kommunikation steht. Hätte unser Informant zum Beispiel einfach von einem unbestimmten „Tier“ gesprochen, anstelle von „Antilope“, so hätte sich eine zeitraubende Diskussion, sprich eine weitere Verständigung darüber entspinnen können, ob es der Mühe überhaupt wert ist, sich ohne sichere Aussicht auf Nahrung auf die Jagd zu begeben. Damit hätte die Gefahr bestanden, dass das Tier längst über alle Berge ist, bis diese Frage entschieden ist. Die Gesellschaft wäre damit ohne Nahrung geblieben, was unter den angenommen primitiven Umständen dieser fiktiven Urgesellschaft lebensbedrohend, oder abstrakter ausgedrückt: anschlussverhindernd sein könnte.

 

Maßgeblich für das Gelingen einer solchen Verständigung ist also – und darauf möchte ich mit diesem Beispiel hinaus – einerseits eine der Situation angemessene Tiefenschärfe im Fokus der Problemlage, über die Verständigung gesucht wird, andererseits aber zugleich auch die Zeitersparnis, die durch entsprechend geringere Tiefenschärfe am Rande dieses Fokus eingefahren werden kann. Um dies mit einem Terminus aus der Tradition der Sozialtheorie auszudrücken: auch Latenz ist also in solchen Verständigungssituationen funktional.

 

IV.

 

Im Hinblick auf diesen Tiefenschärfeunterschied in Verständigungen lässt sich nun der zugegeben reichlich konstruierte Fall in Betracht ziehen, in dem eines der Mitglieder der fiktiven Urgesellschaft, an die die Information über die Sichtung der Antilope gerichtet war, so penibel ist, die Unschärfe des Begriffs „Frauen“ zu problematisieren und eine Diskussion, sprich eine weitere Verständigung darüber anzuregen, wie differenziert sich urzeitliche Jäger auszudrücken haben. Gegenüber der ersten Verständigung handelt es sich dabei nun um eine Metaverständigung, man könnte sagen, um eine Verständigung zweiter Ordnung, in deren Verlauf der zunächst nur „nebenbei“ (oder eben „latent“) verwendete Begriff „Frauen“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird und (so die Verständigung darüber „erfolgreich“ verläuft) vermutlich entsprechend präzisiert werden wird: „Frauen“ darf nun nicht mehr „auch zwei Männer“ mitmeinen.

 

Wie leicht zu sehen ist, ist dabei aber auch diese metasprachliche Verständigung ihrerseits grundlegend auf Begriffe angewiesen (und, wie ich hier hinzufüge, in meinen weiteren Darstellungen aber wieder außer Acht lassen werde: natürlich auch auf die grammatikalischen Regeln der Anwendung dieser Begriffe, auf die sozialen Regeln der Situation, in denen diese Diskussion zu stehen kommt, und vieles, vieles mehr). Und zwar ist auch diese Metaverständigung unvermeidbar sowohl auf Begriffe angewiesen, die sozusagen den Fokus der Verständigung betreffen und damit eine gewisse Tiefenschärfe haben müssen, um das Mitgeteilte erfolgreich zu transportieren, und zum anderen auch auf solche Begrifflichkeiten, die deren im jeweiligen Kontext unwichtigeren Randbereich bezeichnen und damit durch geringere Schärfe Zeit ersparen können. Auch in solchen Metaverständigungen finden also Begriffe mit unterschiedlichen Tiefenschärfen Verwendung, die jeweils vom Kontext ihres Auftretens, sprich von der jeweiligen Verständigungssituation determiniert werden.

Anders gesagt: auch in metasprachlichen Verständigungen über die Unschärfe von in vorangehenden Verständigungen verwendeten Begriffen verschiebt sich die Differenz von Fokus und Randbereich der Verständigungen nur, verändert sich aber nicht grundsätzlich.

Verständigungen zweiter Ordnung haben diesbezüglich Verständigungen erster Ordnung nicht allzu viel voraus. Und dieser Umstand wirft nun ein entscheidendes Licht auf den von verschiedenen Sozialtheoretikern unter anderem unter dem Stichwort „Versprachlichung“ beschriebenen Aufklärungsprozess.

