Leonardo Boff: Das mütterliche Antlitz Gottes

Autor: Helga Maria Lackner



Ein interdisziplinärer Versuch über das Weibliche und seine religiöse Bedeutung lautet der Untertitel dieses zu besprechende Werks des brasilianischen Theologen Leonardo Boff. Kurz zu seiner Person: Boff wurde 1938 in Concórdia geboren, studierte Philosophie und Theologie in Curitiba, Petrópolis und München. Er ist Professor für Systematische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Petrópolis und Berater der Nationalen Bischofskonferenz Brasiliens.

Maria – Archetyp und Utopie? "Mit"-Erlöserin, Zugehörige beider Testamente, Von der Erbsünde Unbefleckte, als Jungfrau Gebärende, Mutter Jesu, den Tod des Sohnes Beklagende, mit Leib und Seele in den Himmel Aufgenommene. Magd Gottes, bewußt Bejahende, Schutzherrin, Befreierin, Prophetin...
Maria selbst bietet sich als fundamentale Frage, die reflektiert sein will, an. Das Hauptaugenmerk richtet der Autor jedoch auf theologische Fragen wie: Was bedeutet Maria für Gott? Welchen Plan hat Gott mit Maria? Kann man von der Realisierung Gottes in Maria sprechen?

Ich sehe meine Aufgabe mit dieser Buchbesprechung vor allem darin, analog zum Vorlesungstitel die wesentliche Züge des Mythos Maria sowie der Utopie Maria (mit Hilfe des Prinzips Weiblichkeit, dessen beeindruckende Analysierung Boffs hier nur skizziert werden kann) nachzuzeichnen. Wie es mir möglich ist, will ich auf die Situation in Südamerika eingehen mit den Fragen: Wie sieht das aktuelle Marienbild in Südamerika aus? Welche Beiträge kann die Mariologie in der konkreten sozialen Konfliktsituation liefern?



Innerhalb seiner wissenschaftlichen Reflexion nennt Boff als Grundhindernisse für das Verständnis des Weiblichen: Verschweigen der Sexualität (Mensch als animal rationale), sexuellen Monismus (Männlichkeitswahn – Boff rügt Sigmund Freud), Regionalisierung des Geschlechtlichen auf den Genitalbereich (Mensch ist nicht nur Bios, er ist Person in einem ganz eigenen Beziehungsgeflecht), Ontologisierung geschichtlich gewordener Erscheinungsformen (der Natur wird zugeschrieben, was z.B. Resultat von kulturellen Benachteiligungen, Interessensspielen ist...), Polarisierung der Geschlechter (Ignorieren wesensmäßigen Wechselseitigkeit), andererseits aber auch die Überhöhung der Frau (Die ewige Frau – Boff rügt Honoré Balzac).

Erwähnen möchte ich in unserem Zusammenhang auch die als Regulative geschichtlich bedingte Verhaltensweisen, Institutionen und Normen, da die menschliche Sexualität ein beständiger biologischer Impuls ist. Kultur, Konflikte, Kampf der Geschlechter? Patriarchat, Matriarchat? Wo liegen die treibenden Kräfte? Wie kommt es z.B. zur Verinnerlichung der Vorherrschaft der Männer bei den Frauen? Beauvoir spricht von der Frau als Spezialfall der Dialektik zwischen Herren und Sklaven. Wünschenswert: Die Beziehung der Geschlechter zueinander als gegenseitige Bereicherung.

