Ende des Wachstums oder Wachstum ohne Ende?

Überlegungen zur Möglichkeit von Gesellschaftskritik in der Moderne     (2002)

(Diskussionspapier für das ATTAC/SOL-Symposium vom 14.-16.6.2002 in Markt Allhau/Austria)

 

von Manfred Füllsack


 

Vielfach gehen kritische Diskussionen zur aktuellen Wirtschafts- und Sozialpolitik davon aus, dass die gegenwärtige Entwicklung der Weltwirtschaft sich einem „fehlgeleiteten“ Akkumulationstrieb verdankt, der im Prinzip nur „richtiggestellt“ werden müsste, um die Wirtschaftsentwicklung auf Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und Umweltverträglichkeit festzulegen. Unter anderem werden diesbezüglich Mäßigung, Genügsamkeit und Besinnung auf nicht durch fortgesetzte Produktivitätssteigerung zu gewinnende Güter angemahnt. Darüber hinaus wird aber – mitunter mit erstaunlicher Gewaltbereitschaft – auch versucht, die zur Zeit herrschenden wirtschaftlichen Kräfte und die dafür verantwortlich Gehaltenen frontal mit Gegenentwürfen zu konfrontieren und eine radikale Beendigung des entfesselten Wachstums einzufordern.

Die vorliegenden Überlegungen gehen demgegenüber davon aus, dass nicht der Ausstieg aus der forcierten Produktivitätssteigerung, nicht also das „Ende des Wachstums“ eine Chance für Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und Umweltverträglichkeit darstellen, sondern dass vielmehr das „Wachstum ohne Ende“ historisch erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass entfesseltes wirtschaftliches Wachstum in unseren Breiten kritisch hinterfragt werden kann. Mit dieser Annahme legt sich eine Gesellschaftskritik nahe, die herrschenden Macht- und Produktionsverhältnissen nicht frontal, und schon gar nicht gewaltsam opponiert, sondern vielmehr versucht, in diesen Macht- und Produktionsverhältnissen immanente Undercurrents aufzuspüren, die von sich aus in der Lage sind, die wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken in Richtung Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und Umweltverträglichkeit zu lenken.

 

Die verselbständigte Produktivität

 

Die Wurzeln dessen, was hier als „entfesseltes, selbstgefälliges Wirtschaftswachstum“ bezeichnet wird, werden gerne in jenem abendländischen Berufsethos gesehen, das seinen ideellen Grundstein wesentlich aus der christlichen Ambivalenz von diesseitiger Leidensverpflichtung und jenseitiger Auserwähltheit durch Gott bezieht. Die Debatten um Für und Wider forcierten wirtschaftlichen Wachstums lassen sich dementsprechend bis in die Wurzeln der abendländischen Kultur zurückverfolgen.

Während noch für die griechische Antike Arbeit als „ponos“ primär eine mühselige Tätigkeit gewesen ist, die einem freien Menschen eigentlich unwürdig ist, hat die christliche Lehre ihren Anhängern den Weg zur Auserwähltheit, zum ewigen Leben mit Hilfe der Leiden Christi am Kreuz gewiesen. Im Diesseits, so die göttliche Botschaft, sei nur gleichsam die Aufnahmeprüfung für das Jenseits zu sehen. Die Auserwähltheit vor Gott müsse durch Mühe und Leid, und im Alltag, durch harte Arbeit errungen werden.

Als erste sind diesem Aufruf bekanntlich die Mönche und Nonnen in mittelalterlichen Klöstern gefolgt, die sich in masochistischer Nachahmung der Leiden Christi als „Knechte Gottes” einer strengen Arbeitsdisziplin unterworfen haben, in deren Rahmen Müßiggang als „Gefahr für die Seele“ aufgefasst und Armut primär auf die Unwilligkeit zu arbeiten zurückgeführt wurde. Spätestens mit dem Protestantismus und besonders dann im Kalvinismus ist diese christliche Askese und Arbeitsethik aber aus den Klöstern heraus auch in weltliche Bereiche des Daseins überführt worden. Martin Luther hat die Christen mit dem Ausspruch „Ihr sollt nicht faul und müssig seyn, sondern arbeiten und thun“, dazu aufgerufen, ihre Auserwähltheit durch Gott nun in der profanen irdischen Welt durch die Früchte ihrer Arbeit, durch beruflichen Erfolg, unter Beweis zu stellen.

