Geltungsansprüche und Beobachtungen
zweiter Ordnung
Wie nahe kommen sich Diskurs- und
Systemtheorie?
(in: Soziale Systeme. Zeitschrift für
soziologische Theorie, Jg. 4, H. 1/1998, S. 185-198)
von Manfred Füllsack
Nach
dreißigjähriger Laufzeit hat die Kontroverse zwischen Niklas Luhmann und Jürgen
Habermas um einen zeitgemäßen Zugang zum Sozialen offensichtlich nichts an
Aktualität eingebüßt. Auch in seinem jüngsten opus magnum, der „Gesellschaft
der Gesellschaft“, bezieht Luhmann in zahlreichen Anmerkungen und Verweisen
gegen die subjektzentrierte Vernunftkonzeption von Habermas Stellung, die für
ihn, indem sie in illegitimer Weise die Verwirklichbarkeit von Utopien
suggeriert, statt zeitgemäße Soziologie zu betreiben, nur auf Vernunft zu
„warten“ scheint. (1997: 1148) Obwohl sich Habermas zwar in seinem Spätwerk
tatsächlich von der Soziologie eher ab und einer mehr philosophisch-normativen
Erörterung der für moderne Gesellschaften noch gangbaren
Integrationsmöglichkeiten zugewandt zu haben scheint, hält auch er es im
Gegenzug nach wie vor für nötig, sich von der „systemtheoretischen Unterscheidungspoiesis“
Luhmanns zu distanzieren. (zuletzt etwa: 1996: 393ff)
Obwohl
die Heftigkeit der Kontroverse nicht zuletzt auch in der Wahl der sprachlichen
Mittel zwar nun eine gewisse Konsolidierung gegenüber ihrem Beginn in den
siebziger Jahren zu erfahren scheint[1],
dürften die beiden Konzepte in der sozialwissenschaftlichen Theoriediskussion
nach wie vor als weitgehend inkompatibel gelten. Gerade „Die Gesellschaft der
Gesellschaft“ gibt aber, indem sie gewisse, freilich bereits auch im früheren
Werk angelegte Züge der systemtheoretischen Konzeption mit neuer Deutlichkeit
herausstellt, Anlaß, einen zweiten Blick auf Parallelen und Analogien von
Diskurs- und Systemtheorie zu werfen. Dabei zeigt sich überraschender Weise,
daß die Fronten so starr gar nicht sein müßten, daß sie vielmehr an sehr
grundsätzlichen Stellen Möglichkeiten bieten, um die eine Konzeption in die
andere überzuführen oder mit den Konsequenzen der einen an Prämissen der
anderen gewissermaßen „interkonzeptuell“ anzuschließen. Ob die beiden Autoren
(und vor allem die mittlerweile nicht unbeträchtliche Zahl ihrer Epigonen) ihre
Theorien freilich in dieser Weise „kompatibilisiert“ sehen wollten, bleibt
fraglich. Da sich aber beim Aneinanderhalten der beiden Konzepte einerseits ein
besseres Verständnis der jeweiligen Ansätze ergeben könnte ( - um mit Luhmann
zu sprechen, kann man dann sehen, daß und wie eine der Theorien sehen kann, was
die jeweils andere nicht sehen kann - ), und andererseits damit vielleicht auch
weitere Anschlußmöglichkeiten für die Sozialwissenschaften geschaffen werden,
werde ich im folgenden – als Teil einer umfangreicheren Untersuchungsreihe zur
Habermas-Luhmann-Debatte - die jeweiligen theoretischen Zentren der beiden
Konzeptionen gegeneinanderstellen und zeigen, daß ihre Differenzen zwar
grundsätzlich, nicht aber unüberwindbar sind.
I.
Kurz
zur Erinnerung: Die Debatte zwischen Habermas und Luhmann hat sich ursprünglich
an der Frage entzündet, ob die Soziologie Gesellschaft nur objektiv zu beschreiben hätte, oder ob sie vielmehr aufgrund des
Umstandes, daß auch Soziologen Gesellschafter sind, die ihre Anteilnahme am
Sozialen in dieses einbringen, gezwungen sei, kritisch zu ihrem Gegenstand zu stehen. Der berühmt gewordene und
bis heute nachwirkende Vorwurf Habermas’ an die Luhmannsche Konzeption hatte
bekanntlich gelautet, daß die Systemtheorie nur „affirmativ“, sprich unkritisch zum Sozialen Stellung
bezieht.[2]
Im Gegenzug hatte Luhmann der kritisch-teilnehmenden
Stellung zum Sozialen vorgeworfen, in ihrem Subjektivismus unvermeidbar die
Realisierbarkeit von Glücks- und Versöhnungsideen zu suggerieren, was etwa als
Marxismus zum fatalen Verwirklichungsversuch einer gesellschaftspolitischen
Utopie geführt hat.
Weil
natürlich auch Habermas die Misere des realexistierenden Sozialismus nicht
übersehen konnte, hat er, um einer neuerlichen Hypostasierung von Ideen, die
nur regulative Funktion haben sollten, vorzubeugen, sein
sozialwissenschaftliches Konzept grundsätzlicher als Marx nicht an materiellen
Reproduktionsbedürfnissen der Menschengattung, sondern an den
erkenntnistheoretischen Bedingungen ihrer intersubjektiven Verständigungspraxis
angesetzt. Tief in den Strukturen der Kommunikation meint er dabei eine
Spannung zwischen Ist- und Soll-Zuständen auszumachen, die von da aus den gesamten,
vom kommunikativen Handeln aufgespannten sozialen Bereich - Habermas spricht
diesbezüglich von der „Lebenswelt“ - bis
in die handlungsorientierenden Verkehrsformen der Gesellschaft durchzieht und
damit schließlich auch die Selbstbeobachtung der Gesellschaft, also die
Soziologie, dazu zwingt, über die Rekonstruktion der gegebenen gesellschaftlichen Situation hinaus, die Behandlung eines
anzustrebenden „besseren“ Zustandes
systematisch zuzulassen. Nur kritisch
könne die Soziologie diese Spannung zwischen faktischen Ist-Zuständen und
geltungbeanspruchenden Soll-Zuständen der Gesellschaft – Habermas spricht
bekanntlich von einer Spannung zwischen Faktizität
und Geltung -, so wie die vielfältigen Versuche ihrer Mitglieder, diese
Spannung abzuarbeiten, unverkürzt berücksichtigen.