 

Aus der Sicht meiner Konzeption ist es nämlich die Verständigungssituation und die sie determinierenden Faktoren, die die entscheidenden Bedingungen dafür darstellen, wie präzise und mit welcher Tiefenschärfe in der jeweiligen Situation einerseits Verständigung schlechthin, und andererseits auch Metaverständigung, sprich also Verständigung über Verständigungsvoraussetzungen, geführt werden kann. Oder in anderer Formulierung: die Verständigungssituation und nicht der mahnend erhobene Zeigefinger der Sozialphilosophen, der zu mehr Toleranz und Einsicht oder gar zur Revolution aufruft, bestimmt wie „aufgeklärt“ eine Gesellschaft mit ihren eigenen Interaktionsvoraussetzungen umgehen kann. Und zu diesen Interaktionsvoraussetzungen gehören selbstverständlich nicht nur die hier exemplarisch herausgestellten Begriffe unserer Sprache, sondern zum Beispiel auch sämtliche sozialen Regeln, Werte, Normen, Erwartungen, Verkehrsformen, Weltbilder etc.

 

Diese Verständigungssituation versuche ich nun in meiner Schrift auf sehr abstrakter Ebene im Hinblick auf eine Reihe von miteinander in enger Wechselwirkung stehender Faktoren einer systematischen Analyse zugänglich zu machen. Diese Faktoren fasse ich sehr formal unter Begriffen wie „Problemkomplexität“, „Verständigungszeit“, „Verständigungsteilnehmerzahl“ etc. und lege mit ihrer Hilfe so etwas wie einen Korridor fest, innerhalb dessen Verständigung und Metaverständigung eine Chance haben stattzufinden. Die Flexibilität dieser Faktoren und ihre Wechselwirkung schließen dabei allerdings die Möglichkeit nicht aus, dass auch moderne, im klassischen Sinn als bereits „aufgeklärt“ beschriebene Gesellschaften unter entsprechenden Umständen, sprich zum Beispiel bei entsprechend gravierender Problembelastung ihrer Verständigungssituation, dazu gezwungen sind, ihre Kommunikationen mithilfe von Begrifflichkeiten mit sehr geringer Tiefenschärfe durchzuführen. Unter dieser Perspektive werden in meiner Konzeption zum Beispiel Phänomene, die klassisch als „dialektische Backlashes der Aufklärung“ wahrgenommen worden sind (wie etwa der Nationalsozialismus von Horkheimer und Adorno), als Erscheinungen analysierbar, die weniger mit einer „List der Vernunft“ oder einem Sieg der Irrationalität in der Moderne zusammenhängen – etwa mit einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ –, als vielmehr in komplexer Weise mit der Sozialstruktur der entsprechenden gesellschaftlichen Situation.

 

Im folgenden möchte ich nun auch diesen Aspekt meiner Konzeption noch kurz skizzieren.

 

V.

 

Ich habe also festgestellt, dass jede Präzisierung unscharfer Begriffe in Verständigungen zweiter Ordnung stets auf Kosten anderer Unschärfen in diesen Verständigungen stattfindet. Wenn dabei also überhaupt so etwas wie Aufklärung erreichbar ist, so lässt sich diese wohl eher in der Klärung der Frage vermuten, wie denn die Gesellschafter überhaupt von der Ebene erster Ordnung ihrer Verständigungen auf eine Ebene zweiter Ordnung gelangen. Anders gefragt: was befähigt sie dazu, Metaverständigungen über ihre Verständigungen und Verständigungsvoraussetzungen zu führen?

Diese Frage ist bekanntlich in der Geschichte der Aufklärung bereits verschiedentlich durch Verweise auf epistemologische, kognitive, psychologische, neuronale, linguistische etc. Grundbedingungen zu beantworten versucht worden.

 

Aus dem von mir angeführten Beispiel sollte zunächst einmal deutlich geworden sein, dass grundsätzlich auch gewisse materielle Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Gesellschaft einen Teil ihrer Zeit der Klärung oder Erörterung jener Begriffe widmen kann, die sie in ihren, zum Beispiel zur Jagd dienenden Verständigungen verwendet. Sie muss dazu also zum Beispiel ihr Ernährungsproblem grundsätzlich bereits so weit im Griff haben, dass sie nicht, während sie sich solch metasprachlichen (sprich: wissenschaftlichen oder philosophischen) Verständigungen widmet, verhungert, oder abstrakter ausgedrückt: ihre Anschlussfähigkeit verliert.

