Gedanken über Europa
von
Gerhard Gelbmann
Sich als Intellektueller Gedanken zu machen und diese öffentlich zu
äußern, gehört zu den Freiheiten und Rechten, die gerade das Europa, das sich
als Europäische Union (EU) entwickelt, in vollem Bewußtsein adoptiert hat
und verteidigt. In Ausübung dieses Rechtes seien im folgenden einige Gedanken
über einen anwendungsorientierten, mit politischem Gehalt versehenen, an der
jüngeren Geschichte gemessenen Begriff "Europa" vorgebracht, die vielleicht aus
aktuellem Anlaß und neu erwachtem politischen Interesse angeregt wurden, denen
aber durchaus lange Befassung mit bestimmten Aspekten des Themas und vieles an
vorausgehenden Überlegungen zugrunde liegt.
Es sei nicht verhehlt, daß
diese Zeilen von jemandem geschrieben werden, der sich selbst sowohl als
Europäer als auch als Demokrat sieht, der durch das Glück der Geburt
Österreicher und damit Bürger eines Landes mit sozialer Wohlfahrt, mit
Wohlstand, Bildungsangebot, funktionierender Verwaltung und sich immer wieder
aufrichtender Rechtsstaatlichkeit ist, worunter er keineswegs bloß die
Staatsbürgerschaft oder einen zweifelhaften Begriff der Heimat meint, und der
sowohl im Ausland innerhalb als auch außerhalb der EU gelebt und gearbeitet hat,
der Europa sowohl von einigen Punkten in Europa als auch von einigen Punkten auf
anderen Kontinenten aus zu betrachten und bisweilen die Ansichten von
Nicht-Europäern über Europa kennenzulernen die Gelegenheit hatte. Der Verfasser
bekennt sich dezidiert zu Europa in seiner jüngeren Entwicklung, die
insbesondere positiv seit dem Ende des Kalten Krieges und der Aufhebung des
Eisernen Vorhanges zu sehen ist, und er neigt dazu, sich zusehends zuerst als
Europäer, dann als Österreicher zu sehen, ohne damit etwas wie Exklusivität zu
beanspruchen.
I. GEOGRAPHISCHES, POLITISCHES UND
STRATEGISCHES
Das heutige Europa kann als Kontinent von vorerst mal rein geographischer
Umgrenzung -- die im Westen bekanntlich durch den Antlantik, im Norden durch das
Eismeer bzw. die arktische Region, im Osten vom Ural-Gebirge und Ural-Fluß, das
Kaspische Meer, den Kaukasus bis hin zum Schwarzen Meer, im Süden durch
Bosporus, Marmara-Meer und die Dardanellen, das Mittelmeer südlich von Zypern,
Malta, ferner Italien sowie die Straße von Gibraltar verläuft -- nicht ohne die
Europäische Union, wie sie sich v.a. in den letzten dreißig Jahren entwickelt
hat, politisch, wirtschaftlich, strategisch begriffen werden. Es ist darüber
hinaus nicht nur geographischer Kontinent, Erdteil und Landmasse, sondern eine
Ansammlung von Staaten und Gesellschaften mit komplizierten Verflechtungen
jeeigener Geschichte, Sprache, Kultur, es ist keine Einheit, doch ist die
Heterogenität nicht jene eines strukturlosen Konglomerats, vielmehr gab und gibt
es Kristallisationspunkte der Entwicklung, Zentren, wo Differenzen aufeinander
treffen und zu einer Vielfalt versammeln, aus der Neues entsteht, gleichsam aus
einem Umschlag der Quantität der Differenzen in die Qualität einer
Struktur.
Die EU macht einen Kernteil Europas aus, umfaßt große
Nationen wie Spanien, Frankreich, das Vereinigte Königreich der britischen
Inseln, Polen, Deutschland, reiche kleine Nationen wie Luxemburg, alte Nationen
wie Italien, ehemals kommunistische Länder wie Ungarn oder die Slowakei, ferner
mit dem Fall des Sowjetimperiums wieder selbständig gewordene junge
Baltenstaaten, ist zudem von einem Rand assoziierter Staaten umgeben, die mit
der EU einen gemeinsamen Wirtschaftsraum teilen oder sich politisch der EU
annähern, worunter reiche und westlich orientierte Nicht-EU-Staaten wie Norwegen
oder die Schweiz fallen, aber auch seit jüngerer Zeit die Türkei oder die
Ukraine als Staaten mit beachtlicher Größer zu finden sind. Die EU reicht von
einem kalten Land der nordischen Union wie Finnland zum iberischen Staat
Portugal oder der Insel Malta, und von einer alten Kolonialnation wie den
Niederlanden zu einer der kulturellen Wiegen Europas, nämlich Griechenland. Sie
überspannt dabei die Pyrenäen, die Alpen, den Apennin, die Gebirge der
Adriaküste des Balkans und demnächst wohl auch die Karparten. Sie grenzt an die
Ost- und Nordsee, ans nördliche Eismeer, an den Atlantik, ans
Mittelmeer.
Die EU ist, was die Ballung von Machtmitteln, Bevölkerung,
Industrien, Finanzkraft, aber auch Demokratiebewußtsein, Standards des Rechts
und den Großteil der historischen Zentren anbelangt, in der Tat
Kerneuropa. Ohne die EU wäre Europa nichts anderes als ein bloßer
Kontinent, ein rein geographisches Gebilde, innerhalb dessen Grenzen
unterschiedlichste staatliche Formen zu finden wären, die einander teilweise in
Nachbarschaft und meist aus historischem Zufall und in historischen
Verstrickungen verbunden sind. Ohne die EU wäre an Europa nichts spezifisch
Anderes als etwa am Kontinent Asien oder Afrika, wenn man von ethnischen,
sozialen und historischen Besonderheiten absieht; Europa kann schon länger nicht
mehr ohne die EU vorgestellt werden.
Die EU ist in der Tat vielfach zu
einem Identifikator mit dem Begriff Europa geworden. Wer von Europa spricht,
meint oft die EU. Das ist aber ungenau gesprochen, und wenn man es wirklich so
meint, dann ist es falsch. Europa ist nicht die EU, die EU ist nicht
Europa. Dies verstanden zu haben, heißt, einen Begriff von Europa zu haben,
der zukunftsträchtig ist. Wer diesen Unterschied nicht begriffen hat, der läuft
Gefahr, außerhalb der EU vielfach und oft in Europa oder anderswo überhaupt so
verstanden zu werden, als wolle er aus der EU ein Instrument machen, Europa zu
unterjochen. Allerdings ist die EU eine conditio sine qua non für ein
politisches Europa geworden, das mehr sein will als nur ein geographischer
Kontinent.
Daß Europa nicht die EU und die EU nicht Europa ist, ist eine
Einsicht, die auch vor diverser Polemik und Vereinnahmung schützt. Denn ein Land
wie etwa Rumänien als nicht-europäisch zu titulieren, ist sträflich und
polemisch, wiewohl es zulässig ist, gegen einen EU-Beitritt Rumäniens zu sein
(was ihn allerdings, rein realpolitisch geurteilt, kaum verhindern wird).
Zugleich eröffnet die Einsicht in den Unterschied zwischen den Begriffen
"Europa" und "EU" neue Möglichkeiten, auf die später zurückzukommen ist. Es ist
eine Einsicht, die in einer wichtigen Tradition steht; denn die
Gründungsgeschichte der EU setzt diese Einsicht voraus. Ob die EU sich so
weiterentwickelt, daß in der Tat einmal dieses Kerneuropa sich mehr oder weniger
auf ganz Europa ausgedehnt hat, damit in der Tat eine Vereinheitlichung Europas
beschritten ist, ist eine Spekulation und soll einem nicht den Begriffsgebrauch
diktieren. Wenn auch die EU Kerneuropa darstellt und sich seit den Verträgen von
Maastricht und der letzten großen Erweiterungswelle als solches auch in der
Wahrnehmung der anderen Nationen und Staaten etabliert hat, so soll nicht
vergessen werden, daß rein politisch, strategisch, wirtschaftlich und historisch
noch eine Reihe anderer Faktoren in Europa eine wichtige Rolle spielen, welche
die EU nicht ignorieren oder völlig kontrollieren kann, ohne daß dies bisher zu
großen Konfrontationen geführt hätte:
Das wichtigste staatliche Gebilde
Europas außerhalb der EU ist die Russische Föderation. Die Größe dieses
Gebildes überragt rein von der Fläche her bei weitem alles, was die EU
diesbezüglich zu bieten hat und auch sonst jeden anderen Staat der Erde,
verdankt sich aber gleichzeitig großteils dem Umstand, daß Rußland nach wie vor
der einzige wirklich bikontinentale Staat ist, den es auf unserem Planeten gibt
(die Türkei oder Panama, eventuell Arabien, sind das nur sehr bedingt). Rußland
ist nicht ganz europäisch, wenngleich ein Kernteil Rußlands westlich des Urals
liegt und kulturell und historisch gewiß nicht asiatisch ist. Große Gebiete der
Russischen Föderation sind jedoch eindeutig asiatisch, und das betrifft
keineswegs nur den Fernen Osten oder Siberien. Die Weite Rußlands ist gänzlich
uneuropäisch.
Dennoch, Rußland ist ein Teil Europas, war es schon
immer. Es ist keineswegs eine rein geographische Angelegenheit -- so wie etwa
irgendeine Ziegeninsel, um die Spanien mit Marokko gestritten hat, zu Europa
gehört. Es ist auch keine (rein) territoriale Angelegenheit, denn die russische
Geschichte ist von Peter dem Großen und Katharina über Kutusow, Stalin bis hin
zu Gorbatschow oder Putin tief mit Europas Geschichte verwoben. Sowohl Kultur
als auch Politik in Rußland haben sich oftmals europäisch orientiert, sahen in
Europa wichtige Teile russischer Interessen. Die Phase der Sowjetunion ist aus
der Ideologie eines Marx und Lenins entsprungen, die beide durch und durch
europäisch geprägt waren, ja sogar lange außerhalb Rußlands im heutigen
Kerneuropa lebten. Als Dschingis-Khans Horden diese Gebiete bis weit hinein in
zentrale Teile Europas beherrschten, waren diese Gebiete mehr asiatisch denn
russisch; doch ab dem Augenblick, ab dem sie unter russischem Einfluß gerieten,
sind sie als europäisch anzusprechen. Würde man Rußland nicht zum Begriff
Europas zählen, so müßte man sich Asien ohne Japan oder die USA ohne Oregon
denken. Europa ist keine solche Absurdität, und der Begriff, den man sich von
Europa gerade unter aktuellen Umständen machen sollte, muß der Realität
angemessen sein. Rußland ist eine europäische Realität, weil es zu Europa
gehört; gleichzeitig gehört es zu den Realitäten dieses Rußlands, daß es nicht
zur EU gehört und kaum jemals gehören wird.
Rußland gehört mehr zu Europa
als die Türkei, denn das alte Byzanz und heutige Istanbul ist zwar altes Europa
wie sonst kaum eine Region, von Rom abgesehen, aber der Großteil der heutigen
Türkei ist eindeutig Vorderer Orient bzw. Naher Osten und damit asiatisch. Auch
wenn die Westküste der Türkei, das sogenannte Kleinasien, hellenisch
kolonialisiert war, ist die heutige Türkei darum weder griechisch noch
europäisch, da aus dem osmanischen Reich hervorgegangen, das wiederum den
Persern nachfolgte -- beides vorderasiatische Kulturen, die nicht europäisch
sind, wenngleich indoeuropäisch geprägt. Auch das hellenistische Reich Alexander
der Großen war in diesem Sinne bikontinental wie das russische Zarenreich --
allerdings war das Reich der Makedonier von geringer Dauer, zerfiel in
Diadochenreiche, von denen die Sowjetunion weniger und stabilere abgeschieden
hat. Die britischen Kolonien in Afrika haben auch europäischen Einfluß auf einen
anderen Kontinent gebracht, ähnlich wie der Hellenismus Europa erstmals nach
Asien brachte, darum aber nicht diese Kulturen europäisierte. Im Gegenteil, kaum
war die Kolonialzeit ausgestanden, wandte sich die Entwicklung dieser Länder
afrikanischen bzw. asiatischen Themen und afrikanischen bzw. asiatischen
Kulturentwicklungen zu.
In Rußland ist das insofern anders, als das
slawische und Großslawische Element immer im Kontakt mit Europa stand, sich
immer zu den großen europäischen Höfen und Machtzentren zählte, mit europäischer
Politik, mit europäischen Nationen, mit europäischem Fortschritt verbunden war
und blieb. Das slawische Element ist ebenso europäisch wie das germanische oder
nordische, das iberische oder romanische; Rußland hat immer wieder die
Führungsmacht in der slawischen Welt beansprucht, ähnlich hat ja Deutschland
immer wieder die erste Stellung unter den deutschsprachigen Ländern
innegehabt.
Daß dennoch brisant diskutiert wird, ob die Türkei zur EU
gehören solle, ist eine andere Frage; es ist in erster Linie keine Frage nach
Europa, sondern eine nach der Politik und Entwicklung der EU. Rußland ist
aus strategischen Gründen dagegen, und manch europäische Staat ist diesbezüglich
skeptisch; doch ehe das vorgeschlagen war, war schon von einem Beitritt Rußlands
zur EU die Rede (so etwa von Seiten des italienischen Premiers Berlusconi), das
sollte man nicht vergessen. Gerade weil die EU diese Diskussion über die Türkei
führt, ist die EU von Europa zu unterscheiden. Für einen EU-Beitritt eines
Landes wie die Türkei spricht vieles, doch vieles auch dagegen. Der Vertrag, der
die Europäische Union begründete, legt fest, daß jeder europäische Staat
beantragen kann, Mitglied der EU zu werden (Art. 49 EUV), wie etwa bei
Kroatien, Rumänien, Bulgarien eindeutig gegeben. Sollte also die Türkei als
nicht-europäisch qualifiziert werden, wäre diesbezüglich der EUV zu ändern oder
von allen diesbezüglichen Beitrittsdebatten abzusehen. Übrigens war der
Beitrittswunsch der Türkei und der Vorschlag einiger, ihm nachzukommen,
keineswegs der erste Fall eines nicht-europäischen Staates, über dessen
EU-Beitritt spekuliert wurde. Israel war da schon vorher in der Diskussion,
allerdings offenbar schneller vom Tapet; doch auch bei Israel könnte man Gründe
finden, es zu Europa zu zählen, wenngleich gewiß nicht
geographische.