Diese
Spannung zwischen Faktizität und Geltung stellt gewissermaßen den zentralen
Aspekt der diskurstheoretischen Konzeption dar. Sie entsteht für Habermas
dadurch, daß bei jedem noch so grundsätzlichen Verständigungsvorgang „Geltungsansprüche“
erhoben werden, die immanent auf eine rationale Begründungspflicht der
Verständigung suchenden Aktoren verweisen. Realiter
kann diese Begründungspflicht freilich erst mit fortgesetzter
Argumentation, sprich in der Zeit und
auch da nur in asymptotischer Annäherung eingelöst werden. Die in realen Sprechsituationen erhobenen
Geltungsansprüche verweisen damit auf ein Ideal,
dem stets nur in Annäherungen durch Fortsetzung der Verständigung
entsprochen werden kann. Habermas stellt sich diesen Annäherungsprozeß
bekanntlich als Diskurs und sein
Telos als herrschaftsfreie Sprechsituation vor, in der einzig noch der
„zwanglose Zwang des besseren Arguments“ über den Ausgang einer Verständigung
entscheidet.
Obwohl
nun dieses Telos nur kontrafaktisch unterstellt
wird, müssen sich die Diskursteilnehmer, sofern sie eine Verständigung erzielen
wollen, bereits in ihren faktischen kommunikativen Handlungen daran
orientieren. Sie müssen, um Verständigung zu ermöglichen, gewissermaßen einen
Vorgriff auf die diskursive Einlösbarkeit der in ihren Aussagen erhobenen
Geltungsansprüche unter herrschaftsfreien Verständigungsbedingungen machen.[3]
Dies wird etwa am Gebrauch der zur Verständigung verwendeten Zeichen, also etwa
der Begriffe einer Sprache deutlich. Weil auch sie Bestandteile des Horizonts
einer bereits von früheren Generationen vorinterpretierten Lebenswelt sind,
weil sie also kurz gesagt den Verständigungssuchenden bereits „vorverständigt“,
das heißt, mit Bedeutung aufgeladen zur Verfügung stehen, können sie in
faktischen Verständigungen zunächst unhinterfragt als Medien der jeweils
aktuellen Verständigung verwendet werden. Sie sind dabei den aktuellen
Verständigungen gewissermaßen vorausgesetzt. Grundsätzlich kann aber natürlich
auch ihre Bedeutung von anderen Diskursteilnehmern bestritten und eine
Verständigung darüber angestrengt werden. Es kann also in realen Sprechakten
nicht wirklich im vorhinein sichergestellt werden, daß alle Diskursteilnehmer
die verwendeten Zeichen in gleicher Weise verstehen.
Weil
aber nun keine Verständigung stattfinden könnte, wenn in ihr gleichzeitig auch
über die Geltung der in ihr verwendeten Zeichen Verständigung gesucht würde,
wenn also, anders gesagt, die Begriffe, die die Verständigung tragen sollen,
erklärungsbedürftig wären, muß in den jeweils aktuellen Verständigungen kontrafaktisch unterstellt werden, daß
alle Diskursteilnehmer den von ihnen verwendeten Zeichen identische Bedeutung
zumessen. Es muß also, obwohl eine solche faktisch nie gegeben ist, zunächst
eine ideale Situation antizipiert
werden, in der alle Diskursteilnehmer den in der aktuellen Verständigung
verwendeten Begriffen dieselbe Bedeutung beilegen. Erst wenn sich im Fortgang
des Verständigungsprozesses herausstellt, daß bestimmte, dabei verwendete
Begriffe unklar sind, kann auch über deren Bedeutung eine Verständigung
angestrebt werden. Auch dabei gilt allerdings dann wieder, daß die nun dazu verwendeten Begriffe selbst vom
Sprecher im Vorgriff auf eine ideale Bedeutungsidentität interpretiert
werden müssen. Der Sprecher kann die in seinem Sprechakt verwendeten Begriffe
nicht anders als bekannt und bedeutungsidentisch voraussetzen, weil zu ihrer
Klärung erneut Begriffe nötig wären, die dann, wenn sie nicht ihrerseits als
bedeutungsidentisch vorausgesetzt würden, erneut mit Hilfe von Begriffen zu
klären wären usw. Das Verwenden und
das Problematisieren seiner Sprache
ist dem Sprecher, anders gesagt, nie gleichzeitig
in ein und demselben Sprechakt, sondern nur durch Zeitverlust, das heißt, in aneinander anschließenden
Verständigungen, kurz im Diskurs möglich.
Habermas spricht diesbezüglich davon, daß den Diskursteilnehmern ihre Sprache
in Verständigungssituationen „im Rücken“ bleibt. (Vgl.: 1981, II: 192)
Der
Umstand, daß die in einer Verständigung verwendeten Begriffe vor dem
Hintergrund einer vorinterpretierten Lebenswelt in Antizipation eigentlich erst
diskursiv einzulösender Geltungsansprüche als bedeutungsidentisch vorausgesetzt
werden müssen, bedeutet nun für Habermas die Begründbarkeit von Idealitäten, auf die hin sich die realen
kommunikativen Handlungen der Diskursteilnehmer, sprich der Gesellschafter
ausrichten. Mit diesen tritt, wie Habermas sagt, der Faktizität der realen
Sprechsituation eine geltungsbeanspruchende Idealität gegenüber, die als
grundlegendes Telos des kommunikativen Handelns die Spannung zwischen
Faktizität und Geltung im gesamten kommunikativ strukturierten Bereich der
Lebenswelt wirksam werden läßt. Die verschiedenen Unternehmungen der
Gesellschafter, diese Spannung abzuarbeiten,
deutet Habermas dann bekanntlich im Rahmen eines weltgeschichtlichen
Rationalisierungsprozesses, dessen Entwicklungslogik eine tendenzielle
„Versprachlichung“ der lebensweltlichen Strukturen, das heißt, einen Abbau von
Autoritäten, eine „Verflüssigung“ von fraglos akzeptierten Normen und Werten
vorhersagt. Als kritische
Gesellschaftstheorie nimmt die Soziologie für Habermas an diesem Unternehmen
selbstverständlich teil.