Von der wissenschaftlichen zur philosophischen Reflexion: Die Wissenschaft fragt nach dem Wie, und in ihrem Erkennen bleibt immer noch Nichterkanntes. Die Philosophie fragt nach dem Warum. Was ist der Mensch? Hier fragt sie: Inwieweit ist die geschlechtliche Doppelgestalt Konkretion des Seins und Manifestation der höchsten Realität? Ontologie als Reflexion über den Menschen als Seiendes bedeutet gedankliches Durchdringen, das Wachhalten des Wissens, das wir haben. Die Wissenschaft informiert uns über die konkreten Formen, wie sich der Mensch auf der Welt verwirklicht (also als Mann und Frau). Was der Mensch letztlich ist, damit befaßt sich die Ontologie. Sie sagt: Mann- und Frausein sind zwei verschiedene Weisen, in der Welt zu sein. Die Einführung der Kategorie Männlichkeit und Weiblichkeit (Geschlechtlichkeit als ontologische Struktur des Menschen hilft uns weiter und da sie Dimensionen des Menschseins sind, betrachten wir mit Boff erst einmal die Grundstruktur des Menschen. Diese besteht in dem ("kleinen Wörtlein") und: Der Mensch ist er und das, was sich von ihm unterscheidet, mit dem er aber Gemeinschaft pflegt: Mann und Frau, Mensch und Welt, Ich und Nicht-Ich, Ich und du...Die Grundstruktur ist dialektisch, der Dialog mit dem, was der Mensch nicht ist, offen zu bleiben, ist Chance und Gefahr und macht letztendlich die personale Identität aus. Männliches und Weibliches sind beide Manifestationen der existentiellen Dialektik: Zwei Pole: der eine - Dunkel, Tiefe, Erde, Gefühl, Aufnahmebereitschaft, Vitalität, Kraft, Leben zu geben (das Weibliche), der andere – Licht, Zeit, Impuls, Ordnung, Objektivität, Vernunft (das Männliche). Beide Pole des Menschlichen kommen sowohl in der Frau als auch im Mann zum Ausdruck, mehr oder weniger.

Mythos als Sprache des Männlichen und Weiblichen nennt Boff ein weiteres Kapitel und macht auf die alten Mythen aufmerksam, die den Reichtum des menschlichen Geheimnisses, das in Mann und Frau konkret wird, besser zum Ausdruck bringt als manch begrifflicher Diskurs. Schön dazu Paul Ricoeurs Worte: Die Sexualität bleibt in ihrer Tiefe vielleicht undurchlässig für die Reflexion und unerreichbar für die Herrschaft des Menschen. Vielleicht bewirkt diese Undurchsichtigkeit, dass..sie weder von der Technik absorbiert, sondern dank dem mythischen Rest in uns nur symbolisch dargestellt werden kann.
Somit sind sechs Grundaussagen über das Weibliche umrissen: der Unterschied der Geschlechter, die Einschließlichkeit (jeder Mensch ist zugleich männlich und weiblich), die wechselseitige Verwiesenheit, die Geschichtlichkeit, die geschichtlichen Originalität, die Einheit in der Differenz (Grenzen des Diskurses angesichts der komplexen Realität).

Das Weibliche - eine theologische Meditation. Ich fasse mich kurz: Boff geht der Frage nach, inwieweit das Weibliche Gott offenbart bzw. inwieweit sich Gott im Weiblichen offenbart. Dazu sieht er sich genauer an, was die Schrift über das Weibliche und die Frau sagt; dann untersucht er, wie die biblische Botschaft in der Überlieferung rezipiert wurde (die jüdisch-christliche Männerreligion, der Feminist Jesus: die Frau als Person und Tochter Gottes, Paulus übernimmt die traditionelle Unterordnung der Frau, die Diskrepanz zwischen der Botschaft Jesu und dem Neuen Testament - der Konflikt geht weiter...). Schließlich liest er den analytischen und philosophischen Text über das Weibliche wie er betont mit wirklich theologischem Blick.

Daraus entwickelt Boff seine mariologische These: Die Jungfrau Maria, Mutter Gottes und Mutter der Menschen, realisiert auf absolute und eschatologische Weise das Weibliche, weil der Heilige Geist sie sich zum Tempel, zum Heiligtum und zum Tabernakel gemacht hat, und zwar auf eine so reale und wahre Weise, dass sie als hypostatisch mit der dritten Person der Dreifaltigkeit verbunden gelten muß.

Die Behauptungen, auf die Boff diese Hypothese stellt, sind folgende. Er sagt:

Meine Probleme mit Boffs These. Aussagen wie Geschehen, die es nur im Glauben gibt erkennt der Kirchenmann Boff als Realität an. Wer sozusagen "draußen steht", tut sich wohl schwer damit. Auch ist mir die folgende Beweisführung nicht klar: Es ist in Jesus Wirklichkeit geworden. Wenn es nicht möglich wäre, gäbe es keine Reinkarnation Gottes... Das impliziert doch, dass es eine Reinkarnation Gottes gibt.
Boff nimmt Kritik am Kern seiner These vorweg, er sagt:
Da wir unsere Reflexion über das Weibliche in seiner hypostatischen Beziehung zum Heiligen Geist gipfeln lassen, laufen wir Gefahr, es zu mythologisieren oder in einem solchen Maße hochzupreisen, dass wir die geschichtliche Konkretion, in der es sich verwirklicht hat, aus dem Auge verlieren...