Neben Rußland gibt es noch weitere Faktoren, die Europa
wesentlich in seinem heutigen Begriff mitprägen, dennoch aber nicht gänzlich zum
heutigen Europa-Begriff zu zählen sind und schon gar nicht zum Kerneuropa einer
EU oder dem Machtbereich der EU zählen. Da ist einmal die andere, vielleicht
einzige Supermacht zu nennen, die USA, oft auch Amerika genannt, als
stünden die Vereinigten Staaten von Amerika für den ganzen Kontinent. In den
Staaten spricht man ja, wenn man sich kontinental beziehen will, von den
Americas. So versucht man in Amerika ein vergleichbares semantisches
Problem zu lösen, daß die Wahrnehmung eines Staates als für einen ganzen
Kontinent stehend auslöst.
Die USA sind nicht nur eine große Macht,
wirtschaftlich eindeutig die größte Staatsmacht und die wirtschaftlich
wichtigste Ballungsregion der Erde, die USA sind auch zunehmend zu einem der
bedeutendsten wirtschaftlichen Konkurrenten der EU geworden. Historisch
gesehen haben sich die USA unter dem Einfluß wichtiger europäischer Nationen zu
dem entwickelt, was sie heute sind. Politisch haben Großbritannien und
Frankreich an der Wiege gestanden, die eine Zeitlang heiß umkämpft war; als die
USA um ihre Unabhängigkeit kämpften, war das auch eine Auseinandersetzung
innerhalb Europas. Verfassung und Demokratie, Verwaltung und Gerichtswesen der
USA verdanken sich v.a. diesen beiden europäischen Mächten. Doch die Bevölkerung
selbst setzt sich bekanntermaßen in hohem Maße und zu einem mittlerweile
abnehmenden Anteil aus europäischen Einwanderern zusammen, sodaß der Deutsche,
Schottische, Italienische, Polnische, Skandinavische Einfluß in den USA bis
heute zu spüren ist. Politisch hat das allerdings heute kaum mehr Gewicht. Es
hatte bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg eine Verbundenheit der USA mit Europa
bewirkt, die vielen heutigen EU Staaten das Schicksal Osteuropas ersparte.
Die Freiheit Westeuropas war einer der wichtigsten Faktoren, die es im Kalten
Krieg für die USA und für viele Europäer zu verteidigen galt.
Man
soll sich aber nicht irren -- die europäische Verbundenheit ist in den USA im
Abnehmen begriffen. Am ehesten gelten noch die Bande nach Großbritannien als im
Wachsen begriffen, doch sind das eher Verbindungen innerhalb der anglophonen
Welt, die sich nicht zwangsläufig als europäische gerieren, was aber nicht
heißen soll, daß die britischen Inseln nicht essentieller Teil Europas und der
EU wären. Der Amerikaner versteht sich heute nicht als jemand, der von Europäern
abstammt, egal welcher Hautfarbe, und auf Europa blickt der
Durchschnittsamerikaner oft eher herablassend. Ein eigenes Nationalbewußtsein
hat sich längst herausgebildet und bisweilen zu einem Nationalismus gesteigert,
der mit der Entdeckung der eigenen Geschichtsschreibung ebenso einher geht wie
mit dem aus der Stellung einer Supermacht geborene Bedürfnis, sich selbst
Geschichte und dadurch Rang und Namen zu geben. Der Einfluß Amerikas in der Welt
ist groß, und in Europa tritt er in besonderer Form konzentriert hervor. Damit
ist nicht die Militärpräsenz gemeint, oder die Dominanz im Bündnis NATO, auch
nicht die Distanz zum möglichen Konkurrenten der EU. Vielmehr ist Europa
kulturell und wirtschaftlich Amerika am nächsten. Allerdings ist die
einzelstaatliche Vielfalt und die Mulitiplizität des Machtspiels in Europa ein
Faktor, der Amerika im Angesicht des Einigungsprozesses der EU
verwirrt.
Die USA lieben es, die EU so zu behandeln, als wäre sie ein
Superstaat, der dummer Weise von keinem Außenminister anderen Ländern gegenüber
vertreten wird, und wo Provinz- und Regionalregierungen gewissermaßen die
Dezentralisation per se darstellen, welche gleichzeitig Differenzen in
kulturelle Dichte packt, die es in den USA maximal in New York, Chicago und San
Francisco gibt. Daß solche Dichtheit in Europa vielfach nicht nur in kapitalen
Ballungszentren existiert (man sehe in die Po-Ebene, in den Elsaß, nach
Südspanien, in den Raum Slowakei-Westungarn), soll darüber nicht hinwegtäuschen,
daß Europa auch leere Räume und Weiten umfaßt, die um nichts der amerikanischen
Wildnis nachstehen (etwa in Nordeuropa oder Island, in Zentralspanien, in
alpinen Gebieten, auch in Schottland oder Rumänien). Amerika ist von der Weite
und Größe, von der Vereinheitlichung einer sich interkulturell gebenden Kultur
her nicht als Modell für Europa geeignet, schon gar nicht für die EU, wiewohl
die Idee, Vereinigte Staaten (von Europa) zu schaffen, attraktiv klingt
(zumindest außerhalb der angloamerikanischen Breiten). Die Vorbildwirkung
Amerikas verdankt sich gewiß der Vormachtstellung nach dem Zweiten Weltkrieg,
den wirtschaftlichen Möglichkeiten, dem medialen Bild, das die USA in Europa
Jahrzehnte hindurch erfolgreich von sich verbreiteten. Als Auswandererland
ebenso wie als freie Demokratie, die jedem die Möglichkeit zum Glück
verfassungsrechtlich garantiert, war Amerika nicht nur Schutzmacht für das
westliche Europa, nicht nur Gegenpol zum Kommunismus der sowjetdiktatorischen
Prägung, sondern die Triebkraft eines Liberalismus, der seine stärkste
Ausprägung im Ökonomischen erfahren hat.
Daß Amerika zugleich als Land
der Religionsfreiheiten auf das sekulare Europa -- das in Italien, Deutschland,
Frankreich, Spanien etc. Dome und Kathedralen voriger Jahrhunderte museal erhält
-- äußerst bigott wirkt, wo im politischen Alltagsdiskurs das Böse eine
rhetorische Rolle spielt, wirkt auf manche Europäer mittelalterlich, so als ob
eine bestimmte Periode der Aufklärung und Kritik versäumt worden wäre. Was die
Freizügigkeit angeht, so ist Europa mitunter Amerika überlegen. Doch diese
kulturellen Unterschiede sollen die großen und auch für Rußland bestimmtenden
Faktoren nicht überdecken: Amerika ist strategisch und militärisch an Europa
interessiert, war es seit über hundert Jahren. Die Stationierung von Truppen auf
Island oder in Deutschland sind nur ein Faktor dafür. Europa ist für Amerika
bedeutsam, weil es immer noch eine Quelle Ziel für Auswanderung von gebildeten
Menschen bietet und eine Bevölkerung, die einer für die USA freundlichen
Stimmung in vielen Ländern positiv gegenüber steht, wenngleich nicht so sehr in
Frankreich, Deutschland oder Österreich. Im strategisch-politischen Feld hat die
USA mit dem letzten Irak-Krieg sich seine Bündnispartner situationsangepaßt
gesucht, gemäß dem bekannten Pragmatismus. Werden vorhandene
Bündnisstrukturen blockiert oder erweisen sie sich unvereinbar mit einem
politischen Willen der USA, so sucht sich Amerika relativ rasch und diplomatisch
nicht ungeschickt neue Partner für neue Aufgaben. Darin sind die USA
erfolgreicher und effizienter als jeder europäische Staat, Rußland
eingeschlossen.
Für Amerika haben sich allerdings auch die Gewichte
verlagert: Das wichtigste Weltmeer ist nicht mehr der Atlantik; die
transatlantische Bindung nimmt ökonomisch und strategisch an Bedeutung ab.
Wirtschaftlich schaut Amerika zunehmend nach Westen, über den Pazifik, in
die prosperierenden Regionen Asiens, hier vor allem nach China und Indien, um
zugleich die strategischen Interessen auf der koreanischen Halbinsel aufrecht zu
halten. Darum ist vermutlich für die Zukunft Amerikas der Konflikt um Nordkorea
bedeutsamer als das teilweise unglückliche Engagement im Irak, in das viele
europäische Länder wie Großbritannien, Polen oder Rumänien verwickelt sind. War
der Irak-Krieg auch ökonomisch und da vor allem vom Erdöl motiviert, so galten
für ihn doch auch sehr wirksame Argumente, die man auch im Nordkorea-Konflikt
und im drohenden Iran-Konflikt findet: Massenvernichtungswaffen chemischer,
biologischer und atomarer Art, die in solchen Ländern hergestellt werden könnten
oder bereits vorhanden sind, empfindet Amerika als Bedrohung; mag auch die
nachrichtendienstliche Information diesbezüglich mangelhaft gewesen sein, so
zählt hier die Intention mehr, und die wurde nicht bloß angekündigt sondern auch
verfolgt und in die Tat umgesetzt. Derartige Bedrohungsszenarien genügen Amerika
für ein Involvement. Europa hat sich da niemals so deutlich geäußert und zu
solch konzentriertem, konfligierenden Verhalten zusammengefunden. Diese
militär-strategische Präsenz Amerikas von globalem Ausmaß soll jedoch nicht
darüber hinwegtäuschen, daß die strategischen Entscheidungen in Amerika im Kern
von ökonomischen Überlegungen langfristiger und strategischer Art flankiert und
getragen sind.
Auch wenn in Deutschland und in Frankreich im Zuge der
Kritik am Vorgehen der USA gegen den Irak Saddam Husseins von einem
strategischen Fehler der USA gesprochen wurde, so soll einen das nicht täuschen
über die Natur dieser Entscheidungsfindung, die in vielem diametral der
europäischen entgegengesetzt ist. Amerika sichert sich seine
Vormachtstellung, die auf der ökonomischen und technologischen Dominanz
beruht. Da China und Indien hier regional und bald global an Bedeutung
gewinnen, sind diese Regionen für die USA von höherem Interesse als es Europa
selbst ist oder als diese Regionen für Europa zählen.
Der dritte Faktor,
der für Europa historisch und politisch eine große Rolle spielt, ist zugleich
der älteste und in der Summe seiner Wirkungen kultureller Art der
langfristigste. Zugleich ist es ein Faktor, der unpopulär geworden ist, zur Zeit
zu den schwächeren Einflüssen zu zählen scheint. Ich will diesen Faktor, der in
seiner Gestaltung und Wirksamkeit deutlich diffuser als andere sind, den
arabisch-islamischen-semitischen Faktor nennen, wobei damit nicht die
religiöse Zugehörigkeit zum Islam oder einer anderen Religion dieser Region
angesprochen sei. Geographisch ist damit das Gebiet gemeint, daß sich von den
Maghreb-Staaten über Ägypten, die arabische Halbinsel, den Nahen Osten bis nach
Afghanistan und an die Grenzen Indiens erstreckt. Die Kultur dieses Raumes hat
Europa im Mittelalter schon lange vor den Auseinandersetzungen der Kreuzzüge
beeinflußt, war der europäischen damals eindeutig überlegen; die maurische
Hochkultur in Spanien etwa hat der Neuzeit die kritische Nahrung vorbereiten
geholfen, indem verlorene Schriften des Aristoteles aus dem Arabischen ins
Lateinische übersetzt wurden. Spanien war unter der Herrschaft Cordobas ein
blühender Garten; die Requoncista und der Fall des Kulturzentrums Toledos haben
Europa unermeßlich bereichert und das spanische Weltreich vorbereiten geholfen
(das seinerzeit mit Österreich über Habsburg verbunden war). Bis zum heutigen
Tag gibt es vielfache Verbindungen europäischer Länder mit diesem Großraum, der
in sich sehr heterogen ist und jene Machtfülle längst verloren hat, die er in
der Gestalt arabischer oder osmanischer Reichsbildungen hatte, durch welche er
zur Bedrohung Europas wurde, welches damals mit der Christenheit selbst in eins
gesetzt wurde. Diese Zeiten sind vorbei, aber dennoch bleibt dieser Kulturraum
in der europäischen Nachbarschaft.
Sowohl was Migration als auch
Sicherheitspolitik betrifft, kann sich Europa von der Sphäre des Islam nicht
abkoppeln, indes ihr Einfluß auf die USA deutlich geringer ist. Der Reichtum an
Erdöl und die politischen Unsicherheiten in vielen dieser Staaten, die enormes
Bevölkerungswachstum mit zum Teil diktatorischen Regimes aufweisen, machen diese
Gegenden für Europa auf Jahrzehnte hinaus bedeutsam und der genauen Beobachtung
würdig. Vielfach wird von der EU aus mehr an Kooperation und Koexistenz in
Richtung dieser Kulturräume versucht, als es die USA in jüngerer Zeit wollen
oder können, wobei der islamistische Terrorismus keinen Schritt auf dem Wege
einer solchen Koexistenz tut, was keineswegs bedeutet, der Glaube auf Grundlage
des Korans als Islam sei per se unvereinbar mit europäischen Werten. Zugleich
ist die Bedeutung dieses Kulturraums für das Eigeninteresse nicht nur für
Europa, sondern auch für Rußland gegeben. Alleine daraus läßt sich übrigens das
laute Nein Rußlands zu einem EU-Beitritt der Türkei gut verstehen.
