Wer wär nicht gerne gut?
Felix Annerl
Der Regisseur Volker Schlöndorf, von der Zeitschrift VOGUE nach seinem größten Weihnachtswunsch befragt, ersehnte, dass niemand in Namibia mehr hungern müsse. Wer wagte, sich dem nicht anzuschließen?
Die Welt ist schon seit einiger Zeit so anständig wie noch nie, allerdings eher mit Worten. Es wurde geradezu zur Bürgerpflicht, nicht nur beim Wein auf Qualität zu achten, sondern auch bei moralischen Grundsätzen. Letzteres ist einfacher, weil kostengünstiger. So ist man, seit die Zusammenhänge komplex und mögliche individuelle Konsequenzen fern sind, geradezu leidenschaftlich fürs Gute, für Weltoffenheit, Toleranz und Gerechtigkeit, für die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, für die Achtung des Mitmenschen und die Wertschätzung der Natur. Dass man dabei die Kinder, die Alten, die Behinderten, die Arbeitslosen, die Zuwanderer etc. nicht vergessen sollte, ist jedem Anständigen klar, pardon, lange davor schon jeder Anständigen. Und natürlich ist man ganz besonders für den Frieden, und zwar weltweit, das ist doch wohl das Selbstverständlichste.
Dass wir angesichts dieser vielen schönen Einstellungen nicht in einer Welt endloser Lichterketten leben, sondern weiterhin in einer des blutigen Streits, kann nur an einzelnen Bösewichten liegen. Es geht kein Weg dran vorbei, diese und die von ihnen Verführten nun in einer letzten Kampfesrunde endgültig zu vernichten. Also auf zum letzten großen Gefecht, zur finalen Durchsetzung von Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität und Frieden!
Das meint nicht nur Mr. Bush: In einem Spiegel-Interview erklärt Walter Jens auf die gemein-knifflige Frage: „Sie sind Pazifist. Hätte gegen Hitler nicht gekämpft werden sollen?“ – „Meine Frau und ich sind konsequente Pazifisten, aber keine absoluten. Es gibt Momente, wo man sich zur Wehr setzen muss. Es wäre besser gewesen, Hitler zu besiegen, als er die Wehrpflicht einführte oder im Rheinland einmarschierte. Millionen von Toten wären uns erspart geblieben.“
Wie wahr! – Aber doch verwirrend, denn wie lautet das daraus gefolgerte allgemeine Rezept? Gleich losschlagen, wenn sich irgendwo was Verdächtiges zeigt? Dann wäre also auch der amerikanische Präsident ein konsequenter Pazifist, eine hochmoralische Figur, die sich allerdings nicht so recht vom entschiedenen Bellizisten unterscheiden läßt. Wir wissen ja, dass selbst Hitler behauptete, für den Frieden zu sein, allerdings ebensowenig wie Jens oder Bush für einen Frieden unter allen Umständen.
Der klägliche Definitionsversuch des berühmten Germanisten ist allerdings keine individuelle Gedankenlosigkeit, in ähnliche Konfusionen manövrieren sich Pazifisten offenbar grundsätzlich. Selbst so bemühte Analytiker des Krieges wie Einstein oder Freud rufen in ihrem berühmten Briefwechsel über die Gründe des Ersten Weltkriegs zum letzten Kampf gegen das Böse auf. Einstein: „Ich bin nicht nur Pazifist, ich bin militanter Pazifist. Ich will für den Frieden kämpfen” … „Es wird nicht möglich sein, die kriegerischen Instinkte in einer einzigen Generation auszurotten. Es wäre nicht einmal wünschenswert, sie gänzlich auszurotten. Die Menschen müssen weiterhin kämpfen, aber nur, wofür zu kämpfen lohnt.” Wieder eine These, die auch der blutrünstigste General in Karl Kraus’ „Letzten Tagen der Menschheit” unterschreiben könnte.