Diese Früchte durften allerdings gemäß christlicher Moralauffassung nicht unmittelbar genossen werden, da sonst die göttliche Gnade in der Nachfolge Christi wieder verspielt worden wäre. Das, was durch Arbeit geschaffen werden konnte, musste vielmehr zum Ausgangspunkt immer neuer Arbeit gemacht werden, damit die Andacht an die Leiden Christi gewahrt blieb. Genuss blieb dieser Arbeitsauffassung ein sekundärer Zweck. Die Produktion wurde auf ein fortgesetztes Anhäufen immer abstrakterer Reichtümer festgelegt, die immer weniger, so scheint es, der eigentlichen Sicherung von Daseinsbedürfnissen und Überlebensnotwendigkeiten, als vielmehr einer fortgesetzten Produktion um der Produktion willen diente.

 

Die Marxsche Entfremdung

 

Als einer der frühen Kritiker dieser spezifischen Arbeits- und Wirtschaftsauffassung, die das Akkumulieren von Gütern und Geldwerten höher wertet als den Genuss derselben, hat schließlich Karl Marx darauf hingewiesen, dass sich die modernen Wirtschaftstreibenden im Zuge des Produktionsprozesses grundlegend von ihren waren Bedürfnissen und Wünschen entfremdet hätten, dass ihnen die Produkte ihrer Arbeit nicht mehr unmittelbar vor Augen stünden und sie damit nicht unmittelbar abschätzen könnten, wie viel sie davon wirklich benötigten.

Zum einen war daran für Marx die abhängige, nicht selbst bestimmte Arbeit schuld, die dafür gesorgt hat, dass die von den Arbeitgebern bestimmten sozialen und gesetzlichen Rahmenbedingungen, sprich die Produktionsverhältnisse, denjenigen, die wirklich arbeiteten, nämlich den Produktivkräften, immer fremder gegenüberstanden und so eine Kluft im Arbeitsprozess zustande kam, zwischen dem, was fremdbestimmt erarbeitet wurde, und den tatsächlichen Wünschen und Bedürfnissen der Arbeiter.

Zum zweiten war für Marx die Warenform schuld an der Entfremdung der Arbeiter von den Produkten ihrer Arbeit. Sobald nämlich die produzierten Güter auf einem Markt verkauft würden, konnte, so Marx, nicht mehr die individuelle Arbeitszeit, die der einzelne Arbeiter zur Produktion seines Gutes aufwandte, zur Berechnung des Wertes, sprich des Preises dieses Gutes herangezogen werden, sondern nur mehr die durchschnittliche Arbeitszeit, die am Markt zur Produktion des betreffenden Gutes notwendig ist. Wenn auch nur ein Arbeiter dieses Gut irgendwo in der Welt günstiger erzeugen und es damit billiger am Markt anbieten kann, so richtet sich der Marktpreis notwendig nach diesem Angebot und nicht mehr nach der Arbeitszeit all jener anderen Produzenten, die teurer als er produzieren. Der einzelne Arbeiter verliert damit den Einfluss darauf, was seine Arbeit tatsächlich wert ist und infolgedessen auch die Möglichkeit, seine Arbeit und seinen Bedarf zu korrelieren.

Und zum Dritten war für Marx das Geld daran schuld, dass sich eine nachhaltige Kluft zwischen Arbeit und den Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter aufgetan hat. Sobald Geld zwischen die an sich unvergleichbaren Gebrauchswerte etwa eines Paar Schuhe und einer Jacke geschalten wird, um diese Güter handelbar zu machen und einen Tauschwert festzulegen, anhand dessen sie verglichen werden können, so kommt die Möglichkeit abhanden, die eigentlichen Gebrauchswerte noch unmittelbar abzuschätzen. Oder anders gesagt, wer Geld und nicht das eigentliche Resultat seiner Bemühungen für seine Arbeit erhält, der kann nur mehr schwer abschätzen, wie viel er arbeiten muss, um genug eingenommen zu haben.