Es ist
schwer zu sagen, wie sich ein Großraum dieser Art entwickelt und welche
Wirkungen das auf Europa hat. Die Geschichte, die Europa in diese Region
involviert hat, war zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Kolonialkrieg
Frankreichs in Algerien eine unglückliche. Gleichzeitig zeigt die Einwanderung
im südlichen Spanien, Frankreich, in Italien aus jenen Regionen, aber auch die
jüngere Welle aus Bosnien und Ex-Yugoslawien in Österreich und Deutschland, daß
eine Politisierung der kulturell-religiösen Differenzen für Europa
verheerende Auswirkungen hat. Wenngleich man den Yugoslawien-Krieg nicht auf
den Aspekt einer Kulturfriktion der geschilderten Art reduzieren darf und die
Migrationen großteils ökonomisch erklären kann, so ist Europa seinem Begriff
nach gerade durch die Konfrontation mit dem Fundamentalismus gefordert.
Dieser Fundamentalismus findet sich allerdings keineswegs nur als Islamismus
oder Zionismus, er schlägt Europa auch mit manchen Tendenzen in den USA hart
entgegen, die übrigens selbst fundamentalistischen Ansichten sogar in höchsten
politischen Kreisen anhängen. Diesbezüglich scheint die EU die politische
Vermittlerrolle bisweilen übernehmen zu wollen, wobei sie allerdings oft in
eigenen, inneren Interessensdifferenzen befangen und gelähmt bleibt. Die
Zerteilung des arabischen Raumes als eine Frucht der Kolonialzeit entstammt dem
europäischen Großmachtstreben vor allem Englands und Frankreichs. Gerade Irak
und Syrien sind gute Beispiele dafür. So besehen sind die Kriege im Irak oder
Nahen Osten post-europäische Kriege, bei denen es nicht um das zu gehen
scheint, was die Amerikaner gerne als Grund für ihr angeblich idealistisches
Engagement nennen: Demokratisierung.
So findet sich also Europa in
vielfältigen äußeren Spannungsfeldern, zu denen innere älterer und neuerer Art
hinzukommen. Die Rede ist nicht von Heterogenität oder Dissonanz, sondern von
der Spannung, die eine Konzentration von Differenzen erzeugt, unter
welchem Begriff ich die europäische Kultur ihrem Prozeß nach fassen will. Für
Europa seiner Idee nach, die hier mit Paul Ambroise Valéry verstanden sei -- als
Träger einer Kultur der geistigen Vielfalt, als Promotor der Aufklärung und
neuzeitlichen Entdeckung der Welt, als Heimat der Wissenschaftlichkeit und einer
Kultur des Geistes, die sich in der Vielfalt der Sprachen ebenso niederschlägt
wie in den großen Namen, die alle Nationen und Kulturräume Europas
hervorgebracht haben in einer Fülle, die wahrhaft historisch ist -- sind all
diese Spannungen Grund genug, seine staatliche oder föderale Vereinigung nicht
nur nicht praktisch unerstrebbar, sondern kaum erstrebenswert erscheinen zu
lassen. Dies verstanden zu haben, formt einen Blick auf die Rolle der EU in
diesem Europa zu einer eigenartigen Wahrnehmung, welche der Realisierung eines
Begriffes von Europa bestimmte Grenzen setzt.
Die wesentliche Frage
bleibt und ist daher, welches Europa man sehen und schaffen will, für welches
Europa man eintritt, und inwiefern die Europäische Union dieses Europa
wesentlich mitbestimmt oder gar vorwegnimmt. Meine Behauptung ist, daß die EU
einen Begriff Europas v.a. aus inneren Gründen nur partiell repräsentieren
kann, auch nicht das Erbe der Idee Europas angetreten hat, wohl aber
bestimmte Aspekte der Idee Europas und damit die Realität eines Europas von
historischem Grad an Einheitlichkeit zu verwirklichen im Begriffe steht, was
teilweise auch mit den Kosten bestimmter Zerstörungen verbunden
ist.
II. HISTORISCHES, ÖKONOMISCHES UND
SOZIALES
Es bestehen keine Zweifel, daß die
Europäische Union von ihrer Entstehungsgeschichte her ihre Motivation und
Impetus mehrfach gewandelt hat. Ursprünglich, nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs, stand neben dem Gedanken einer Kooperation und Versöhnung v.a.
zwischen Frankreich und Deutschland im Hinblick auf die Kriege von 1870/71 bis
1945 unter Einbeziehung der Benelux-Staaten und Italiens sowie des britischen
Reiches, das ja damals selbst seine imperiale Kolonialgröße verlor, die
Beschränkung jener technisch-ökonomischen Grundlagen, die Hitler die Aufrüstung
Deutschlands ermöglichte. Daß sich ein Kleinstaat wie Luxemburg dem sofort
anschloß, liegt in der historischen Erfahrung, daß es etwa im Zweiten Weltkrieg
den höchsten relativen Blutzoll eines Landes (ex aequo mit Polen) gemessen an
der Gesamtzahl der Bevölkerung leistete; die Magignot-Linie Frankreichs gegen
Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg bewirkte eine strategische Rolle der
Beneluxstaaten, die sie zum Opfer der feigen Okkupationen Hitlers machten. Die
Katastrophe von Dünkirchen zeigte diesen Ländern, daß sie von Großbritannien
nicht gerettet werden konnten, zumal der Isolationismus und Pazifismus der
angloamerikanischen Welt Hitler leichtes Spiel ließ. Es lag im klugen Interesse
jener Staaten, die zwischen den Machtblöcken Frankreichs, Deutschlands und
Großbritanniens lagen, einem friedvollen und friedenssichernden Ausgleich
zuzustimmen, der den sozialen Wohlstand und den Wiederaufbau für alle
sicherte.
Die ersten Schritte dazu waren einfach und eindeutig nicht
gewinnorientiert, sondern friedenssichernd: Stahl und Kohle wurden als die für
die Kriegsproduktion bestimmenden Rohstoffe angesehen, gefolgt von der neu
entdeckten Nuklearindustrie -- und man kann sich fragen, ob damit richtig und in
allen Punkten vorausschauend geurteilt war, zu einer Zeit, wo in den Vereinigten
Staaten von Amerika bereits die kybernetische Revolution (getragen von
europäischen Exilanten und eingekauften Forschern) um sich zu greifen begann,
welche die Daten- und Informationsverarbeitung sowie die Automatisation betraf
und über die Atombombe hinausreichende komplexe Waffensysteme ermöglichte, die
bis heute für die Vorherrschaft der USA in militärischen Belangen sorgen.
Vielleicht liegt darin einer der Gründe, daß sich das westliche und
zusammenschließende Europa von der Rüstungsentwicklung allmählich abkoppelte,
die nicht bloß Atommächte, sondern die globale Stellung als Supermächte für die
USA und die Sowjetunion ermöglichte. Andere Gründe sind selbstverständlich in
der Überwindung der entsetzlichen Zerstörungen des Krieges zu suchen, welche
Ressourcen banden und neuerliche Aufrüstung in Europa und v.a. ein ungebundenes
Deutschland nicht angeraten erscheinen ließen; daß Deutschland geteilt wurde,
war eine Folge der Polarisierung der Welt und der Strategie, es als Großmacht zu
schwächen. Folgerichtig hat Deutschland, obwohl es wissenschaftlich längst dazu
in der Lage war, niemals Atomwaffen entwickelt; die BRD beschränkte sich auf
militärische Macht im Rahmen der NATO, die DDR im Rahmen des Warschauer
Paktes.
Auch nach der Wende von 1989 waren lange Zeit Kampfeinsätze
Deutscher Soldaten in Auslandsmissionen auch im Rahmen der UNO umstritten und
kamen nicht in Frage, erst mit dem Neuen Jahrtausend änderte sich das.
Westeuropa war froh, den USA Schutz und Führerschaft, oft auch die Kriege zu
überlassen, wenngleich Frankreich und Großbritannien ihre eigenen
Waffenarsenale anschafften und bis zur Suez-Krise, den Tschad-Einsätzen und dem
Falkland-Krieg auch noch eigene Kriegspolitik offensiv verfolgten. Die USA
stationierte nicht nur Truppen sondern auch Atomwaffen auf europäischem Boden,
um der Bedrohung durch den Warschauer Pakt zu entgegnen, die seit den Krisen in
der DDR und in Ungarn, aber auch in der Tschechoslowakei immer wieder real zu
werden schien. Die Sowjetunion setzte entsprechende Gegenmaßnahmen, und die
heutigen Erwachsenen Europas erlebten eine Jugend der Rüstungsspirale, die an
potentiellen Schrecknissen mit kaum einer Periode zu vergleichen ist. Die
Vorgängerorganisationen der Europäischen Union spielten keine wesentliche Rolle
strategischer Art und ordneten sich der NATO und den USA in vielen Belangen
unter. Die Idee einer Westeuropäischen Verteidigungsunion war lange Zeit nur
ein Gedankenspiel, wurde erst in Ansätzen durch Deutsch-Französische
Truppenkooperation und dann im Neuen Jahrtausend durch Bekenntnisse zur WEU
geschaffen.
Zugleich hat die Spaltung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg
in einerseits ein westliches, freies Europa, worunter auch neutrale Staaten wie
die Schweiz, Schweden oder Österreich fallen, und in andererseits ein östliches
und kommunistisches Europa, das eindeutig von der Sowjetunion dominiert wurde,
den Kontinent in vielen Bezügen eindeutig und nachhaltig geschwächt. Die
Spaltung Deutschlands, unter der bis heute das seit 1989 glorreich, weil
unblutig wieder vereinigte Deutschland v.a. wirtschaftlich zu leiden hat, ist
dafür äußerst signifikant. Ebenso die Regimebildung in Rumänien, die auch
innerhalb Osteuropas eine eigene Stellung hatte und sogar Querverbindungen mit
Frankreich pflegte, was aufzeigt, daß die Blöcke innerhalb Europas nicht jene
Geschlossenheit aufwiesen, die sie in der globalen Dimension der Konfrontation
des Kalten Krieges hatten. Allerdings darf man nicht übersehen, daß Europa an
Beispielen der Blockfreien Staaten wie Yugoslawien oder auch am Beispiele
Frankreichs, das sich der Dominanz der USA durch einer das amerikanische
Containment konterkarrierenden Strategie zu entziehen versuchte, keineswegs
immer glücklich unter der Vorherrschaft jener Supermacht war, die die Freiheit
auf ihre Fahnen in einer Art geschrieben hatte, als hätte das zur Folge zu
haben, daß alle anderen Fahnen im Namen derselben Freiheit zu schwingen oder zu
streichen wären. Am wichtigsten für Europa in Bezug auf die USA war gewiß die
Annäherung der USA an Großbritannien, zu welcher Winston Churchill in der
Bedrängnis der ersten Kriegsjahre selbst eingeladen hatte. Die Einheit des
Kontinents war jedenfalls endgültig verloren, nachdem es während des Krieges so
aussah, als würden die Alliierten mit ihrem Partner, der Sowjetunion, sie nicht
in Frage stellen. Ab Jalta war es damit vorbei.
Nach dem Ersten Weltkrieg
war die Situation keineswegs dermaßen zerrissen gewesen, wenngleich die Verträge
von Trianon und Locarno viele Ungerechtigkeiten schufen, etwa Ungarn zerteilten.
Davor waren mitunter Reisefreiheit und wirtschaftliche Verflochtenheiten
mitunter größer als sie es nach dem Zweiten Weltkrieg je sein würden. Wenn
Europa jemals eine Chance auf eine Vereinigung hatte, so war es vor Rosa
Luxemburgs bekanntem Ruf nach den Vereinigten Staaten von Europa. Es soll unter
den Thronerben Habsburgs am Vorabend des Ersten Weltkrieges Überlegungen gegeben
haben, eine europäische Föderation zu bewerkstelligen, was aber am Widerstand
des Kaisers und der Deutschen Generalität scheiterte, welch letztere unter
Ludendorff ja noch den unseligen Krieg über die Materialschlachten hinaus ins
Desaster verlängerte. Doch mit Bismarck und davor mit Napoleon Bonaparte waren
Ideen der Vereinigung von Europa oder Teilen Europas immer mit einem klaren
Antagonismus gegen Rußland und mit militärischen Maßnahmen gegen viele Völker
verbunden, die in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts
führten.
Vielleicht mutet die Situation Österreichs da spezifisch an, mag
in manchem aber auch für die Situation der europäischen Idee selbst stehen, wenn
man sich zwar nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der für die neuerstandene
Zweite Republik glimpflich abgelaufenen Zeit des Anschlußes an Nazi-Deutschland
international öffnete, indem man sich den Organisationen wie der UNO, OECD, OSCE
anschloß und diese mehr als tatkräftig förderte, zugleich aber geschickt
zwischen den Kontrahenten zu lavieren wußte und ihnen Platformen auf dem Sofa
einer sprichwörtlichen Gemütlichkeit offerierte. Wien war in jener Zeit, in der
ich ab den Siebziger Jahren Kind und Heranwachsender war, eine Drehscheibe der
Agenten und Geheimdienste, vergleichbar mit dem Spanien Francos oder dem
heutigen Norwegen: Zwischen den jeweiligen Blöcken zu stehen, war ein Balanceakt
besonderer Art. Andererseits hatte die Verstrickung europäischer Staaten in
die postkoloniale Ordnung Afrikas und Asiens einen nicht zu vernachlässigenden
Anteil am Bedeutungsverlust Europas. Belgien und Portugal, Frankreich und
Großbritannien, die Niederlande und Spanien, auch Deutschland und Italien hatten
nach und nach fast alle in den letzten 150 Jahren gesammelten Kolonien verloren,
womit der europäische Einfluß in der Welt zurückging. Vor den Weltkriegen war
ein Großteil des Planeten für Jahrhunderte von europäischen Zentren aus regiert
worden, sei es von Rom, Venedig oder Madrid, später von Den Haag, Paris,
London aus. Selbst vor Inbesitznahme arktischer Regionen schreckte man nicht
zurück, Rußland dehnte sich nach Norden aus, dominierte das von Schweden an es
verlorene Finland, nahm sich die Halbinsel Kola, Dänemark gewann die
Faraöer-Inseln und Grönland, um bis zum heutigen Tage in jenen Regionen
wesentlichen Einfluß auszuüben. Der Boxeraufstand in China setzte ein erstes
Signal zur Beendigung des europäischen Imperialismus in China, die Schlacht von
Tsu-Shi-Ma und die dadurch angetretene Vorherrschaft Japans im Fernen Osten,
begünstigt durch die Erste Russische Revolution, setzten weitere Schritte in die
Richtung eines allmählichen Bedeutungsverlustes eines Europas, dessen Strategie
über alle staatlichen Unterschiede der Souveränität hinweg im Kolonialismus
bestanden hatte, woran Österreich wenig Anteil hatte.
