DIALEKTIK DER POST-AUFKLÄRUNG - Zur Situation der kritischen Gesellschaftstheorie 50 Jahre nach Erscheinen der „Dialektik der Aufklärung“

 

(in: Soziale Welt 3/1997, S. 313-327)

(das vorliegende Dokument weicht vom publizierten Text stilistisch etwas ab)

 

von Manfred Füllsack

 

1947, vor nunmehr fünfzig Jahren haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno dem Projekt der Aufklärung die Tendenz diagnostiziert, immer wieder Resultate zu zeitigen, die den eigentlichen Intentionen des Projekts zuwiderlaufen. War Aufklärung ursprünglich ausgezogen, um von den Menschen Furcht und Schrecken zu nehmen, so schien sie, wie die Autoren unter anderem angesichts des Terrors des Nationalsozialismus feststellten, im Zuge ihrer versuchten Verwirklichung immer wieder in Mythos, Irrationalität, Gewaltherrschaft und Zwang, kurz also in Gegenaufklärung zurückzuverfallen. Aufklärung, konstatierten die Autoren, unterliegt einer Dialektik, die sie, wenn überhaupt, dann keineswegs geradewegs auf das von ihr angepeilte Ziel zulaufen läßt.

Die Untersuchung dieser Dialektik haben Horkheimer und Adorno allerdings noch ohne zu Zögern im Projekt der Aufklärung selbst festgemacht. Ihre Analysen wurden unternommen, um das Projekt selbst auf eine gefestigte Basis zu stellen. Allerdings haben noch diese Analysen dann in weiterer Folge eine Eigendynamik entwickelt, die dem Projekt Aufklärung, anstatt es zu festigen, nach und nach das Fundament zu entziehen drohte. Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen der „Dialektik der Aufklärung“ scheint das Phänomen ‘Gesellschaft’ von den Sozialwissenschaften heute einen funktionalistischen Zugang zu fordern, der die Prämissen der Kritischen Theorie, wie sie Horkheimer und Adorno ihren Überlegungen noch unhintergehbar zugrunde gelegt hatten, als „unzeitgemäß“ überwunden haben will. Was damals Kritik und aufklärerisches Engagement meinte, hat sich, so scheint es, im Lauf der Entwicklung gerade durch dieses Engagement selbst unterminiert und muß heute darum auf das bloße Beobachten und Beschreiben der gesellschaftlichen Phänomene beschränkt bleiben.

 

Auf den ersten Blick scheint die aktuelle Situation der europäischen Gesellschaft nach einem halben Jahrhundert „Dialektik der Aufklärung“ diese Diagnose zu stützen. Protest oder Kritik stehen in ihr nicht unbedingt auf gefestigten Fundamenten. Zwar rufen die Diskussionen um Neoliberalismus und Sozialabbau soziale Bewegungen wieder verstärkt auf den Plan. Nachdrücklicher als früher stellt sich den Protestierenden aber heute eine grundsätzliche Frage, die ihrer Kritik schon im Ansatz den Wind aus den Segeln zu nehmen scheint. Unübersehbar steht die Problematik im Raum, wie sich gegen Sparpakete und Sozialabbau, gegen Betriebsverlagerungen, Arbeitsplatzrationalisierungen und Lohnkürzungen Stellung beziehen läßt, wenn zugleich klar ist, daß diese Phänomene Folgen einer intervenierenden Sozialpolitik sind, die eben lange Jahre gegen die Möglichkeit von Sparpaketen, Sozialabbau, Betriebsverlagerungen, Arbeitsplatzrationalisierungen und Lohnkürzungen „erfolgreich“ Stellung bezogen hat. Wie soll gegen etwas protestiert werden, von dem mehr und mehr klar wird, daß es eigentlich die Konsequenz der weitgehend realisierten Forderungen eines ähnlich gerichteten früheren Protests ist? Die politischen Maßnahmen des sozialstaatlichen Interventionismus, dem Staatsschulden weniger ausmachten als Arbeitslosigkeit und sinkende Löhne, waren nichts anderes als die Früchte des im Rahmen des sozialistischen Projektes in Europa realisierten Protests gegen die „unsichtbare Hand“ ungehemmt wirkender Marktkräfte. Als Folge einer bezeichnenden dialektischen Wende tragen diese Früchte aber heute selbst Früchte, die die Rücknahme der sozialstaatlichen Errungenschaften notwendig machen, die aber mit dem Verweis auf ihre Herkunft dem darauf reagierenden Protest der betroffenen Gesellschaft von vornherein den Boden für ihre Unmutsäußerungen entziehen.

Nicht nur der „linke“ Protest sieht sich dieser Problematik gegenüber. Auch der „rechte“ Protest, der mit seinen Forderungen nach Abschottung nationaler oder regionaler Gemeinschaften gegen das Eindringen des Fremden Stellung bezieht und damit im gegenwärtigen Europa auf deutlich anwachsenden Konsens stößt, generiert mit zunehmender Durchsetzung seiner Forderungen Imperative, gegen die sich „kritische“ Interventionen machtlos erweisen. Denn die sozioökonomischen Strukturunterschiede zu anderen Weltteilen, die sich heute durch Migration und Globalisierung auszugleichen versuchen und so den „rechten“ Protest auf den Plan rufen, verschärfen sich, je mehr sich die Forderungen nach „entfremdeten“ Gesellschaften durchsetzen. Jede Grenzziehung gegenüber anders strukturierten Gebieten generiert notwendig Imperative, die Arbeit an billigere Produktionsstätten verlagern und „Wirtschaftsflüchtlinge“ auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen mobilisieren.[1] Indem er gegen einen Zustand Stellung bezieht, den seine eigene Stellungnahme notwendig verschärft, entzieht sich auch der „rechte“ Protest den eigenen Standpunkt. Auch die von ihm vertretene Form der politischen Intervention scheint heute systemischen Kräften zu erliegen, in deren Strömung sich gesellschaftliche Zusammenhänge letztlich als unbeeinflußbar erweisen.

Genaugenommen ist die Frage, die sich gegenwärtig der Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse stellt, also eine Frage nach dem Standpunkt, von dem aus sich heute noch Kritik üben läßt, ohne damit selbst wieder Folgen zu generieren, gegen die dann erneut Protest und Kritik notwendig würde. Anders formuliert stellt sich also der Gesellschaftskritik die Frage nach der Möglichkeit einer Perspektive, die einerseits ein „privilegiertes“ Problembewußtsein requiriert, aus dem heraus sich Protest oder Kritik überhaupt formulieren läßt, die aber andererseits zugleich die Relativität ihres Standpunktes auf eine Weise berücksichtigt, mit der nicht erneut Umstände geschaffen werden, die gesellschaftlichen Unmut hervorrufen.

 

Das sozialistische Projekt, das sich in Europa in den verschiedensten Schattierungen realsozialistischer und sozialdemokratischer Regierungsformen realisiert hat und auf dessen Grundforderungen sich Kritik bislang berief[2], konnte sich selbst noch als Teil des übergeordneten Universalprojekts ‘Aufklärung’ begreifen. Mit der idealistischen Vorstellung eines schlußendlich einen zwanglosen, freien und emanzipierten Gesellschaftszustand erreichenden Prozesses hat dieses Projekt über einen Standpunkt verfügt, von dem aus die bestehende Realität stets an Sollzuständen gemessen und entsprechend ihrer jeweiligen Abweichung kritisiert und korrigiert werden konnte. Gerade das Scheitern des sozialistischen Projektes, sowohl zunächst augenscheinlich in seiner radikaleren realsozialistischen Version, wie auch dann nach und nach in seiner sozialdemokratischen Form, scheint aber auch das Projekt der Aufklärung selbst und den damit gegebenen „privilegierten“ Problemzugang endgültig zu diskreditieren. Im Bewußtsein der gegenaufklärerischen Folgen, die die Aufklärung offensichtlich notwendig nachsichzieht, scheint sich das Engagement für ein „besseres Leben“ heute auf die Feststellung zurückzuziehen, daß systemische Mechanismen die Gesellschaft beherrschen, gegen die zu intervenieren unmöglich und damit unnötig geworden ist. Damit hätten die Menschen aufgehört, ihre Geschichte in dem Sinn zu machen, wie dies Marx noch vorausgesetzt hat, und das Projekt der Aufklärung hätte sich samt seiner Dialektik endgültig als Illusion offenbart, dem die Menschheit nur für einen Teil ihrer Geschichte erlegen ist.