Geld ist überdies ein Medium, für dessen Menge sich keine tatsächliche Grenze vorstellen lässt und das damit auch die mit Geld befriedigten Bedürfnisse grenzenlos werden lässt. Geld wird dabei in modernen Wirtschaften selbst zu einer Art Ware, die, so scheint es, nicht mehr so sehr um ihres Gebrauchswertes, sondern immer mehr um ihres Tauschwertes willen gehandelt wird. Mit Geld wird, anders gesagt, nicht mehr nur gehandelt, um damit Werte zu schaffen, die dann von irgend jemandem konsumiert werden können. Mit Geld wird gehandelt, damit sich das Geld selbst und nichts anderes mehr vermehrt. Moderne Kapitalmärkte dienen keinen unmittelbaren Lebensbedürfnissen mehr, sondern einzig dem Ziel, mehr und immer mehr Geld zu erzeugen.

 

Wachstumskritik

 

Diese Entfremdung von der Arbeit, die Verselbständigung der Produktion um ihrer selbst willen, hat nicht erst bei den Marxisten Kritik an forciertem wirtschaftlichem Wachstum und den gutgemeinten Aufruf, sich mit weniger zu begnügen, hervorgerufen. Bereits aus der griechischen Antike sind wachstumskritische Stellungnahmen überliefert, die zu Mäßigung und zum Verzicht auf die Akkumulation von Arbeitsprodukten aufrufen. Von Epikur soll der Ausspruch stammen: „Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug“. Und Platon soll gesagt haben „Nicht des Besitzes Verringerung führt Armut herbei, sondern die zunehmende Unersättlichkeit“. Das wohl bekannteste frühe Beispiel für gelebten Konsumverzicht stellt diesbezüglich wohl Diogenes in seinem Fass dar, der die ursprünglich griechische Bedeutung von „Ökonomia“ als Kunst des Haushaltens und der Mäßigung, und nicht als Kunst der Wohlstandsvermehrung, geradezu personifiziert hat.

Freilich darf diesbezüglich aber nicht übersehen werden, dass die griechischen Philosophen durchwegs Angehörige einer privilegierten Oberschicht waren, die sich um materielle Dinge in der Regel nicht zu sorgen brauchten, weil ihnen Sklaven die eigentliche Arbeit abnahmen und damit Zeit gaben, Muße als eigentlichen Lebenszweck zu verinnerlichen. Gerade aus dieser von Sklaven ermöglichten Freizeit gewannen die griechischen Philosophen die „Freiheit“ zu den auch damals bereits wirkenden ökonomischen Imperativen auf Distanz zu gehen und Kritik an der fortgesetzten Wohlstandsmehrung zu üben.

Reste dieser wohlstandskritischen Gesinnung der Griechen finden sich auch noch in einigen Äußerungen im Neuen Testaments – etwa in der Bergpredigt – wieder, wo sie nicht zuletzt dem Trost und der Beschwichtigung der Armen gedient haben. Daneben lässt sich im Christentum aber, wie gesagt, auch eine eher wachstumsfreundliche, am Alten Testament anknüpfende Gesinnung ausmachen, die Fortschritt als Schöpfungswille betrachtet und wachsenden Wohlstand als Ausdruck des Bundes zwischen Gott und dem auserwählten Volk.

Diese ambivalente Einstellung zu wirtschaftlichem Wachstum zieht sich im Prinzip durch das gesamte abendländische Mittelalter und schlägt erst im Merkantilismus zugunsten eines forcierten Wachstumsdenkens um, zu dem dann die Physiokraten, indem sie allgemeinen Wohlstand als Ziel von Produktionssteigerung, Konsumentfaltung und Kapitalakkumulation festsetzen, die entsprechende Theorie liefern.

Nicht zuletzt dies ruft allerdings auch die Wachstumskritik wieder verstärkt auf den Plan. Ein neuzeitliches Beispiel dafür stellen etwa die „Studien zur politischen Ökonomie“ von Simonde de Sismondis dar (Brüssel 1837/38), in denen der Zauberlehrling zum modernen Industriellen wird, der der Entwicklung, die er selbst heraufbeschworen hat, nicht mehr Herr wird, weil der Maschinenmensch, der unermüdlich Wasser vom Fluss heraufschleppt, nicht mehr gestoppt werden kann. Ein anderer früher Mahner vor verselbständigtem wirtschaftlichem Wachstum ist John Stuart Mill gewesen, der in seinen Schriften immer wieder dazu aufgerufen hat, auf weiteres Wachstum freiwillig zu verzichten, bevor natürliche Wachstumsgrenzen von sich aus dazu zwingen. Und auch von Thomas Paine, von Charles Fourier, von Paul Lafargue, dem Schwiegersohn von Karl Marx, und von einer Reihe weiterer Aufklärer sind immer wieder Vorbehalte in dieser Richtung vorgebracht worden.

