Adornos Ästhetische
Theorie von Fortschritt und Reaktion.
Fünfzig Jahre nach
Erscheinen der „Philosophie der Neuen Musik“
(in: Zeitschrift für Ästhetik und
allgemeine Kunstwissenschaft 44/1 (1999) S. 41-54.)
von Manfred
Füllsack
Der Gesellschafts- und Kunsttheoretiker Theodor W. Adorno
hatte die beiden Hauptkapitel einer seiner bekanntesten musiktheoretischen
Schriften – der 1949 veröffentlichten „Philosophie der neuen Musik“ - mit den
Überschriften „Schönberg und der Fortschritt“ und „Strawinsky und die Reaktion“
versehen.[1]
Die Wahl dieser Titel weist auf den Umstand, daß Adornos ästhetischem Konzept
eine klare Vorstellung einer Richtung künstlerischer Entwicklung
zugrunde gelegen hat, eine Vorstellung also darüber, was in dieser Entwicklung
„vorher“ und „nachher“ stattzufinden hat, was „fortgeschrittener“ und „weniger
fortgeschritten“ genannt werden darf. Angesichts der Stilvielfalt der
Gegenwartskunst erscheint die Schlüssigkeit einer solchen
Fortschritts-Konzeption heute allerdings fragwürdig, stellt doch die bunte
Multikulturalität der gegenwärtigen Moderne kaum mehr Standpunkte bereit, von
denen aus Wertungen über die Avanciertheit künstlerischer Stile gewagt werden
können.
Auch Adorno, so könnte man angesichts dieses Umstandes
sagen, konnte eben nur sehen, was er sehen konnte. Auch seine sich nur all zu
oft in ätherische Höhen schwingenden kunsttheoretischen Überlegungen, so
avanciert sie zu seiner Zeit empfunden worden waren, reichten eben nur bis an
den Horizont der ihm zugänglichen Welt, und keineswegs darüber hinaus. Sie
waren Kinder ihrer Zeit, so wie die Kunstwerke, die sie zum Thema hatten,
Kinder ihrer Zeit waren.
Wenn dem so ist, stellt sich allerdings die Frage, was denn
heute, fünfzig Jahre nach Erscheinen von Adornos Buch so grundlegend
verschieden an unserer Zeit und unserer Kunst ist. Warum erscheinen heute
manche von Adornos Überlegungen zum künstlerischen Fortschritt so inadäquat?
Und was hätte eine Gegenwartsästhetik, die nicht hinter Adornos Ansatz
zurückbleibt, mindestens zu berücksichtigen?
Interessanterweise, und darin bewahrt Adornos Denken trotz
allem Aktualität, lassen sich Antworten zu diesen Fragen nun nicht nur in der
Auseinandersetzung mit der Gegenwartskunst und in den von ihr provozierten
ästhetischen Konzepten finden. Adornos Ästhetik selbst, so meine These, weist
mit der in ihr thematisierten und ihr selbst zugrundeliegenden Dialektik
unfehlbar auf jene Punkte, an denen sie die Kunst, nach dem sie sie für einen
kurzen historischen Abschnitt begleitet und „enträtselt“ hatte, wieder aus den
Augen verliert. Adornos Schriften selbst markieren also, so man sie dahingehend
betrachtet, bereits diejenigen Umbrüche in der Entwicklung der letzten fünfzig
Jahre, die der Kunst eine neue Theorie abverlangen.
Um diese These zu erhärten, werde ich in den folgenden
Überlegungen zunächst an einige zentrale Gesichtspunkte der Adornoschen
Ästhetik und ihrer Voraussetzungen erinnern (I.), um sodann zu überprüfen,
inwiefern diese dazu herangezogen werden können, um gleichsam mit Adorno über
Adorno hinaus jene Defizite zu markieren, die die Ästhetische Theorie bei der
Verortung der künstlerischen Phänomene der Gegenwart aufweist. (II.) Wenn ich
dabei manche Aspekte der Adornoschen Theorie ein wenig überzeichne, um in der
gebotenen Kürze meinen Gesichtspunkt zu verdeutlichen, so soll dies mit Hinweis
auf die von Adorno selbst thematisierte Schwierigkeit, eine Theorie zu
referieren, gerechtfertigt werden.[2]
Adornos faszinierender Denkstil, der in beständig sich selbst noch einmal
einholenden dialektischen Wendungen stets darauf bedacht war, noch die
Bedingungen seiner selbst bis in kleinste Details zu reflektieren und im
jeweils Beschriebenen mit zu thematisieren, läßt sich strenggenommen verkürzt
nicht wiedergeben, ohne seinem Anliegen Gewalt anzutun.
I. Adorno und
der Fortschritt
Als Theodor W. Adorno 1925 aus Frankfurt am Main nach Wien
gekommen war, um bei Alban Berg Komposition zu studieren, war die „große
musikalische Revolution“[3],
wie Adorno die Auflösung der harmonischen Bindungen in den Werken der
„expessionistischen“ Phase Schönbergs, also etwa im II.Streichquartett oder in
den George-Liedern, selbst genannt hat, bereits vorüber. Der Kampf um die
Etablierung der Errungenschaften dieser „Revolution“ war hingegen in vollem
Gang[4]
und der junge Adorno, der sich bereits einen Namen als Musikkritiker in
zahlreichen namhaften Zeitschriften gemacht hatte, wurde in Wien, also an der
musikalischen Front dieses Kampfes, als engagierter Berichterstatter Zeuge der
künstlerischen Auseinandersetzungen, die der „großen musikalischen Revolution“
folgten.