Sein Vorschlag ist es, die Wirklichkeit Maria auf drei Ebenen erfassen zu wollen, in einer geschichtlichen, einer theologischen (die Wirklichkeit des Glaubens) und einer mythischen Betrachtungsweise (die Wirklichkeit der Phantasie).
Damit ist natürlich der Rahmen für obere Aussagen geschaffen. Die Frage ist, ob wir uns dem anschließen können.



Wir haben keine Biografie von Maria, auch das Neue Testament bietet wenig Information. Zahlreich sind hingegen fromme Legenden, die die Kirche nie offiziell anerkannt hat. Boff hinterfragt sehr wohl die Historizität auch der Nennungen in den Evangelien und meint dass sich die historischen Umrisse Marias in theologischen Reflexionen verlieren. Herauslesen läßt sich aber: Maria ist die jungfräuliche Braut, Maria ist arm, Maria ist Mutter, Maria ist ein glaubender Mensch, Maria ist die starke Frau.
Die Geschichte antizipiert die Eschatologie: Die Geschehnisse um Maria sind eschatologisch zu sehen, sie sollen den letztgültigen Plan, den Gott mit der Menschheit und vor allem mit dem Weiblichen hat, zum Ausdruck bringen. In Maria verwirklicht sich bereits der Zustand, den Gott der ganzen Menschheit verheißen hat: eines Tages ganz Gottes und ganz für Gott zu sein.
Maria hält sich für den Plan Gottes offen – fiat – es geschehe. Sie nimmt an.



Die Mariologie der Erhöhung – aus der Frau aus dem Volke wird Maria voll der Gnade, die mehr als alle anderen Frauen Gesegnete... aus dem Marienlob entsteht eine neue christliche Mythologie. Die Theologie aber hat die Aufgabe, den Zusammenhang innerhalb des göttlichen Heilsplanes herauszuarbeiten.

Die Unbefleckte Empfängnis als Höhepunkt der Menschheit? Papst Pius verkündet das Dogma vom 8. Dezember 1854: ...dass die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch einzigartiges Gnadengeschenk und Vorrecht des allmächtigen Gottes, in Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechts, von jedem Fehl der Erbsünde rein bewahrt blieb.
Boff: Endlich hat die Schöpfung ein Wesen, das nur Güte ist. Und voll der Gnade ist. Was ist der geheime Sinn? Mit Maria beginnt Gott, eine neue Menschheit zu schaffen. Mit der Unbefleckten Empfängnis schafft sich Gott eine ganz reine Frau, die sein Aufnahmegefäß sein soll – in seinem Willen zur Menschwerdung.

Die bleibende Jungfräulichkeit Marias versteht Boff als Beginn der vergötterten Menschheit. Er geht den verschiedenen Interpretationen von Jungfräulichkeit im Kontext der Zeit nach. Die theologische Bedeutung der Jungfräulichkeit Maria bleibt im Dunkel, über die anthropologische Bedeutung: Maria versinnbildlichte ihre geistige Haltung der Gott-Ergebenheit eben auch in der körperlichen Zurückhaltung.

Die menschliche und göttliche Mutterschaft Marias: Die Mutterschaft Marias wird als wichtiger erachtet als die Jungfrauschaft. Boff: Maria als das Medium zur Verwirklichung des Projektes von Mann und Frau. Sie gebiert einen Menschen, der Gott ist (göttliche Mutterschaft) und einen Gott, der wirklicher Mensch ist (menschliche Mutterschaft). Das ist die grundlegende Bedeutung von Maria, dass sie die gesamte Heilsgeschichte Gottes und der Menschen trägt.

Die Heiligkeit Marias: Sie ist im ursprünglichen, ontologischen Sinn heilig (da sie Gott und in die göttliche Sphäre gehört). Sie ist aber auch als menschlich heilig zu bezeichnen – durch ihr persönliches Verhalten, der Treue zu Gott...