Der letzte
diesbezügliche Verlust war vielleicht der Vietnam-Krieg, den Amerika von
Frankreich erbte und gerne übernahm, getragen von der eigenen Politik, die einen
Dominoeffekt der dem Kommunismus nach und nach anheim fallenden Staaten
fürchtete, in Wirklichkeit aber die regionalen Konflikte und Gegebenheiten
sträflich unterschätzte. Der Krieg wurde nicht durch die Fähigkeit, hohe
Verluste zuzufügen gewonnen, sondern durch die unsägliche Fähigkeit, solche zu
erleiden, ohne aufzugeben. Das Fanal des Vietnam-Krieges zeigte die
Verletzlichkeit einer unter falschen Voraussetzungen umgesetzten Strategie.
Zuvor schon hatte das von Napoleon III. eingesetzte Regime des mexikanischen
Maximilian von Habsburg einem Juarez nachgeben müssen, waren die kolonialen
Tendenzen gegen die USA zum Erliegen gekommen, das seinerseits die Philippinen
von Spanien übernahm, Cuba eroberte, Alaska von Rußland kaufte, Tejas und
Californien den Mexikanern abnahm, die Franzosen aus Louisianna warf, die
Indianer ermorderte oder ghettoisierte, und darin eine koloniale Phase in den
neuen Imperialismus der Nachkriegsordnung des Kalten Krieges überführte. Der
Sklavenhandel wurde von Europäern erfunden, wurde im großen Stil bis zum
Sezessionskrieg durchgeführt, um Amerika wesentlich afrikanisch zu prägen, indes
in Südafrika die Rassentrennung in noch stärkerem Ausmaß als die amerikanische
Segregation in ein burisches Apartheids-Regime mündete, das sogar jenen
britischen Nachkommen mißbehagte, die ihrerseits noch Krieg gegen die
Burenrepubliken geführt und gewonnen hatten. Alle diese Schauplätze der
Geschichte schienen eine Zeitlang europäische gewesen zu sein, hatten aber
gerade den Universalismus der europäischen Zivilisation verleugnet. Letztlich
ist in all diesen Auseinandersetzung Europa gescheitert und zu verurteilen.
Mit dem Vietnam-Krieg übernahm Amerika teilweise diese unheilschwangere Rolle,
global bestimmte Anschauungen durchzusetzen, um ihrem Universalismus pragmatisch
zum Durchbruch zu verhelfen; das ist ein Universalismus, zu dem Macht und
Machterhalt eine Nation verpflichten, solange keine Mechanismen gefunden und
gesichert sind, eine zivilisatorische Vorherrschaft auf anderen Wegen zu
etablieren.
Doch der Kalte Krieg ist keineswegs die einzige globale
Auseinandersetzung jener Zeit; die Nachwehen des europäischen Imperialismus sind
durch den Kalten Krieg nur bisweilen verzögert und verdeckt worden, so wie der
Erste Weltkrieg die letzte Bedeckung des Nationalismus in Zentral- und Osteuropa
war. Die Wende Europas von der kolonialen Strategie der Expansion zur global
agierenden Supermacht Amerika ist durch den Vietnam-Krieg mehr noch als durch
den Korea-Krieg gekennzeichnet, wurde der Öffentlichkeit aber erst durch den
ersten Krieg gegen den Irak (das ist der Zweite Golfkrieg, denn der Erste
Golfkrieg fand zwischen Iran und Irak unter jeweilig unterstützender Beteiligung
vieler anderer, auch europäischer Nationen statt) bewußt, den Präsident George
Bush sen. an der Spitze einer globalen Allianz führte, die in ihrer Art doch
etwas einzigartiges und jedenfalls völkerrechtlich durch die UNO legitimiert
war. Der zweite Irak-Krieg unter seinem Sohn ist hingegen von einer Art, die
jene Wende rückgängig machen möchte und Amerika an eine koloniale Strategie
knüpft, die mit der Demokratisierung den eigenen Einfluß verbreiten möchte, aber
auch wichtiger Ressourcen und geo-strategischer Positionen wegen ausgefochten
wird. Übrig geblieben ist noch die post-koloniale Struktur des Commenwealth
of Nations, welche bis heute intakt ist als ein loser Zusammenhang der an
Großbritannien gebundenen anglophonen Welt.
Doch die anglophone Welt
ist mit der europäischen nicht ident, wenngleich es große und über den Kontinent
Europa hinausreichende Überlappungen und Gemeinsamkeiten gibt. Der Commonwealth
hat eine überkontinentale Struktur, ohne die Ambitionen, die die EU trägt.
Wenngleich Großbritannien sein indisches Imperium verlor, ist es europäische
Großmacht geblieben. Frankreich hatte sein Mit-Siegen im Zweiten Weltkrieg, das
ja selbst in Kollaborateure und Allierte unter de Gaulle gespalten war, dem
Blutzoll der Kolonien zu verdanken -- und verlor diese mit dem Algerien-Krieg
sukzessive, um sich auf eine europäische Rolle beschränkt zu finden. Viele
Jahrzehnte hatte Amerika das Erbe der Kolonialzeit angetreten, um das es sich
mit Rußland stritt. Die Machtfülle eines britischen Reiches, das auf allen
Kontinenten vertreten war und globale Interessen verfolgte, scheint vielleicht
auf militärischem Gebiet von den USA übertroffen, nicht aber auf politischem und
zivilisatorischem. In vielem ist die USA Erbe des British Empire, ohne darum
europäischer geworden zu sein.
Außereuropäische Nationen, die vom
Zweiten Weltkrieg auch stark betroffen waren, zu den Verlierern zählten, den
Weltkrieg über das europäische Maß des Ersten Weltkrieges hinaus in den
pazifischen Raum trieben, haben in derselben Zeit einen ungeahnten Aufschwung
genommen: Das beste Beispiel ist dafür Japan, aber auch Taiwan/Formosa wäre zu
nennen, das vom heutigen China nach wie vor als Abspaltung gesehen wird und
eigentlich ein Produkt der Revolutionen in China war. Mit dem Maoismus trat in
Asien ein Faktor auf, mit dem Europa lange Zeit nicht umzugehen wußte, bis die
Rede von der Roten Gefahr aus McCarthy's Amerika herüberdröhnte. China blieb
eigentlich für die Europäer und den Westen überhaupt lange verschlossen und
ermangelte bis zu seiner allmählichen Öffnung für wirtschaftliche Kooperationen
eines Marco Polo des 20. Jahrhunderts. Südostasien hat einen Aufschwung
genommen, der in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zumindest nach den
Jahren des sogenannten Wirtschaftswunders seinesgleichen sucht. Diese
weiträumigen Voraussetzungen sind mit zu beachten, wenn man die wirtschaftliche
und soziale Entwicklung verstehen will, die Europa in jüngerer Geschichte
genommen hat. Desgleichen ist Augenmerk auf einen ganzen Kontinent zu richten,
nämlich auf Südamerika, der sich offensichtlich auf einem Wege der vorsichtigen
Stabilisierung befindet: Hier, und in seinem größeren Raum als Lateinamerika,
ist der iberische Einfluß kulturell in relativ homogener Weise gegeben, ist
zivilisatorisch vielfach die Einbidung von Indigenen und deren Rechten etwa in
Mexiko (durch den Dialog mit den Zapatisten) und in Brasilien (durch Anerkennung
der Rechte der Amazonasbewohner) gelungen, auch die lange Zeit Unruhe stiftenden
Guerilla-Bewegungen (von Villa bis Che Guevara) sind durch fortschreitende
Demokratisierungen friedlicher geworden.
Südamerika kann als ein
eigenständig gewordener Zweig und Konstellation auch europäischer Kulturen
gesehen werden, die mit Portugal und Spanien einst die Welt unter sich
aufgeteilt und die Phase des kolonialen Imperialismus eingeleitet hatten. Es
scheint in Lateinamerika, nach den Regimen der Peronisten in Südamerika, der
Großgrundbesitzer und Diktatoren in Brasilien, Mexiko, Peru, Chile, nach den
Bürgerkriegen in Honduras und Nicaragua, eine Zeit der berechtigten Hoffnung für
Lateinamerika angetreten zu sein. Es liegt im europäischen Interesse, diese
Entwicklung zu stützen und zu fördern; wenn einst Simon Bolivar von einer
Vereinheitlichung Südamerikas träumte und die Länder Kolumbien, Peru, Bolivien
von der spanischen Kolonialherrschaft befreite, so ist heute ein solcher Kampf
nicht mehr nötig, vielmehr ist die innere staatliche und zivilisatorische
Entwicklung dieser Länder wichtig. Mit Demokratien und sozial friedlichen,
stabilen Gesellschaften kann das heutige Europa stets gute Beziehungen pflegen,
sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht. Die Lösung der
drängenden Fragen der Verteilungsgerechtigkeit bleibt ein Anliegen der
Menschheit, aus dessen Pflicht sich kein Kontinent befreien kann. Doch die
Modelle des Aufschwunges können nicht einfach über kulturelle und kontinentale
Grenzen hinweg transferiert werden.
Das Wirtschaftswunder in Deutschland
und Österreich war auf nationale Produktivitätssteigerung und Verteilung des
Wohlstandes im Modell der sozialen Marktwirtschaft gegründet, indes sich die
Gewinnerländer des Fernen Ostens, aber auch mancher Schwellenländer aus der
Verliererrolle durch eine beispiellose Ausnützung der Prinzipien des Freien
Marktes zu globalen Exporteuren aufschwangen. Die ehemaligen Kolonien Afrikas,
Asiens, Lateinamerikas wurden oft zu agrarindustriellen Zulieferern der
westlichen, hochindustriellen Welt umfunktioniert, Commodities wie Kaffee,
Kakao, Zucker, Bananen waren und sind vorherrschende Waren, neben Rohstoffen wie
Erdöl oder Metallen. Europa war sich bei aller Konkurrenz schon damals in der
Ausbeutung der Dritten Welt einig, woran sich bis heute weniger, als
wünschenswert wäre, geändert hat. Damals schon begann eine den Merkantilismus
und Kolonialismus bei weitem übertreffenden Form der Globalisierung. Hand in
Hand ging damit die vielleicht in weiser Voraussicht geleitete Politik der USA,
vorige Kriegsgegner in Bündnispartner zu verwandeln, zu denen auch Staaten wie
Australien zählen, die sich vormals von Japan existentiell bedroht fanden, oder
Mexiko, das nach Kriegen gegen die USA nun mit Kanada und den USA im
NAFTA-Abkommen enger denn je verbunden ist.
Zugleich hat Westeuropa noch
vor der Gründung der EU heutiger Art seiner Bevölkerung ein historisches Novum
beschert, das in der Art einzigartig ist und am ehesten noch in Kanada zu finden
ist als jenem amerikanischen Staat, der Europa am ehesten ähnelt: Die soziale
Sicherheit für alle. Der Sozialstaat ist historisch zuerst in Skandinavien
und der Schweiz schon lange vor den großen Kriegen erwacht, sodann in
Deutschland, Großbritannien, den Beneluxstaaten, in Frankreich und nach und nach
in allen heutigen EU-Mitgliedsstaaten mehr oder weniger etabliert. Wenn
Österreich noch in der Zwischenkriegszeit wie Deutschland die Not der Depression
und Verelendung kannte, so wurden diese europäischen Länder nach dem Krieg zu
Regionen, die Arbeitskräfte aus Süd- und Südosteuropa anzogen, prosperierten und
in wenigen Jahrzehnten die Kriegsschäden vergessen machten. Italien war das Land
Europas, das in sich selbst den Nord-Süd-Konflikt spiegelte, den Europa
ansonsten aus seinen entweder kommunistischen Verhauen oder industrialisierten
Wohlstandsgebieten zu halten wußte.
Die wirtschaftliche Prosperität
und der Sozialstaat waren und sind die wichtigsten Gründe für die europäischen
Nationen, sich zur EU zusammenzuschließen oder ihr beizutreten, diese
Entwicklung wurde mit der Prosperität des Nachkriegseuropas zusehends wichtig
und weitete den Aspekt der reinen Friedenserhaltung um ökonomie-politische aus.
Sozialstaat und freie Marktwirtschaft galten als Garanten für einen Frieden, den
man sich nur durch wechselseitige und multi-laterale Annäherung der europäischen
Nationen untereinander zu sichern wußte. Die Bündnissysteme der Entente und der
Achsenmächte waren die treibenden Kräfte jener Tendenzen der Großen Kriege, die
Europa so lange in einen hellen und weltoffenen Teil neben einem dunklen und
geschlossenen Teil spaltete. Die Bürger Europas, die nur und immer noch als
Bürger einzelner Staaten existieren, stimmten vermutlich aus diesen Gründen
immer wieder für die Entwicklungen, die das Projekt der EU nahm. Das hier
unterstellte Motiv ist jedenfalls dem einzelnen Bürger insofern bewußt, als
jeder besser und gesichert leben möchte.