Ein halbes Jahrhundert nachdem dem Projekt, das versucht hatte, „von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen“[3], seine Dialektik vorgerechnet worden ist, scheint damit diese Diagnose mindestens ein weiteres Mal dialektisch überholt worden zu sein. Die Aufklärung, so scheint es, hat sich in der ganzen Vielfalt der mit ihr verbundenen Projekte selbst so weit den Boden unter den Füßen entzogen, daß es unmöglich geworden ist, auf ihre Ideen und auf die von Horkheimer und Adorno damit noch unlösbar assoziierte Möglichkeit der Gesellschaftskritik zu rekurrieren. Auf den ersten Blick scheint sich heute die eigentliche Dialektik der Aufklärung weniger darin auszudrücken, daß die Aufklärungsbemühungen stets unbeabsichtigte Nebenfolgen nachsichziehen oder in Gegenaufklärung zurückschlagen, als vielmehr in dem Umstand, daß das Projekt Aufklärung vor allem in seinen realsozialistischen und sozialdemokratischen Erscheinungsformen die gesellschaftliche Situation in einen Strudel manövriert hat, in dessen Strömung jeglicher weitere Steuerungs-, Kritik- oder Interventionsversuch seine Legitimation verloren hat. Noch das Aufbegehren einer Gesellschaft, die sich existentiell bedroht fühlt, wirkt eigenartig anachronistisch gegenüber den Imperativen der Zeit und scheint höchstens noch als vorübergehende Irritation eines kaum mehr zu beeinflussenden Systemzusammenhangs empfunden zu werden. Kritik, Protest oder Intervention scheinen mit der Aufklärung ihre Grundlage verloren zu haben. Was den Überresten eines aufklärerischen Engagements heute scheinbar noch bleibt, ist sich treiben zu lassen und die Bewegungen des Strudels beobachtend zu dokumentieren.

 

Horkheimer und Adorno hatten dieser Entwicklung in der „Dialektik der Aufklärung“ die Richtung gewiesen. Der von ihnen untersuchte Aufklärungsprozeß wendet sich in mehr als nur einer Hinsicht stets gegen sich selber zurück. Trotzdem haben sie ihre Analysen aber immer vor dem als petitio principii[4] angenommenen Hintergrund der Aufklärung selbst durchgeführt. Die „Dialektik der Aufklärung“ hat sich noch explizit als Kritik an der offenbar immanenten Regressionstendenz des Aufklärungsprozesses verstanden. Als Äußerung einer kritischen Theorie stand sie mit diesem Bein stets dem Projekt nahe, das seine prägnanteste historische Ausformung wohl unter dem Titel Marxismus erfahren hat. Zugleich aber hat die „Dialektik der Aufklärung“ mit der in ihr sehr grundsätzlich angelegten Skepsis am Aufklärungsdenken auch schon in diejenige Richtung gewiesen, in der heute aus Mangel an unerschütterlichen Standpunkten engagierte Gesellschaftsteilnahme auf die Beobachtung von struktur-funktionalistischen Mechanismen beschränkt zu sein scheint. Dreißig Jahre nach 1917 und fünfzig Jahre vor heute veröffentlicht, läßt sich die „Dialektik der Aufklärung“ damit selbst als Umschlagpunkt eines Prozesses lesen, der, so scheint es, einer Kritik an den gesellschaftliche Verhältnissen jegliche Basis entzogen hat. Auf halbem Weg zwischen Marx und Luhmann könnte sie aus heutiger Sicht als der Punkt gesehen werden, an dem die Teilnahme an Gesellschaft in Beobachtung, die Kritik der Gesellschaft in ihre Affirmation umgeschlagen ist.

Dialektik läßt sich allerdings schwer auf Endgültiges festmachen. Aus diesem Grund scheint eine Theorie, die grundsätzlich mit ihr rechnet, auch nach fünfzig Jahren noch einen gewissen Aktualitätsrest beanspruchen zu können. Denn so wie sich die Aufklärung scheinbar den Boden unter den Füßen wegrationalisiert hat, so scheint auch das vermeintliche „Ende der Aufklärung“ gegenwärtig Bedingungen zu schaffen, die diesen Boden regenerieren könnten. Um dies zu zeigen, möchte ich im folgenden (I.) die Entwicklungen in der kritischen Gesellschaftstheorie in groben Zügen zunächst noch einmal aufrollen, um dann (II.) an ihrer gegenwärtig wohl einflußreichsten, aber eben nicht mehr kritischen Form einige Punkte zu markieren, an denen sich eine neuerliche dialektische Wendung abzeichnen könnte.

 

I.

 

Für Karl Marx hat noch eindeutig die Veränderung und nicht die Interpretation der gesellschaftlichen Realität im Vordergrund seiner Bemühungen gestanden[5]. Seine Studien zur Gesellschaftsentwicklung und zur Ökonomie wurden von ihm einzig unternommen, um durch ein besseres Verständnis der Mechanismen den Punkt aufzufinden, an dem sich der gesellschaftliche Entwicklungsprozeß gleichsam von Grund auf aushebeln läßt. An diesem Punkt, den Marx mit den Eigentumsverhältnissen zwar ökonomisch recht tief, anthropologisch aber nicht tief genug angesetzt hatte, sollte eine künstlich zu schaffende Gesellschaftsordnung neu anfangen, den Entwicklungsprozeß ohne das konfliktträchtige Phänomen Eigentum und damit vermeintlich auch ohne Ungleichheit, Bereicherung, Konkurrenzdenken und ähnliche soziale Unmißlichkeiten neu aufzurollen. Das Ziel dieses Unternehmens sollte die kommunistische Gesellschaft, sprich also ein Verein freier, emanzipierter und nicht unterdrückter Menschen sein, der sich, auch wenn er stets nur in vagen Ausdrücken beschrieben wurde, jedenfalls radikal von dem unterschied, was die Realität der europäischen Gesellschaften zu Marxens Zeit bereit hielt. Mit dem Verein freier Menschen war, wenn auch nur in Andeutungen, ein gesellschaftlicher Zustand entworfen, anhand dessen die Realität kritisiert und korrigiert werden konnte. Dieser Zustand war von Marx eben nicht nur als regulatives Korrektiv gedacht worden, auf den hin sich die angestrebte Entwicklung ausrichten sollte. Die entworfene kommunistische Gesellschaft war vielmehr das tatsächliche Endziel des Marxschen und später des Marxistischen Vorhabens. Die Verwirklichung dieser Gesellschaftsordnung, und nicht die Analyse der Funktionsweise des Kapitalismus, hat für Marx bekanntlich soweit im Vordergrund gestanden, daß er, als er einsehen mußte, daß die von ihm analysierten europäischen Gesellschaften offensichtlich keinen fruchtbaren Boden für die dazu notwendige Revolution bereitstellten, selbst die Verlagerung des Projektes in eine Gesellschaft betrieb, deren Zustand den Prämissen seines eigenen Ansatzes nicht hinreichend entsprach[6].

Marx konnte also seine Kritik am Zustand der gesellschaftlichen Realität noch unter der klaren Voraussetzung eines „unvollendeten Projekts“ üben. Der Aufklärungsprozeß, dessen aktuelle Manifestationsform das sozialistische Projekt damals dargestellt hat, hatte für ihn tatsächlich ein objektiv angebbares und damit anzustrebendes Ziel.[7]

 

Gerade die Gesellschaft, in die Marx die Hoffnungen auf die Verwirklichung seines Projektes gelegt hatte, hat aber dann die Dialektik „verbessernder“ Interventionen in soziale Prozesse sehr nachhaltig vor Augen geführt. Die überbordende Bürokratie, die dazu beigetragen hat, daß Kritik in der sowjetischen Gesellschaft zwar einerseits gegen „kapitalistische“, „imperialistische“, „bourgeoise“ etc. Verhältnisse institutionalisiert, andererseits gerade dadurch aber gegenüber den eigenen Verhältnissen weitgehend stillgestellt wurde, hat Max Weber als „stahlhartes Gehäuse“ enttarnt[8], das entgegen der Absicht, nur ein „dünner Mantel“ zu sein, der jederzeit abgeworfen werden hätte können, eine durch und durch „verwaltete Welt“ determiniert hat, die, wie dann Adorno sich ausdrückte, die Individuen zu bloßen Ausführungsorganen reduzierte und sie ausweglos in ein „aufs äußerste verdichtete Gefädel der universal vergesellschafteten Gesellschaft“ hineinzog.[9]

Horkheimer und Adorno haben diese Dialektik der Aufklärung allerdings nicht erst wie Weber für die politischen und ökonomischen Unternehmungen moderner Gesellschaften diagnostiziert. Sie fanden Anhaltspunkte für die kontraintentionale Regressionstendenz der Aufklärung vielmehr schon in den ersten kulturellen Entwicklungsschritten der Menschheit. Bereits der Mythos, als ursprüngliche Form der Entzauberung, als erste Strukturierung einer noch unheimlichen Welt, würde, so die Autoren, bereits den Keim für die Regression des Rationalisierungsprozesses grundsätzlich in sich tragen. Nicht nur erst in der kapitalistischen Moderne, sondern prinzipiell immer schon läuft also die Rationalisierung Gefahr, im Zuge ihrer Verwirklichung in Irrationalität zurückzuverfallen.