Marias Auferweckung und Aufnahme in den Himmel: Papst Pius XII. verkündet 1950 das unfehlbare Dogma, dass die unbefleckte, immer jungfräuliche Gottesmutter Maria nach Vollendung ihres irdischen Lebenslaufes mit Leib und Seele zur himmlischen Herrlichkeit aufgenommen worden ist. Die Kirche spricht von Auferweckung, nicht Auferstehung, es bedeutet die absolute Heimkehr...
Die folgenden Charakteristika Maria werden uns besonders interessieren:
Maria in der kirchlichen Tradition: Das Bild von Maria, wie es von der Theologie unterstützt wurde, zeigt die milde, süße, fromme, demütige und ganz auf Jesus und die heilige Familie ausgerichtete Jungfrau und Mutter. Kaum angesprochen wurden die anklagenden, prophetischen und befreienden Züge Marias, obwohl auch dieser Aspekt mit dem Weiblichen verknüpft ist. Die ethische Empörung Marias, die sie Gott bitten läßt, die Mächtigen vom Thron zu stoßen und die Reichen mit leeren Händen ausgehen zu lassen, damit die Demütigen erhoben und die Hungernden mit Gütern überhäuft würden – diese prophetische Maria sollte mit Kirche und Christen nichts zu tun haben. So wurde das Magnifikat über Jahrhunderte hinweg seines kritischen und eindeutig befreienden Inhalts entleert.

In der Feudal- und Sklavenhaltergesellschaft Lateinamerikas wurde Christus dargestellt als großer Herr und absoluter Monarch, Maria hingegen als Sklavin, die sich freiwillig Gott und den Menschen unterwirft. Als im vorigen Jahrhundert das alte Regime zu Ende ging, unter den sozialen Klassen größere Mobilität entstand, die Ständegesellschaft sich zu einer Gesellschaft der Konflikte und Veränderungen entwickelte und Gott allmählich menschliche Züge annahm (bis zum gütigen Vater),,, stellte die Ikonographie auch Maria im neuen Gewand dar: als freundliche Frau und gütige, liebenswürdige, Geborgenheit schenkende Mutter.



Die Solidarität und universale Mittlerschaft Marias: Mit ihrem fiat – es geschehe – hat sich Maria mit der ganzen Menschheit, die sich nach Befreiung sehnte, solidarisiert. Solidarität im Alltag: Aus dem Jubellied Marias, dem Magnifikat, spricht die ganze Solidarität Marias mit den Unterdrückten der Erde. Maria ist die starke und befreiende Frau, die Gott mit seiner Gerechtigkeit gegen die Ungerechten dieser Welt anruft und die ihn bittet, zugunsten der Kleinen und Hungernden einzugreifen.
Auch der Umstand, dass Jesus in einem Stall zur Welt kam, kann als Solidaritätsakt Marias gedeutet werden – wie später ihr aktives Eingreifen bei der Hochzeit in Kana (Joh 2,1-11).
Dies sieht Boff als geschichtliche Ereignisse – und nun, als in den Himmel Aufgenommene, meint der Autor, ... tritt sie unablässig für ihre Kinder ein und zieht das in allen Menschen wohnende Weibliche zur endzeitlichen Vergöttlichung hin.

Maria – Prophetin, Befreierin, subversive Sympathisantin...
Die besondere Bedeutung dieser Mittlerschaft Marias können wir in einem Glaubenskontext in dem wie in Südamerika Menschen in unterdrückerischen Verhältnissen leben, nachvollziehen. Boff schriebt, ... bekanntlich besteht einer der charakteristischsten und schönsten Züge der lateinamerikanischen Frömmigkeit in ihrer marianischen Prägung. Maria nimmt teil an den Leiden und an den Freuden unseres Volkes. Zahlreiche Orte und zahllose Kirchen tragen den Namen Marias oder heißen nach einem ihrer Feste. Um hinzuzufügen: Allerdings geben in dieser Art von Frömmigkeit mehr Verehrung und Kult den Ton an als Nachfolge und Nachahmung des Lebens und der Tugenden Marias.

Nun berichtet Boff aber auch von einer anderen Art von Frömmigkeit, die sich zunehmend ausbreitet und die deutlich auf die Nachfolge (?) Marias abzielt. Marias Loblied, das Magnifikat, wird in Basisgemeinden und Gruppen, die auch die politische Dimension des Glaubens bedenken und praktizieren, äußerst geschätzt.
Erst in unseren Tagen entsteht ein Bild von Maria als Prophetin und als mutiger und starker Frau, die für die messianische Befreiung der Armen aus allen geschichtlichen und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten eintritt. Der Ort, an dem dieses Bild wächst, ist das Herz unseres geschundenen und unterdrückten Volkes, dessen Sehnsucht nach Partizipation (Mitsprache, Mitbestimmung) und Befreiung gewaltig ist.