Allerdings gibt es eine Latenz
bezüglich der Bewußtheit des sozialstaatlichen Motivs; die EU hat sich längst zu
einer neo-liberalen Wirtschaftsgemeinschaft gewandelt, wo die Freizügigkeiten
für Kapital und Handel nicht immer mit dem Sozialstaat korrespondieren und
koordiniert sind, schon gar nicht aber Rücksicht auf die global dadurch
verursachten Verzerrungen von Märkten und Chancen nehmen. Prosperität kann auch
nur wenigen nützen und auf dem Rücken jener ausgetragen werden, die vom
Sozialstaat kaum profitieren, um trotzdem das Bruttonationalprodukt und das
statistische nationale Wirtschaftswachstum zu steigern. Durch Gastarbeiter und
vielfältige soziale und demographische Änderungen war der Aufschwung in einer
für die nationalstaatlich und staatsbürgerschaftlich gebundene Bevölkerung
leicht zu sichern. Erst langsam kamen Gedanken der Integration und des Abbaues
gewisser Vorstellungen von Souveränität auf. Europa gab sich Institutionen, die
hauptsächlich an die EU gebunden waren und daher nur für bestimmte Staaten
Gültigkeit entfalteten. Allerdings ist mit dem Europarat ein
institutionelles Instrument geschaffen worden, das weit über die EU in Europas
Staatenwelt hinausstrahlt, wozu auch die jüngere OSCE gerechnet werden muß.
Europäischer Gerichtshof und Internationaler Strafgerichtshof sind
weitere Zeugnisse einer institutionellen Entwicklung Europas, die universelle
Bedeutung haben und einen Weg der Entwicklung anzeigen, die in den Zeiten der
Globalisierung wegweisend sind. Denn wenn die nationalen Institutionen nicht
mehr greifen und durch neo-liberale Deregulierung Regeln und Grenzen im
internationalen Verkehr abgebaut werden, entstehen ordnungspolitische Defizite,
die nur multi-national und in weiträumiger, kontinentaler Weise zu lösen sind.
An solchen Versuchen mangelt es nach wie vor, und viele neuere Entwicklungen
schreien nach überregionaler, globaler Institutionalisierung von Wohlfahrts- und
Sozialpolitik.
Hat die Europäische Gemeinschaft zu Beginn ihres
Entstehens den Frieden zu sichern gewußt, um sich erst danach auf die Wirtschaft
als wichtigsten Faktor ihrer Existenz zu fokussieren, so ist mittlerweile die
innere Friedenssicherung aus dem Blick gerückt. Mit zwischenstaatlichen
Konflikten militärischer Art ist innerhalb der EU nicht zu rechnen (wohl aber
mit politischen und von der Brisanz der Spionage getragenen). Der innere Frieden
in einem Land und unter der Bevölkerung wird aber v.a. dann gesichert, wenn
Elend und Unzufriedenheit mit gerechten Maßnahmen nachhaltig ausgeräumt werden.
Der Sozialstaat mit seiner verteilenden und ausgleichenden Funktionalität hat
genau dafür zu sorgen gewußt. Die Kosten, die er aufwirft, wurden und werden
früher über die Gemeinschaft aufgebracht, in einem Bewußtsein und
stillschweigenden Übereinkommen der Solidarität. Das Anwachsen der
wirtschaftlichen Verflechtung innerhalb Europas und v.a. der Staaten der EWG und
der EFTA zum EWR war konsensfähig und weithin akzeptiert, weil die Solidarität
und der wirtschaftliche Gewinn eine sozial annehmbare, um Gerechtigkeit bemühte
Verteilung in Aussicht stellten. Ein jeder schien zu gewinnen, darum gab es
anfangs nur wenige Zweifler an der Sinnhaftigkeit dieses Geschäfts. Der
aufkommende Ruf nach Deregulierung und Rückzug des Staates, nach Privatisierung
von Staatsvermögen und Abbau staatlicher Subventionen paßte zu dieser Form, das
europäische Geschäft zu betreiben.
Der Glaube an den Egoismus als
Triebkraft allen zivilisatorischen Geschehens, das auf wirtschaftliches Handeln
reduziert wurde, hatte längst Einzug in der westlichen industrialisierten Welt
gehalten. Auch hier war und ist Amerika ein Vorreiter. Nunmehr hat der Verlust
der Solidarität in der Gesellschaft, wo sich Arbeitnehmer in Gewerkschaften und
die Bürger in Parteien zusammenschließen, die dem Staat und den Arbeitgebern
Rechte und Freiheiten abtrotzen, nicht nur den Sozialstaat zu bedrohen begonnen,
der heute streckenweise kaum finanzierbar ist. Der Verlust der Solidarität
zwischen den Menschen rüttelt an den Fundamenten der republikanisch und
repräsentativ verstandenen, institutionalisierten Demokratie selbst, die nur
bestehen kann, solange die Menschen sich zusammenschließen zu
Interessensgemeinschaften, solange also das Individuum eines gewissen Altruismus
fähig ist, um sich sozial zu verwirklichen. Bürokratien und Administrationen
wuchsen bisweilen an Intensität und Fülle, obgleich unter Liberalität auch die
Befreiung des Bürgers vom Überhandnehmen des Staates zu verstehen wäre. Doch die
technologischen Entwicklungen und die Verfeinerung der systematischen Aufgaben
des Staates trugen zu jenen Machtverschiebungen bei, die den Neo-Liberalismus
konterkarrieren: Auch wenn der Staat in manchem schwächer geworden ist, so gibt
es allmählich nachfolgende Systeme übergreifender Organisation, die des
Einzelnen Freiheiten beschränken und bestimmen. Große
Wirtschaftszusammenschlüsse von Unternehmungen und Konzernen, undurchschaubare
Verflechtungen von Kapitalien, aber auch Interessensvertretungen von Industrie,
Handel, Bauern zeigen ein institutionelles Wachstum an Dichte, das einem
Liberalen zu denken geben müßte. Die Antwort der liberalen Parteien Europas, die
ohnehin neben den Konservativen und Sozialisten bzw. Sozialdemokraten klein
schienen, war eine zwiefache Rede von Sozialliberalismus und
Wirtschaftsliberalismus, die eigentlich Unvereinbares meinen.
Denn wenn
ein Einzelner über Anlagen von Finanzkapital seinen Lebensunterhalt bestreiten
kann, oder einige wenige über Finanzkapitalien großer Teile des im Volk
vorhandenen Vermögens verfügen können, zugleich aber die Arbeitskraft vieler
deutlich stärker besteuert oder gar von einigen wenigen durch Aufkäufe von
Staatseigentum für sich kapitalisiert werden kann, dann wird das soziale
Ungleichgewicht zu groß, beeinträchtigt die Chancengleichheiten ebenso sehr wie
die Umverteilung, nimmt sogar den Staat und Fiskus in den Dienst einer
neo-liberalen Sache, indem Steuergesetzgebung und Wirtschaftspolitik der
Akkumulation von Finanzmitteln für rein private und kollektivisierte private
Interessen unterworfen werden. Die Investition in Realgüter geht
verhältnismäßig zurück, indes die Geld- und Vermögensanlagen steigen. Diese
Tendenzen sind vielfach kritisiert worden und in allen industrialisierten
Ländern zu finden, auch und besonders in Europa. Der Sozialstaat wirkt wie ein
blökendes Schaf gegenüber dem Wolf des Neo-Liberalismus und seiner reißerischen
Anbiederung. Mit der Schwächung des Staates geht die Schwächung des
Sozialstaates einher -- so jedenfalls die Schlußfolgerung, die die
alternativen und grünen, ökologischen und oppositionellen Kritiker der
neo-liberalen Ordnung ziehen.
Somit hat Europa in sozialer und
ökonomischer Hinsicht längst einen Wandel begonnen, der es zu amerikanisieren
droht in einem Verständnis, das den USA einen sozial kaum abgefederten
Kapitalismus des brutalen Wettbewerbs zuschreibt. Statistisch gesehen leben
ja 17% der Bevölkerung in den USA in einer Armut, die mit der Dritten Welt
vergleichbar ist, obwohl gleichzeitig riesige Vermögenswerte in diesem Lande
vorhanden sind -- allerdings nur in einiger weniger Hände. Großindustrielle und
Superreiche haben mitunter Vermögen in ihrer Gewalt, die den Staatshaushalt
mancher Staaten Europas übertrifft! Hilfreich ist da auch nicht, daß die neuen
Beitrittsländer zur EU und manch osteuropäische postkommunistische Staat
vielfach gar nicht mehr die soziale Marktwirtschaft oder ähnliche Systeme der
Besteuerung einführen, wie es die Kern- und Gründungsländer der EU haben,
vielmehr ihr Staatswesen zu einer kapitalistischen Maschine umgestalten, um
durch dumping von Preisen und Abgaben und durch fortschreitende
Entsolidarisierung Marktanteile zu erobern. Diese Entwicklung ist gefährlich,
gefährdet die Solidarität der Mitgliedsstaaten der EU, führt zu sozial und
politisch unerwünschten Wirkungen und steht der zivilisatorischen Entwicklung
der Institutionenlandschaft, die der Menschheit und Humanität zu dienen hat,
entgegen.
An Gegenvorschlägen fehlt es nicht, also an Ideen, das
disharmonische und dysfunktionale, einseitig ausgelenkte und zu Extremen
neigende Wirtschaftssystem wieder in Einklang mit den sozialen, ökologischen und
Versorgungsbedürfnissen der Menschen zu bringen. Europa kann zu deren
Verwirklichung beitragen, auch ohne Amerika, ähnlich wie manch europäische Staat
mit Vorreitern wie Österreich in der ökologischen Politik der Reduktion von
schädlichen Emissionen, beim Wandel der Energieerzeugung und -verbrauch, beim
Aufbau von ökologischen Steuersystemen alleine wichtige Schritte setzte. Die
Entwicklung der ökologischen Technologien ist heute ein Wachstumsmotor, schafft
Arbeitsplätze, wird weltweit nachgeahmt. Wenn der flexibelste
Produktionsfaktor Kaptital, für den Regulierungen abgebaut wurden, weltweit
stets nach lukrativsten Investitionen und besten Renditen sucht, so wie Wasser
weltweit immer dem Gefälle zu fließt, dann muß man, wie beim Wasser, das Gefälle
nützen, um daraus für die Menschen und die Gesellschaft Energien und Werte
zu gewinnen. Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß ein Privatanleger in
Norditalien, in Ostnorwegen oder auf Mallorca entscheiden kann, ob er sein
Erspartes in einen Fonds in England, in Lebensversicherungen aus Südafrika oder
in eine Goldmine Australiens steckt. Doch ist aus dem Fluß der Mittel und dem
lebendigen Strömen der Kaufkräfte selbst ein gesellschaftlicher Nutzen zu
ziehen, der bislang brach liegt; indem man dies ungenutzt läßt, wird schädlichen
Auswüchsen Tür und Tor geöffnet, wie diverse Finanzkrisen, etwa in Südostasien
vor einigen Jahren, zeigen.
Wo die größten Gewinne winken, wo das
Kapital am produktivsten arbeitet, dort wird weiteres Geld zur Investition
attrahiert. Das ist ein marktwirtschaftliches Gesetz, das ausschalten zu
wollen einer der Fehler des Kommunismus war, vergleichbar mit dem Versuch, die
Naturgesetze der Gravitation durch eine soziale Bewegung abschaffen zu wollen.
Intelligenter ist es, die Gravitation zu nützen, damit Energie aus einem
Hammerwerk, durch ein Kraftwerk zur Erzeugung von Elektrizität oder Wasser für
Bewässerungsprojekte trockener Landstriche gewonnen werden kann. Der
technologische Fortschritt der letzten Jahrhunderte hat im Falle der
Naturgesetze vieles entwickelt, um sie für die Menschheit dienlich zu machen.
Warum sollte uns nicht ähnliches gelingen im Falle jener Gesetzlichkeiten, die
das Verhalten von Kapitalwerten, von Kapitalströmen, den Emanationen einer
globalen Wirtschaft, betreffen? Das Marktverhalten und die Wirtschaftlichkeit
der Produktion als auch Reproduktion sind Gegebenheiten des menschlichen Lebens,
sind Ausdruck sozialer Gesetzmäßigkeiten, die nicht in sich schlecht sind.
Marx hat in seiner Beschreibung des Mehrwertgesetzes etwas Wichtiges und
Richtiges gesagt; alleine es nur als Ausbeutung und Exploitation hinzustellen,
war falsch. Der Mehrwert ist auch ein Wert, und das durch die Mehrarbeit
geschaffene Kapital ist nichts per se schlechtes, muß allerdings sinnvoll
eingesetzt und verteilt werden. Was vonnöten tut in Anbetracht der
Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital war, sie zu Gunsten einer gerechten
Verteilung vorsichtig und wohlüberlegt zu regulieren, damit die Arbeitskraft
nicht ausgebeutet wird, sich regenerieren kann, der Gesellschaft insgesamt
ebenso wie das aus ihr gewonnene Gut zur Verfügung steht, ohne die
Marktwirtschaft diesbezüglich abzuschaffen. Der Sozialstaat und die soziale
Marktwirtschaft haben dieses Problem vorzüglich gelöst, besser als es der
Kommunismus je konnte,doch der Rahmen, innerhalb diese Regelung nun zu leisten
ist, ist zu klein geworden, muß über-national werden. Die EU kann einen
solchen Rahmen bereitstellen, versagt aber nach wie vor in dieser
Aufgabe.
Die Flexibilität des Kapitals unreguliert, ungenützt und
ohne lenkende Maßnahmen werken zu lassen, birgt und bringt Gefahren, genau so
wie unreguliertes Aufstauen von Wassern, plötzliche, uneingedämmte Hochwasser
und unvorhergesehene Niederschläge Gefahren wie Überschwemmungen,
Flutkatastrophen, Zerstörungen bringen, indes auch das Ausbleiben von
Niederschlägen Schlimmes wie Dürren und Trockenheit, Durst und Hungertod heißt.