Die Ursache dieser Dynamik liegt, so Horkheimer und Adorno, bereits in der Funktionsweise der menschlichen Rationalität selbst angelegt. Um der Bedrohung einer unbekannten weil unbenannten Natur zu begegnen, ist der menschliche Erkenntnisapparat nämlich gezwungen, systematische Ordnung in die Erkenntnisse und Handlungen der Menschen zu bringen, das heißt, die Dinge und sich selbst nachhaltig und wiedererkennbar zu identifizieren. Er tut dies in Form von begrifflicher Systematisierung, sprich, indem er sich und die Dinge benennt.[10] Mit dieser Namensgebung, oder besser Begriffsbildung erfährt er die von ihm aufgestellte Ordnung allerdings sofort wieder als unzulänglich. Denn die Begriffe und die systematischen Ordnungen erfassen das von ihnen Gemeinte stets nur verkürzend, also abstrakt. Kein noch so elaboriertes Ordnungssystem kann dem, was es ordnen will, wirklich restlos gerecht werden. Zwischen Begriff und ‘Begriffenem’, zwischen signifiant und signifié klafft also eine prinzipiell unüberwindbare Kluft[11], die einen begrifflich, das heißt, einen von der Rationalisierung nicht einholbaren Rest markiert, eine Differenz, wie dies Derrida nennt. Adorno nennt diesen Rest das Nichtidentische, und betont, daß dieses prinzipiell nicht konkreter bezeichnet werden kann, weil es als konkreter Begriff bereits im Mechanismus der systematisierenden Rationalität verortet und damit identifiziert, also schon nicht mehr Nichtidentisches wäre.[12] Indem nun der Rationalisierungsprozeß, sprich die Aufklärung, im Hinblick auf diesen noch nicht identifizierten und vereinnahmten Rest versucht, das von ihr über die Welt geworfene Netz aus Ordnungen beständig so zu revidieren und zu verfeinern, daß es auch diesen Rest noch erfaßt, stellt Aufklärung eine permanente Bedrohung für das Nichtidentische dar. Denn jede festgewordene Manifestationsform der Aufklärung vergewaltigt genaugenommen in ihrer je spezifischen Form das Nichtidentische und stellt so dem errungenen „Fortschritt“ unausweichlich auch einen tendenziellen „Rückschritt“ zur Seite.

Horkheimer und Adorno haben diese Regressionstendenz anhand sehr unterschiedlicher Zeugnisse der Geistesgeschichte, etwa an Descartes Wissenschaftslogik, an Homers Odyssee, an de Sades Histoire de Juliette, an den Bedingungen der sich verkommerzialisierenden Kulturindustrie und an den Entwicklungen der modernen Musik[13] verfolgt. Die Regression selbst, sprich der jede Aufklärungsbemühung unweigerlich begleitende „Rückschritt“ bleibt aber für die Autoren stets der eigentlich zu kritisierende Punkt. Die Perspektive von Horkheimer und Adorno bleibt damit selbst stets eindeutig im Rahmen des Aufklärungsprojekts: ihr eigentliches Anliegen ist die Aufklärung der Dialektik der Aufklärung. Die Dialektik ist dabei nur das negative Beiwerk, mit dem zwar jederzeit gerechnet werden muß, das aber prinzipiell nicht geduldet werden kann.

Was bei Marx als Verein freier Menschen das Ziel der Aufklärung festgelegt hat, erhält bei Horkheimer und Adorno allerdings unter dem Titel „Versöhnung“ eine neue Qualität. Versöhnung kommt, weil das Scheitern der ursprünglichen Marxschen Intention bereits allzu deutlich vor Augen steht, nur mehr „bilderlos“, sprich als Negativ des „schlechten Bestehenden“ in den Blick[14], hat also die Ausdrücklichkeit der Marxschen Verwirklichungsintention verloren. Trotzdem bleibt Versöhnung für die Autoren die unumgehbare Prämisse, von der aus die dialektischen Windungen der Aufklärung verfolgt werden. Zur Versöhnung soll nach wie vor „umwälzende wahre Praxis“[15] führen, auch wenn sich diese „bilderlos“ bereits auf die „Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Bewußtlosigkeit, mit der die Gesellschaft das Denken sich verhärten läßt“[16], abschwächt.

Genaugenommen entgleitet Horkheimer und Adorno allerdings durch dieses „Bilderverbot“ schon der Boden für ihre Kritik unter den Füßen. Die bereits in den rationalen Strukturen des „identifizierenden“ Denkens angelegte Dialektik der Aufklärung läßt, sofern sie wirklich so grundsätzlich jede gesellschaftsverändernde Intention begleitet, eigentlich kaum einen Ort, an dem sich Kritik und politische Intervention noch formieren kann. Als rein Negatives, dem ausdrücklich verboten werden muß, sich positiv zu manifestieren, verliert Gesellschaftskritik durch den beständigen Hinweis auf die sie begleitende Dialektik die Möglichkeit noch irgendwie praktisch zu werden. Noch die Theorie selbst, auf die sich Kritik für die Autoren infolgedessen zurückzieht, erhält durch die damit initiierte Demontage des Aufklärungsprojektes freilich einen eher kontemplativen Charakter, der schließlich darin mündet, daß die weiteren Schriften Adornos schlußendlich der Kunst die Aufgabe übertragen, den Unmut über „falsche“ gesellschaftliche Verhältnisse zu formulieren.

Damit ist aber der Boden für eine zielgerichtete Intervention in soziale Verhältnisse schon beinahe verloren, zumal Adorno auch in der Kunst nur dem „blinden“ Verfolgen der vom künstlerischen Material auferlegten Zwänge gesellschaftskritische Funktion zugesteht und jeglichem Engagement des Künstlers die Chance abspricht, der angestrebten „Versöhnung“ tatsächlich zu dienen.[17] Die Diskrepanz zwischen Gesellschaftskritik und dem damit die Richtung gewiesenen Prozeß des Abbaus des aufklärerischen Fundaments hat sich bekanntlich am Ende von Adornos Leben in tragischer Weise manifestiert. Die Studentendemonstrationen der späten sechziger Jahre gründeten ihren Protest noch marxistisch auf die Verwirklichung ihrer Forderungen, während Adorno diese Verwirklichung bereits für unmöglich hielt. In gewissem Sinn hat er damit der Aufklärung am Ende seines Lebens auch in praktischer Hinsicht die Richtung zu ihrem vermeintlich finalen dialektischen Umschlag gewiesen.

 

Gesellschaftskritik und Aufklärung hatten sich mit dem Scheitern der 68er-Bewegung aber noch nicht endgültig geschlagen gegeben. In der Konzeption von Jürgen Habermas, einem jüngeren Kollegen von Adorno und Horkheimer, schien sich, trotz der Dialektik des Aufklärungsprozesses, eine Basis zu finden, auf der sich eine kritische Stellungnahme zur Gesellschaft und damit die Fortführung des Aufklärungsprojektes noch argumentieren ließ. Habermas hat Horkheimers und Adornos Diagnose einerseits zwar bestätigt, andererseits aber kritisiert, daß die Autoren nur deswegen in die Nähe der völligen Aufgabe des Aufklärungsprojektes geraten sind, weil sie bei ihren Analysen den in gesellschaftlichen Gegebenheiten unumgehbaren Aspekt der Interaktion vergesellschafteter Individuen übersehen haben und dadurch den hinter dem Rücken der Gesellschaftsmitglieder ablaufenden Mechanismen zuviel Gewicht beigemessen haben. Gesellschaftliche Gegebenheiten würden nämlich, so Habermas, auf sehr grundsätzliche Weise von sozialen Interaktionen determiniert, und diese Interaktionen äußern sich zu einem großen Teil als verständigungsorientierte Kommunikation. Und gerade in dieser ließe sich nun die für eine aufklärerische Gesellschaftskritik so wesentliche Spannung zwischen bestehendem Ist-Zustand und anzustrebendem Soll-Zustand auf sehr elementarem Niveau festmachen.