 

Dieser Umstand ist bekanntlich in der marxistischen Gesellschaftslehre stets besonders betont worden und im real-existierenden Sozialismus als Lehrsatz vom „Sein, das das Bewusstsein bestimmt“ zur Grundlage einer Sozialphilosophie gemacht worden, die nach eigenem Ermessen zwar den Deutschen Idealismus vom Kopf auf die Füße stellen wollte, dabei allerdings selbst einen völlig überzeichneten Aufklärungsoptimismus in die Wege geleitet hat, der letztlich dazu geführt hat, dass weite Teile der in den Verständigungen der betroffenen Gesellschaften verwendeten Begriffe nicht mehr im Hinblick auf ihre mangelnde Tiefenschärfe hinterfragt werden konnten.

 

Aus soziologischer Perspektive lässt sich m.E. der Umstand, dass erst bestimmte materielle Grundvoraussetzungen des Daseins erfüllt sein müssen, bevor eine ideelle Auseinandersetzung mit diesen Voraussetzungen stattfinden kann, allerdings auch etwas differenzierter betrachten. Aus dem von mir angeführten Beispiel wird deutlich, dass eine Gesellschaft, die sich solch metasprachlichen Verständigungen widmen will, alternative Lösungen für ihre Probleme gefunden haben muss. Sie muss also etwa im Hinblick auf das hier gebrachte Beispiel in der Lage sein, sich, sagen wir, auch durch Ackerbau zu ernähren.

Würde dabei nun freilich nur einfach der Ackerbau anstelle der Jagd die alleinige Ernährungsgrundlage dieser Gesellschaft darstellen, so hätte sich die Problematik nur verschoben, nicht aber grundsätzlich verändert. Auch die Ackerbauern verwenden in ihren Verständigungen ja Begriffe, deren jeweilige Tiefenschärfe in unmittelbarem Zusammenhang mit den Problemen steht, die eben durch diese Verständigungen im Ackerbau gelöst werden müssen. Und auch sie können etwaige Tiefenschärfedefizite dieser Begriffe nur dann in Metaverständigungen problematisieren, wenn der Ackerbau nicht mehr ihre alleinige Ernährungsgrundlage darstellt.

Bedingung für eine solche Problematisierung ist also die Möglichkeit, gleichzeitig auf mehrere alternative Lösungen und nicht mehr nur auf jeweils eine Lösung für bestimmte grundlegende Probleme zurückgreifen zu können. Die Gesellschaft muss sich also, mit anderen Worten, die zu ihrer Existenz notwendigen Interaktionen teilen, damit (idealtypisch herausgestellt) derjenige Gesellschaftsteil (hier die Ackerbauern), der gerade nicht auf die in Frage stehende Begrifflichkeit (die der Jäger) angewiesen ist, diese problematisieren kann, und die von ihm in diesen Verständigungen verwendeten Begriffe vice versa, nämlich nun wieder von einem anderen Gesellschaftsteil (eventuell von den Jägern) problematisiert werden können.

 

In anderen Worten: die unter dieser Perspektive zum Vorschein kommende Bedingung für die Möglichkeit, metasprachliche Verständigungen führen zu können und damit von einer Verständigungsebene erster Ordnung auf eine Ebene zweiter Ordnung zu gelangen, oder klassisch formuliert: die aus dieser Perspektive sichtbar werdende Bedingung für die Möglichkeit von Aufklärung ist: soziale Differenzierung, oder genauer gesagt: die Distanz die eine solche Differenzierung ermöglicht.

 

Und von daher gehe ich in meiner Konzeption davon aus, dass die Aufklärungsmöglichkeiten einer Gesellschaft in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der jeweiliger Differenzierungsform der Gesellschaft stehen, bzw. mit der Distanz, die diese Differenzierungsform ermöglicht. Auch die moderne Selbstreflexivität, die heute das wissenschaftlich-methodologische Fundament der Sozialwissenschaften darstellt, lässt sich m.E. in dieser Hinsicht direkt auf die Komplexität der modernen Gesellschaft zurückführen. In deren rekursiv geschlossenem Verständigungsnetzwerk können – die Betonung liegt hier auf können[5] – ganz andere Möglichkeiten als in entsprechend weniger differenzierten Gesellschaften bestehen, Metaverständigungen über Verständigungen und deren Voraussetzungen zu führen und damit das zu betreiben, was weltgeschichtlich als Aufklärung bezeichnet wird.