Diese Auseinandersetzungen sollten seine gesamten weiteren
ästhetischen Überlegungen grundlegend prägen, obwohl bereits die angesichts der
historischen Ereignisse der Zeit wohl naheliegende Rede von der „musikalischen
Revolution“ gerade im Licht seiner ästhetischen Theorie eine bezeichnende
Ambivalenz trägt. Denn erstens ist es Adorno in seinen Überlegungen zur
Kunstentwicklung stets mehr darum gegangen, die Dialektik des
Fortschritts und nicht so sehr diesen selbst zu verfolgen. Stets hat ihn etwa
in den musikalischen Ideen Schönbergs die gegenläufige Bewegung fasziniert, mit
der aus der Atonalität in „konstruktiver Konsequenz“ die Zwölftontechnik wurde,
um sodann wieder in die Nähe der Zahlenspielerei und der Astrologie, also
zurück zur Mythologie zu geraten.[5]
Darüber hinaus hinkt die Rede von der „musikalischen
Revolution“ aber auch deswegen, weil sie genaugenommen Adornos eigener
Konzeption widerspricht. Was Adorno nämlich im Sinn hatte, wenn er über die
Entwicklung und den Fortschritt in der Musik sprach, war, wenn man ihn genau
liest, stets Evolution und nicht Revolution. Die stetige Entwicklung,
ihre Bedingungen und ihr Verlauf war sein Thema und nicht „revolutionäre“ oder
sonstige Diskontinuitäten im Entwicklungsprozeß der Kunst.
Der Revolutionsvergleich markiert damit eine der übrigens
gar nicht so seltenen Inkonsistenzen in Adornos Theorie, die sich aus seiner -
bei ihm wohl nachhaltiger als bei manchen Anderen zum Ausdruck kommenden -
Doppelstellung als engagierter Teilnehmer und wissenschaftlicher Beobachter des
künstlerischen Entwicklungsprozesses ergaben. Seine Teilnahme, etwa als selbst
komponierender Musiker, ließ ihn Stellung für die musikalischen Neuerungen
Schönbergs beziehen und führte ihn dazu, ihre Bedeutung mitunter auch durch
entsprechende Polemik propagandistisch zu unterstreichen. In seiner Eigenschaft
als Wissenschafter war er jedoch gezwungen, den Entwicklungsprozeß der Kunst
gleichsam „von Außen“, also objektiv zu beobachten und euphorische
Stellungnahmen zu meiden. Adornos Schriften gewinnen einen großen Teil ihrer
eigentümlichen Faszination aus seinen Bemühungen, der Ambivalenz zwischen
Beobachtung und Teilnahme begrifflich gerecht zu werden.
In seiner Eigenschaft als Beobachter hatte Adorno also
vorrangig die Evolution der Musik, und nicht ihre Entwicklungssprünge,
ihre Umbrüche oder Diskontinuitäten im Auge. Denn was Schönberg und übrigens in
etwa zur selben Zeit auch Andere zur Auflösung der Tonalität und dann zur
Kreation der Zwölftontechnik veranlaßt hatte, war, so Adorno, bereits in der
Luft gelegen, oder genauer gesagt, die „musikalische Revolution“ der Zweiten
Wiener Schule war ebenso wie alle früheren und späteren künstlerischen
Veränderungen nach Adornos Konzept dialektisch aus dem „Zwang des
künstlerischen Materials“ hervorgegangen.
Dieses „Material“ - also in der Musik etwa die Töne, die
Klangfarben, die Dynamiken, die Stilmittel etc., die einem Komponisten bei der
Schaffung eines Werkes zur Verfügung stehen - unterliegt, so Adorno, einem
Zwang, der sich aus der Bedingung ergibt, daß Kunst nur als Kunst empfunden wird,
wenn sie neu, beziehungsweise originell
ist. Sogar Kunst, die die Neuheit selbst thematisiert, und etwa im Kopieren von
älteren Stilen den Originalitätszwang von Kunst negieren will, ist nur dann
Kunst, wenn sie die Erste ist, die dies tut. Jede Wiederholung, die nur
wiederholt, ohne das Wiederholte in einen neuen Zusammenhang zu stellen, wird
in der Kunst nicht als Kunst empfunden.
Daraus ergeben sich notgedrungen gewisse Beschränkungen für
die Anwendbarkeit des künstlerischen Materials. Eine Kadenz läßt sich, sofern
das Werk, in dem sie vorkommt, Kunstwerk sein will, nur dann wiederholt
in einer bestimmten Weise auflösen, ein Leitton läßt sich nur dann wiederholt
zum Grundton weiterführen, wenn dies unter jeweils geänderten Begleitumständen,
also etwa in verschiedenen musikalischen Genres, von verschiedenen Instrumenten
oder in unterschiedlichen Tempi geschieht. Sobald die möglichen Variationen
solcher Stilmerkmale durchgespielt sind, wirken weitere Wiederholungen unoriginell
und verlieren damit ihren Kunststatus. Die Salonmusik aus der zweiten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts etwa wurde geradezu zum Paradigma für Musik, die
sich im bloßen Wiederholen ihrer Stilmittel überlebt hatte.