Die Freiheit für die Kapitalflüsse zu beschränken, ist kein Ausweg, weil
dann zu befürchten steht, daß bestimmte Regionen von notwendigen Investitionen
abgeschnitten werden oder nur mehr über dunkle, kriminelle Kanäle versorgt
werden können. Man kann die Naturgesetze des Wirtschaftslebens nicht einfach
abschaffen; eine Prohibition der Kapitalströme würde die Kriminalität global
wachsen lassen und noch mehr in die Hände der Mafia und des organisierten
Verbrechens spielen. Völlig unreguliert, ohne Dammbauten und Planung, der
Versorgung mit dem Produktionsmittel "Kapital" zu vertrauen, ist unklug.
Daher gilt es, Instrumente und Methoden zu entwickeln und zu implementieren,
die die größten Kapitalgefälle für die Menschheit insgesamt und den
Gesellschaften, die von ihnen negativ betroffen sind, dienlich machen. Die
unsichtbaren Hände, die die Wirtschaft lenken, müssen sichtlich sauber sein und
bleiben.
Diesbezüglich gibt es Vorschläge, die zu diskutieren sind, etwa
die bekannte Rede von einer Tobin-Steuer, die an den Kapitalmärkten und
Börsen einen kleinen Teil des wertmäßigen Umsatzes zweckgebunden einbehält und
etwa der Entwicklungshilfe oder bestimmten Projekten, die die UNO auswählen
könnte, zugute kommen läßt, beschränkt auf zivile und friedliche Nutzung, etwa
im Bildungsbereich, um nachhaltig zu fördern und zu bessern. Eine EU-weite
Tobin-Steuer könnte den Sozialausgaben der EU zugute kommen, etwa eine
europäische Grundsicherung schaffen. Jeder Groschen, jeder Cent der so
investiert wird, rentiert sich tausendfach mehr als jede Kapitalanlage, die ihn
speist. Es ist irrig, zu meinen, das könnte die EU nicht alleine beschließen;
die unterschiedlichen Umsatzsteuern innerhalb der EU sind auch von kleineren,
nämlich nationalen Wirtschaftsräumen beschlossen worden, ohne daß sie zu deren
Abkoppelung geführt hätten. Ein sog. Alleingang Europas wäre kein unerträglich
großes Risiko, vielmehr ein Anreiz für andere, ähnliches zu entwickeln. Ein
europäisches Pendant zu einer Tobin-Steuer könnte die Abhängigkeit Europas von
ausländischen Energieressourcen reduzieren helfen, indem das lukrierte Geld in
die Forschung an neuen Energieproduktionsformen wie etwa der Kernfusion
investiert wird. Daran anschließen könnte sich ein Handel mit
Know-How, auch ein internationales Drängen auf ähnliche Besteuerungen von
außereuropäischen Kapitalmärkten und Börsen.
Die Angst, daß eine solche
Umsatzsteuer auf Börsenumsätze, die direkt am Kapitalmarkt eingehoben wird und
daher nicht einzelnen Kunden und Auftraggebern, ja nicht einmal einzelnen
Geschäften zugeordnet kann, daß also eine solche Tobin-Steuer europäische
Kapitalmärkte extrem benachteiligt, ist nur äußerst bedingt berechtigt. Wenn
sich die Steuer im Promillebereich der Umsätze hält, wird ihre Geringfügigkeit
keineswegs diese Märkte merklich belasten, dennoch aber erkleckliche Summen
erbringen. Weitere fiskalische und finanzielle Maßnahmen kann man sich auch in
Bezug auf bestimmte Gruppen von Investitionen und Kapitalgeschäften überlegen,
etwa was Termingeschäfte, Devisenhandel, Zinszertifikate, Spekulation mit
Lebensversicherungen, Energiepreisen, Rüstungsinvestitionen oder Hedge-Funds
angeht. Überall dort, wo die Kapitalzirkulation extrem schnell ist, hohe
Kapitalflüsse bewirkt, das gesellschaftliche Zusammenleben oder gar Krieg und
Frieden offenkundig beeinflussen, muß man sich Lenkungsmechanismen zum Wohle der
Allgemeinheit überlegen. Tut man dies nicht, so wird der sich an den Börsen
manifestierende Egoismus nur noch weiter die Gesellschaften aushöhlen, den Staat
zum Rückzug bringen, einseitige Vermögenswerte aufhäufen und diese in die Hände
weniger legen, die alleine schon am Horten der Kaufkraft verdienen.
Diese
Vorschläge halte ich, auch wenn sie im Detail noch ausgearbeitet sind und
kritisch durchleuchtet werden müssen, für richtungsweisend. Daß sie noch kaum
umgesetzt werden, liegt nicht am Weltmarkt oder dem anonymen Widerstand der
Börsen, sondern an den politischen Verflechtungen, am Lobbyismus, an bestimmten
Interessenskonstellationen, wie sie sich in den derzeitigen
Herrschaftsstrukturen verfestigen, getragen von den politischen Parteien und
Interessen. Es ist anzuraten, diese Ideen in den politischen Prozeß und in das
Werben um Stimmen einzubringen; die europäische Öffentlichkeit braucht einen
intelleginten Diskurs über supranationale Regulierung der Kapitalmärkte.
Einer sozialdemokratischen Fraktion stünde in keinem europäischen Parlament das
Eintreten für eine Tobin-Steuer schlecht an! Doch auch manche Unternehmerpartei
täte gut daran, sich diesbezüglich zu bedenken, denn als Unternehmer sind ihre
Wähler nicht so sehr Investoren auf den Kapitalmärkten als auf Investitionen in
leistbare neue und nachhaltige Technologien angewiesene. Wenn das Gemeinwesen
auch diesbezüglich leistbarer geworden ist, werden sich auch die
infrastrukturellen Voraussetzungen für die Unternehmer verbessern. Es ist
eine Frage der Erhaltung der Infrastrukturen für ein gesundes Finanzwesen, ob
wir es weiterhin möglichst abgabenfrei und in seiner Flexibilität und
Volatilität ungenutzt lassen wollen, oder ob wir dafür sorgen, daß es seinen
Beitrag zu einer Nachhaltigkeit leistet, die allen zugute kommt und unser
Gesellschaftssystem erhalten hilft. Dieses ist sowohl im inneren als auch
von außen durch soziale Ungerechtigkeit bedroht.
Die festgefahrenen
Strukturen der politischen Landschaft, der nationalstaatlichen Aufteilung
Europas, behindern den Fortschritt eines Europas, das sich neuen Aufgaben und
Problemen stellt, das die Herausforderung des 21. Jahrhunderts meistern will und
kann. Europa wird langfristig durch eine ökologische Politik und Wirtschaft,
die mit hohen Energiepreisen umzugehen gelernt hat und die Finanzkraft auch für
das Gemeinwohl nützt, Vorteile gewinnen und stärker werden. Einkommen,
Wohlstand und soziale Sicherheit lassen sich in einer Welt, die globale
Konkurrenz und enorme Lohn- und Preisgefälle kennt, nicht mit den alten Methoden
sichern. Wenn die Abschottung der Märkte nicht mehr funktioniert, muß man auf
neuen Märkten bestehen. Die Politik hat es da schon immer in der Hand gehabt,
das Entstehen und die Form neuer Märkte zu beeinflussen. Die sogenannten
Rahmenbedingungen sind selbst nicht dem freien Spiel der Kräfte zu
überlassen.
Europa ist nach wie vor davon geprägt, daß
wirtschaftliche und soziale Fragen auf die Politik, auf Tagespolitik als auch
auf die Programme der politischen Parteien, Einfluß nehmen. Wenn in Staaten wie
den USA mitunter die beiden Großparteien kaum mehr voneinander zu unterscheiden
sind, so gibt es doch in vielen europäischen Ländern parteipolitische Gegensätze
deutlicher Art, wenngleich sie in Ländern wie Italien in den letzten Jahren
diversen, kaum nachvollziehbaren Umschwüngen unterworfen waren, die dennoch eine
gewisse Clique an regierenden Personen in einem steten Reigen populistisch an
der Macht hielt. Es scheint sich in dieser Hinsicht ein Charakteristikum
Europas auszudrücken, nämlich Differenzen zu konzentrieren, mitunter die
Gegensätze zu verschärfen, um sie gleichzeitig unter ein lösendes System zu
bringen. Dadurch werden Vielfalt und Identifikationsmechanismen erzeugt, die
letztlich die Gesellschaft bereichern. Gefährlich wird dieses Spiel nur, wenn
einzelne Parteien oder die Parteien überhaupt zu dominant werden und das
gesellschaftliche Leben, Berufswahl und Lebensvorstellungen zu stark
beeinflussen.
Die Schemata, unter denen dann Politik gemacht wird, sind
oft personenabhängig und von einer gewissen Kontanz: Konservative vertreten
Unternehmertum, Sozialdemokraten die Arbeitnehmenden, Liberale eine bestimmte
Stärke des Bürgertums gegenüber dem Staat, Grüne ökologische aber auch
sozialistische Anliegen, Linke und Kommunisten sind deutlicher sozialistisch
akzentuiert, diverse nationalistische Gruppierungen und Splittergruppen treten
für Autonomien und Privilegien ihrer jeweiligen Klientel ein, Freiheitliche und
Populisten nützen vorhandene Spannungen, Anschauungen, Polarisationen aus, um
Stimmen zu gewinnen. Das Spiel dieser politischen Kräfte ist weitgehend durch
ökonomische und soziale Bedingungen abgesteckt, wird mitunter um neue
Grenzpunkte erweitert, etwa als mit dem Auftauchen der Grünen in Deutschland auf
einmal Fragen des Umweltschutzes, des nachhaltigen Wirtschaftens, der
Lebensqualität zu politisch bestimmenden Themen wurden. In dieser Hinsicht
ähneln sich die europäischen Länder, sind alle, soweit sie zur EU gehören,
demokratische Staaten mit parlamentarischem System, die sich zu
Wertegemeinschaften bekennen. Auch viele der Staaten, die nicht zur EU gehören,
teilen dieses System oder ähneln ihm sehr. Das sind schätzenswerte
Rahmenbedingungen, innerhalb denen gewisse Veränderungen stattfinden müssen.
Diese allerdings zu diskutieren, könnte den Bereich des in den vorhandenen
Rahmen Passenden überschreiten. Dahinter steckt ein großes politisches
Problem, das sich nicht lösen läßt, indem einzelne Parteien programmatische
Forderungen erheben. Es muß vielmehr zu europäischen Ideen werden, was
parteipolitisch nicht durchsetzbar ist und den wechselseitigen Blockaden zum
Opfer fällt.
Umso wichtiger ist es da zu begreifen, welche Entwicklung
die EU und damit Europa zu nehmen längst im Begriffe ist: Es herrscht das
Diktat des Ökonomismus vor, welcher alle gesellschaftlichen Güter und
Werte, Ziele und Maßnahmen hauptsächlich oder gar ausschließlich nach rein
wirtschaftlichen Kriterien beurteilt, bemißt und bewertet. Die Gesellschaften
Europas als auch der westlichen und industrialisierten Welt einschließlich
Rußlands, Australiens, Japans und neuerdings auch Südkoreas, Chinas, Indiens
haben sich stillschweigend auf ein pragmatisches Minimum geeinigt,
welches zum gemeinsamen Maßstab die pekuniäre Bewertung erhebt. Dieser Konsens
wurde nicht durch demokratische Abstimmung errungen oder durch Kriege direkt
erzwungen, er hat sich vielmehr ergeben aus einer Vielzahl an Faktoren, die sich
wechselseitig dahingehend stützten und bestärkten. Die Politik der
Souveränität einzelner Staaten hat sich weitgehend dem Druck der
Wirtschaftlichkeit unterworfen, die allem Handeln unterlegt wird. Das hat
weitgehende Auswirkungen auf Kunst, Kultur, Wissenschaft, auf zu fördernde
Lebensbereiche wie Familie, Wohnen, Alter, Pensionen, Krankheitsversorgung und
Gesundheitssysteme. Sukzessive weitet sich dieser Ökonomismus aus, gibt ein
Modell vor, das in oft kaum wiederzuerkennender Weise den Alltag prägt. Es geht
dabei nicht um die omnipotente Zirkulation des Geldes oder die Attrahierung von
Kapital, sondern um den endgültigen Verlust jener Differenzen, die aus
Inkommensurabilitäten entsprangen, zugunsten einer Vereinheitlichung des
Wertbegriffs. Die Politik der EU ist davon ebenso bestimmt wie jene der USA,
was die Spannungen zwischen beiden verstärkt, weil die Menschen, die von dieser
Politik betroffen sind, sie oft dem jeweils anderen Politikbereich zuschreiben.
Europa hat sich diesbezüglich einem Diktat des Marktes und der
Vermarktbarkeit unterworfen, der meines Erachtens eigentlich dem europäischen
Wesen, das aus Vielfalt geboren ist, widerspricht. Damit geht ein ungeheurer
gesellschaftlicher Wandel einher, der noch nicht mit jener Vermassung endet, die
Canetti und Ortega y Gasset kritisierten oder A. Huxley und G. Orwell mit
fiktionalen Utopien teilweise vorwegnahmen.
Die Gründe für diese
Entwicklung liegen, soweit es das politische Moment des wirtschaftlichen und
sozialen Handelns in einem gemeinsamen System betrifft, im Kern wohl an jenen
Abkommen zu Freihandel und Liberalisierung, die über rein bilaterale Zollunionen
und Abkommen hinaus globale Bedeutung erlangt haben. Die Geburt des
Neo-Liberalismus dieser Art fällt mit den bekannten Abkommen des GATT und der
WTO zusammen, in welchen der Glaube an die ökonomische Liberalisierung als ein
Allheilmittel inkarniert ist. Zollabbau, Beseitigung von Protektionismus und
staatlichen Hürden bei Einfuhr und Ausfuhr von Gütern und Waren, Deregulierung
und Vereinheitlichung der gesetzlichen Maßstäbe und Standards, Öffnung der
Märkte auch für Arbeitnehmer, Schaffung von Gerichten zur Klärung von
Streitfällen, Abstimmungen der Rahmenbedingungen für internationale
Wirtschaftspolitik, Gipfeltreffen der G5 bis G8, harte monetaristische Regeln
für die Vergabe von Krediten, Vorschreiben der Wirtschafts- und Sozialpolitik
für Schuldnerländer -- das sind die Schritte und Maßnahmen, die hier zu nennen
wären. Sie wurden nicht ohne Idealismus, aber noch mehr vom egomanischen
Glaubens beseelt gesetzt, es gäbe automatisch und wie von unsichtbarer Hand
herbeigeführte Selbstregulation, wenn man sie nur walten ließe. Ja, eine
Selbstregulation gibt es, so wie ein wildgewordener Strom sich in einem neuen
Bachbett selbst reguliert, so wie eine Lawine sich am Talschluß beruhigt.