Er sieht die lebendige Kraft der Bibel und die Fülle der Bedeutungen, die sich in der Begegnung mit neuen gesellschaftlich-geschichtlichen Konstellationen erschließen (Hinweis zu hermeneutischem Zirkel, einem Wechselverhältnis). Er sieht die Beziehungen zwischen Fakten und dem Geist, aus dem heraus Maria handelte und meint: Wie durch einen Zauber ist Maria unsere Zeitgenossin. Er zeigt die Probleme für die Bevölkerung auf, die lateinamerikanischen Armen fordern menschenwürdige Behandlung, Grundrechte, gerechte soziale Verhältnisse sowie Mechanismen, der Partizipation, die allen mehr Mitsprache, Mitbestimmung und Anteil am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ermöglichen.
Kleine Eliten, welche Macht, Wissen und Reichtum in Händen haben, kontrollieren das Schicksal ganzer Völker. Sie setzen ihre Interessen durch und verteidigen ihre Prinzipien selbst mit Waffengewalt. Den christlichen Glauben samt seiner Gedankenwelt und seinen religiösen Symbolen instrumentalisieren sie für ihr egoistisches Anliegen.
Diesen internen Kolonialismus versteht Boff als Microkosmos innerhalb des ausbeuterischen Vorgehens der nordatlantischen Staaten gegenüber den Satellitenländern.

Der Schrei des unterdrückten Volkes, der nach Befreiung verlangt, erreicht die Kirchen: Gesprochen wird von einer kollektiven Situation der Sünde (nicht nur von strukturellen Ungerechtigkeiten), unvereinbar mit dem Heilsplan Gottes. Boff nun weiter:
Dabei halten wir die Befreiung nicht nur für einen globalen Gesellschaftsprozeß, sondern für eine Form der Konkretisierung und Vorwegnahme der absoluten Befreiung in Jesus Christus.

Papst Paul VI. stärkt Marias Position auf Erden mit seiner Enzyklika Marialis Cultus (1974), Maria für moderne Menschen, für die moderne Frau – eine starke Frau, die Armut und Leiden, Flucht und Verbannung mitmachte. Die Vorbild ist.. bemüht um Gerechtigkeit zur Befreiung der Unterdrückten..vor allem aber wirksam die Liebe bezeugend, die Christus in den Herzen aufbaut.. Maria wird als offiziell als befreiende Frau geschildert.
An dieser Stelle fällt mir auf, dass sich hier die Liebe wiederfinden könnte, die uns in unseren Referats-Diskussionen als Grundverständnis Brasiliens so ratlos gemacht hat...
Nossa Senhora als Symbol der Liebe – und einer neuen Ordnung (Ordnung und Liebe, das weibliche und das männliche Prinzip vereint?)...

Boff zitiert auch den protestantischen Mönch Max Thurian, der schon 1963 über das Magnifikat schrieb: Politische und soziale Gerechtigkeit, Rechtsgleichheit und Gütergemeinschaft sind die Zeichen des Erbarmens des Messias-Königs, das seine Mutter und Magd besingt. So wird das Evangelium vom ewigen Heil auch zum Evangelium der menschlichen Befreiung. Maria, die erste Christin, ist auch die erste Revolutionärin in der neuen Ordnung. Somit erkannte Thurian schon frühzeitigst die befreiende Dimension der christlichen Botschaft, die später für die lateinamerikanische Befreiungstheologie so wichtig wurde.

So meint auch der in USA lebende Theologe Harvey Cox (Quelle: Klaus Schreiner in: Maria), was lateinamerikanische Frauen bewege, sich Maria zuzuwenden, sei nicht zuletzt Sehnsucht nach einem Leben, das nicht mehr dazu verpflichtet, sich Ausbeutungs-mechanismen und Entfremdungszwängen der Herrschenden und Besitzenden auszuliefern. .. Solches Hoffen nährt sich eben aus dem Glauben an die prophetische Maria, die ihrem Magnifikat eine Heilszeit ankündigt. In diesem Punkt, meint nun Klaus Schreiner, trifft sich Cox mit Themen und Thesen feministisch geprägter Befreiungstheologie. In deren Blickfeld spielt Maria die Rolle einer subversiven "Sympathisantin" (Dorothee Sölle), die die Macht der Herrschenden zersetzt.