Indem übrigens die Wissenschaft, also etwa die
Musikwissenschaft Stilmerkmale untersucht, kategorisiert, systematisiert und in
ihren methodischen Apparat einordnet, steht sie in grotesker Opposition zur
Kunst, der es, um als Kunst anerkannt zu werden, gerade darum geht, nicht
systematisierbar, das heißt, nicht auf schon bekannte Kategorien reduzierbar zu
sein. Denn Systematisieren heißt in bestimmtem Sinn, so Adorno, vergleichen,
sprich gleichmachen. Weil Kunst beständig neu sein muß, um als solche
anerkannt zu werden, muß sie auch einer systematisierenden Wissenschaft beständig
einen Schritt voraus bleiben. Und Wissenschaft, die ein künstlerisches Phänomen
restlos erklären kann, muß sich bewußt sein, daß sie es, sobald sie dies kann,
schon nicht mehr mit Kunst zu tun hat. Denn erklärbare Kunst ist nicht originell
und darum nicht Kunst. Adorno sprach in Bezug auf diese prinzipielle
Unerklärbarkeit gerne vom „Rätselcharakter“ der Kunst. „Je intensiver man Bach
begreifen will“, meinte er beispielsweise, „desto rätselvoller blickt er mit
all seiner Macht zurück. ... [Kunstwerke] sind abgestorben im gleichen
Augenblick, da sie unmittelbar zugänglich sein sollen; ihre spannungslose
Zugänglichkeit ist ihr Ende“.[6]
Der historische Stellenwert des russischen Komponisten
Modest Mussorgskis etwa wäre für Adorno wohl kaum derselbe gewesen, wenn dieser
nach der Riemannschen Funktionstheorie, also - in der Adornoschen Terminologie
- „rätsellos“ komponiert hätte. Mussorgskis „Korrektor“ Rimski-Korsakow nahm
jedenfalls in Adornos persönlicher Reihung trotz seiner Vorliebe für Märchen
einen deutlich niedrigeren Rang ein. Und Tschaikowskis Musik, deren „Kultus des
Einfalls“, wie er sich ausdrückte, herausgesprengt aus der kompositorischen
Logik eines Ganzen, nur „flache, grob zusammengehauene Kompositionstypen“
hervorgebracht haben soll, verortete Adorno mitunter sogar in deutlicher Nähe
zum kommerziellen Schlager.[7]
Der selbe Grund, nämlich die angebliche Angepaßtheit an
musikalische Klischees, veranlaßte Adorno Igor Strawinsky als den „Jasager der
Musik“[8]
zu bezeichnen. Weil Strawinsky zu einer Zeit Harmonien huldigte, die nach
Adornos Meinung vom „Materialzwang“ bereits für obsolet erklärt waren, stritt
er ihm jeglichen Anspruch auf einen Platz in der musikalischen Avantgarde ab.
Noch das skandalträchtige Sacre wäre „nicht bedingungslos antikonventionell“
gewesen. Statt Konventionen abzuschaffen, hätte es nur Strawinskys Neigung
deutlich werden lassen, ihre Essenz herauszuarbeiten.[9]
„Das fabula docet Strawinskys [sei] versatile Fügsamkeit und störrischer
Gehorsam, das Muster des heute allerorten sich formierenden autoritären
Charakters. Seine Musik kennt nicht mehr die Versuchung, anders zu sein.“[10]
„Anders zu sein“, „Konventionen“, hier musikalische, zu
negieren oder „das Andere“ schlechthin hatte für Adorno gesellschaftspolitische
Bedeutung. Nicht nur die Wissenschaft in ihrer systematisierenden,
ordnungskonstituierenden Tätigkeit, auch die moderne Industriegesellschaft mit
ihren kommerziellen Verwertbarkeitsmechanismen stellte für Adorno eine Entität
dar, die sich der Kunst gegenüber tendenziell feindlich, weil
vereinnahmend, also „gleichmachend“ verhielt. In der Umwandlung der Kunst in
eine Ware sah Adorno die Ursache für den wachsenden „Fetischcharakter in der
Musik und die Regression des Hörens“.[11]
(So der Titel einer seiner bekannteren musiktheoretischen Schriften)
Adorno war in Folge seiner Emigration nach Amerika teilweise
recht schmerzlich auf die Bedingungen der dort gerade im Entstehen begriffenen
Kulturindustrie und auf den Zwang zur allgegenwärtigen kommerziellen
Verwertbarkeit kultureller Schöpfungen gestossen worden - ebenso wie übrigens
auch Schönberg und viele andere europäische Emigranten. Für einen
detailverliebten Schriftsteller mit komplexer und Zeit erfordernder
Ausdrucksweise hatte der schnellebige amerikanische Markt keine Nachfrage
gekannt. In der durch die persönlichen Erfahrungen vertieften Aversion gegen
Vermarktbares und Kommerz wurden die Produkte dieses Marktes für Adorno zu
Symbolen eines totalitären, vereinnahmenden Apparates, der sich in seiner
„Macht und Herrlichkeit durch den Stempel, der allem aufgeprägt wird, was in
die Maschinerie geriet“[12],
beständig selbst zu bestätigen sucht. Allem voran wurde der Schlager für Adorno
zum Repräsentanten dieses Kulturbetriebes, der sich nach seiner Auffassung
einzig auf die Wiederholung schon einmal vorgesetzter und möglichst
leichtverdaulicher Kost beschränkte. „Es [gäbe] tatsächlich einen neurotischen
Mechanismus der Dummheit auch im Hören“, meinte er bitter, „Die hochmütig
ignorante Ablehnung alles Ungewohnten [sei dessen] sicheres Kennzeichen“.[13]
Akzeptabel und somit wert, Kunst genannt zu werden, waren
für Adorno damit nur mehr jene Kreationen, denen der Kulturbetrieb die Aufnahme
in den Vermarktungsmechanimus versagte, die also in gewissem Sinn
„ungebraucht“, also funktionslos abseits der schillernden Massenkunst
blieben. In dieser „Unbrauchbarkeit“ begründet sich Adornos immer wieder
streitbar vertretene Position gegen „funktionierende“, also engagierte, oder
politisch Stellung beziehende Kunst, also etwa ganz besonders auch gegen die
Werke des Sozialistischen Realismus.[14]
Die Funktionslosigkeit war ein Hauptcharakteristikum von
Adornos emphatischem Kunstbegriff. Nur autonome Kunst, nur die Kunst des l’art pour l’art konnte nach Adornos Auffassung darauf Anspruch erheben,
Kunst genannt zu werden, weil nur sie, den Vereinnahmungsversuchen des
kommerziellen Kulturbetriebes widersteht. Und erst dadurch, erst durch die
Funktionslosigkeit, mit der sich das Kunstwerk als „ungebraucht“ aus dem
gesellschaftlichen Funktionszusammenhang ausnimmt, erhält es eine Funktion
zweiten Grades, nämlich die, als Einziges auf diese Art in Opposition zum
schlechten Zustand der Gesellschaft treten zu können. Die Funktion zweiten
Grades der Kunst ist die der Gesellschaftskritik.[15]
Obwohl also Adorno der Kunst jegliche bewußte Teilnahme an
gesellschaftlichen oder politischen Veränderungsversuchen abspricht, weil
Kunst, wenn sie eine andere Funktion, als die, Kunst zu sein, annimmt, bereits
in den Funktionszusammenhang der gesellschaftlichen Verwertungsmechanismen
einrastet und damit zur Ware wird, also nicht mehr Kunst sein kann, - obwohl er
also nur „funktionslose“ Kunst als Kunst akzeptiert, ist es gerade die
oppositionelle Stellung der Kunst zur Gesellschaft, die Adorno an der Kunst
stets hervorhebt. Hier wird die Verbindung von Adornos ästhetischer und
gesellschaftspolitischer Theorie deutlich. Das Großartige an Großer Kunst -
paradigmatisch für Adorno immer wieder die Musik der Zweiten Wiener Schule -
ist die Fähigkeit, die Antagonismen gesellschaftlicher Zustände zu
thematisieren. Und diese Fähigkeit bezieht die Kunst einzig aus ihrem
Entschluß, am gesellschaftlichen Funktionszusammenhang nicht zu
partizipieren. Wo sie sich hingegen auf direktes Engagement einläßt, wie etwa
als Sozialistischer Realismus, läuft sie Gefahr, vereinnahmt zu werden und
damit ihren Kunststatus zu opfern.
In ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung weist Kunst, so
Adorno, auf „Versöhnung“, das heißt auf einen gesellschaftlichen Zustand, der
frei von diskriminierenden Herrschaftsverhältnissen, also frei von Konflikten
und Problemen wäre und der als focus imaginarius dem der Entwicklung der Kunst
parallel laufenden Aufklärungsprozeß voransteht. Die Dialektik dieses Prozesses
war es, die Adorno zeitlebens, immer auf der Seite der Aufklärung bleibend, zu
analysieren versucht hat.[16]
Diese Dialektik, so könnte man sagen, hat Adornos Konzept
dann auch selbst in Frage gestellt. Während nämlich der Entwicklungsprozeß, dem
Gesellschaften unterliegen, zumindest so vorgestellt werden kann, als würde er
auf einen idealen Endpunkt - wie auch immer dieser aussehen mag - verweisen, so
läßt sich für die Entwicklung der Kunst keine wie auch immer
vorgestellte Zielsetzung angeben. Denn wie könnte ein Ziel der Kunstentwicklung
vorgestellt werden, wenn doch das absolut perfekte Kunstwerk eine contradictio
in adiecto ist. Für Adorno hätte Kunst im versöhnten Zustand der Menschheit
ohnehin schlichtweg zu existieren aufgehört. Denn dann hätte kein Anlaß mehr
bestanden, in Opposition zur Gesellschaft zu treten.[17]
Trotzdem entwickelt sich laut Adornos Theorie Kunst. Und
gerade diese Entwicklung der Kunst hat die Theorie, die sie vorhergesagt hat,
in einer abermaligen dialektischen Wendung eingeholt und relativiert. Denn die
Entwicklung, die die Kunst, im speziellen die Musik seit der von Adorno so
exemplarisch herausgestellten Zweiten Wiener Schule genommen hat, entsprach nur
anfänglich dem von der Adornoschen Theorie vorhergesagten Verlauf.
Der „Materialzwang“ nämlich, dem die Kunstentwicklung nach
Adorno zu folgen hatte, fand zwar, nachdem eines der Hauptmerkmale
„traditioneller“ Musikästhetik, nämlich die Tonalität, überwunden worden war,
noch andere Elemente, die „entwicklungsbedürftig“, das heißt also, die im Sinn
des Originalitätsprinzips der Kunst umzuformen waren. Spätestens aber seitdem
John Cage 3’44’’ ohne einen Ton zu spielen am Flügel gesessen hatte, war
deutlich geworden, daß die Entwicklung, die Adorno für die Kunst diagnostiziert
hatte, in ihrem Abstraktionszwang eine Richtung eingeschlagen hatte, an deren
Ende die Auflösung von Kunst, allerdings ohne gleichzeitige gesellschaftliche
„Versöhnung“ absehbar war. Hatte sich schon Schönbergs Musik und danach
natürlich die Weberns von Unkundigen - die Adorno stets gern als „Philister“
bezeichnete - die Frage gefallen lassen müssen, ob denn diese Musik überhaupt
noch Kunst sei, so hielten sich die Experimentatoren der Nachfolgegeneration,
die in Überwindung der seriellen Webernverehrung auf Aleatorik, Grafik und
Szenik gesetzt hatten, mit Vorliebe an musikalischen Plätzen auf, von denen aus
der nächste Abstraktionsschritt, den Adornos künstlerische Entwicklungslogik
verlangt hätte, ins gefährliche Nichts führen hätte können.
Dieser Schritt ist natürlich nie gemacht worden. Und nicht
nur, daß er unterblieben ist, die gesamte musikalische Entwicklung schien
plötzlich an ganz anderen Anknüpfungspunkten und unter anderen Bedingungen neu
anzusetzen, mit Musik, die dem Adornoschen Fortschrittskonzept kaum mehr
entsprach, wie, um nur einige wenige zu nennen, etwa die Werke von Wolfgang
Rihm, von Alfred Schnittke oder von Arvö Pärt, für die Adornos Theorie
höchstens den schon für Strawinskys Musik gebrauchten Begriff des
„Rückschritts“ bereitgehalten hätte. Die Qualität dieser Musik jedoch und vor
allem die Gunst der Rezipienten strafte diesen Begriff Lügen, und nicht die
Musik, sondern die Adornosche Theorie selbst war es plötzlich, die sich den
Vorwurf der Reaktion gefallen lassen mußte, weil sie angesichts der
musikalischen Phänomene der Postmoderne, deren Vielfalt sich nicht mehr nur auf
einer eindimensionalen Entwicklungslinie auffädeln ließ, nur den überholten
Begriffsapparat von „mehr oder weniger fortgeschrittener“ Kunst anzubieten
wußte.