Doch diese Selbstregulation kümmert sich nicht um ihre Kosten und ihre
Opfer; sie ist als selbstgesteuerter, sich selbst überlassener Prozeß nicht
in unserem Interesse.
Die unsichtbare Hand, von der A. Smith
gesprochen hat, mag den Markt lenken, allerdings tut sie dies auch durch den
Diebstahl und die ungestraften, weil unstrafbaren Handlungen, zu denen sie
gerade wegen ihrer Unsichtbarkeit fähig ist, denn wenn sie unsichtbar ist, dann
kann sie machen, was sie will. Wollen wir das? In der sozialen
Marktwirtschaft, die eine ökosoziale Marktwirtschaft werden muß, haben wir das
eigentlich nie gewollt. Warum schreckt man vor einem Schritt in derselben
Richtung zurück, in die man bisher gegangen ist, auf eine sich auftauende Brücke
über den Abgrund zu? Statt dessen stehen wir taumelnd an dessen Seite und
warten, bis wir hineinstürzen. Eine unsichtbare Hand wird die abgrundtief
Stürzenden nicht auffangen; man wird nicht einmal wissen, wie man sie ergreifen
soll, wenn sie sich überhaupt zur Hilfe anbietet. Die Polemik, die die
Finanzinvestoren mit ganze Landstriche abgrasende Heuschreckenschwärme
vergleicht, mag eine überzogene Metapher sein, aber nicht deshalb, weil der
ungezügelte neo-liberale Kapitalismus nichts mit jenen Naturkatastrophen gemein
hätte, sondern weil die Heuschreckenschwärme wenigstens sichtbar
sind.
Die Erfolge, die man sich vom Abbau der Handelsschranken, vom
weltweiten Freihandel, von GATT und WTO versprochen hatte, traten auf der Ebene
der Makroökonomie und der volkswirtschaftlichen Gewinne für einige Länder und
Investoren großteils ein, allerdings auf Kosten der sozialen Verteilung.
Gewinner waren und sind die multinationalen Konzerne, indes
Kleinunternehmer, Bauern, Arbeitnehmer in den meisten Ländern großteils zu den
Verlierern zählen. Die treibenden Gründe für diese Entwicklung waren meines
Erachtens eine aus politischer Naivität stammende Unterwerfung unter die
Freizügigkeit des Kapitals und die Öffnung der Kapitalmärkte, einfach weil sie
die sofortige und unbeschränkte Erfüllung aller Konsumwünsche versprach.
Die Anonymität der Geldanlagen, die weltweit für den modernen Investor durch
institutionelle Anleger einsetzbar sind, die Spekulanten und Renditejäger,
treiben das System weltweit an, denn die Investitionen strömen frei und
ungehindert in jene Börsen und Märkte, wo die größten Gewinne zu erzielen sind.
Gewinnmaximierung wird von den sozialen Kosten entkoppelt; an der
Gewinnmaximierung alleine ist deshalb Schlechtes, weil die sozialen Kosten sich
mit ihr vervielfältigen; das wirtschaftliche Handeln müßte auch die Kosten
minimieren wollen, doch wenn die sozialen und ökologischen Kosten nicht in Geld
bewertet und nicht ins eigene Wirtschaften einberechnet werden, dann ist deren
Minimierung auf einmal keine ökonomische Aufgabe mehr.
Dazu kommt,
daß ein Teil dieser Spekulationsgewinne gering besteuert wird, also eine
ungleiche Konkurrenz zu anderen Anlageformen darstellen. Wenn die
Gewinnerwartung bei einer Aktienspekulation höher ist als bei einer Investition
in einen heimischen Kleinbetrieb oder in eine Ausbildung, dann werden die
Finanzströme eine gewisse Richtung aufweisen, die dem sozialen Gefüge schadet.
Da aber Staats- und Sozialwesen auch nach Investitionen in Bereichen verlangen,
welche geringere oder keine finanziell bewertbare und sich in Geld ausdrückende
Gewinnerwartungen abwerfen, wird es zusehends schwieriger, dafür aufzukommen.
Das Problem besteht darin, daß die Gemeinkosten für bestimmte Infrastrukturen
nicht allen zur Last fallen, die davon profitieren, und das Vorhandensein
solcher Infrastrukturen wird von manchen egoistisch ausgenützt, ohne daß die
Bereitschaft zu Gegenleistungen vorhanden wäre. Die totale Deregulierung des
Wirtschaftens und der Ökonomismus führen zu Verzerrungen und Verwerfungen der
sozialen Welt, damit zu Betroffenheiten, die man nicht erahnte, zugleich zu
neuen Erscheinungen der Ausbeutung, welche besonders jene betreffen, die sich am
freien Spiel des Kapitalmarktes nicht beteiligen wollen oder können. Das
Gespenst, das neuerdings in Europa umgeht, hat andere Weltteile längst
heimgesucht. Der Konsens, der wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand mit
Lebensqualität und nachhaltiger sozialer Sicherheit verband, ist zwar erwünscht,
aber in der Praxis längst geopfert. Sind das für Europa wünschenswerte Zustände,
ist das eine Zukunft? NEIN, mitnichten!
Die Angst, an sozialer Sicherheit
zu verlieren -- und das heißt wohl automatisch, an langfristiger Sicherung einer
erträglichen, wenn nicht gar guten Lebensqualität zu verlieren -- bringt Skepsis
gegenüber allen Projekten von überstaatlichem, multilateralem und v.a.
wirtschaftsorientiertem Ausmaß mit sich, die sich vor allem gegen die
herrschende Politik richtet. Diese herrschende Politik in Europa hat oft und
oft unter dem Deckmantel der Vereinugung und Gemeinsamkeit der EU den reinen
Wirtschaftsinteressen gedient und auch jene Länder Europas betroffen, die
gar nicht Mitglieder der EU sind. Der Trend des Neo-Liberalismus und der
wirtschaftlichen Globalisierung geht viel weiter, da ihn Amerika und andere
Industrienationen durch die übergroße Konkurrenz und freien Handel nur
verstärken; er betrifft alle Länder der Welt, insbesondere die ganz armen der
sog. Dritten Welt, also Regionen ungeheuren Ausmaßes an Fläche und Bevölkerung,
und damit gerade Staaten, die nicht wirklich für diese Entwicklung waren oder an
ihr nur partiell teilnehmen können, oder aber trotz ihrer idealistischen
Zustimmung zu den genannten Abkommen von GATT und WTO nunmehr zu Opfern der
dadurch ausgelösten Tendenzen werden. Das dadurch angeheizte Konfliktpotential
bedroht den Frieden und die Sicherheit, ist einer der Faktoren für den jüngeren
Terrorismus, verursacht Massen an Hungertoten und Verelendeten, die wir von den
reich gedeckten Tischen unseres Wohlstandes durch Regulierungen und Gesetze,
durch Grenzen und Militär, fern halten.
Die Skepsis in Europa und v.a. in
Staaten der EU wie Österreich oder Deutschland war diesbezüglich gering, solange
man als Einzelner die Gewinne einstrich, auf der positiven Seite stand: Im
täglichen Einkauf, im Einzelhandel wurde mit dem Beitritt zu einer europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft manches billiger, zudem stieg die Zahl der Produkte, ja
die Produktpaletten selbst wurden mehr. Man freute sich des Lebens, verglich die
Situation mit der jüngeren Vergangenheit, lebte im Kaufrausch, sah sich in einer
Art neuen Kolonialismus wirtschaftlich über die Grenzen hinaus nach Osteuropa
tätig, holte sich billige Arbeitskräfte aus Staaten wie der Slowakei oder Polen,
Ungarn, Ukraine, um einfach das alte Spiel weiterzuspielen, das
Bruttonationalprodukt und das Wirtschaftswachstum ebenso zu steigern wie die
Zahl der Werktätigen und Beschäftigten und das eigene Einkommen. Dann allerdings
schlugen die Kosten zu Buche, die der Zusammenschluß der EU und deren
Erweiterung mit sich führten, zugleich schuf die gesteigerte Produktivität
Überkapazitäten, indes das Lohngefälle für die Abwanderung von Betrieben sorgte.
Auf einmal waren die Regierungen der EU-Staaten aufgrund von EU-internen
Abkommen die Stabilität der neuen Gemeinwährung EURO betreffend gezwungen, die
Staatsausgaben zu reformieren. Die schon seit den Siebziger Jahren ersichtliche
demographische Entwicklung erzwang Reformen des Pensionswesens. Die
Arbeitslosigkeit in vielen Bereichen stieg, zugleich nahmen und nehmen atypische
Beschäftigungsverhältnisse mit geringerer Entlohnung und anderen schlechteren
Bedingungen zu. Die soziale Entwicklung in Europa hat sich bereits von der
wirtschaftlichen entkoppelt -- denn die Börsen stiegen, gerade in Wien war
dies in den letzten zwei Jahren der Fall, die Gewinne aus Kapitalvermögen und
Anlagevermögen waren und sind unbedroht hoch, zugleich steuerlich weniger
belastet wie Unternehmen, Löhne und Gehälter, wobei die Belastung für die
Arbeitskräfte am höchsten ist. Die politische Wirkung ließ nicht auf sich
warten, besteht unter anderem in einer Stagnation der Binnennachfrage, sie
bestand und besteht in der oben erwähnten Skepsis, die sich mehrfach
auszudrücken wußte.
Da ist einmal jener Aspekt der Skepsis zu nennen, der
sich unter Begriffen wie Kritik an der Globalisierung, unter
Vereinigungen wie ATTAC, unter den Protestbewegungen gegen die Gipfeltreffen der
Reichen und Mächtigen formierte, wie man sie jüngst in Schottland sah. Die
wichtigsten Punkte dieser Kritik wurden schon erwähnt: Der neue Wohlstand,
der durch eine deregulierte Wirtschaft entsteht, verteile sich mitunter nur auf
jene, die darin als Unternehmer oder Anleger tätig sind, wobei die Anlageformen
sogar Instrumente zur Absicherung gegen Risken anbieten, indes die Arbeitskräfte
oft zu schlechten Bedingungen eingestellt werden oder überhaupt zu
Kleinunternehmern werden müssen, die für ihr Risiko wenig oder keine leistbare
Absicherung finden. Die Geschäfte der Banken und Versicherer blühen,
unabhängig vom Gang der Börsenkurse, weil sie an fixen Gebühren, berechenbaren
Tarifen und Spesen verdienen, also die Unwägbarkeiten des Marktes, dessen
Öffnung und Promotion sie betrieben haben, auf die Kunden abwälzen. Zugleich
steige die Verschuldung, die Zahl der Konkurse, die Zahl der in die Verarmung
und unter das Existenzminimum Getriebenen. Auch in Staaten wie Österreich
besitzen einige wenige Prozent der Bevölkerung mehr als 80% des gesamten
Nationalvermögens. Zudem hat die erwähnte Privatisierung und der Rückzug des
Staates manches an Gemeinvermögen veräußert, was jetzt von der Bevölkerung
teurer und schlechter serviciert als je zuvor eingekauft werden muß, was weitere
Finanzmittel aus der Schicht der Konsumenten in die Hände einzelner Unternehmer
schaufelt (für letzteres ist Großbritannien ein schlechtes Beispiel, wo der
Thatcherism bereits Vorreiter der Entwicklung war). Die Verteilung von unten
nach oben nimmt zu, der soziale Wohlfahrtsstaat hat also eine seiner
wesentlichen Funktionen verabsäumt, nämlich für die gerechte Verteilung zu
sorgen. Es nimmt Wunder, daß die Bevölkerung in manchen Staaten Europas
unter solchen Vorzeichen immer noch Unternehmer- und konservative Regierungen
wählt, wie etwa in Dänemark, Österreich, Italien oder bis vor etwas mehr als
einem Jahr in Spanien, neuerdings vielleicht wieder in Deutschland, das gerade
von Arbeitslosigkeit besonders getroffen ist. Doch hat in Deutschland die
rote Regierung Schröder nicht gerade dem Neo-Liberalismus gedient, die
EU-Osterweiterung bis nach Bulgarien, Rumänien, der Türkei betrieben? Kein
Wunder, daß die Unglaubwürdigkeit der rot-grünen Regierung diese zur
Vertrauensfrage und Neuwahlen treibt!
Ein anderer, damit verwandter
Aspekt der Skepsis rührt von rein ökonomischen Fakten her, die ihrerseits
vielfältige Ursachen in der technologischen Entwicklung, in der Dynamik der
Märkte, in der Politik im Sinne des Neo-Liberalismus, aber auch in
gesellschaftlichen Entwicklungen wie der Emanzipation der Frauen, der
Einwanderung, der Überalterung haben. Der Rationalisierungsdruck in der
Wirtschaft wird von Maßnahmen begleitet, die ihn in immer größeren Kreisen der
Gesellschaft wie ein Virus um sich greifen lassen. Es gibt keinen
Lebensbereich in den Gesellschaften der EU-Staaten mehr, der von den
Entwicklungen der letzten Jahrzehnte unbetroffen ist. Insgesamt wird einfach
das Bewußtsein der Gesellschaft in allen Schichten und Bereichen
monetarisiert -- Börsenkurse gehören zu allen Nachrichten und Medien,
tägliche Bewegungen dieser Kurse erhalten mehr mediale Aufmerksamkeit als so
manches Unglück oder die Entwicklung des Wetters, geschweige denn von wichtigen
politischen Entscheidungen. Die geschilderten Tendenzen zeigen uns, daß mit der
Liberalisierung vieler Bereiche der Wirtschaft und mit der Ökonomisierung des
gesellschaftlichen Lebens die EU in einer Art verändert wurde, die es vorher in
Europa nicht gab. Ganze Lebensplanungen richten sich auf einmal nach
ökonomischen Kriterien -- Pensionszeiten werden bereits im Schulalter zu
lukrieren versucht, Jugendliche werden durch Werbung und familiäre Einflüsse
schon früh zu modernen Anlageformen in Aktien oder Investmentfonds animiert, der
Konsumzwang gehört bereits zur sogenannten guten Kinderstube. Der schnelle
Gewinn aus arbeitslosem Einkommen winkt und verführt.