 

Wachstum als Systemzwang

 

Mit dem Verweis auf „natürliche“ Grenzen des Wachstums, der in der Folge immer wieder von Wachstumskritikern vorgebracht wurde – nicht zuletzt schließlich auch von der berühmten Studie des Club of Rome aus den 1970er Jahren – wird nun allerdings ein Blickwinkel markiert, der über ethische und moralische Gesichtspunkte hinaus immer mehr auch Aspekte ins Blickfeld rückt, die gewissermaßen immanente Notwendigkeiten des Produktionsprozesses darstellen. Während noch die Griechen primär mit dem Hinweis auf ethisch und moralisch einwandfreien Lebenswandel gegen verselbständigtes Arbeiten und Akkumulieren Stellung bezogen haben und auch die frühen Aufklärer nicht frei von moralischen Argumenten gegen fortgesetztes Wachstum um seiner selbst willen gewettert haben, werden nun immanente Wachstumsbarrieren sichtbar, auf die der Produktionsprozess gleichsam per se notwendig stößt.

Schon Karl Marx hatte in diesem Sinn bekanntlich festgestellt, dass der Kapitalismus Tendenz zeigt, sich „mit naturgesetzlicher Notwendigkeit“ selbst den Boden unter den Füßen zu entziehen. Am bekanntesten und wohl auch am heftigsten umstritten ist diesbezüglich seine These vom fortgesetzten Fall der Profitrate, nach der Unternehmensgewinne aufgrund steigender Konkurrenz und Verteuerung der Produktionsmittel beständig geringer werden, bis sie an einen Punkt gelangen, an dem sich die kapitalistische Produktionsweise als unrentabel erübrigt. Zahlreiche ähnliche, zum Teil auch wesentlich drastischere Annahmen einer selbstzerstörerischen Dynamik der modernen Wirtschaft wurden von Wachstumskritikern vorgebracht. Das gegenwärtig wohl am häufigsten gebrauchte Argument ist der Hinweis auf die umweltschädigenden oder -zerstörerischen Neben- und Spätfolgen der kapitalistischen Produktionsweise.

All diese wachstumskritischen Einwürfe kommen allerdings vor dem mittlerweile ebenfalls nicht mehr zu übersehenden Umstand zu stehen, dass sich ihre Vorhersagen zur Selbstauflösung des Kapitalismus empirisch bislang nicht nachweisen lassen. Weder die Profitrate ist bisher soweit gefallen, dass kapitalistisches Wirtschaften nicht mehr rentabel wäre, noch haben sich Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse so weit auseinander entwickelt, dass das gesellschaftliche Band, das sie aneinander knüpft, vollständig zerrissen wäre, noch hat die Umwelt bisher in einem Ausmaß Schaden genommen, der eindeutig als destruktiv und irreparabel festgestellt werden kann. Im Gegenteil, zur Zeit sieht es so aus, als würden gerade die wirtschaftlich am weitesten entwickelten Weltgegenden noch am ehesten in der Lage sein, einigermaßen schonend mit ihrer Umwelt umzugehen.

 

Angesichts dieses Umstandes scheint sich eine etwas andere Argumentation zur Problematik verselbständigten Wirtschaftswachstums nahe zu legen, eine Argumentation, die nicht darauf abzielt, sich den wirtschaftlichen Dynamiken frontal entgegen zu stellen, sondern die vielmehr die immanenten Imperative und Zwänge des Produktionsprozesses genauer zu verstehen sucht, um gleichsam im Strom der ökonomischen Interessen Eigendynamiken aufzuspüren, die sich schließlich gegen diese Interessen instrumentalisieren lassen. Mit anderen Worten, legt sich aus dieser Perspektive die Annahme nahe, dass ein moralisch erhobener Zeigefinger größere Chancen hat, die gewünschte Aufmerksamkeit zu erhalten, wenn er sich auf wirtschaftliche Interessen stützt, die von sich her in die von ihm angemahnte Richtung wirken.