II.
Ob
Habermas nun mit seiner diskurstheoretischen Begründung einer grundsätzlich kritischen Position zum Sozialen den
Vorwurf Luhmanns, die Verwirklichbarkeit von „besseren“ Gesellschaftszuständen
auf unzulässige Weise zu suggerieren, wirksam entkräftet, sei an dieser Stelle
dahingestellt.[4]
Uns soll hier vielmehr interessieren, was nun der systemtheoretische Ansatz von
Niklas Luhmann mit der Habermasschen Konzeption gemein haben soll.
Wie
gesagt, setzt Luhmann seine Gesellschaftstheorie nicht wie Habermas
kritisch-teilnehmend, oder mit anderen Worten subjektzentriert, sondern vielmehr grundsätzlich beobachtend an. Beobachtung meint dabei für Luhmann nicht erst den Zugangsmodus des
Sozialwissenschafters zu seinem Gegenstand, der Gesellschaft. Auf einer sehr
formalen Ebene betrachtet Luhmann Beobachtung
vielmehr als den grundlegenden Operationsmodus von autopoietischen
Systemen.[5]
Bekanntlich
schaffen sich Systeme durch Erhöhung ihrer Eigenkomplexität, also durch
Differenzierung, Möglichkeiten, um die Komplexität ihrer Umwelt zu reduzieren
und damit ihre eigene Reproduktion in dieser Umwelt zu sichern. Ab einer
gewissen Komplexität müssen Systeme dann allerdings nicht nur auf ihre Umwelt,
sondern auch auf ihre eigene Komplexität reagieren. Dazu können sie sich mit
Hilfe einer relationierenden Operation selbst als Einheit entwerfen. Sie
treffen dazu eine Unterscheidung und verorten sich selbst auf einer Seite
dieser Unterscheidung. Systeme die sich etwa selbst als Systeme entwerfen,
verorten sich in der Unterscheidung System/Umwelt auf der System- und nicht auf
der Umwelt-Seite. Mit dieser Operation des Unterscheidens
(distinct) und Bezeichnens einer
Seite des Unterschiedenen (indicate) definiert Luhmann im Anschluß an Georg
Spencer Brown einen „extrem formalen Begriff des Beobachtens“ (Luhmann 1990:
73; vgl.: 1997: 69) als grundlegenden Operationsmodus von Systemen.
Mit
der Bezeichnung einer der beiden Seiten einer Unterscheidung wird dabei eine
Beobachtung an die Perspektive, die die jeweilige Wahl festlegt, gebunden. Die
Beobachtung kann dann zwischen den verschiedenen, mit anderen Bezeichnungen
gegebenen Perspektiven nur mehr in weiteren Operationen, - Luhmann betont: mit Zeitverlust -, wechseln (crossing). Beide Seiten einer
Unterscheidung gleichzeitig zu
bezeichnen, ist im Rahmen einer
Beobachtung unmöglich. Genauso wenig können sich Beobachtungen selbst beobachten.
Denn dazu müßten sie ebenfalls eine weitere Unterscheidung verwenden, also eine
andere Beobachtung werden. Luhmann spricht diesbezüglich davon, daß das
Beobachten die jeweils eigene Unterscheidung als seinen „blinden Fleck“
vorfindet, daß sich das Beobachten also auf die eigene Referenz „unkritisch“
bezieht. Es kann die Unterscheidung, die es verwendet, nicht beobachten, sie
bleibt ihm „latent“.
Sehr
wohl läßt sich aber die einer Beobachtung zugrunde liegende Unterscheidung
mittels einer anderen Beobachtung, die eine andere Unterscheidung verwendet,
beobachten. Diese Beobachtung einer Beobachtung nennt Luhmann bekanntlich Beobachtung zweiter Ordnung. Zwar gilt
auch für sie, daß sie sich gegenüber der eigenen Referenz unkritisch verhält, das heißt, daß sie sich nicht selbst beobachten
kann.[6]
Das Beobachten des Beobachtens gewinnt gegenüber dem Beobachten erster Ordnung
aber doch einen zusätzlichen Aspekt, den Luhmann bekanntlich den „Wie-Aspekt“
nennt. (1990: 98; vgl. u.a. auch: 1997: 34) Um zu wissen, wie der Beobachter erster Ordnung beobachtet, kann der Beobachter
zweiter Ordnung nämlich beobachten, für welche Unterscheidung sich der
beobachtete Beobachter entscheidet, was er dabei bezeichnet, was er dabei außer
Acht läßt und wie er mit dieser Unterscheidung gewissermaßen eine Strategie
festlegt, eine Leitdifferenz, wie Luhmann sagt, die er dann als konstruierte Einheit seiner Selbst
verwendet, um für weitere Beobachtungen anschlußfähig zu bleiben.