Jeder Sprecher muß nämlich, so Habermas, sofern er das Gelingen einer Interaktion, also einer Kommunikation mit einem anderen Gesellschaftsmitglied anstrebt, unterstellen, daß die in dieser Kommunikation verwendeten Zeichen, also etwa die Begriffe der Sprache, für den Kommunikationspartner die selbe Bedeutung haben wie für ihn selbst. Das heißt, er unterstellt, obwohl die Realität anders aussehen mag, eine ideale Bedeutungsidentität seiner Begriffe. Sofern die gerade verwendeten Begriffe nicht selbst in der stattfindenden Kommunikation, - etwa im Laufe eines Etymologenkongresses - problematisiert werden, muß der Sprecher, - weil die vorherige Klärung jedes Begriffs die Kommunikation unterbinden würde und darüber hinaus selbst nur mit Hilfe von (dann ebenfalls erst zu klärenden) Begriffen möglich wäre -, eine ideale Situation antizipieren, in der alle Gesprächsteilnehmer den Begriffen die selbe Bedeutung beimessen. Daß dieser Idealzustand in realiter selten gegeben ist, spielt im Augenblick der Kommunikation dabei keine Rolle. Wichtig ist nur, daß diese Idealisierung in realen Verständigungsprozessen tatsächlich unterstellt werden muß, sofern Kommunikation stattfinden soll.[18]

In denjenigen gesellschaftlichen Gegebenheiten, die für Habermas mit Hilfe von verständigungsorientierten Interaktionen, also kommunikativ konstituiert werden, die also, in welcher Form auch immer, Ergebnisse von verständigungsorientierten Interaktionsprozessen sind, findet sich somit auch die in den Begriffen der Sprache aufgehobene Spannung zwischen realem Ist-Zustand und idealem Soll-Zustand wieder. So wie die Sprache auf Verständigung hin angelegt ist und damit, - sofern Verständigung angestrebt wird -, zum Abbau der Spannung zwischen realem Begriffsverständnis und idealer Bedeutungsunterstellung gezwungen ist, so ist für Habermas auch die Gesellschaft durch ihre Notwendigkeit zu interagieren gezwungen, die Spannung zwischen der realen Faktizität und der idealen Geltung ihrer kommunikativ konstituierten, sozialen Strukturen abzuarbeiten. Dieses „Abarbeiten“ meint aber nichts anderes als die Kritik und die Korrektur der bestehenden Verhältnisse der Gesellschaft. Habermas macht also in der unumgehbaren Interaktions- und damit Verständigungsnotwendigkeit der Gesellschaftsmitglieder einen, wenn auch nur mehr sehr theoretisch zu argumentierenden Impuls aus, der die Kritik und Korrektur des Bestehenden und grundsätzlich das Projekt der Aufklärung wieder auf eine feste Basis stellen soll.

Nun sind aber für Habermas, - und dies ist in seiner Konzeption ein ebenso eigenartiger wie folgenreicher Umstand -, nicht alle gesellschaftlichen Bereiche gleichermaßen kommunikativ strukturiert. Die Bereiche der Wirtschaft und der staatlichen Administration beispielsweise werden, so Habermas, nicht vorwiegend von verständigungsorientierten Interaktionen, sondern von erfolgsorientiert ablaufenden Mechanismen konstituiert. Damit fehlt diesen Bereichen aber der entscheidende Teil jener Spannung zwischen Realem und Idealem, der sie im Habermasschen Sinn kritikfähig macht. Wie unbeeinflußbare Monolithe scheinen diese Bereiche felsenfest im von Habermas gerade erst wieder zum Fließen gebrachten Strom der Aufklärung zu stehen.

Dem nicht genug, diagnostiziert Habermas diesen Monolithen im Zuge der Aufklärung zu wachsen. Weil nämlich durch den Abbau der Spannung zwischen realen Sozialordnungen und idealen Verhältnissen beständig Verständigungsbedarf freigesetzt wird, - die nicht mehr als unproblematisch vorausgesetzten Begriffe der Sprache und die Strukturen der Sozialordnung müssen nach ihrer Kritik ja erst wieder, und zwar mittels Kommunikationen konsentiert werden -, steigt mit der Aufklärung das Dissensrisiko in der Gesellschaft und gewährt damit, so Habermas, den Steuerungsmedien der nicht-kommunikativ strukturierten Gesellschaftsbereiche gewisse Funktionen der kommunikativ strukturierten zu übernehmen. Damit dringen die vorwiegend zweckrational strukturierten Bereiche, denen Habermas Systemcharakter zuspricht, in die vorwiegend kommunikativ strukturierten Bereiche, die Habermas „Lebenswelt“ nennt, „wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft“[19] ein. Habermas spricht diesbezüglich von einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch die Systeme. Er diagnostiziert also, daß die kommunikativ strukturierten Bereiche der Gesellschaft im Zuge der Aufklärung sukzessive zurückgedrängt werden. Im seinem Versuch, einen Standpunkt für aufklärerische Gesellschaftskritik zu retten, sind diese Bereiche aber gerade diejenigen, die gemäß seinem Konzept noch einer Kritik zugänglich sind. In den sich ausbreitenden Systemen Wirtschaft und Staatsapparat, die gemäß der diskurstheoretischen Konzeption als nicht-kommunikativ strukturierte Bereiche auch keine Spannung zwischen Realem und Idealem aufweisen, würde Kritik demgemäß auf keine operable Grundlage stoßen. Habermas wiederholt also an dieser Stelle entgegen seinen eigenen Intentionen die bei Weber und dann bei Horkheimer und Adorno angedeutete Schlußfolgerung, nach der sich die Aufklärung im Zuge ihres Verlaufs schließlich selbst unmöglich zu machen scheint, sich die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse also selbst den Boden unter den Füßen entzieht.[20]

Im Prinzip ist Habermas auch in seinen späteren Schriften bei dieser „Kolonialisierungsthese“ geblieben[21], hat aber darüber hinaus ein Phänomen untersucht, das es modernen Gesellschaften ermöglichen soll, dem Problem des im Zuge der Aufklärung steigenden Dissensrisikos in den kommunikativ strukturierten Gesellschaftsbereichen so Herr zu werden, daß damit auch gleich die Integrationsbedürfnisse in den systemischen Bereichen abgedeckt sind. Seine Demokratietheorie, in der ein modernes positiv gesatztes Recht, das eben schon per definitionem revisionsfähig ist, gleichzeitig die Spannung zwischen Faktizität und Geltung verwaltet und die Systeme in Zaum hält, hat sich aber, so scheint es, „am Ende eines langen Prozesses der sozialwissenschaftlichen Ernüchterung“[22] so weit der vernünftigen Wirklichkeit Hegels genähert, daß der Begriff der Gesellschaftskritik und der einer aktiv unterstützten Aufklärung dabei einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner ursprünglichen Konturen eingebüßt hat.

 

Freilich hält Habermas aber, wie immer auch abgeschwächt, noch am Projekt der klassischen Aufklärung fest. Auch einer seiner Diskurspartner, der Systemtheoretiker Niklas Luhmann, schließt mit seiner Argumentation genaugenommen, wenn auch vermutlich entgegen seinem eigenen Selbstverständnis, an der Diagnose einer Dialektik der Aufklärung an. Anders als Horkheimer und Adorno und anders als Habermas vollzieht Luhmann aber den entscheidenden Sprung aus dem Leitbild, für das der Begriff Aufklärung steht, und bestreitet nun die Möglichkeit, in modernen Gesellschaften noch operable Grundlagen für intervenierende gesellschaftskritische Stellungnahmen zu finden. In modernen Gesellschaften mit ihrer speziellen Differenzierungsform würde, weil alles von der Perspektive desjenigen gesellschaftlichen Teilsystems abhängt, in dem man sich gerade befindet, kein Standpunkt bereitstehen, der Protest oder Kritik legitimieren könnte. Weil sich in solchen Gesellschaften, die nicht mehr hierarchisch, sondern weitgehend horizontal - oder heterarchisch, wie Luhmann sagt[23], - in funktionale Subsysteme differenziert sind, zu jedem Standpunkt mindestens ein anderer Standpunkt auffinden läßt, der eine genau gegenteilige Perspektive auf eine gegebene Situation liefern würde, kann keine Intervention mehr die Sicherheit beanspruchen, mit ihrer Veränderungsabsicht richtig zu liegen. In modernen Gesellschaften gibt es also keinen Standpunkt mehr, der, wie noch derjenige der Aufklärung, sicherstellen könnte, daß er mehr oder sichereres Problembewußtsein als jeglicher andere Standpunkt bereitstellen könnte. Weil damit aufklärerischem Engagement die Argumentationsbasis für seine Aktionen entzogen ist, muß es sich in der Moderne auf das Beobachten und Beschreiben der sozialen Prozesse beschränken.