Diese Konfusion, dieses verwirrende Hin- und Herspringen zwischen Werten betrifft nicht nur Krieg und Frieden, sondern die gesammte moderne Ethik. Die philosophischen Hintergründe des Verhängnisses, dass moralische Anliegen zugleich den Ausgangspunkt äußerst ambivalenter Handlungen, ja des schlechthin Teuflischen bilden können, Moral also offenbar nichts an sich Gutes ist, lassen sich allerdings hier nicht detailliert ausführen. Die Schwierigkeiten hängen, grob gesprochen, mit der Ausbildung allgemeiner Prinzipien und ihrer Trennung vom Alltagsleben zusammen. Norm und Praxis entfernen sich im Zuge ihrer Ausdifferenzierung im Modernisierungsprozess voneinander.
Durch diese wachsende Distanz entsteht der falsche Eindruck, alles, was aufgrund von Prinzipien gefordert wird, sei auch erfüllbar und habe in der Regel positive Folgen. Dies ist eine in jeder Hinsicht gefährliche Überschätzung des aus abstrakten Prinzipien abgeleiteten Moralsystems. Niemandem durch seine Handlungen zu schaden, mag zwar als durchaus plausible allgemeine Norm erscheinen, doch sie ist unerfüllbar, und zwar weil in konkreten Situationen keiner weiß, wie sie umzusetzen ist. Und trachtet jemand in bester Absicht, sie zu befolgen, kann dies die verheerendsten Konsequenzen haben. Man denke nur an die verschiedenen Realisierungsversuche sozialistischer Ideale.
Durch dieses Fehlen einer alltäglichen Realisierungspraxis findet sich der einzelne, meist ohne es recht zu merken, in ständig neuen Handlungsdilemmata, im Kontext einander widersprechender Forderungen. Die pragmatische Lösung besteht meist darin, davon den Blick zu wenden, sich mit diesen Dilemmatas nicht zu konfrontieren, sondern einfach die günstigen Folgen der gewählten Handlungen bzw. ihre guten Absichten hervorheben – also etwa die Nutzung eines Autos mit familiären Pflichten zu begründen. In anderen Kontexten protestieren die gleichen Leute dann gegen die Zerstörung der Umwelt durch den Verkehr. Aber das hat eben nicht nur mit Doppelmoral im Sinne der Unehrlichkeit zu tun, sondern mit der Unverbindbarkeit der gestellten Forderungen. Man kann diese vertrackte Grundsituation, in der wir uns alle befinden, auch so beschreiben, dass wir in immer mehr Bereichen über keine funktionierenden „cultural games” (Clemens Sedmak) verfügen.
Konfligierende Machtansprüchen unterschiedlicher Kulturen, Nationen oder gesellschaftlicher Gruppen beginnen mit Drohungen und führen in einen bisher nicht zu vermeidenden Prozess der Eskalation bis hin zum grenzenlosen Kampf, in dem paradoxerweise oft alle jene Inhalte, die anfangs den Streit auslösten, vernichtet werden und selbst ihre Verteidiger ein Ende finden.
Fassen wir zusammen: Es genügt leider nicht, vor jeden gesellschaftlichen Missstand ein Gebot zu stellen, das die Korrektur befiehlt. Das ist so, als wollte man etwa die Langwierigkeit eines Schachspiels einfach durch eine zusätzliche Regel beheben, die bei sonst gleichbleibenden Eigenheiten seine Einfachheit fordert. Genau das tut aber der Pazifist. Man müsste aber vielmehr grundsätzlich neue Spiel-Konzeptionen entwickeln, wobei niemand im Vorhinein sagen kann, ob dies überhaupt möglich ist. Beim Krieg als letztem Mittel sozialer bzw. nationaler Auseinandersetzungen ist der Menschheit – ähnlich wie bei anderen Problemen auch – noch kein konsistentes Vermeidungs- oder Korrektur-Spiel eingefallen. Und leider weist nichts darauf hin, dass dies in Zukunft der Fall sein wird.
Beitrag zum Projekt "Peace out now" des Künstlerkollektivs Alltag Sommer/Herbst 2003.