Beobachtende
Systeme sind für Luhmann gewissermaßen gezwungen, eine solche Einheit zu
konstruieren. Sie müssen nämlich für sich
eine irritierende Unkalkulierbarkeit – eine „unresolvable indeterminacy“ (1997:
866) – verdecken, die im System durch ein „re-entry“, das heißt, durch eine
Wiedereinführung einer dem System selbst zugrundeliegenden Unterscheidung
entsteht. Wie gesagt, produziert und reproduziert sich ja ein System anhand der
Abgrenzung, sprich der Unterscheidung von seiner Umwelt. Ab einer gewissen
Eigenkomplexität kann ihm diese Unterscheidung von System und Umwelt dann aber
auch dazu dienen, sich selbst zu beobachten. Die Unterscheidung System/Umwelt
wird dabei in das durch sie Unterschiedene erneut eingeführt und kommt damit
sozusagen zweimal vor: einmal als durch das
System produzierter Unterschied und
ein zweites Mal als im System beobachteter Unterschied. (vgl.: 1997:
45) Die Differenz von System und Umwelt dient damit nicht mehr nur der
Erzeugung des Systems, sondern auch seiner Orientierung. Gerade in dieser wird
es aber durch den „re-entry“ der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene
irritiert: es wird für sich selbst unkalkulierbar und intransparent, weil seine
Einheit auf operativer Ebene auseinandergezogen, oder wie Luhmann sagt,
„temporalisiert“ wird. Die Beobachtung einer bei einer Beobachtung verwendeten
Unterscheidung, also die Beobachtung zweiter Ordnung, ist nämlich nun, wie
gesagt, nicht mehr gleichzeitig,
sondern nur mehr durch Zeitverlust,
sprich nur durch eine weitere Unterscheidung möglich. Für sich selbst bleibt
jede Beobachtung unsichtbar, sie markiert ihren eigenen „blinden Fleck“.
Dieser
muß nun, damit das System operabel bleibt, durch eine Einheitskonstruktion verdeckt werden. Soziale
Systeme zum Beispiel fertigen dazu, wie Luhmann ausführlich darlegt,
Selbstbeschreibungen an, die jeweils spezifische Formeln verwenden, um ihre
temporalisierte Einheit zu „invisibilisieren“. Eine solche Formel stellt für
Luhmann etwa der Habermassche Ansatz, das „Subjekt als Teilnehmer an
Kommunikation“ vorzustellen, dar.
Weil
Luhmann aber nun gleichsam als Beobachter
dieser Konstruktionsversuche auch die tatsächliche
Aufspaltung der systemischen Einheit und ihre zugrundeliegende Paradoxie sehen kann, erscheinen ihm solche Konstruktionen, vor allem in
der Moderne[7],
unmöglich. Die Habermassche Konzeption stellt deswegen für ihn, auch wenn sie
ihre intersubjektiv gewendeten begrifflichen Ansprüche bereits stark vermindert
hat, bloß einen unzeitgemäßen
sozialwissenschaftlichen „Überlebensversuch“ dar, der mit seinem normativen
Emanzipationsbezug deutlich ins Utopische weist. (1997: 1031f) Statt imaginäre
Einheiten zu konstruieren hätten zeitgemäße Gesellschaftsbeschreibungen
vielmehr die Temporalisierung ihrer Einheit und damit die „Paradoxie als
Abschlußgedanken“ zu akzeptieren. (1997: 1081)
Luhmanns
Schlußfolgerungen differieren also deutlich von denen Habermas‘. Trotzdem
scheint sich, nach einem nochmaligen Blick, die Unmöglichkeit von
Einheitskonstruktionen und damit die Notwendigkeit, Paradoxie als solche zu
akzeptieren, für ihn aus eben dem Umstand zu ergeben, aus dem Habermas auf die
jeder Rede und jeder kommunikativen Handlung innewohnenden Geltungsansprüche schließt.
III.
Blicken
wir zurück auf die Diskurstheorie. Wie oben beschrieben, beruht ja die
Habermassche Antizipation von Geltungsansprüchen auf der Differenz zwischen
aktuellen Verständigungsprozessen und den in ihnen bereits „vorverständigt“
verwendbaren Begriffen und Regeln der Sprache. Diese müssen, um Kommunikation
zu ermöglichen, unkritisch
vorausgesetzt werden, weil sie nicht gleichzeitig
verwendet und „konsentiert“, sprich auf ihre Bedeutung hin problematisiert
werden können. Analog dazu betont Luhmann in seinem Ansatz die Differenz
zwischen Beobachtung als operativem Dual von Unterscheiden und Bezeichnen und
der dabei bereits vorausgesetzten, aber eben von der Beobachtung selbst nicht
beobachtbaren Unterscheidung. So wie er darauf hinweist, daß nicht die
aktuelle, sondern erst eine weitere Beobachtung, eine Beobachtung zweiter Ordnung die in der Beobachtung erster Ordnung
verwendete Unterscheidung beobachten kann, daß also jede Beobachtung sich
selbst latent bleibt, so läßt sich analog dazu mit Habermas feststellen, daß
niemals die aktuelle, sondern erst eine weitere
Verständigung das in der ersten Verständigung verwendete Begriffssystem problematisieren, das heißt, zum Thema
einer Verständigung machen und so sicherstellen kann, daß die Begriffe adäquat
verwendet wurden. Die Habermassche Verständigung, so könnte man formulieren,
kann sich über sich selbst aus dem selben Grund nicht verständigen, wie sich
die Luhmannsche Beobachtung nicht selbst beobachten kann. Beide weisen einen
„blinden Fleck“ genau an der Stelle auf, an der sie sich auf sich selbst
zurückwenden und sich selbst zu ihrem eigenen Gegenstand machen.
Beide
lösen diesen „blinden Fleck“ auch analog zueinander in der Zeit auf. Sie temporalisieren ihre Einheit in Verständigungen, bzw.
Beobachtungen zweiter Ordnung. Die Diskurstheorie verweist diesbezüglich, wie
gesagt, auf die „Vorverständigtheit“ des in der Verständigung verwendeten
Begriffssystems. „Vorverständigt“ bedeutet für Habermas, daß das Begriffssystem
der Sprache (oder der Kultur) in stammesgeschichtlich früheren Verständigungen
gebildet wird (und keineswegs, daß es „transzendental“ oder sonstwie metaphysisch
vorausgesetzt wird.[8]).
Die in einer Verständigung verwendbaren Begriffe und Regeln einer Sprache
stellen für ihn gleichsam kulturell gespeicherte Resultate früherer
Verständigungen dar, die dann als solche bereitstehen, um weitere
Verständigungen zu ermöglichen, deren Resultate dann erneut als Begriffssystem
(oder als kultureller Fundus) einer Gesellschaft für weitere Verständigungen
bereitstehen, usw.. Habermas‘ Diskurs ist diesbezüglich gleichsam mit der
„Geschichte der Menschenwelt koextensiv“. (Habermas 1984: 109) Die
Verständigung hat immer schon
begonnen und findet so immer schon „vorverständigte“
Begriffe vor, die ihr in actu unzugänglich,
oder nach Habermas „im Rücken“ bleiben, sehr wohl aber in weiteren
Verständigungen thematisiert werden können.