Den modernen Gesellschaften ist ihr Zentrum, das privilegierte Problemzugänge noch zuließ, aber erst im Zuge der Aufklärung abhanden gekommen. Stratifizierte, sprich hierarchische Gesellschaften hätten, so Luhmann, mit ihrer deutlichen Oben-Unten-Strukturierung und den dadurch definierten Machtpositionen noch über ein solches Zentrum verfügt. Erst in der Moderne sind die gesellschaftlichen Standpunkte im Zuge ihrer Aufklärung in eine Unzahl von Kontingenzen zerfallen, die einzig noch von der Funktionsweise und den Operationen des Subsystems, dem sie angehören, determiniert werden. Luhmann führt diese Situation, aber auch den Umstand, daß sie als solche erkennbar wurde, ausdrücklich auf die Wirkung der klassischen Aufklärung und die in ihr unternommene Kritik zurück. Denn gerade die Aufklärung und ihre Gesellschaftskritik haben die Gesellschaft weitgehend horizontalisiert, sie also weitgehend „schichtenlos“ organisiert, und die beständige Krisendiagnose der Gesellschaftskritik hat schließlich eine Gesellschaftstheorie entstehen lassen, „die die Krisenphänomene nicht mehr nur als vorübergehend behandeln, nicht mehr nur auf falsches Bewußtsein oder falsche Politik zurückführen kann, sondern sie als strukturelle Effekte der modernen Gesellschaft begreifen muß.“[24] Luhmann schließt damit also klar an die zunächst von Weber angedeutete, von Horkheimer und Adorno dann explizit bezeichnete Tendenz der Aufklärung an, sich gegen ihre eigenen Intentionen zu wenden. Während aber Horkheimer und Adorno und in ihrer Folge dann Habermas am ursprünglichen Projekt der Aufklärung festzuhalten versuchen, gibt Luhmann vor, gleichsam die letzte Konsequenz aus der Aufklärung selbst zu ziehen und den entscheidenden Schritt aus ihr heraus zu machen. Was bei Habermas unter dem Signum „Aufklärung“ noch klar als „Pathologie“[25] oder als „Deformation“ der gesellschaftlichen Entwicklung bezeichnet worden ist, nämlich die „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch Systemimperative, wird in Luhmanns Perspektive nun zum „strukturellen Effekt“. Die prinzipielle Gleichberechtigung der Standpunkte in der Moderne läßt keine wertenden Stellungnahmen zum Sozialen mehr zu. Das Interesse an Gesellschaft reduziert sich damit notwendig auf das Beobachten und Beschreiben ihrer Mechanik.

 

II.

 

Damit scheint Luhmanns Konzeption ziemlich genau denjenigen Zustand zu beschreiben, den aufklärerische Gesellschaftskritik gegenwärtig vorfindet: ihr Protest kann auf keinen breiten gesellschaftlichen Konsens mehr rechnen, ihr Engagement sieht sich angesichts des Wissens um die Bedingtheit jeglicher Aktion und angesichts der Übermächtigkeit systemischer Imperative, die jeden Widerstand gegen sie müßig machen, stark eingeschränkt. Den Begriff „Gesellschaftskritik“ selbst scheint angesichts dieser Diagnose fünfzig Jahre nach Erscheinen der „Dialektik der Aufklärung“ tatsächlich eher ein Hauch von Nostalgie zu umwehen, als daß ihm aktuelle sozialwissenschaftliche und politische Bedeutung zukäme.

Allerdings ist Dialektik, wie schon erwähnt, auch ein sehr persistentes Phänomen, das die Eigenschaft hat, gerade dann Wirkung zu zeigen, wenn man meint, eigentlich nicht mehr mit ihm rechnen zu müssen. Gerade die Luhmannsche Diagnose scheint nämlich, wenn man ein zweites Mal hinschaut, gleichsam malgré lui, ebenso wie schon die „Dialektik der Aufklärung“ selbst den Punkt zu markieren, an dem das Aufklärungsprojekt nicht unterlaufen werden kann. Denn wie schon die Schrift von Horkheimer und Adorno trotz ihrer deutlich spürbaren pessimistischen Grundstimmung zumindest noch über den Umstand aufklären wollte, daß die Aufklärung dialektisch verläuft, so ist auch die Feststellung, daß funktional differenzierte Gesellschaften keine Basis für den klassischen Aufklärungsbegriff mehr bereitstellen, Aufklärung im klassischen Sinn. Dementsprechend muß die Beobachtung, die in solchen Gesellschaften als einzige Operation noch möglich bleiben soll, feststellen, daß auch sie selbst von der Perspektive, aus der sie unternommen wird, determiniert ist, daß sie nur sehen kann, was sie aus diesem Blickwinkel sehen kann, daß sie also grundsätzlich einen „blinden Fleck“ aufweist, der ihre Beobachtungsfähigkeit reduziert. Aufgrund dieses „blinden Flecks“ wollte sie offensichtlich bislang nicht sehen, daß sie selbst soziale Vorgänge keineswegs nur beobachtet, sondern an ihnen auch teilnimmt.[26]

Interessanterweise wird dieser Umstand gerade an Luhmanns Versuch, das Phänomen des sozialen Protests zu beobachten, in besonderem Maß deutlich. In Anbetracht des Anspruches, gesellschaftliche Gegebenheiten vollständig beschreiben zu können[27], scheint die Luhmannsche Konzeption gerade diesem Phänomen eigenartig unsicher gegenüberzustehen.[28]

 

Für Luhmann ist es zwar paradox, daß der zeitgenössische soziale Protest, in der Meinung, soziale Sachverhalte „verbessern“ zu können, gleichsam einen gesellschaftsexternen Standpunkt in einer Gesellschaft beruft, die solche Standpunkte nicht mehr bereitstellt. Diese Paradoxie selbst kann aber Luhmann in seiner Konzeption auf elegante Weise verorten. Entstehen doch Paradoxien an sich grundsätzlich bei der Selbstbeschreibung von Systemen, also auch bei der von sozialen Systemen, und müssen, um die Anschlußmöglichkeit, also das Fortbestehen des Systems, beziehungsweise der Gesellschaft zu gewährleisten, von der Gesellschaft verdeckt werden. Ein Weg, um mit solchen Widersprüchen in der Selbstbeschreibung zu leben, sei, so Luhmann, die Invisibilisierung von Paradoxien durch ihre semantische Verschlüsselung. Die Paradoxie wird unter einen übergeordneten Begriff gebracht und damit als solche verdeckt, invisibilisiert. Eine der historisch folgenreichen Versuche der Verdeckung und Verschlüsselung von Paradoxien stellt für Luhmann eben die, wie er sich ausdrückt, „Apotheose von Vernunft“ dar, wie sie dem klassischen Aufklärungsprojekt zugrundeliegt. Dieser Versuch ist für ihn freilich theoretisch wie praktisch unzulänglich geblieben und hat bei seiner Einführung in die gesellschaftliche Realität kontraintuitive Effekte, unter anderem eben die Hypostasierung von „regulativen Ideen“ in Form des realsozialistischen Unternehmens bewirkt. Eine Zeit lang konnte die Vernunft- und Aufklärungssemantik, zu der Luhmann natürlich insbesonders auch das Habermassche Verständigungsparadigma zählt, durch Generalisierung und Formalisierung auch nach den grundlegenden Veränderungen, die die funktionale Differenzierung in der Gesellschaftsstruktur mit sich gebracht hat, noch argumentiert werden. Mit der Etablierung dieser Differenzierungsform wurde das Festhalten an Vernunft und damit an der kritischen Funktion des Aufklärungsprojekts für Luhmann aber zum anachronistischen, kontrafaktischen „Treuebeweis“ an einem „nur historisch eingeführten Markenartikel der Semantik“[29].