Was hatte sich also geändert, daß Adornos Theorie, die
unbestritten großen, wenn nicht größten Einfluß auf die Musikrezeption in
diesem Jahrhundert gehabt hatte, plötzlich neueren Phänomenen in der
Kunstentwicklung so hilflos gegenüber gestanden war? Konnten sich die
Gegebenheiten überhaupt so abrupt ändern, oder handelte es sich vielmehr um
Veränderungen, die sich schon zu Zeiten abgezeichnet hatten, in denen das
Adornosche Konzept noch unbestritten anerkannt war? Wenn letzteres der Fall
ist, könnte es dann sein, daß sich in Adornos Schriften auch Anhaltspunkte für
diese Veränderungen auffinden lassen, denen er selbst nicht die entsprechende
Bedeutung zugemessen hatte, einfach deshalb, weil er aufgrund des Horizonts,
den ihm sein gesellschaftliches Umfeld vorgab, nicht sehen konnte, was er nicht
sehen konnte?
II. Adorno und
die Reaktion
Adorno, der sich, wie er betonte, auch in Amerika „vom
ersten bis zum letzten Tag als Europäer“ empfunden hatte[18],
war zu einer Zeit musikalisch sozialisiert worden, in der die Musik und im
allgemeinen die Kunst - und zwar diejenige Kunst, die er mit seinem
emphatischen Kunstbegriff einzig als Kunst anzuerkennen bereit war - ihre
Erscheinungsform noch weitgehend ausschließlich am europäischen
Kunstverständnis orientiert hatte, und zwar an einem Kunstverständnis, das das
einer relativ elitären Teilgesellschaft an einigen wenigen Kulturschauplätzen
in Europa gewesen ist, die wie etwa Wien oder Paris relativ unbestritten die
Reputation teilten, gewissermaßen das „Neueste“ in der Kunst zu verwalten.
Adornos Entschluß, in Wien zu studieren, mag selbst ein bezeichnender Hinweis
dafür sein, wo er das musikalische Zentrum seiner Zeit vermutete. In Adornos
ästhetischer Welt stand die Wiege der Kultur noch unumstritten in Europa. Seine
Emigration nach Amerika war aus diesem Grund für ihn nicht nur zum Verlust seiner
Heimat, sondern auch zum Verlust seiner Kultur geworden.[19]
Unter diesem von Europa bestimmten Blickwinkel, den Adorno
natürlich mit den Konzertveranstaltern, den Programmgestaltern, den Verlegern,
den Kunstkritikern und vor allem mit dem Publikum, also mit der
Kulturgesellschaft seiner Zeit im wesentlichen teilte, konnte Adornos Konzept
der künstlerischen Entwicklung weitgehend schlüssig erscheinen, weil sich die
jeweilige Avantgarde dieser Entwicklung selbst auf einige wenige überschaubare
Zentren Europas beschränkte. In der anerkannten künstlerischen Hegemonie dieser
Zentren blieb der restlichen Kunstwelt keine andere Wahl, als sich, um selbst
als Kunst anerkannt zu werden, ebenfalls an diesen Zentren, das heißt am
Entwicklungsstand, den das künstlerische Material in diesen Zentren erreicht
hatte, zu orientieren. Damit war das Material, das nach Adornos Theorie den
jeweiligen Zwang zu seiner künstlerischen Überwindung und damit zur Schaffung
neuer Stile in sich trug, durch den künstlerisch avanciertesten Ort, an dem es
auftrat, also etwa Wien oder Paris zu Beginn des Jahrhunderts, mindestens aber
West- oder Mitteleuropa, hinreichend klar determiniert. Überspitzt formuliert,
könnte man sagen, daß Kunst, die sich nach Adorno nur als solche bezeichnen
durfte, wenn sie „fortgeschrittenste“ Kunst war, genau dann diesen Kriterien
entsprach, wenn sie „fortgeschrittener“ war, als die Kunst, die am jeweiligen
künstlerisch avanciertesten Ort gerade als Kunst anerkannt war. Abermals
überspitzt formuliert läßt sich sagen, daß Adorno etwa Tschaikowsky also
deshalb nicht besonders geschätzt hat, weil dieser zu einer Zeit „harmonisch“
komponierte, als am künstlerisch avanciertesten Ort, in diesem Fall in
Deutschland, bereits der Tristan-Akkord fällig geworden war. Mussorgskis Musik
hatte hingegen - teilweise vielleicht tatsächlich aufgrund einer gewissen
„Ungefestigtheit“ der Persönlichkeit des Komponisten, teilweise aber vielleicht
auch aus einem ganz anderen Grund - den Entwicklungsstand der europäischen
Musik annähernd getroffen, und wurde so für die Adornosche Ästhetik zur Kunst.
Indem die jeweils „fortgeschrittenste“ Kunst, also
diejenige, die jeweils gesellschaftlich gerade als Avantgarde anerkannt ist, in
eine solche eineindeutige Beziehung zum Ort ihres Geschehens gesetzt wird, -
was übrigens hier nur zur Verdeutlichung des Gedankengangs geschieht und
jedenfalls in dieser plakativen Art bei Adorno nirgends der Fall ist - wird
deutlich, daß das Recht zur Beurteilung vom Fortschrittsniveau eines Kunstwerks
mit dem Standpunkt, den der Ort seines Entstehens bereitstellt, zusammenhängt.
Solange Europa sich selbst und solange der Rest der Welt Europa als primären
Schauplatz der Kunstentwicklung anerkannt hatte, solange ließ sich legitim vom
„mehr oder weniger Fortgeschrittensein“ eines Werkes sprechen, weil mit dem
alleinigen Bezugspunkt Europa ein Standpunkt mit privilegiertem Problemzugang
und damit klaren Kriterien zur Beurteilung von Kunstwerken requiriert werden
konnte.