Bei
Luhmann wird analog dazu die Paradoxie des unbeobachtbaren Beobachters durch
aneinander anschließende Beobachtungen in der Zeit aufgelöst. So wie die Verständigungen ohne
„Vorverständigungen“ nicht möglich sind, können auch die Beobachtungen nicht beobachten,
ohne bereits beobachtet, sprich unterschieden und bezeichnet zu haben. Weil
jede Unterscheidung bereits ihrerseits eine Form ist, die eine Innenseite (das
Unterschiedene) und eine Außenseite (das Sonstige) unterscheidet, hat, analog
zu den Verständigungen, auch das Unterscheiden immer schon begonnen.[9]
Nun
läßt sich dieses „immer schon“ prinzipiell aber nur von außen, das heißt von einem selbst nicht involvierten Beobachter
der Verständigungs- bzw. Beobachtungstemporalisierung als solches feststellen,
in Luhmanns Worten also nur in einer Beobachtung
zweiter Ordnung. Für einen Verständigungsteilnehmer oder, analog dazu, für einen Beobachter erster Ordnung bleibt der
Temporalisierungsprozeß unzugänglich. Auch darin
sind sich Habermas und Luhmann noch einig. Ihre Konzeptionen beginnen sich erst
da grundsätzlich zu unterscheiden, wo es um die Position geht, von der aus
diese Unzugänglichkeit festgestellt wird.[10]
Habermas verortet sich nämlich mit seinem Verständigungsbegriff gleichsam per
se selbst als Verständigungssuchender, das heißt, als involvierter Teilnehmer am Verständigungsprozeß. Auch
wenn er mit seiner Theorie Verständigung über Verständigungen sucht, also in
Luhmanns Sinn eine Verständigung zweiter
Ordnung führt, betont er stets, daß die Kommunikation
dieser Theorie selbst nur eine Verständigung erster Ordnung sein kann, daß also für sie der Temporalisierungsprozeß unzugänglich bleibt und daß
deswegen die Differenz zwischen aktueller Verständigung und „vorverständigten“
Verständigungsvoraussetzungen verdeckt werden
muß, um für weitere Verständigungen anschlußfähig zu bleiben. Diese Differenz
nötigt also, so Habermas, unumgehbar
dazu, in aktuell stattfindenden Verständigungen
„Geltungsansprüche“ anzumelden, und dies auch dann, wenn diese Verständigungen
die Relativität von Geltungsansprüchen zum Thema haben.
Luhmann
scheint demgegenüber mit seinem Beobachterbegriff vorerst noch außerhalb des beschriebenen Zusammenhangs zu bleiben.
Aus seiner Position eines Beobachters
zweiter Ordnung, aus der er die Temporalisierung des „blinden Flecks“
beobachten kann, stellt sich Habermas‘ kontrafaktischer Vorgriff auf einen erst zu erreichenden Soll-Zustand als unzeitgemäße
„Realitätsverdoppelung“ (1993: 43), eben als paradoxe und imaginär bleibende
Konstruktion dar. Die Position eines Beobachters zweiter Ordnung bezieht
Luhmann dabei mit dem Hinweis auf die spezifische Differenzierungsform moderner
Gesellschaften, die in ihrer „Polykontexturalität“ eine solche Vielzahl von
gleichberechtigten Beobachtungsstandpunkten bereitstellt, daß sich der
Beobachtungszusammenhang rekursiv
vernetzt und damit die Beobachtung gewissermaßen auf Dauer stellt. (Vgl.:
1997: 766ff) Alles wird in der
Moderne beobachtbar, auch noch die Beobachtung selbst. Der Beobachter zweiter
Ordnung scheint damit noch gegenüber der Notwendigkeit, die Paradoxie des
unbeobachbaren Beobachters zu verdecken, eine externe, eine bloß beobachtende Position beziehen zu
können.
Während
also Habermas aus der Innenperspektive des Verständigungssuchenden auf die Verdeckung der Paradoxie sich nicht über
sich selbst verständigen könnender Verständigungen angewiesen bleibt, versucht
Luhmann, so scheint es zunächst, im Verweis auf die rekursiv vernetzten
Beobachtungsmöglichkeiten moderner Gesellschaften gegenüber dem von ihm
beschriebenen Systemgeschehen seine beobachtende Distanz beizubehalten. Während
sich Habermas, so könnte man sagen, auf den von ihm beschriebenen
Verständigungszusammenhang selbstreferentiell
bezieht, verortet sich Luhmann noch gegenüber diesem Beobachtungszusammenhang
als Beobachter zunächst
fremdreferentiell.
VI.
In
der „Gesellschaft der Gesellschaft“ beschreibt nun Luhmann den Umgang der
Gesellschaft mit dem „blinden Fleck“ ihrer Beobachtungspraxis als Geschichte
gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, die, ohne dies zu reflektieren, die
Paradoxie des unbeobachtbaren Beobachters mit unterschiedlichsten semantischen
Formeln verdecken.[11]
Die Habermassche Gesellschaftsbeschreibung mit ihrem Versuch, die Latenz des
Beobachters intersubjektiv zu überwinden,
stellt dabei für Luhmann zwar einen der letzten Entwicklungsschritte in dieser
Geschichte dar (Vgl.: 1997: 1081). Auch sie versucht aber in ihrem Beharren auf
Geltungsansprüchen (auf Vernunft, auf Idealität) Einheit zu konstruieren, wo es
eigentlich keine mehr gibt. Erst die Systemtheorie scheint demgegenüber mit
ihrer Aufmerksamkeit für die Grundsätzlichkeit des „blinden Flecks“ und für das
Illusionäre gesellschaftlicher
Verdeckungsversuche bereit sein zu wollen, die „Paradoxie als Abschlußgedanken“
zu akzeptieren.