So elegant diese Argumentation Luhmanns auf den ersten Blick wirkt, so inkonsequent ist sie. Denn genaugenommen spricht sie auch dem Versuch die Legitimation ab, den von ihr argumentierten Tatbestand noch zu kommunizieren. Denn wie sollte unter konsequentem Verzicht auf die „privilegierte“ Position, die eine solche Entparadoxierung oder Invisibilisierung bereitstellt, noch festgestellt werden, daß diese Haltung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation angemessener ist, als eine, die eine solche Position noch bemüht. Auch der Umstand, daß die systemtheoretische Konzeption und ihr Kritikverzicht für schlüssiger gehalten wird, als die aufklärerische, erfordert zumindest Überblick über die anderen Ansätze und setzt, sofern er etwa in einem wissenschaftlichen Buch als der „bessere“ oder der „modernere“ Ansatz argumentiert wird, Verständigung im Habermasschen Sinn und damit Teilnahme an der offensichtlich doch noch gesellschaftsüblichen Form von „Paradoxie-Invisibilisierung“ voraus. Diese Form für anachronistisch zu halten, entzieht strenggenommen auch jeglicher Argumentation dieses Tatbestandes ihre Legitimation. Denn nur unter Verwendung der Invisibilisierung gewährt die Selbstreferenz sozialer Systeme eine Möglichkeit, über diese Selbstreferenz und ihre Verdeckungsstrategien noch zu sprechen. Wer wirklich überzeugt ist, daß der Anachronismus der Aufklärung nicht mehr zeitgemäß ist, müßte sich konsequenterweise auf die quietistische Beobachtung dieses Umstandes beschränken.

Luhmann schreibt Bücher und nimmt am wissenschaftlichen Diskurs teil, beschränkt sich also nicht auf die reine Beobachtung, tut aber zugleich stets so als müßte er seine objektivistische Beobachterposition niemals verlassen. Er invisibilisiert - und darin ähnelt er durchaus den Aufklärern - die Paradoxie des eigenen Standpunktes. Weil er nicht darauf verzichtet, seine Erkenntnisse zu kommunizieren, kommt, was er tut, dem Sprung über den eigenen Schatten gleich, den er den sozialen Bewegungen vorwirft. Er muß ebenso eine Position privilegierten Problembewußtseins beziehen, um von da aus seine Erkenntnisse darüber zu argumentieren, daß moderne Gesellschaften keine solche Positionen mehr bieten.

Luhmann unterscheidet sich damit genaugenommen nur um einen Punkt von den Autoren der „Dialektik der Aufklärung“. Während Horkheimer und Adorno an der Aufklärung explizit, auch gegen die Erkenntnis, daß sie von ihrer Dialektik unterminiert zu werden droht, festhalten, und ihre Argumentation bewußt von diesem schwankenden Grund aus führen, tut Luhmann so, als bräuchte er gar keinen Boden unter den Füßen, um feststellen zu können, daß es keinen Boden unter den Füßen mehr gibt. Letztendlich gibt ihm aber nur der „performative Selbstwiderspruch“, sprich die Invisibilisierung seines Sprungs über den Schatten, und das heißt, die Annahme einer der aufklärerischen Vernunftkonzeption gleichkommenden semantischen Verschlüsselung die Möglichkeit, an die Erkenntnis dieser Paradoxie operativ, sprich in seinem Sinn, mittels Beobachtungen anzuschließen.

 

Allerdings scheint Luhmanns Konzeption nicht nur in dieser Hinsicht dem Phänomen des sozialen Protests nur unsicher gegenüberzustehen. Obwohl Luhmanns Interesse an Protest und Kritik im Lauf seiner Schriften zuzunehmen scheint, entsteht der Eindruck als blieben soziale Bewegungen gewissermaßen „ortlose“ Fremdkörper in seinem System.[30] Einerseits stellen nämlich die einzelnen Funktionssysteme in modernen Gesellschaften angeblich keine Positionen mehr bereit, von denen aus sich Kontrolle oder Steuerung der gesellschaftlichen Teilsysteme legitimieren ließe, andererseits treten aber doch immer wieder funktionssystemspezifische Folgeprobleme auf, die in keinen Zuständigkeitsbereich eines Funktionssystems fallen. Umweltzerstörung etwa ließe sich zwar der Wirtschaft zurechnen, würde dort aber, sofern keine Monetarisierung der Schäden erfolgt, als Kostenfaktor nicht auftauchen. Die Rolle, solche Phänomene zu thematisieren, diagnostiziert Luhmann, übernehmen nun unter anderem soziale Bewegungen, die eine Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft liefern, wie sie ihr sonst nicht geboten wird. Dies definiert die besondere Position sozialer Bewegungen im Konzept einer funktional differenzierten Gesellschaft. Und diesbezüglich ist Luhmann auch offensichtlich gewillt, ihnen eine „Ausnahmestellung“ zu bescheinigen, in der sie die Gesellschaft so beschreiben können, „als ob es von außen sei“.[31] Ihnen kommt, ohne freilich den Status eines eigenen Funktionssystems zugesprochen zu bekommen, die Funktion zu, auf bestimmte Folgeprobleme der funktionalen Differenzierung aufmerksam zu machen. Die protestierende Reflexion leistet also etwas, „was sonst nirgends geleistet wird. Sie greift Themen auf, die keines der Funktionssysteme, weder die Politik noch die Wirtschaft, weder die Religion noch das Erziehungswesen, weder die Wissenschaft noch das Recht, als eigene erkennen würde. Sie stellt sich quer zu dem, was auf Grund eines Primates funktionaler Differenzierung innerhalb der Funktionssysteme an Selbstbeschreibung anfällt.“[32] Sie weist also genaugenommen auf einen Punkt jenseits der funktionalistischen Imperative des Systemzusammenhangs. Und da dieser Punkt offensichtlich auch nicht nur aus einer unzeitgemäßen Vergangenheit als „historisch eingeführter Markenartikel der Semantik“ übriggeblieben ist, scheint die protestierende Reflexion gewissermaßen auf eine Dialektik des Systemzusammenhangs selbst, oder, wenn man so will, auf eine Dialektik dessen, was aus der Dialektik der Aufklärung hervorgegangen ist, also auf eine „Dialektik der Post-Aufklärung“ hinzuweisen.

Denn entgegen der dem Systemdenken zugrundeliegenden Annahme, daß in modernen Gesellschaften keine privilegierten Positionen mehr möglich sind, scheint die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften gerade die Notwendigkeit solcher Positionen zu generieren. Luhmann selbst konstatiert nämlich, daß gerade diese Differenzierungsform entgegen ihrer eigenen Prämissen immer wieder Protest und soziale Bewegungen auf den Plan ruft.[33] Gerade das, was also in modernen Gesellschaften nicht mehr möglich sein sollte, wird, so scheint es, von den Konsequenzen der modernen Gesellschaft geschaffen. Auch die Post-Aufklärung unterliegt also offensichtlich einer Dialektik, die Phänomene generiert, die in ihrer theoretischen Konzeption nicht unzweideutig untergebracht werden können.[34] Die Ambivalenz[35] und die Ausnahmestellung sozialer Bewegungen wird zum Irritationsfaktor der funktional differenzierten Gesellschaft, auf den Luhmann selbst mit „ungläubigem Staunen“ [36] reagiert.

