Thomas Metzinger

Hirnforschung, Neurotechnologie, Bewußtseinskultur

Medizin-ethische, anthropologische und sozialphilosophische Fragen der Zukunft


In den letzten zehn Jahren haben wir mehr über die Struktur und die Wirkungsweise des menschlichen Gehirns erfahren als in den dreihundert Jahren davor. Es ist bereits jetzt abzusehen, daß der Wissenszuwachs in den Neurowissenschaften sich auch in der Zukunft weiter mit großer Geschwindigkeit fortsetzen wird. Wenn diese Annahme richtig ist, dann wird diese Entwicklung eine ganze Reihe von Folgen für uns alle haben. Meine Prognose ist die folgende: Unsere Handlungsmöglichkeiten bei der direkten Beeinflussung des menschlichen Gehirns werden sich bald und in sehr vielfältige Bereiche hinein erweitern. In vielen dieser Bereiche werden unsere moralischen Intuitionen versagen. Zumindest diejenigen von uns, die sich nicht fest an metaphysische Hintergrundideologien oder starre Wertsysteme gebunden haben, werden in vielen Situationen zugeben müssen, daß sie selbst einfach nicht wissen, wie hier im konkreten Einzelfall eine ethisch überzeugende Handlungsweise aussehen könnte. Aber auch unser eigenes Bild von uns selbst - in dem viele der eben erwähnten Intuitionen ihre Wurzeln haben - wird sich auf dramatische Weise verändern. Es entsteht nämlich nicht nur eine ganze Palette von neuen Problemstellungen für die angewandte Ethik, sondern auch eine neue, durch die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung erweiterte Anthropologie: Wir bewegen uns auf ein grundlegend neues Verständnis dessen zu, was es heißt, ein Mensch zu sein. Das allgemeine Bild vom Menschen wiederum ist aber eine der wichtigsten Grundlagen unserer Kultur. Seine Besonderheit besteht darin, daß es sehr subtil und doch wirksam die Art und Weise beeinflußt, wie wir im Alltag miteinander umgehen und uns selbst erleben. Deshalb wird die oben angedeutete Entwicklung auch gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen und schließlich unser aller Leben beeinflussen. Interessanterweise kann man die ersten Anzeichen der eben angedeuteten Entwicklung bereits heute beobachten. Besonders deutlich zeigen sie sich auf dem Gebiet der Medizin, nämlich in Zusammenhang mit der ethischen Diskussion um Neurotransplantation und Neurotechnologie. Ich zitiere aus einem Text des Büros für Technikfolgen Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), welcher sich mit der Alltagsrelevanz der Neurowissenschaften auseinandersetzt:

Der Erkenntnisgewinn über die biologische Informationsvermittlung und -verarbeitung im Gehirn hat insbesondere Auswirkungen auf die frühzeitige Behandlung und Beherrschung zahlreicher, bis dato als "Schicksalsschläge" hingenommener Krankheiten. Man hofft, daß ein besseres Verständnis der Pathogenese hilft, die Stagnation der medikamentösen Therapie aufzubrechen. ... In der vergangenen Zeit hat die Übertragung embryonaler Hirnzellen auf Alzheimerpatienten für großes öffentliches Aufsehen gesorgt. In der Schlaganfallforschung werden im Lauf der kommenden 10 Jahre weit darüber hinausgehende Ansätze zur Gehirntransplantation erwartet. Vorstellbar ist, daß bestimmte "befallene" Hirnpartien ausgetauscht werden und/oder daß die Regenerationsfähigkeit solcher von einem Schlaganfall betroffener Areale verbessert wird, z.B. durch die Einpflanzung von gesunden, noch wachstumsfähigen Hirnzellen. ...
Theoretisch ist es denkbar, daß das Gehirn mittels Mikrochip bestimmte Informationen (z.B. die Rechenfähigkeit) direkt aufnehmen lernt bzw. daß Datenbanken ohne den Umweg über den Computer direkt ins Gehirn abgerufen werden können. Die Entwicklung sogenannter intelligenter Prothesen (von Minielektroden über Mikrochips bis hin zu ganzen Organtransplantaten) stellt eine weiter Möglichkeit dar, mit Hilfe der Informationstechnologie bei Funktionsstörungen des Nervensystems Abhilfe zu schaffen. Dabei sollen sensorische oder motorische Defizite von z.B. querschnittsgelähmten oder tauben Menschen technisch ersetzt werden. Auch könnte durch eingepflanzte Elektroden das Gehirn derart stimuliert werden, daß bei Schmerzen die Ausschüttung körpereigener Substanzen zur Beruhigung und Gemütsaufhellung (Opioide) ausgelöst wird. Hier ergeben sich völlig neue Anwendungsfelder beispielsweise für die Anästhesie, die Schmerztherapie und die Behandlung depressiver Zustände. Unter Umständen wäre eine künstlich erzeugte Ausschüttung solcher Körperstoffen auch zur Behandlung Drogensüchtiger einsetzbar. (TAB 1995: 14-5)