Nun
entspricht aber bekanntlich für Luhmann der allgemeinen Systemoperation
„Beobachtung“ auf der Ebene sozialer Systeme die „Kommunikation“. (1984: 191f;
1997: 70) Soziale Systeme kommunizieren,
um dadurch, so wie andere Systeme auch, die Komplexität ihrer Umwelt zu
reduzieren. Systemtheoretisch formuliert, sind freilich auch Kommunikationen
Beobachtungen, die sich für eine Unterscheidung
entschließen und eine der beiden Seiten dieser Unterscheidung bezeichnen. Als systemeigener Operationsmodus von sozialen
Systemen implizieren Kommunikationen dabei einen selbstreferentiellen Bezug des Gesellschaftssystems. Da es nämlich
im Rahmen der Systemtheorie keine anderen Systeme gibt, die kommunizieren,
Kommunikation also immer nur soziale Systeme betrifft, „bezeichnet“
Kommunikation notwendig eine Innenperspektive
des Systemgeschehens. Wer oder was immer zum Beispiel die Unterscheidung
System/Umwelt kommuniziert, tut dies
als Teilnehmer des Systemgeschehens,
das heißt, er „bezeichnet“ in der Unterscheidung System/Umwelt die System-Seite
und verortet sich damit gegenüber dem Systemgeschehen selbstreferentiell.
Auch
eine Gesellschaftsbeschreibung, die soziale Systeme in einem Buch mit dem Titel
„Die Gesellschaft der Gesellschaft“ als sich selbst beschreibende
Gesellschaften beschreibt, kommuniziert und
verortet sich damit notwendig innerhalb des
sozialen Geschehens. Jegliche Distanz, von der aus die Gesellschaft noch von außen, also in einer Beobachtung
zweiter Ordnung beobachtet werden könnte, wird dadurch eingezogen und die
Möglichkeit, die Temporalisierung des „blinden Flecks“ in einem rekursiv
vernetzten Beobachtungszusammenhang gleichsam auf Dauer zu stellen, wird
aufgegeben. Luhmann weist natürlich auf diesen Umstand gerade in Bezug auf
gesellschaftliche Selbstbeschreibungen und ihre Problematiken selbst explizit
hin[12],
scheint aber dadurch doch in Widerspruch zu den Vorwürfen zu geraten, die er
der Habermasschen Konzeption macht. Auch die Systemtheorie kann nämlich, weil
sie selbst eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung darstellt, die als solche
kommuniziert wird, nicht anders, als ihren „blinden Fleck“ in actu zu verdecken.[13]
Auch sie kann auf die zur Kommunikation nötige zwei-wertige Logik der Sprache
nicht verzichten[14]
und auch sie kann schließlich die Paradoxie des unbeobachtbaren Beobachters
nicht als „Abschlußgedanken“ akzeptieren, ohne selbst paradox zu werden.[15]
Für
einen Beobachter der
Habermas/Luhmann-Debatte scheint sich die Systemtheorie damit, wohl malgré lui,
letztendlich erneut gar nicht so weit von der Position wiederzufinden, an der
auch die Habermassche Diskurstheorie mit ihrer Aufmerksamkeit für die sich
nicht über sich selbst verständigen könnende Verständigung angelangt war. Für
diesen Beobachter werden mit der nun von beiden Theorien zu ihrem Gegenstand,
der Gesellschaft, eingenommenen Innenperspektive
auch die Interpretationen des „blinden Flecks“ der Verständigung, bzw. der
Beobachtung vergleichbar. Auch dabei zeigen sich Analogien. Während die
Diskurstheorie, wie gesagt, die Notwendigkeit von Geltungsansprüchen betont,
setzt die Systemtheorie aus der Innenansicht nämlich auf das unumgehbare,
allumfassende Movens sozialen Geschehens, nämlich auf Sinn.[16] Und Sinn besagt
für Luhmann bekanntlich nichts anderes, als „daß an allem, was aktuell
bezeichnet wird, Verweisungen auf andere Möglichkeiten mitgemeint und miterfaßt
sind“ (1997: 48; vgl. auch: 1984: 100), daß also ähnlich wie in Habermas‘
Geltungsansprüchen mit Sinn auf einen erst in der Zeit zu gewinnenden, aber
aktuell appräsentierten Potentialis verwiesen wird.
Abgesehen
von diesen Analogien, die sozusagen den Kernbereich der beiden Theorien
betreffen, lassen sich gerade in der „Gesellschaft der Gesellschaft“ noch eine
Reihe weiterer Punkte ausmachen, an denen ein „interkonzeptueller“ Anschluß von
Diskurs- an System-, bzw. von System- an Diskurstheorie möglich erscheint.
Diesbezüglich nicht unfruchtbar wäre es zum Beispiel zu untersuchen, ob die von
Luhmann aufgeworfene Frage, wie es angesichts der Kontingenz des Beobachtungszusammenhangs
in modernen Gesellschaften zu „stabilen Eigenwerten“, zu „stabilen Attraktoren“
kommt (1997: 1082, 1096 u. 1124), nicht doch mit Hilfe eines, freilich radikal entidealisierten Konsensbegriffs
beantwortet werden könnte. Noch Luhmanns diesbezügliche Überlegungen zu den
Massenmedien und zur öffentlichen Meinung (Vgl.: 1997: 1107 u. 1131) gleichen
denen von Habermas zur Umgangssprache. (Vgl. u.a.: 1992: 76f) Und auch Luhmanns
Betrachtungen zu den „Protestbewegungen“ scheinen sich, wie ich andern Orts
gezeigt habe, nicht in unüberwindbarer Distanz zu den diesbezüglichen
Überlegungen der Kritischen Theorie zu bewegen.[17]
Natürlich
soll aber nun angesichts dieser Analogien und Nähen keineswegs übersehen
werden, daß Diskurs- und Systemtheorie grundsätzliche Unterschiede aufweisen,
die sich kaum ohne weiteres „kompatibilisieren“ lassen. Mindestens unterscheidet die beiden Theorien ihre jeweilige
Stellung zur Realität des Sozialen. Habermas dürfte vorzuwerfen sein, daß er
seine Geltungsansprüche in Anteilnahme
für das „kommunikative Handeln“[18]
schon im vorhinein überhitzt und durch die daraus gefolgerte Normativität
seiner Konzeption dazu verleitet wird, die Verwirklichbarkeit eines idealistisch-utopischen Rechts- und
Demokratiemodells zu suggerieren. Und Luhmann scheint sich andererseits, wie
gesagt, mit seiner Beobachterkonzeption da, wo er diese als gesellschaftliche
Selbstbeschreibung im Beschriebenen selbst verortet, in Widersprüche bezüglich
seiner eigenen Teilnahme am Sozialen zu verfangen.