Der Dialektik noch nicht genug, eignet sich Luhmann in der weiteren Beobachtung sozialer Bewegungen eine Diktion an, die frappant an Adornos dialektisch zugeschliffene Wendungen erinnert. Die Kommunikation der sozialen Bewegungen etwa, schreibt Luhmann, sei „auf vielfältige Weise, positiv wie negativ, durch die Gesellschaft bedingt, gegen die sie sich wendet.“[37] Und: „Ihre Gegenöffentlichkeit befindet sich in ständigem Themenaustausch mit der ‘bürgerlichen’ Öffentlichkeit, gegen die sie sich wendet. Sie ist also Moment einer selbstproduzierten Entzweiung. Sie ist, wogegen sie ist.“[38] Die äußere Form der Luhmannschen Argumentation scheint sich der als Gegner gewählten Kritischen Theorie anzunähern, um genau das zu tun, was diese unter dem Titel „Mimesis“ für solche Fälle vorhergesagt hat, nämlich die bedrohliche Irritation, die im System nicht mehr verortet werden kann, durch Nachahmung zu bannen. Die Ausdrucksweise der kritischen Theorie, die freilich für diese aufgrund der prinzipiellen Korrumpiertheit der Darstellungsmittel mit dem darzustellenden Sachverhalt stets Methode und niemals nur äußere Form war[39], wird so zum Ausdruck einer Theorie, die sich das Attribut „kritisch“ versagt hat, die sich aber nun gleichsam durch die Konsequenzen der eigenen Voraussetzungen mit Phänomenen konfrontiert sieht, die sie irritieren. Noch in Reaktion darauf scheint die Systemtheorie die Entwicklung, die die Kritische Theorie gemacht hat, unter geänderten Vorzeichen zu wiederholen. Wie schon Adorno, irritiert von der Dialektik der Aufklärung, schlußendlich der Kunst die Verwaltung der Gesellschaftstheorie übergeben hat, so wird auch von Luhmann das zutiefst ästhetische Prinzip der Irritation schließlich zur ordnungsgenerierenden Bedingung erklärt[40] und damit scheinbar zum eigentlichen Anliegen der Systemtheorie. So wie bei Adorno die Kunst durch Rätselcharakter und Schock die Verhältnisse umstossen sollte, so scheint auch die Systemtheorie letztendlich nur mehr durch Irritation, wenn schon nicht die Gesellschaft, so doch zumindest die Gesellschaftstheorie bewegen zu wollen.

 

Die Dialektik der Aufklärung scheint also auch nach dem propagierten Ende der Aufklärung wirksam zu bleiben, und nun ihrerseits nachdrücklich eine Revision der Erkenntnis vom Ende der Aufklärung zu fordern.[41] Daß sich die Kritische Theorie, wie Luhmann konstatiert hat, selbst den Boden unter den Füßen weggezogen hat, stimmt damit insofern nur bedingt, als auch die von der nicht mehr kritischen Theorie beobachteten gesellschaftlichen Verhältnisse offensichtlich Bedingungen generieren, die Kritik und damit auch das Festhalten am klassischen Projekt der Aufklärung notwendig machen. Auch in der Realität lassen sich Anhaltspunkte für diese Entwicklung erkennen. So erzeugt etwa die Polarisation von Teilnehmern und Ausgeschlossenen am mittlerweile transnationalen Produktionsprozeß offensichtlich erneut Hierarchien, die sowohl rechtfertigende wie auch kritische Semantiken zur Stabilisierung, beziehungsweise Revision ihrer Positionen berufen. Darüber hinaus schafft der Prozeß der Globalisierung prinzipiell Bedingungen, die die Kategorie der funktionalen Differenzierung zu einer Revision der von ihr prognostizierten Konsequenzen zu nötigen scheint. Denn in einer global horizontalisierten Welt ergäbe sich ein „privilegierter Standpunkt“, von dem aus Aufklärung gerechtfertigt werden kann, schon aus dem Umstand, daß es keinen anderen gibt. Die Bedürfnisse und Risiken einer Welt, in der ökologische Katastrophen wie Tschernobyl oder regionale Konflikte etwa durch das Außer-Kontrolle-Geraten von Atomwaffenarsenalen globale Bedeutung annehmen können, sprich also ihren regionalen Kontext überschreiten, bedeuten, wie Ulrich Beck formuliert hat, „das Ende der ‘Anderen’“[42]. In der Moderne sind damit alle Bewohner der Welt von den Implikationen der Globalisierung in gleichem Ausmaß betroffen und beziehen daher auch notwendig den selben, weil einzig noch bleibenden Standpunkt.

Der These von der „Dialektik der Aufklärung“ scheint also auch fünfzig Jahre nach ihrer ursprünglichen Formulierung in einem über die Intention von Horkheimer und Adorno hinausgehenden Sinn Aktualität zuzukommen. Und dies in doppelter Hinsicht. Die Aufklärung hat in den selbst geschaffenen Bedingungen der Moderne zwar deutlich an Substanz eingebüßt und wäre beinahe gestorben. Noch der Nachruf ihrer selbsternannten Totengräber hat aber erneut die Punkte deutlich gemacht, an denen das Projekt der Aufklärung und mit ihm das einer kritischen Gesellschaftstheorie offensichtlich nicht unterlaufen werden kann.

 



[1] Noch der gegenwärtig unternommene Versuch, den Folgen der Strukturunterschiede durch eine europa-interne Nivellierung zu antworten, zeigt, daß sich durch solche Interventionen die Diskrepanz nach außen notwendig verschärft. Die Abschottung des EU-Raums durch zentralistische Isolations-, Interventions- und Subventionspolitik tritt damit in immer krasseren Gegensatz zu den gleichzeitig propagierten neoliberalen Wirtschaftsprogrammen. Die von diesen geforderten Sparpakete und Reprivatisierungen können der Auslagerung von Produktion, Profit und Steuereinnahmen in billigere Weltgegenden zumindest augenblicklich nicht Einhalt gebieten. Die Folgen der entstandenen Strukturunterschiede und die Folgen der darauf antwortenden politischen Maßnahmen scheinen sich dadurch für die betroffene europäische Gesellschaft additiv zu ergänzen. Sowohl das Angebot billigerer Produktionsstätten im Ausland wie auch die damit notwendig gewordenen Einsparungs- und Reprivatisierungsmaßnahmen im Inland schrauben gemeinsam die Arbeitslosenzahlen in bisher nicht gekannte Höhen und bauen, ebenfalls co-konsekutiv, die Institutionen des Sozialstaates ab.

[2] Ich gehe hier, sehr verkürzend, davon aus, daß sich auch der „rechte“ Protest in einer freilich sehr verzerrten und jeweils auf einen sehr engen Horizont bezogenen Form an den allgemeinen Ideen der Aufklärung orientiert. Für den eigenen Standpunkt wird ja auch von ihm die Verbesserung der Lebensbedingungen explizit angestrebt, freilich ohne die jederzeitige Berechtigung solcher Forderungen auf Universalität zu reflektieren. Als Nationalsozialismus schloß er darüber hinaus auch explizit an das sozialistische Projekt an. Selbstverständlich soll aber durch diese Anmerkung keineswegs die grundsätzlich unterschiedlichen Positionen von „linkem“ und „rechtem“ Protest zum Phänomen des Sozialen nivelliert werden.

[3] Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung, FfM 1969, S.7. Erstveröffentlicht 1947 in Amsterdam.

[4] Horkheimer/Adorno, A.a.O., S.3.

[5] Vgl. dazu u.a. das berühmte „elfte Feuerbach-Axiom“ von Marx.

[6] Vgl. dazu: Füllsack, Manfred, Postsowjetische Gesellschaft. Gesellschaftsentwicklung am europäischen Rand, Wien 1996, S.21f.

[7] Ich sehe hier natürlich von dem Umstand ab, daß Marx in seinen Kapitalismusstudien auch eine objektive Entwicklung ausgemacht hat, die gleichsam „von selbst“, nämlich im entstehenden Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen das Bestehende aufsprengt, die also gleichsam unbeeinflußt von menschlichen Interventionen ohnehin ablaufen würde. Marx hatte nicht zuletzt auch durch seine eigene Tätigkeit stets die Notwendigkeit unterstrichen, am Aufklärungsprozeß zu partizipieren, der Entwicklung zur kommunistischen Gesellschaft also aktiv unter die Arme zu greifen.

[8] Vgl.: Weber, Max, Die protestantische Ethik, hrsg. v. J. Winckelmann, Bd.1, Hamburg 1973, S.187f.

[9] Adorno, Th.W., Gesammelte Schriften 6, FfM 1970ff, S.264.

[10] Vgl.: „Der Ruf des Schreckens, mit dem das Ungewohnte erfahren wird, wird zu seinem Namen.“ Horkheimer/Adorno, A.a.O., S.17.

[11] Die philosophische Reflexion dieses Umstandes reicht bekanntlich von Kant über de Saussure, Peirce bis zu Derrida. Ich habe sie an anderer Stelle ausführlicher kommentiert: Füllsack, M., Politische Kunst. Adorno im postsowjetischen Kontext, Wien 1995, S.55f.

[12] Nichtidentisches unterliegt damit dem „Bilderverbot“. Vgl.: „Unmittelbar ist das Nichtidentische nicht als seinerseits Positives zu gewinnen und auch nicht durch Negation des Negativen:“ Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, FfM 1975, S.161.