 

Ich gehe darum in meiner Schrift davon aus, dass ein entscheidender Faktor, der die Bedingungen der Möglichkeit von Aufklärung determiniert, nämlich die soziale Differenzierung, zwar ein gemeinhin im Phänomenbereich der Soziologie wahrgenommener Faktor ist, der nichtsdestotrotz aber, weil er eben, wie zuvor gezeigt, die Möglichkeiten sozialphilosophischer Bemühungen grundlegend determiniert, entscheidende Relevanz für die Philosophie hat. Die Aufmerksamkeit für diesen Faktor legt, wie ich in meiner Schrift beschrieben habe, so etwas wie eine „soziologische Wende“ der Philosophie nahe und ist als solche durchaus mit der von Marx gegenüber Hegel geltend gemachten „materialistischen Wende“ und der später von Sprach- und analytischen Philosophen initiierten „linguistischen Wende“ vergleichbar.

Ich glaube, es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass auch diese beiden historischen „Wenden“ eigentlich zur Festigung der Fundamente der Philosophie unternommen worden sind und nicht um die Disziplin als solche auszuhebeln. Genauso hat auch meine Konzeption vor, zwar vielleicht die Grenzen der Wahrnehmung der Disziplin zu erweitern, nicht aber um diese grundsätzlich zu überwinden oder sie zugunsten der Soziologie hinter sich zu lassen. Was ich mit meiner Schrift vorzulegen versucht habe, entspricht in seinem Anliegen vielmehr klassischen philosophischen Unternehmungen, auch wenn um deren Voraussetzungen zu klären, Faktoren in Betracht gezogen werden, die die Philosophie bisher nicht interessiert haben.

 

 

Reaktionen (die ausdrücklich erwünscht sind) an: manfred.fuellsack@univie.ac.at

 


 


[1] Füllsack Manfred, 2003, Auf- und Abklärung. Grundlegung einer Ökonomie gesellschaftlicher Verständigungskapazitäten. Aachen (Shaker-Verlag)

[2] Die Einreichung der Arbeit als Habilitationsschrift am Institut für Philosophie der Universität Wien im Juni 1998 hat eine langwierige Diskussion zur Folge gehabt, die im Kern von der Ansicht ausgelöst worden war, dass es sich bei meiner Schrift zwar um eine „habilitationswürdige“, nicht aber um eine „philosophische“ Arbeit handeln würde. (laut Protokoll Sitzung 11.11.01) Am 14.3.03 habe ich diese Schrift schließlich vor einer von der Universität Wien eingesetzten „besonderen Habilitationskommission“ erfolgreich verteidigen können. Am 23.5.03, nahezu fünf Jahre nach ursprünglicher Einreichung, ist mir von dieser Kommission einstimmig die Venia legendi für „Sozialphilosophie“ erteilt worden.

[3] Die Palette angebotener Definitionen reicht von „Aussagensystem“, das „nicht zu systematisch überprüfbaren Aussagen führt“. (Hillmann: Wörterbuch der Soziologie S. 810) bis zu „kulturphilosophische Spezialdisziplin“, die unter anderem Probleme wie die „Analyse soziologischer und sozialpsychologischer Grundbegriffe“, die „Methodik der Soziologie“ und „das soziale Leben als Wirk- und Verwirklichungsbereich ethischer Werte“ erörtert. (Austeda: Wörterbuch der Philosophie S. 89)

[4] Konsequenterweise müsste ich hier anstelle von „zugänglich sein“ oder „Welterfassung“ eigentlich bereits von „konstruieren“ bzw. „Weltkonstruktion“ sprechen. Dass dies nicht geschieht, ist nicht nur als bloße Konzilianz an den Leser dieses Textes zu verstehen, sondern selbst Konsequenz meiner Konzeption, die von einer, eben relativ eng begrenzten Kapazität ausgeht, innerhalb der „Verständigung“ möglich ist. Aus diesem Grund ziehe ich es auch vor, meine Konzeption eher als einem „pragmatischen“, denn als einem „radikalen“ Konstruktivismus zugehörig zu bezeichnen, auch wenn diesem Terminus strenggenommen eine contradictio in adiecto vorgeworfen werden kann.

[5] Der Potentialis sei hier betont, da meine „Ökonomie gesellschaftlicher Problemlösungskapazitäten“ über diese grundlegenden Bedingungen der Möglichkeit von Aufklärung hinaus eine ganze Reihe weiterer Bedingungen beschreibt, die unter Umständen durchaus auch wieder „abklärende“ Konsequenzen haben können.

 

© Manfred Füllsack 2003