Das Unangenehme an den vielen neuen Fragen ist unter anderem das Tempo mit dem sie sich uns aufdrängen. Die Eigendynamik des naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts und die kapitalistische Verwertungslogik, die dazu führt, daß die Ergebnisse dieses Wissenszuwachses mit großer Effizienz und Geschwindigkeit technologisch umgesetzt und weltweit vermarktet werden, lassen uns nicht viel Zeit zum Nachdenken. In anderen Worten: Wir befinden uns bereits jetzt im Zugzwang. In dieser Situation ist es wichtig, daß die nun notwendig gewordene öffentliche Diskussion um die Ethik der Neurotechnologie mit maximaler Rationalität geführt wird. An dieser Stelle zeigt sich die Bedeutung der praktischen Philosophie - und zwar nicht, weil Philosophen und Philosophinnen heilige Männer und Frauen wären, die ein spezifisches moralisches Expertenwissen und möglicherweise sogar einen mehr oder weniger direkten Draht zu höheren Wahrheiten besitzen. Die gegenwärtige Entwicklung benötigt vielmehr deshalb einen philosophischen Kommentar, weil sie zunächst in Form einer "begriffswissenschaftlichen Begleitung" die Veränderungen in unserem Welt- und Selbstbild widerspiegeln muß. Dieser erste Aspekt bildet gewissermaßen die theoretische Ebene des Unternehmens. In praktischer Hinsicht jedoch muß die Philosophie auch direkt in die Debatte eingreifen, etwa, um sie rational zu strukturieren, um in kritischer Absicht bestimmte Zielsetzungen zu hinterfragen, aber auch um zum Beispiel als "Vermittler zwischen innovativen medizinischen Technologien und populärer Skepsis zu wirken" (Birnbacher 1995: 181). Der philosophische Kommentar zur rasanten Entwicklung in den Neurowissenschaften muß also auf vielen Ebenen gleichzeitig entwickelt werden.

Die erste, die theoretische Ebene wird heute zum großen Teil durch das besetzt, was man "Philosophie des Geistes" nennt. Typische Fragestellungen sind hier die folgenden: Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper? Was ist überhaupt eine Handlung, was meinen wir eigentlich, wenn wir von der "Autonomie des Subjekts" oder "abwärtsgerichteter Kausalität" sprechen? Wie ist es denkbar, daß in einem menschlichen Nervensystem nicht nur Bewußtsein, sondern auch eine subjektive Innenperspektive entsteht? Was ist überhaupt bewußtes Erleben, was genau bedeutet es, daß geistige Zustände subjektive Zustände sind? Ich habe mich in anderen Veröffentlichungen ausführlich mit diesem Bereich beschäftigt (vgl. z.B. Metzinger 1993, 1995, 1996) und will ihn deshalb hier vollständig übergehen.