[13] Vgl. Adornos zwei Jahre später erschienenes Nachfolgewerk zur „Dialektik der Aufklärung“ „Die Philosophie der modernen Musik“. Vgl. hier etwa die Stellen, in denen Adorno den Protagonisten der „durchrationalisierten“ Zwölftonmusik einen Hang zu „irrationaler“ Zahlenmystik konstatiert. Adorno, Th.W., Die Philosophie der modernen Musik, FfM. 11978, S.67.

[14] Keinem geschichtlichen Subjekt, nicht dem Proletariat, noch der „Dritten Welt“ wird von Adorno und Horkheimer noch die Chance zugesprochen, Träger des Aufklärungsprozesses zu sein. Vgl. etwa: „Unversöhnt verwehrt die Idee der Versöhnung deren Affirmation im Begriff“ Adorno, Th.W., Negative Dialektik, FfM 1975, S.163.

[15] Horkheimer/Adorno, A.a.O., S. 40.

[16] Ebd.

[17] Vgl. Adorno, Th.W. Engagement; in: ders., Noten zur Literatur, FfM 1974, S. 409-430. Vgl. dazu auch: Füllsack 1995, A.a.O., S.113.

[18] Vgl. die von Habermas in vielfältigen Variationen konstatierte Verschränkung von „gereinigter“ und „ungereinigter Rede“, von „idealer“ und „realer Kommunikationsgemeinschaft“, oder von „Faktizität und Geltung“. U.a. etwa: Habermas, J., Der philosophische Diskurs der Moderne, FfM 1985, S.376.

[19] Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns, FfM., 1981, Bd.II, S.522.

[20] Vgl. etwa: „Die rationalisierte Lebenswelt ermöglicht die Entstehung und das Wachstum der Subsysteme, deren verselbständigte Imperative auf sie selbst destruktiv zurückschlagen.“ Habermas 1981, A.a.O., Bd.II, S.277

[21] Vgl. dazu: Faktizität und Geltung, FfM 1992, u.a. S. 42.

[22] Frei nach: Habermas, J. Faktizität und Geltung, FfM 1992, S.72.

[23] Luhmann, N., Die Wissenschaft der Gesellschaft, FfM 1990, S.365.

[24] Luhmann, N., Am Ende der kritischen Soziologie; in: Zeitschrift für Soziologie, Heft 2/1991, S.147-152, S.148.

[25] U.a.: Habermas, 1981 II, A.a.O., S. 488.

[26] In seinem nun vorgelegten monumentalen Hauptwerk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ geht Luhmann allerdings nun explizit gerade auf diesen Umstand ausführlich und programmatisch ein. Vgl.: „Wenn die Kommunikation einer Gesellschaftstheorie als Kommunikation gelingt, verändert sie die Beschreibung ihres Gegenstandes und damit den diese Beschreibung aufnehmenden Gegenstand. Um dies von vornherein im Blick zu halten, heißt der Titel dieses Buches ‘Die Gesellschaft der Gesellschaft’.“ Luhmann, N., Die Gesellschaft der Gesellschaft, FfM 1997, S.15.

[27] Luhmann, N., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, FfM 1984, S.33.

[28] Vgl. dazu etwa die Aussage von Kai-Uwe Hellmann, der feststellt, daß in der Systemtheorie „ein noch relativ unbestimmtes Bild der Systembestimmung sozialer Bewegungen“ vorherrscht. Hellmann, Kai-Uwe, Einleitung zu: Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen. Hrsg. und eingeleitet von Kai-Uwe Hellmann, FfM 1996.

[29] Luhmann, N., Tautologie und Paradoxie in der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft; in: Zeitschrift für Soziologie, Heft 3/1987, S.161-174, S.164.

[30] Auch Hellmann (A.a.O., 1996, S. 25) weist darauf hin, daß Luhmanns Interesse an Kritik, Protest und sozialen Bewegungen im Verlauf seiner Veröffentlichungen deutlich anzuwachsen scheint.

[31] Luhmann, 1996, A.a.O., S.72.

[32] Luhmann, N., Soziologie des Risikos, Berlin 1991b, S.153.

[33] „Funktionale Differenzierung erzeugt - wie ihren Schatten und gerade angesichts der Normalisierung hoher Unwahrscheinlichkeit in der Gesellschaft, zum Beispiel Geldwirtschaft - Kritik oder eben solche Protestbewegungen, Kritik als Form der Selbstbeschreibung, als Form von Aufklärung vom Typ Habermas oder wie immer.“ Luhmann, 1996, A.a.O., S.185.

[34] Vgl.: Luhmann, 1996, A.a.O., S.185f: „Ich fühle mich also wohler, um das abzuschließen, wenn ich soziale Bewegungen nicht in eine Rubrik schon bereitstehender Klassifikationen einordne. Das liegt auch daran, daß man, wenn man Phänomene ernstnehmen will, sie konzeptuell nicht vergewaltigen sollte. Ich lasse lieber eine gewisse Unordnung in der Theorie zu.“

[35] Vgl. Luhmann, 1996, A.a.O., S.136: „Soziale Bewegungen sind zugleich autopoietische und epigenetische Systeme: sie gehen von ihrer Definition der Situation aus, sie proklamieren ihre Ausgangsunterscheidung (draw a distinction) und folgen der damit angesetzten Logik. Aber die Gesellschaft stellt ihnen dafür nur die Form sozialer Bewegung zur Verfügung, wenn und weil es sich nicht um Unterscheidungen handelt, die sich als Codes für Funktionssysteme eignen.“

[36] Luhmann, 1996, A.a.O. S.72.

[37] Luhmann, 1996, A.a.O., S.76.

[38] Ebd.

[39] Der Kritischen Theorie ging es ja nach Adorno darum das „Zurüstende und Abschneidende“, das in der begrifflichen Darstellung bereits unumgehbar angelegt ist, zu „übersteigen“, was aber einzig wiederum mittels Begriffen möglich ist. Die Ausdrucksweise mußte sich in der, von Adorno unnachahmbar vorgeführten Art konzentrieren, weil es eben darum ging, die Versöhnung, von der kein positives Bild zu machen war, doch mit den zur Verfügung stehenden Mitteln anzupeilen, sprich also „das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“ Adorno, Th.W., Negative Dialektik, FfM 1975, S.21.

[40] Vgl.: Luhmann, N., Die Kunst der Gesellschaft, FfM 1995, S.237. Vgl. Dazu auch die zwei „Metaregeln“ für den Umgang mit Irritation die Luhmann (1990, A.a.O., S.138f.) anführt. „Die eine lautet: ändere die Struktur, sodaß die Irritation als strukturkonform erscheinen kann. Die andere lautet: halte die Struktur fest und externalisiere deine Enttäuschung; rechne sie einem System der Umwelt zu, das sich anders verhalten sollte.“ Sowohl das eine wie auch das andere tut Luhmann mit der irritierenden Struktur „sozialer Protest“.

[41] Der Verdacht drängt sich auf, daß Luhmanns Theorie auf eine der Kritischen Theorie möglicherweise durchaus kompatible Konzeption gebracht werden könnte., sofern auch aufklärerische Vernunft auf ihr funktionales Äquivalent in modernen Gesellschaften hin betrachtet würde, wie dies Luhmann andernorts selbst in Ansätzen etwa mit dem Begriff der Systemrationalität tut. Er scheint geneigt, deren utopischer Orientierung doch einen gewissen Nutzen zuzusprechen. Es mag, schreibt er in der Ökologischen Kommunikation etwa, „nicht ohne Nutzen sein, sich doch an der Utopie der Rationalität zu orientieren.“ (Luhmann, N., Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Risiken einstellen?, Opladen 1986, S. 258. Bezüglich der Kompatibilität zur Kritischen Theorie vgl. u.a. auch Georg Kneer: „Der Versuch der Explikation eines erweiterten Rationalitätsbegriffs, der gegenüber realen gesellschaftlichen Verhältnissen als Utopievorstellung fungiert, erinnert in vielerlei Hinsichten an ähnliche Bestrebungen innerhalb des Projekts kritischer Gesellschaftstheorie.“ Kneer, Georg, Bestandserhaltung und Reflexion. Zur kritischen Reformulierung gesellschaftlicher Rationalität; in: Krawietz, Werner/Welker, Michael (Hrsg.) Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzung mit Luhmanns Hauptwerk, FfM 1992, S.86-112, S.111f.

[42] Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, FfM 1986, S.7.; Vgl. dazu auch: Giddens, Anthony, Konsequenzen der Moderne, FfM 1995, S.156ff.