Die Kunst hat die Dialektik eines solchen Fortschrittskonzeptes
als selbstzerstörerischen Abstraktionszwang, wie oben beschrieben, erst zu
einer Zeit wirklich deutlich werden lassen, als das Konzept selbst bereits von
einer anderen Ordnung der Welt überholt worden war, nämlich erst in den
Sechziger und beginnenden Siebziger Jahren dieses Jahrhunderts. Die europäische
Gesellschaft hingegen, die sich unter anderem als deutsche selbst bis zum
Herrenmenschenwahn für die fortgeschrittenste ihrer Art gehalten hatte, mußte
sich der unhaltbaren Eindimensionalität eines solchen Konzeptes schon früher
und sehr schmerzlich bewußt werden. Und bezeichnenderweise waren es die Folgen
dieses „Bewußtwerdungsprozesses“, die Bedingungen schufen, unter denen neue
ästhetische Konzeptionen notwendig wurden. Denn wenn Revolution im Gegensatz zu
Evolution als Diskontinuität verstanden werden kann, dann waren es die vom
Nationalsozialismus und in einer etwas anderen Form vom Sowjetkommunismus
initiierten gesellschaftlichen Umbrüche, die die eigentliche Revolution, weg
von einem bloß eindimensionalen europazentrierten Kunstentwicklungsprozeß zu
einer dezentrierten polykontexturalen Ästhetik vorbereitet hatten. In einer
Welt, die zunächst durch die Emigration großer Teile ihrer Kulturschaffenden
und später durch den Ausbau von Kommunikations- und Transport-, aber auch von
Archivierungstechnologien zunehmends dezentralisiert und globalisiert wurde,
rückten notwendig nicht nur die neuen Aufenthaltsorte der ehemalig europäischen
Kulturschaffenden ins Blickfeld, sondern auch die Kultur dieser Orte und ihr
Recht auf eigene Kriterien zur Beurteilung dieser Kultur.
Adorno, der in Amerika im Gram über den vermeintlichen
Verlust seiner Kunst diese Folgen des Untergangs der Kulturhegemonie des
Abendlandes natürlich noch nicht sehen konnte, hat auch nach seiner Rückkehr
nach Europa an seinen impliziten und wohl unbewußten europazentrierten
Kriterien zur Beurteilung von Kunst festgehalten. Und offensichtlich war es
zumindest eine zeitlang auch für die Rezipienten seiner Schriften noch zu früh
gewesen, um die gesamte Tragweite einer Weltordnung zu erfassen, die mit
Rußland und Amerika zunächst mindestens zwei, tendenziell aber eine Vielzahl
neuer kultureller Zentren erhalten hatte.
Kulturchauvinismus wäre allerdings in Bezug auf Adorno ein
zu hartes Wort. Wohl kein anderer vermochte so sensibel und tiefgründig noch in
den Werken, die nach seiner Ästhetik nicht zu den ersten gehörten, die
gegenläufigen Feinheiten und Brüche zu orten, die auch diesen Gebilden Qualität
zukommen ließen. Noch wenn Adorno über die Demagogie Strawinskys polemisierte[20],
oder den sowjetischen Komponisten der Sechziger Jahre vorwarf, wie ein
verschandelter Mahler zu klingen[21],
hatte er nicht die Ausgrenzung „fremdkultureller“ Musik, sondern einzig die
Anliegen seines emphatischen Kunstbegriffs im Sinn. Und gerade in Verteidigung
dieses Kunstbegriffs geriet Adorno, freilich ohne dies selbst entsprechend zu
reflektieren, mitunter sehr nahe an Standpunkte, die von einer multikulturellen
Kunstwelt gefordert gewesen wären, die dabei aber das Entwicklungskonzept von
Kunst, in der Schwierigkeit im postmodernen Vielerlei noch eine Richtung
auszumachen, nicht einfach über Bord geworfen hätten, sondern gewillt gewesen
wären, die Vielfalt unter dem Aspekt einer Durchmischung unterschiedlicher und verschieden
weit avancierter Entwicklungsniveaus zu betrachten.
Ansätze dazu finden sich etwa an Stellen, wo Adorno über die
„exterritoriale“ Musikentwicklung „am Rande“ Europas spricht, „wo die
Entwicklungstendenz der okzidentalen Musik nicht rein sich durchgesetzt hat,
wie in manchen agrarischen Gebieten Südosteuropas„. Hier, so meinte er, „ließ
bis in die jüngste Vergangenheit tonales Material ohne Schande noch sich
verwenden“. Es sei, so Adorno weiter, “an die exterritoriale, aber in ihrer
Konsequenz großartige Kunst Janáčeks zu denken und auch an vieles von
Bartok, der freilich bei aller folkloristischen Neigung zugleich zur
fortgeschrittensten europäischen Kunstmusik zählte. Die Legitimation solcher
Musik am Rande liegt“, so noch immer Adorno, „allemal darin, daß sie einen in
sich stimmigen und selektiven technischen Kanon ausbildet. Im Gegensatz zu den
Manifestationen der Blut- und Bodenideologie hat die wahrhaft exterritoriale
Musik, deren Material, selbst als an sich geläufiges, ganz anders organisiert
ist als das okzidentale, eine Kraft der Verfremdung, die sie der Avantgarde
gesellt und nicht der nationalistischen Reaktion. Sie kommt von außen gleichsam
der innermusikalischen Kulturkritik zu Hilfe, wie sie in der radikalen modernen
Musik selber sich ausspricht.“[22]
Adorno konstatiert damit also einer Musik, die nicht im Zentrum der
Kunstentwicklung, sondern von seiner Perspektive aus an dessen Peripherie
stattfindet, die Möglichkeit, sich an mehr als nur einem künstlerischen
Entwicklungsstrang zu orientieren und so Konstellationen zu finden, die, obwohl
sie nicht dem „Zwang des fortgeschrittensten Materials“ entstammen, doch einen,
wie er sagt, „stimmigen und selektiven Kanon“ ausbilden.