Als
grundlegenden Unterschied könnte man darüber hinaus natürlich noch den Umstand
herausstellen, daß es Luhmann zu verdanken ist, daß die Sozialwissenschaften
auf die Grundsätzlichkeit des „blinden Flecks“ überhaupt aufmerksam geworden
sind. In der „Gesellschaft der Gesellschaft“ scheint Luhmann gelegentlich sogar
geneigt, die Differenz zwischen Systemtheorie und anderen
Gesellschaftsbeschreibungen auf diese Aufmerksamkeit zu reduzieren.[19]
Trotzdem, noch die Systemtheorie kann ihren „blinden Fleck“, auch wenn sie ihn
reflektiert, nicht selbst auflösen. Auch sie bleibt, wenn sie den
Sozialwissenschaften weiterhin fruchtbare Anschlußmöglichkeiten liefern will,
auf seine Temporalisierung angewiesen. Da Temporalisierung, wie gesagt, nur in
weiteren Beobachtungen möglich ist, sozialwissenschaftliche Theorien aber in
gewisser Hinsicht auch Standpunkte bereitstellen, von denen aus sich solche
Beobachtungen etwa in Form von Theorievergleichen durchführen lassen, legt die
Systemtheorie, was hier geschieht, selbst nahe, nämlich mit anderen Theorien,
unter anderem eben auch mit der Habermasschen Diskurstheorie verglichen zu
werden.
Literatur:
Füllsack, Manfred (1997a):
Dialektik der Post-Aufklärung. Zur Situation der kritischen Gesellschaftstheorie 50 Jahre nach Erscheinen der
„Dialektik der Aufklärung“; in: Soziale Welt 3/1997, S. 313-327.
Füllsack, M. (1997b): Teilnehmen,
Beobachten oder Oszillieren als Abschlußgedanke? Zum letzten Stand der
Habermas-Luhmann-Debatte, Ms.
Habermas, J. / Luhmann, N. (1971):
Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M.
Habermas, J. (1981): Theorie des
kommunikativen Handelns, 2.Bde, Frankfurt/M.
Habermas, J. (1984): Vorstudien
und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M.
Habermas, J. (1985): Der
philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M.
Habermas, J. (1992): Faktizität
und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
Rechtsstaats, Frankfurt/M.
Habermas, J. (1996): Die
Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M.
Kneer, Georg (1996):
Rationalisierung, Disziplinierung und Rationalisierung. Sozialtheorie und
Zeitdiagnose bei Habermas, Foucault und Luhmann, Opladen.
Luhmann, N. (1984): Soziale
Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.
Luhmann, N. (1990): Die
Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.
Luhmann,
N. (1993): Quod omnes tangit...
Anmerkungen zur Rechtstheorie von Jürgen Habermas; in:
Rechtshistorisches Journal 12/1993, S. 36-56.
Luhmann, N. (1997): Die
Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.
[1]
Luhmann zeigt sich etwa in seiner Rezension der Habermas-Schrift Faktizität und Geltung versöhnlich: „Es
sollte aber nicht unbeachtet bleiben, daß die Radikalität und die
intellektuelle Redlichkeit, mit der Habermas ein Grundproblem der modernen
Gesellschaft aufgreift, Anerkennung verdienen.“ Luhmann 1993: 54. Habermas
nimmt dies mit Wohlwollen zur Kenntnis: „Im übrigen habe ich das Gefühl, daß
Luhmann - im Laufe einer lange währenden Diskussion, aus der ich stets gelernt
habe - noch nie mit einem so hohen Maß an hermeneutischer Bereitschaft operiert
und dem Prinzip der Nachsicht so weiten Spielraum gegeben hat.“ Habermas 1996:
394. In der „Gesellschaft der Gesellschaft“ vgl. diesbezüglich: 11, 175, 177f,
521, 618, 766, 797, 874f, 1027, 1031f, 1116f, 1148.
[2] Vgl.
vor allem: Habermas/Luhmann 1971. Auch für die bereits autopoietisch gewendete
Systemtheorie der achtziger Jahre hat Habermas diesen Vorwurf aufrecht
gehalten. Vgl.: Habermas 1985: 426.
[3]
Habermas spricht im Detail bekanntlich von den Ansprüchen auf die
propositionale Wahrheit einer
Aussage, auf die Richtigkeit eines
Sprechaktes in Bezug auf seinen normativen Kontext, sowie schließlich auf die Wahrhaftigkeit der geäußerten
subjektiven Erlebnisse, die die Diskursteilnehmer erheben, wenn sie sich „aus
dem Horizont ihrer vorinterpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der
objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen, um gemeinsame Situationsdefinitionen
auszuhandeln“. (1981, I: 142)
[4]
Jedenfalls scheint Habermas durch seinen Ansatz dazu verleitet zu werden, sich
eher den idealen, also möglichen und
weniger den tatsächlichen Integrationsformen
moderner Gesellschaften zuzuwenden. Seit Faktizität
und Geltung beschäftigt er sich explizit mit der Frage wie moderne
„ausdifferenzierte, in sich pluralisierte und entzauberte Lebenswelten sozial
integriert werden“ können, und nicht
wie sie tatsächlich integriert werden. (1992: 43)
[5]
Genaugenommen ist die Beobachtung bei Luhmann nicht nur auf autopoietische
Systeme beschränkt. Bekanntlich beobachtet auch etwa ein Thermostat einer
Heizung.