Die symbolische Mariologie ist äußerst fruchtbar – das Symbol (der Mythos, das Bild) schafft und sagt die Wirklichkeit auf der Ebene der Phantasie neu. Boff sieht darin eine legitime Form, die transzendente Bedeutung Marias auszudrücken. Und sieht es mit René Laurentin so: Der Mythos ist bezeugende Sprache der Transzendenz, und in diesem Sinne ist er unersetzlich (begründende Hermeneutik des Mythos, z.U. reduzierende Hermeneutik der Positivisten).

Maria in der Sprache der Mythen: Die vergleichende Religionswissenschaft sieht in der Mariologie eine besondere Version heidnischer Mythen (R. Bultmann). Auch die Tiefenpsychologie beschäftigt sich lebhaft mit der Mariologie, v.a. mit dem Ausgangspunkt Matriarchat für die Psychologie des Weiblichen. Hier wäre es interessant, auf das Weibliche in der Psychologie C.G. Jungs näher einzugehen (Sigmund Freud polarisiert zu sehr mit seinem Ödipuskomplex-Ansatz auf allen Ebenen). Boff stimmt mit Jung überein, dass die Bewusstwerdung (als Stärkung des Ichs..) zentrales Problem ist. Er spricht von Archetypen, die die Tiefen des Unbewußten bewohnen, er nennt sie anima, und jeder Mensch trägt auch Weibliche in sich, in positiven und negativen Variationen. Boff schätzt in diesem Zusammenhang auch besonders Erich Neumanns Studie Die Große Mutter.

Psychologisch-kulturelle Wertung der Mariendogmen durch C.G. Jung: Der Psychologe findet im Christentum, das auch er patriarchalisch sieht, Maria als Archetyp ohne Schatten integriert. Das ist positiv als Beginn des endgültigen Zustandes des Mannes und der Frau in Gott zu sehen. Anima steht für Maria, als vornehmster Ausdruck der Weiblichkeit. Auch die Verkündigung des Mariendogmas von der Aufnahme in den Himmel bespricht Jung:
Nur über das Unbewusste findet man Verständnis zu diesem Dogma. Auf dieser Ebene steht es in vollem Einklang mit den Bedürfnissen unserer inneren Archäologie. In Maria werde bis zu einem gewissen Grad auch das Weibliche zur Gottheit erhoben.
An dieser Stelle möchte ich einhacken und die Betrachtung der Utopie Maria einbringen.
Definiert man Utopie (gr.- ohne Ort, nirgends) als die Möglichkeit eines (Gesellschafts-) Systems, das (noch) nicht existiert und dessen Verwirklichung eines menschlichen Tuns bedarf, so mag Maria – wie oben zitiert in vollem Einklang mit den Bedürfnissen unserer inneren Archäologie - stehen für unsere bewußte oder unbewußte Sehnsucht nach Versöhnung des männlichen und weiblichen Prinzips, nach mit dem Göttlichen, nach ewiger Harmonie, nach dem gerechten Himmelreich...

Schlußfolgerung – das Weibliche als Offenbarung Gottes: Glaube und Theologie sehen also Maria und die Geschehnisse um sie als geschichtliche Ereignisse. Das ist die eine Ebene, auf der die Mariologie als systematische Reflexion über das Geheimnis Marias verstanden werden will. Die zweite Ebene sind Mythos und archetypische Darstellungsform. Der Mythos findet in ihr die radikalsten Sehnsüchte unserer inneren Archäologie. In ihr ist das Eschaton (die definitive Wirklichkeit in ihrem Endzustand in Gott) angebrochen. Auf dieses gnadenhafte Geschehen verweisen die Mythen und antizipieren es. Mythologische Sprache vermag es, diese unaussprechlichen heilsgeschichtlichen Wahrheiten auszudrücken. Boff spricht gar von der Pädagogik Gottes, dass er nämlich die menschliche Psyche nach und nach auf das historische Geschehen vorbereitet, das Gott Heiliger Geist (!) an Maria wirkt. Demeter und Artemis, Juno, Ceres, Isis, waren es nicht alle Vor-Bilder , durch göttliche Kraft befruchtete Mütter?

Boff: Die Mythologie gehört zur Pädagogik Gottes...