Zieht man nun die oben angesprochene Dezentralisierung der
Welt, das heißt also, die Emanzipation von der europäischen Kulturhegemonie,
die seit dem Zweiten Weltkrieg auch allgemeingesellschaftlich mehr und mehr zur
Kenntnis genommen wird, in Betracht, so wird deutlich, daß eine dezentrierte
Weltordnung die Orientierung an mehr als nur einem kulturellen
Enwicklungsstrang nicht nur ermöglicht, sondern auch nachhaltig nahelegt. Nimmt
man darüberhinaus auch die Möglichkeit ins Kalkül, daß die bisher und eben auch
von Adorno noch als vorrangig betrachtete Entwicklung der europäischen Kunst
durch ihren immanenten Abstraktionszwang tatsächlich an einen Punkt angelangt
war, von dem aus der nächste Entwicklungsschritt ins Nichts geführt hätte, so
erscheint die multikulturelle Stilvielfalt der Postmoderne als logischer
Schritt der kulturellen Entwicklung und keineswegs, wie mancherorts
proklamiert, als geschichtsloses eklektizistisches „anything goes“ einer sich
nicht mehr entwickelnden „Posthistoire“.[23]
Es scheint in eigenartiger Weise bezeichnend für diesen
Umstand, daß er an Phänomenen in der kulturellen Entwicklung der Peripherie der
Mainstream-Kultur, also am Rand Europas früher deutlich geworden ist, als an
der Entwicklung im Zentrum. Ohne sich auf Diskussionen darüber einlassen zu
wollen, wie europäisch die russische Musik der Jahrhundertwende gewesen ist,
darf angenommen werden, daß ein Autor, der über ein so ausgeprägtes
musikalisches Sensorium verfügte wie Adorno, wohl nicht nur zufällig gerade die
Polarisation Schönberg - Strawinsky wählte, um sein ästhetisches Konzept darzulegen.
Seinen Begriff von Reaktion hätte Adorno wohl auch etwa an der Musik Richard
Strauss’ oder gar an der des Wieners Erich Wolfgang Korngold exemplifizieren
können. Über die Parallele der augenfälligen Skandalträchtigkeit von Schönbergs
und Strawinskys Musik hinaus, dürfte aber von den Strawinskyschen Werken eine
zusätzliche Irritation für das Adornosche Entwicklungskonzept ausgegangen sein,
die ihn herausgefordert hatte, gerade an diesen Werken der Dialektik von
Regression und Fortschritt zu folgen. Wirklich überzeugend konnte er
Strawinskys Musik allerdings nie in seinem europazentrierten
Entwicklungskonzept unterbringen, und es spricht für sich, daß gerade die
Schizophrenie, also die Geisteskrankheit, die, so Adorno, Strawinskys Musik
konstruiert[24],
um „die gegenwärtige Vorwelt“, sprich, das Archaische manifest zu machen, von
Thomas Mann im „Doktor Faustus“ der Figur Adrian Leverkühns zugedichtet worden
war, die sonst wohl eher in Schönberg ihr Vorbild gefunden hat.
Tatsächlich thematisiert, reflektiert und benannt wurde die
Dezentralisierung der Kunstentwicklung paradigmatisch aber erst in einem
kulturellen Umfeld, dessen Kunst Adorno, wohl auch in Ermangelung
differenzierterer Informationen, niemals als Kunst anerkannt hätte, nämlich in
der Sowjetunion. Die Vorgaben des Sozialistischen Realismus sowie der
systembedingten weitgehenden Isolation der sowjetischen Kultur hatten hier der
Musik eine Situation geschaffen, die sie zu einem Zeitpunkt, als die
europäische Kunst den drohenden Nihilismus zumindest vereinzelt bereits zu
spüren begonnen hatte, auf die Befruchtung durch Elemente eben dieser Kunst
angewiesen gemacht hatte. Auch die proletarische Kunst hatte sich - aufgrund
der starren Doktrin der Widerspiegelungslehre natürlich entsprechend schneller als
die europäische - totgelaufen und erging sich in langweiligen und
unbefriedigenden Wiederholungen der immergleichen Verherrlichungspropaganda.
Aufgrund des fortschreitenden Ausbaus von Kommunikationstechnologien und
natürlich der prinzipiellen Schwierigkeit, Gesellschaften zu isolieren, waren
aber die Kommunikationswege, sowohl in den „Westen“, als auch zum Teil in die
eigene Vergangenheit, zunehmends durchlässiger geworden und der damit
ermöglichte Informationsfluß aus anderen Kulturen erlaubte es den sowjetischen
Künstlern zunehmends sich an unterschiedlichen Entwicklungsniveaus ihrer und
fremder Kunst gleichzeitig zu orientieren und diese multikulturelle
Orientierung zum expliziten Stilmerkmal „polystilistischer“ Musik zu erklären.[25]
Der Begriff Alfred Schnittkes und seine Musik trafen offensichtlich den
Zeitgeist einer zunehmends sich dezentralisierenden Welt, deren Kunst mit
Adornos eindimensionaler Entwicklungs-Ästhetik zu dieser Zeit schon nicht mehr
zufriedenstellend besprochen werden konnte. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und
dem Bonus, den die zuvor inoffizielle sowjetische Kunst für einige Zeit damit
erhielt, wurde die „Polystilistik“ zu einem weltweit anerkannten ästhetischen
Konzept, in dieser Anerkennung aber, und damit entsprach sie dann doch wieder
der Adornoschen Theorie, zu einem Kunststil, der von nachfolgenden
Künstlergenerationen überwunden werden mußte.
Es ist wahrscheinlich noch zu früh, um Prognosen über die
Erscheinungsformen dieser Überwindungsversuche abzugeben. Ich möchte aber doch
abschließend noch kurz auf einen Aspekt hinweisen, der mir in Bezug auf das
Gesagte an der Situation der Kunst in der Gegenwart beachtenswert erscheint und
dessen Erwähnung sicherlich auch im Interesse Adornos enger Verbindung von
ästhetischen und sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten liegt.