Die zweite Ebene ist die der "praktischen Philosophie", der Moralphilosophie. Typische Fragen wären hier: Welchen erkenntnistheoretischen Status besitzen Aussagen über moralische Normen wie etwa: "Was Du nicht willst, das man Dir tu', das füg' auch keinem andern zu!" ? Sind normative Sätze Behauptungssätze, mit denen wir das Bestehen von Sachverhalten behaupten? Besitzen solche Sätze einen kognitiven Charakter, beschreiben wir mit ihnen die Welt, formulieren wir Erkenntnisse oder geben wir Informationen weiter? Oder gibt es im Grunde überhaupt keine normative Ethik, weil - wie die Non-Kognitivisten unter den Moralphilosophen sagen würden - es gar keine objektiven moralischen Sachverhalte gibt, die den Gegenstand solcher Aussagen bilden könnten? Können normative Aussagen überhaupt wahr oder falsch sein? Können sie begründet werden? Antworten auf die Frage, ob und auf welche Weise ethische Normen überhaupt begründet werden können, führen dann in das weite Feld der "Metaethik". Die Metaethik ist sozusagen die Wissenschaftstheorie der Ethik, sie besteht aus Sätzen über andere Sätze, sie ist eine Theorie über andere Theorien (zur Einführung vgl. Kutschera 1982: 41ff).

Wenn es dagegen nicht darum geht, Urteile über Arten von ethischen Urteilen zu begründen, sondern Urteile über konkrete Handlungen, dann erst spricht man von Ethik im eigentlichen Sinn. Diese Ebene ist es, die man normative Ethik nennt. Der Übergang von der Ebene der Metaethik zur normativen Ethik ist kein leichter - hier wird es die fundamentalsten Meinungsverschiedenheiten geben. Zur angewandten Ethik wird die normative Ethik schließlich, wenn sie sich zusätzlich auf einen ganz bestimmten Anwendungskontext konzentriert. Ein solcher Anwendungskontext entsteht immer aus einer speziellen Klasse von Handlungen. Solche Klassen bestehen zum Beispiel aus medizinischen Handlungen ("angewandte Medizinethik"), aus Handlungen, mit denen absichtlich und direkt in das zentrale Nervensystem eines Menschen eingegriffen wird ("angewandte Neuroethik") oder aus Handlungen, bei denen Menschen durch solche Eingriffe gezielt ihr eigenes bewußtes Erleben oder das anderer Personen verändern wollen ("angewandte Bewußtseinsethik").

Unser Zusammenhang wird zunächst durch die neuromedizinischen Ethik gebildet. Hier kann man in einem letzten Schritt noch einmal Fragen der innerwissenschaftlichen Ethik und Fragen der angewandten Ethik beim konkreten medizinischen Einsatz neuer Technologien unterscheiden. Worum es hier geht, ist also die parallele Beurteilung sowohl von forschendem Handeln als auch von therapeutischem Handeln. Erst auf einer allgemeineren Ebene entsteht dann das, was ich soeben provisorisch als "Neuroethik" und "Bewußtseinsethik bezeichnet habe. Schließlich geht es am Ende jedoch immer auch um Wissenschaftspolitk und um Gesundheitspolitik, weil es mindestens zwei weitere thematische Bereiche gibt, in denen ein philosophischer Kommentar zur Klärung der Debatte hilfreich sein kann: Die Sozialphilosophie und die Anthropologie. Denn wir sind immer auch mit einer Reihe von sehr allgemeinen Fragen konfrontiert, die zum Beispiel die kulturelle Einbettung des medizintechnologischen Fortschritts betreffen (Technikfolgenabschätzung) und vor allem aber auch die Konsequenzen unseres gewandelten Bildes von uns selbst ("Anthropologiefolgenabschätzung"). Im folgenden werde ich diese thematischen Bereiche kurz durchgehen. Aus Platzgründen werde ich mich hier allerdings auf eine stichwortartige Liste von eher thesenartigen Einzelüberlegungen beschränken müssen.