[6] Die
Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung bezieht also keine hierarchisch höhere
Stellung, auch sie kann, was Luhmann als einen der Haupteinwände gegen die
Habermassche Diskurstheorie immer wieder anführt, keine privilegierte Position im gesellschaftlichen Zusammenhang für sich
requirieren, von der aus sich die Rede von einer „falschen“ oder einer
„besseren“ Gesellschaft legitimieren ließe.
[7]
Luhmann argumentiert dies bekanntlich im Hinblick auf die spezifische
Differenzierungsform moderner Gesellschaften, die als „polykontexturale“ keine
privilegierten Problemzugänge und damit auch keine ausgezeichneten Einheitskonstruktionen
mehr zuläßt.
[8] Wohl
im Sinne Luhmanns wirft Georg Kneer Habermas vor, Kommunikationsvoraussetzungen
in einem „Reich des Intelligiblen“ metaphysisch,
also ohne Berücksichtigung ihrer Wechselwirkungen mit dem „Reich des
Empirischen“, vorauszusetzen. Vgl.: Kneer 1996: 132f
[9]
Analog zueinander stehen also Diskurs- und Systemtheorie vor der
logisch-erkenntnistheoretischen Problematik der Möglichkeit einer Konfusion von
verständigungs-, beziehungsweise unterscheidungsrelevanten Metaebenen. Um die sich
daraus ergebenden Ebenenkonfusionen – man denke etwa an Klassiker, wie
„Epimenides“ den Lügner – zu vermeiden, haben Logiker wie Whitehead und Russell
dafür plädiert, metasprachliche Ebenen in der Wissenschaft grundsätzlich
auseinander zu halten.
[10] Vgl.
zu dieser unterschiedlichen Positionierung: Füllsack 1997b, wo ich die Theorien
Habermas‘ und Luhmanns anhand der Unterscheidung Teilnehmen/Beobachten
verglichen habe. In den Konsequenzen für die Zugänglichkeit von
Temporalisierungen würde das Teilnehmen dabei
der Luhmannschen Beobachtung erster Ordnung und das Beobachten der Beobachtung zweiter Ordnung entsprechen.
[11] Von
der Sein/Nichtsein-Problematik über Teil/Ganzes, Politik, Ethik, Natur,
Subjekt, Moral, Nation, Klassengesellschaft, Modernisierung bis hin zu
Information und Risiko stellt Luhmann historische
Selbstbeschreibungssemantiken in Beziehung zur jeweiligen Differenzierungsform
der Gesellschaften und thematisiert ihre jeweiligen Defizite. (Vgl.: 1997:
893ff)
[12] Immer
wieder kommt Luhmann darauf zurück, daß die Gesellschaft, weil sie „als das
umfassende soziale System keine sozialen Systeme außerhalb ihrer Grenzen“
kennt, „gar nicht von außen beobachtet werden“ kann. (1997: 88) Auch der
gesellschaftliche Beobachter ist „der Welt, die er erkennt, ausgeliefert“. Jede
Weltbeobachtung findet deshalb notwendig in der Welt, jede
Gesellschaftsbeobachtung in der Gesellschaft statt, dem Beobachter ist „keine
Selbstexemption gestattet“. (1997: 1118) „Die Gesellschaftstheorie muß [also]
auf die Möglichkeit adäquater externer Beobachtung verzichten.“ (1997: 875)
Programmatisch wird dies bereits im Titel der „Gesellschaft der Gesellschaft“
angesprochen. (Vgl.: 1997: 15)
[13] Vgl.
etwa: „Jede Theorie, die den Anspruch erhebt, die Welt zu beschreiben, und in
diesem Sinn universelle Geltung anstrebt, muß diese Notwendigkeit der
Invisibilisierung mit in Rechnung stellen. Sie muß sie zumindest bei anderen
(als deren „Ideologie“, als deren „Unbewußtes“, als deren „Latenzbedarf“)
berücksichtigen. Sie muß also auf einer Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung
formuliert werden. Dann läßt sich aber der ‚autologische‘ Rückschluß auf das
eigene Beobachten nicht vermeiden.“ (1997: 187)
[14]
Luhmann weist wiederholt darauf hin, daß die klassische zweiwertige Logik die
Problematik des unbeobachtbaren Beobachters nicht adäquat faßt (Vgl. u.a.:
1997: 751)
[15] Auch
wenn die Systemtheorie Paradoxie thematisiert, ist sie selbst keineswegs
paradox. Sie kann also die Paradoxie zwar in ihrem Objekt, nicht aber in actu
selbst in ihrer eigenen Darstellung akzeptieren. Ich habe diesen Umstand andern
Orts ausführlicher dargestellt. Vgl.: Füllsack 1997b.
[16] Vgl.: „Das für die Gesellschaft selbst
sichtbare Resultat dieser Konsequenzen des [den „blinden Fleck“ bedingenden]
re-entry soll im folgenden mit dem Begriff ’Sinn‘ bezeichnet werden.“ (1997:
46) Sinn ist bekanntlich in der Innenperspektive insofern ein unhintergehbares
Medium, als es was es ausschließt „nur in
sich ausschließen kann. Auch ‚Unsinn‘ kann daher nur im Medium Sinn, nur
als Form von Sinn gedacht und kommuniziert werden.“ (1997: 49)
[17] Vgl.: Füllsack 1997a. Vgl. diesbezüglich auch
etwa die Feststellung, daß Funktionssysteme in Protestbewegungen
„Verständigungen“ suchen, um Konflikten eine vorübergehend haltbare Form zu
geben. (1997: 865)
[18] Daß
das „kommunikative Handeln“ im Zuge der Modernisierung von den zweckrational
strukturierten Gesellschaftsbereichen Ökonomie und Administration
„kolonisiert“, das heißt, sukzessive zurückgedrängt werden soll, wird von
Habermas als „Pathologisierung“ oder als „Deformation“ (1981, II: 488) der
Entwicklung, das heißt also deutlich negativ
bewertet.
[19] Vgl.
etwa den Satz: „Was gegenüber der Tradition distanziert, ist also nur die Entdeckung [des den „blinden Fleck“
bedingenden] re-entry.“ (1997: 181)