 

Komplexität und Unüberschaubarkeit

 

Unter dieser Perspektive werden Dynamiken, die zu entfesseltem wirtschaftlichem Wachstum, sprich zur „Produktion um ihrer selbst willen“ führen, als implizite Notwendigkeit des Produktionsprozesses sichtbar, als Notwendigkeit zum Beispiel, vor der Unternehmer zu stehen kommen, die, um ihre immer kostenintensivere Produktion am Laufen zu halten, immer längerfristige Kredite aufnehmen müssen und dabei die Rückzahlung dieser Kredite manchmal ebenfalls nur mehr durch neuerliche Kreditaufnahmen gewährleisten können. Die also, mit anderen Worten, vor der Notwendigkeit stehen, ihre jeweils aktuelle Arbeit immer mehr durch Anleihen auf die Gewinne zukünftiger Arbeiten zu finanzieren. Und dies in der Moderne mit ihren hochkomplexen und mitunter äußerst kapitalintensiven Unternehmensstrukturen immer öfter. Moderne Unternehmer können damit, auch wenn sie es selbst wollten, nicht mehr ohne weiteres aus der Produktion aussteigen.

Zum einen schon deshalb nicht, weil sie damit oftmals erst recht die Arbeitsplätze ihrer Angestellten und Arbeiter gefährden und so wohl mitunter größere soziale Probleme kreieren würden, als durch eine nachhaltige Absage an entfesseltes Wachstum.

Auch die Arbeitnehmer unterliegen übrigens aus dieser Perspektive vielfältigen Zwängen, die Arbeit nicht einfach Arbeit sein zu lassen. Auch sie sind an die Miete fürs nächste Monat, die Kreditrate fürs neue Auto und an Kollektivverträge oder sonstige Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft – etwa über Pensionsumlagensysteme und ähnliches – gebunden und damit gezwungen, die Produktion fortzusetzen, auch wenn diese angesichts des vielerorts bereits erreichten Wohlstandes mitunter längst zu überborden scheint.

Am anderen Ende der Wirkungskette knebeln die Banken die Unternehmer mit Krediten, die überhaupt nur mehr bedient werden können, wenn sie lange genug und damit womöglich viel länger laufen, als aktuelle Nachfragen nach den Produkten der Arbeit tatsächlich bestehen. Wer heute zur Produktion von Computern einen Kredit mit dreijähriger Laufzeit aufnimmt und annimmt, dass nach diesen drei Jahren noch tatsächlich genau jene Computer, für deren Produktion der Kredit aufgenommen wurde, gefragt sind, wird kaum als ökonomisch sonderlich weitsichtig gelten. Unter Bedingungen extrem dynamisierter globaler Wirtschaftsabläufe überholt jede Investitionsstrategie die Bedingungen ihres Stattfindens gleich um mehrere Male. Auch die Halbwertszeiten technischer Neuerungen sind mittlerweile so kurz geworden und die Innovationspraktiken so vielfältig, dass sich Produktionsprozesse und Verkaufsstrategien kaum noch wirklich rational durchplanen lassen. Die Milliarden-Investitionen der führenden europäischen Telekomfirmen in die Lizenzen für die neueste Handy-Technologie waren, noch bevor die Versteigerung in allen Ländern zu Ende gebracht war, nicht einmal einen Bruchteil der aufgebrachten Summen noch wert. Diesbezüglich haben sich die Strategien großer Unternehmen längst von Verkaufsplanung und Produktionsmanagement auf das Vermeiden von Unsicherheiten und den Umgang mit Nichtwissen verlagert. Gezieltes Risikomanagement und nicht die Erstellung innovativer Verkaufs- und Investitionsstrategien ist zur eigentlich nachgefragten Aktivität großer Unternehmensberatungsfirmen geworden.