Vorschläge zur Entwicklung einerinnerwissenschaftlichen Ethik für die medizinische Neurotechnologie

Angewandte Ethik für die medizinische Neurotechnologie

Reiter-Theil weist ebenfalls darauf hin, daß möglicherweise mit der Erweiterung des Anwendungsspektrums für solche Eingriffe zu rechnen ist. Dies könnte mit einer weiteren Verschärfung der "Marktsituation" und mit einer Erhöhung des gesellschaftlich-emotionalen Drucks auf die schwangere Frau einhergehen. Es ist anzunehmen, daß diese Problematik sich auch durch eine weiter fortschreitende Globalisierung der fraglichen "Märkte" verkomplizieren könnte.

Stichworte für den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit den Resultaten der wissenschaftlichen Arbeit in den Neurowissenschaften und in der Informatik


Bewußtseinskultur

Was wir brauchen - auch dies ist meine These - ist eine neue Bewußtseinskultur. Diese Bewußtseinskultur muß auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine vernünftige und produktive Umsetzung der neuen Erkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten leisten, die sich in der Zukunft mit steigender Geschwindigkeit aus der Forschungstätigkeit in den genannten Bereichen ergeben werden. Zu Anfang habe ich gesagt, daß wir uns bereits jetzt im Zugzwang befinden. Es ist aus diesem Grund wichtig, daß die nun notwendig gewordene ethische Debatte rechtzeitig und auf transparente Weise geführt wird, bevor uns die gesellschaftlichen Folgen der von uns selbst entwickelten Bewußtseinstechnologien überrollen.

Eine kleine historische Schlußbemerkung: Bewußtseinskultur ist ein altes philosophisches Projekt. Schon Cicero hat die Philosophie als cultura animi bezeichnet, als Pflege der Seele - und in diesem Sinne mache ich an dieser Stelle bloß Werbung für einen sehr alten und etwas aus der Mode gekommenen Begriff von Philosophie. Die Liebe zur Weisheit als Pflege der Seele, dies ist, so denke ich, ein klassisches Motiv, das uns vielleicht bei den ersten Schritten in unserer gegenwärtigen Situation weiterhelfen könnte. Allerdings muß man zugeben, daß sich die Ausgangsbedingungen für dieses altehrwürdige Projekt einer Bewußtseinskultur seit Ciceros Zeiten ein wenig verändert haben. Deshalb benötigt die klassische Figur eine Neuinterpretation im Lichte unserer neuen empirischen Erkenntnisse über die neurobiologischen Grundlagen psychischer Prozesse. Die Frage lautet deshalb: Was könnte Bewußtseinskultur - in medizinethischer, in forschungspolitischer und in soziokultureller Perspektive - heute heißen?

Birnbacher, Dieter (1995), "Identität der Persönlichkeit und Identität der Person: Philosophische Fragen im Zusammenhang mit der Transplantation von Hirngewebe", in: Zentralblatt für Neurochirurgie 56, S. 180-185.

Metzinger, Thomas (1993), Subjekt und Selbstmodell, Paderborn.

Metzinger, Thomas (1995)(Hg.), Bewußtsein - Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, Paderborn.

Metzinger, Thomas (1996), "Niemand sein", in: Krämer, S. (Hg.), Bewußtsein - Philosophische Positionen, Frankfurt.

Reiter-Theil, Stella (1995), "Offene Fragen an die Neurotransplantation. Versuch einer unvoreingenommenen ethischen Analyse", in: Zentralblatt für Neurochirurgie 56, S. 173-179.

Büro für Technikfolgen Abschätzung beim Deutschen Bundestag ,(1995), "Biologische Informationssystem im Menschen": Erste Überlegungen des TAB zu einer thematischen Umsetzung im "Forum", in: Machbarkeitsstudie zu einem "Forum für Wissenschaft und Technik", Bonn.

Von Kutschera, Franz (1982), Grundlagen der Ethik, Berlin.