Ein Punkt, an dem zuletzt die Kritik an der multikulturellen
Stilvielfalt der Postmoderne immer wieder angesetzt hat, ist die Problematik,
im bunten Vielerlei der Stile Überblick zu bewahren und Kriterien zu finden
anhand derer Orientierung möglich bleibt. System-, beziehungsweise
evolutionstheoretisch könnte man sagen, daß die Variationen des „genetischen
Pools“ in der postmodernen Pluralität sowohl künstlerisch als auch
gesellschaftlich ein Ausmaß erreicht haben, das in Form von steigender
Orientierungslosigkeit der „Arterhaltung“ wieder kontraproduktiv zu sein droht.
Auf unintegrierbar werdende Streuung des genetischen Materials durch Variation
folgt in der Evolution gewöhnlich Selektion. Selektion heißt in diesem Fall
aber nichts anderes als das Ausblenden von augenblicklich weniger relevanten
Gesichtspunkten zugunsten unmittelbar näherliegender. In der Musik, oder
allgemein in der Kunst scheint die Rückwendung auf einzelne künstlerische
Entwicklungsstränge, auf Stileinheit, auf Klarheit der Konzepte oder auf wie
auch immer geartete strengere Formen eine legitime Strategie darzustellen, um
zu schlüssigen neuen Formen zu finden. In gesellschaftlichem Zusammenhang
stellt sich jedoch die Frage, ob das Ausblenden von globalen Zusammenhängen und
die Rückwendung auf nur mehr regional gültige, sprich, auf nationalistische
Konzepte letztendlich nicht erneut die Kosten des gesellschaftlichen Miteinanders
erhöhen wird.
[1]
Theodor W. Adorno: Philosophie der
neuen Musik, Frankfurt/M. 1978. Inhaltsverzeichnis. Im Text wählte Adorno dann
in dieser Ausgabe den schwächeren Titel „Strawinsky und die Restauration“.
[2]
Theodor W. Adorno: Negative
Dialektik. Frankfurt/M. 1966. S. 44.
[3],
Theodor W. Adorno: „Wien“. In: ders.:
Musikalische Schriften I-III, Frankfurt/M 1976. S. 434.
[4] Vgl.
dazu: Heinz Steinert: Adorno in Wien.
Über die (Un)Möglichkeit von Kunst, Kultur und Befreiung. Wien 1989.
[5] „Das
Zahlenspiel der Zwölftontechnik und der Zwang, den es ausübt, mahnt an die
Astrologie, und es ist keine bloße Schrulle, daß viele ihrer Adepten dieser
verfielen.“ Th. W. Adorno: a.a.O.
(Anm. 1). S. 67.
[6],
Theodor W. Adorno: Ästhetische
Theorie. Frankfurt/Main 1973. S. 273.
[7]
Theodor W. Adorno: Kritik des
Musikanten, In: ders.: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. Göttingen
1982. S. 93.
[8] Th.
W. Adorno: a.a.O. (Anm. 1).
S. 156.
[9] Vgl.: Th. W. Adorno: a.a.O.
(Anm. 1). S. 164, Fn. 24.
[10] Vgl.: Th. W. Adorno: a.a.O.
(Anm. 1). S. 182f.
[11]
Theodor W. Adorno: Über den
Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: ders.:
Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. Göttingen 1982. S. 9-45.
[12] Th. W. Adorno: a.a.O. (Anm.
11). S. 25.
[13] Th. W. Adorno: a.a.O. (Anm.
11). S.
34.
[14] Vgl.
dazu ausführlicher: Manfred Füllsack:
Politische Kunst. Adorno im postsowjetischen Kontext. Wien 1995.
[15] Vgl.:
Theodor W. Adorno: Einleitung in die
Musiksoziologie. Frankfurt/M. 1975. S. 57: „In einer virtuell
durchfunktionalisierten, vom Tauschprinzip total durchherrschten Gesellschaft
wird das Funktionslose zur Funktion zweiten Grades.“
[16] Unter
anderem zusammen mit seinem Freund Max Horkheimer in einem seiner wohl
bekanntesten Bücher: Max Horkheimer /
Th. W. Adorno: Die Dialektik der
Aufklärung. Frankfurt/M. 1969.
[17] Vgl.:
Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.
1973. S. 386f.
[18]
Theodor W. Adorno: Wissenschaftliche
Erfahrungen in Amerika. In: ders.: Stichworte. Kritische Modelle. Frankfurt/M.
1969. S. 113.
[19] In
zahlreichen Analysen dessen, was er für die „Unkultur“ seiner Zeit hielt, etwa
des Schlagers oder des Jazz, finden sich Hinweise für Adornos Neigung, mit
diesen Erscheinungen Amerika zu assoziieren. Siehe etwa das
Kulturindustriekapitel der „Dialektik der Aufklärung“ oder den Aufsatz „Über
den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens“.
[20] Th.W. Adorno: a.a.O. (Anm.
1). S.
183.
[21]
Theodor W. Adorno: Mahler. Eine
musikalische Physiognomik. In: ders.: Die musikalischen Monographien.
Frankfurt/M. 1986. S. 195.
[22] Th. W. Adorno: a.a.O.
(Anm.1). S. 41f, Fn. 3.
[23] Vgl.
hierzu etwa die Diskussionen um Francis Fukuyamas Buch „Ende der Geschichte“
(München 1992) Vgl. auch die in Rußland zu diesem Thema geführte Diskussion
beginnend mit: Juri A. Zamoškin:
"Konec istorii" ideologizm i realizm.
In:
Voprosy filisofii 3/1990. S. 148-155.
[24] Th. W. Adorno: a.a.O. (Anm.
1). S.
155.
[25]
Alfred Schnittke erläuterte in einem zumindest im deutschen Sprachraum
mittlerweile vielzitierten Brief den Begriff der „Polystilistik“ anhand seiner
Erinnerungen an Warschau, "wo man ohne Rücksicht auf Stileinheit in einer
nach dem Krieg rekonstruierten Kirche erhaltengebliebene alte Stücke in neue
Wände einbaute, so daß es eine gleichzeitig alte und neue Kirche wurde."
Alfred Schnittke: Brief vom 26.
September 1972. abgedruckt in: Hannelore Gerlach:
Fünfzig sowjetische Komponisten. Leipzig 1984. S. 364f.