Und auch die Banken selbst scheinen in der globalen Konkurrenz, die sie sich gegenseitig bereiten, längst vom Akteur zum Spielball globaler wirtschaftlicher Dynamiken geworden zu sein. Auch ihre Handlungsmöglichkeiten werden in vielfacher Weise von anderen Global players, von gesetzlichen Auflagen, nationalstaatlichen Rahmenbedingungen, von politischen Vorgaben von Weltbank, IWF, WTO etc. und von der überwältigenden Konkurrenz ihrer Mitstreiter determiniert. Aus diesem Rahmen auszubrechen, bedarf es viel Energie und Good will, vor allem aber sehr privilegierter sozioökonomischer Umstände, wie sie im immer globaleren Zwangszusammenhang weltweiter Wirtschaftsverflechtung nur selten zu finden sind. Die multiplen Dynamiken des eigenen Wirtschaftsgebaren, die zum Beispiel mit immer differenzierteren Risikoarchitekturen die wachsende Unkalkulierbarkeit der vielfältigen Wertpapier- und Devisengeschäfte, der Derivate, Optionen, Futures und Loan Obligations in den Griff zu bekommen versuchen, dabei aber meist hoffnungslos hinter der selbst erzeugten Komplexität herhinken, haben im Bankensektor längst eine Situation geschaffen, die wesentlich mehr Gefahr birgt, von der eigenen Dynamik aus dem Rennen geworfen zu werden, als sie eine Chance lässt, das Schiff aufgrund moralischer Einsichten aus eigenen Stücken zu verlassen.

Und auf etwas höherem Niveau stehen vor demselben Problem auch die Weltbank und der IWF, die WTO oder auch die Vereinten Nationen etc. Auch sie müssen einen Großteil ihrer Handlungsmöglichkeiten den vielfältigen und höchst diversen Interessen der Nationalstaaten und großer transnationaler Konzerne opfern. Nicht zuletzt büßen sie – wie sich etwa an den fehlgeleiteten Maßnahmen im Zusammenhang mit der Asienkrise und zuletzt in Argentinien gezeigt hat – einen Großteil ihrer Möglichkeiten auch aufgrund ihre Abhängigkeit von wirtschaftspolitischen Ideologien ein, die gerade deswegen, weil die Lage so komplex und unüberschaubar geworden ist, notwendig als Ideologien stehen bleiben und zu keinen allgemein gültigen und verbindlichen „Wahrheiten“ mehr werden.

In dieser Kontingenz wird es schwierig, Schuldige oder Verantwortliche für die Lage der Dinge und damit für das entfesselte wirtschaftliche Wachstum auszumachen. Zu jeder Problemsicht lässt sich in der aktuellen multikulturellen Weltgesellschaft stets mindestens eine Gegenperspektive auffinden, aus der sich die Dinge diametral anders herum darstellen. Was sich unter solchen Bedingungen einzig noch klar feststellen lässt, ist der Umstand, dass wirtschaftliche wie soziale Bereiche höchst unterschiedlichen Dynamiken unterliegen, die die verschiedenen Akteure auf völlig unterschiedliche Handlungs- und Orientierungsweisen festlegen. Aufgrund vielfältigster diachroner Entwicklungen, die alle im Prinzip gleichzeitig, aber mit unterschiedlichsten Geschwindigkeiten ablaufen, müssen wirtschaftliche Akteure, die im Hinblick auf mehrjährige Finanzierungs-, Produktions- oder Vermarktungsstrategien kalkulieren, mit völlig anderen Zukünften operieren, als etwa der durchschnittliche Angestellte, für den sich der Planungshorizont mit der Anzahlung für den nächsten Urlaub oder die übernächste Eigenheimrate begrenzt. Jede Seite dieser Polarität steht, anders gesagt, vor grundlegend anderen Problemen und Bedürfnissen, die allerdings für die Betroffenen durchwegs genuine Probleme und Bedürfnisse sind, die sie aus ihrer Sicht um nichts in der Welt als ungelöst oder unbefriedigt stehen lassen wollen.

Mit anderen Worten: die Moderne ist aus heutiger Sicht von einer Komplexität diachroner Dynamiken geprägt, die die Handlungsspielräume und Problemsichten der einzelnen Akteure so eng determinieren, dass ein Ausstieg aus der „Produktion um ihrer selbst willen“ keine realistische Option mehr für alle sein kann. Zwar mag es einzelnen Individuen unter besonderen privilegierten Bedingungen gerade in ihrer Einzelheit und damit relativen Unabhängigkeit noch gelingen, sich gegen den Strom der wirtschaftlichen Dynamiken zu stemmen und kleine Inseln der „Freiheit“ im allgemeinen Zwangszusammenhang für sich zu gewinnen. Als Möglichkeit für die Gesamtgesellschaft oder zumindest für den größeren Teil von ihr fällt ein Ausstieg aus der Produktion, ein „Ende des Wachstums“ allerdings aus.

 

Was tun?

 

Nichtsdestotrotz schafft die aktuelle Situation aber natürlich Handlungsbedarf. Es stellt sich daher die Frage, was getan werden kann, wenn sich in der weltweiten Verflechtung von Interessen und Systemzwängen kein Schuldiger, kein Verantwortlicher mehr klar und deutlich ausmachen lässt, wenn sich Schuldzuweisungen beständig mit der Tatsache konfrontiert sehen, dass auch der jeweils ins Auge gefasste soziale oder ökonomische Opponent seinerseits wieder allumfassenden Systemzwängen unterliegt, die seine Handlungen relativ eng determinieren und kaum „Freiheit“ für moralische oder ethische Bedenken, beziehungsweise deren praktische Umsetzung lassen.

Die Antwort auf diese Frage, die sich hier aufdrängt, ist leider nicht angetan, sonderlich viel Hoffnung zu wecken. Das Quäntchen „Freiheit“, das bleibt, um zur eigenen Involviertheit in die nahezu allumfassenden Systemimperative auf Distanz zu gehen und sie von daher kritisch zu hinterfragen, ist im wahrsten Sinn nur ein Quäntchen. Allerdings – und dieser Umstand scheint mir entscheidend – verdankt sich gerade dieses Quäntchen „Freiheit“ nicht übermenschlichen oder gar göttlichen moralischen oder ethischen Einsichten und Leistungen, sondern wesentlich eben gerade derjenigen Komplexität, die durch die vielfältigen, die moderne Gesellschaft durchziehenden und prägenden Dynamiken und Interessen erzeugt wird. Mit anderen Worten, sind nicht den herrschenden Systemimperativen entgegengestellte Kräfte oder Mächte, sondern vielmehr gerade das forcierte wirtschaftliche Wachstum und die anhaltende „Produktion um der Produktion willen“ selbst gleichsam malgré lui auch für jene Standpunkte verantwortlich, von denen aus dieses Wachstum kritisch in Frage gestellt werden kann.

Oder um es noch deutlicher zu formulieren: die Kritik an der Hegemonie der Ersten Welt gegenüber der Dritten, des Nordens gegenüber dem Süden ist ein Phänomen, das sich ursprünglich der Ersten Welt, dem Norden verdankt, und nicht aus dem Süden kommt – genauso wie sich bereits die Marxsche Kritik an der sozialen Stellung der Unternehmer nicht der Arbeiterschaft selbst verdankt hat, sondern eben der Marxschen Philosophie, die ihrerseits ihre Existenz wesentlich diesem Unternehmertum, konkret etwa den finanziellen Zuwendungen von Friedrich Engels, einem Industriellen, verdankt hat.

Die zugegeben nicht unbedingt sonderlich (klassen-)kämpferische Schlussfolgerung aus dieser Einsicht legt nahe, entfesseltes wirtschaftliches Wachstum und seine vielfältigen problematischen Folgen nicht so sehr durch radikales Gegen-den-Strom-Stemmen oder sonstige Gewaltakte zu bekämpfen. Damit könnte nämlich auch die Möglichkeit zur kritischen Reflexion wieder verloren gehen. Angebrachter scheint es vielmehr – auch wenn dies wenig Potential für Aktionismus birgt und damit kaum sonderlich gruppenbildend oder solidaritätsfördernd ist – bewusst und aufmerksam die aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu beobachten, um so in ihnen etwaige gegenläufige Dynamiken auszumachen, die von sich aus in der Lage sind, den Mainstream des Gegebenen in eine humanere, sozial gerechtere und umweltschonendere Richtung zu lenken.

Dass dieser Weg mühsam ist, steht außer Frage. Und auch, dass er im Hinblick auf Veränderung der längere ist. Im Hinblick auf die Effizienz dieser Veränderung ist er aber, so bin ich überzeugt, der einzig gangbare.


© Manfred Füllsack 2002