Die geschilderte
Skepsis führt zu Desinteresse, das sich kürzlich erst wieder manifestierte:
Als die Verfassung der EU nach langen Diskussionen des unter führenden
Politikern aller EU-Staaten gebildeten Konvents zur Abstimmung kam, war dem eine
lange Periode des breiten Desinteresses in allen oder fast allen Städten und
Regionen, Schichten und Familien Europas vorangegangen. Die Bürger der EU
interessierten sich für die zukünftige eigene Verfassung nicht, die ihnen über
nationalstaatliche Entscheidungsmechanismen vorgesetzt werden
sollte.
Dann kamen die bekannten negativen Ergebnisse der Referenden in
Frankreich und den Niederlanden, in Volksentscheiden direkter Art, obwohl
offenbar die Mehrheit der Wählenden oder zumindest der EU-Bürger wenig über den
Inhalt der Verfassung wußten. Dieses Paradox erklärt sich nicht aus
rationalen Entscheidungen, sondern aus Desinteresse und Skepsis. Die dadurch
ausgelöste Krise erlaubt viele Interpretationen, doch die vordergründigste wird
kaum erwähnt: Skepsis, nämlich Skepsis gegenüber den einen selbst
betreffenden Auswirkungen gegenüber, Skepsis vor den unbekannten und
unabschätzbaren Folgen, Skepsis der institutionellen und gesellschaftlichen, der
europäischen und globalen Revelanz einer solchen erwarteten, gar abverlangten
Zustimmung, einer solchen Neuordnung gegenüber. Ich glaube, daß das
Desinteresse für die hohe Politik einer EU-Reform und das konkrete NEIN für die
Verfassung einfach aus dem Empfinden stammen, daß der einzelne Bürger längst von
der Entwicklung überrollt ist und seine mögliche Stimmabgabe für gänzlich
irrelevant empfindet. Er sagt nicht NEIN zu konkreten Wahlmöglichkeiten, er
sagt NEIN dazu, daß seine konkrete Stimme keine Auswirkungen mehr hat. Er
sagt NEIN aus Furcht, daß die Verfassung der EU ihn noch mehr entmündigt. Er
sagt NEIN, weil er sieht, daß er alleine darin noch halbwegs demokratisch
bleiben kann, indem er NEIN sagt. War und ist er schon im Nationalstaat nur eine
Randfigur der Großparteien, ein demütiger, braver Bürger und Steuerzahler, so
sieht er sich im europäischen Überbau kaum vertreten. Da vertraut man lieber
dem bekannten Übel, anstatt unbekannte und womöglich noch größere
heraufzubeschwören. Paradox ist, daß es die Intention der Verfassung war,
den Bürger und die Demokratie in der EU zu stärken. Darum löst das Ergebnis
dieser Referenden Betroffenheit aus, auch bei mir.
Globalisierung,
internationale Abkommen, Wirtschaftsliberalismus und die Entwicklung der EU mit
Osterweiterung und Verfassungsgebung treffen auf Menschen in dem aufgeklärten,
gebildeten, reichen, friedlichen Europa, die diesen Entwicklungen gegenüber
zunehmend hilflos sind, sich zwar als Betroffene, aber nicht als
Mitentscheidende sehen, die glauben, daß es leere Rhetorik ist, daß sie
mitgestalten können, daß es eine fortschreitende Demokratisierung gäbe. Denn
selbst wenn sie für eine EU-Verfassung gestimmt hätten und damit die EU um
einige wichtige Punkte demokratischer gemacht, das EU-Parlament gestärkt hätten,
wären sie in wirtschaftlichen und sozialen Belangen immer noch unbeherrschbaren
Kräften gegenübergestanden, die viele von ihnen mit Angst erfüllen und zu
ständigen Änderungen ihres Lebens zwingen. Wozu für Demokratie sein, wenn die
Demokratie eigentlich nichts mehr zu sagen hat? Wozu, wenn die
wesentlichen Entscheidungsmöglichkeiten der Deregulierung und dem Markt geopfert
wurden? Das NEIN war nicht logisch, weil es aus genauer Kenntnis der
Vorschläge entstammte, sondern weil es sich gegen das ständige
Bevorschlagtwerden zur Wehr setzte. Die Politikerklasse, die als Jetsetter
von Gipfel zu Gipfel eilt, pro Reise und Person Tausende an Euros verjubelt und
in großen Photosessions vor schönen Gebäuden die Augen treu zum Bürger
telivisionär aufschlägt, diese Politikerklasse hat sich längst abgekoppelt von
den eigenen Wählern und Steuerzahlern. Was im Nationalstaat schon schlimme
Ausformungen annehmen kann, wirkt auf dem glatten Parkett der EU-Politik in
Brüssel, Straßburg, Den Haag, in Paris, London, Berlin, Rom, Maastricht, im
Fernsehen noch viel abschreckender. Die Bürgerferne ist es weniger als die
Politikferne; der erste Ausdruck (Bürgerferne) tut so, als wäre die Politik
das Zentrum, nach dem sich die Menschen zu richten hätten, der letztere
(Politikferne) stellt die Sache richtig: Die Politik hat sich nach den
Menschen zu richten, darin besteht und atmet der lebendige Geist der
Demokratie. Weil sie das weiß, hat sie das Wort von der "Bürgernähe" erfunden,
doch die Bürger sind ihr nicht nahe, und die Bürger fragen sich, ob sie der
Politik überhaupt noch am Herzen liegen.
Der Neo-Liberalismus hat für
den Einzelnen nicht unbedingt die Freiheiten erweitert oder die Freiheitsgrade
erhöht, oder wenn, so in geringerem Ausmaß als für die Kollektive und beinahe
feudalen Zusammenschlüsse, zu denen die Wirtschaft in Konzeren und Kooperationen
fähig ist; auch wenn das Warenangebot größer geworden ist, so ist die Frage,
wie man als Einzelperson seine Kaufkraft erhält, ungleich wichtiger. Es ist
richtig, daß in Österreich seit dem EU-Beitritt die Regale vor Joghurt-Sorten
nur so strotzen -- doch diese Angebotsvielfalt kann man nur dann genießen, wenn
die Nachfrage sich ebenso ausfalten kann. Das ist das eigentliche Paradox des
Zusammengehens von propagierter Demokratisierung und wirtschaftlichem
Liberalismus: Daß die Freiheit für die Kollektive auf Kosten der Freiheit des
Individuums geht, wenn man hier unter Freiheit die Freiheit für tragbare
Entscheidungen und von Zwängen versteht. Rein theoretisch ist natürlich der
Bürger frei für den Konsum und die Reisen, doch praktisch fragt es sich, ob er
sich davon nicht vorher mehr und besseres leisten konnte als
jetzt.
Das Element, das fehlt, ist ein sozialpolitisches, das sich auf
die EU und Europa ausweitet, ein Element, das bislang, wenn überhaupt, dem
Nationalstaat zur Stützung von dessen Souveränität vorbehalten bleibt. Was die
Wirtschaft in eine Richtung bringt, muß die Sozialpolitik ausgleichen.
Gewinnorientiertes Denken schadet sich selbst, wenn es nach Ausgleich und
Gerechtigkeit strebt. Die Sicherung von Standards als Sache der Gerechtigkeit
kann keinem Markt überlassen werden. Beide Momente gehören zusammen. Dieser
Mangel an europäischer Politik ist der tiefere, der eigentliche Grund für
die geschilderte Skepsis, die in ihrer auch von mir bedauerten Wirkung das
hochsinnige Projekt einer europäischen Integration in eine Krise gestürzt hat.
Macht hat nach wie vor, wer die Sozialpolitik bestimmen kann, denn da sind
die meisten Wählerstimmen zu holen -- und es sind großteils die nationalen
Regierungen, die diese Macht nicht aus den Händen geben wollen. Zugleich schreit
die Wirtschaft Zeter und Mordio, wenn von europäischer Sozialpolitik die Rede
ist -- aus Angst vor neuen Kosten, aber auch, weil für die Unternehmer- und
Anleger-Wirtschaft der jetzige Zustand am besten ist. Die Instrumentalisierung
der Nöte und Bedürfnisse war immer schon nationalstaatliche wie auch
wirtschaftliche Politik, die diesmal freilich die europäische Idee selbst zu
zerstören droht. Übertrüge man der EU als staatsübergreifenden Institution
manches an sozialpolitischen Aufgaben, so würde die Machtfülle mancher
Großmächte Europas schwinden und sich nicht mehr gegen die gemeinsame Sache
wenden; zugleich würde man endlich daran gehen, die multinationalen Konzerne
zu bändigen, die ohne Schranken und nunmehr auch über die Grenzen hinweg
agieren, in einer Flexibilität, die sich immer mehr der des Finanzkapitals
anpaßt und mit der kein Arbeitnehmer Europas, so flexibel und gut ausgebildet
auch immer, langfristig mithalten kann. Vieles am jetzigen Konflikt zwischen
Frankreich und England muß auf diesem Hintergrund gedeutet werden.
Wenn
früher die Sicherung des geschaffenen und über die Zeiten geretteten
Wohlstandes über die Solidarität geschah, welche sowohl im Querschnitt der
jetzigen Generation als auch im Längsschnitt über Generationen hinweg galt, so
wird jetzt der Wohlstand durch Maßnahmen der Anlagewahl geschickt abgesichert.
Die staatliche Politik in manchen Bereichen und manchen Staaten geht ganz
dezidiert in diese Richtung. Nicht nur, daß Staatsvermögen und in Staatsbesitz
befindliche Betriebe veräußert werden, auch die Gesundheitssysteme und
Wohlfahrt, die Pensionssicherung und die Schulbildung der Kinder werden in
private Hände gelegt. Daß damit die Reichen bevorzugt werden, liegt auf der
Hand. Die Folge dieser Entwicklungen ist, daß das Know-How und die finanziellen
Ressourcen einiger weniger zur Erlangung und Weitergabe von Reichtum hinreichen,
auf Kosten vieler.
Das Finanzkapital sucht sich seine sicheren Häfen
selbst, indes die verrottenden Werften den Ansässigen und von den Arbeitsplätzen
Abhängigen bleiben. Die Kosten für die Arbeitslosigkeit breiter Massen und
für die Aufwände des Staates werden solidarisiert und über die Gesellschaft
verteilt; die Gewinne, die aus der Dynamik gezogen werden, hingegen nicht.
Das ist die aberwitzige Gerechtigkeit, die der Neo-Liberalismus kennt. Wenn eine
Form des Liberalismus noch nach Freiheit und Eigenverantwortung rief, nach
Selbstbestimmung und den Grundfreiheiten in Äußerung und Religionsausübung, in
Berufs- und Partnerwahl, so hat es diese Neuform einer Freiheitsideologie
geschafft, die Bedeutung dieser Grundfragen gegen die Meßbarkeit in Geld
einzutauschen. In Wahrheit haben sich die Kinder unserer Zeit die Freiheit
der richtigen Wahl abkaufen lassen.
Wenn Aktienkurse zu Steigerungen
animiert werden, indem ein großer Konzern Personal abbaut und Arbeitnehmer auf
die Straße setzt, so sind die Gewinner dieser Maßnahme jene, die rechtzeitig in
das betreffende Wertpapier investierten, nicht die Gesellschaft, und auch nicht
unbedingt die Konsumenten. Die Gesellschaft mag ein weniges an Steuern von den
Spekulationsgewinnen lukrieren, muß aber dafür ein vieles aufbringen, um die
Beschäftigungslosen zu erhalten, die Schulsysteme nach den wandelbaren
Bedürfnissen der Wirtschaft umzugestalten, den Staat in den Rachen der
Geldmacherei zu werfen. Die Gesellschaft muß ständig dem Staat die Mitteln
geben, die sie im Namen der Freiheit auf den richtigen Kurs trimmen kann,
sprich: auf den Neo-Liberalismus hin konditioniert. Für die Zuwendungen an
Arbeitslose und Sicherung eines Existenzminimums ist die ganze Gesellschaft über
den Fiskus zuständig, sodaß die Kosten der Maßnahme alle mittragen müssen, indes
jene wenigen Gewinner der Entwicklung ihr Vermögen egozentrisch verprassen oder
gar ins steuerschonende Ausland verschieben. Das ist eine überaus geschickte
Form der Rationalisierung, die der Produktivität der Gewinnsteigerungen für
einige wenige Privilegierte nützt, die Gesellschaft aber zur Geisel nimmt
und gleichzeit jene Reservearmee an Arbeitslosen schafft, von der Karl Marx
spricht und deren Vorhandensein natürlich den Rationalisierungsdruck steigert,
weil er die Löhne nach unten drückt. Das ist nur ein Beispiel dafür, welche
Auswirkung die Verzerrung und Auflösung der Solidarisierung hat; eine Krähe
hackt der anderen kein Auge aus, darum ziehen die Banken und die Geschäftemacher
aus dem Finanzsektor nur zu gerne an einem Strang. Genau jene sind es, die gegen
politische Vorschläge von der Existenzsicherung durch ein Grundeinkommen
polemisieren -- ein solches würde ja die Triebkraft der Angst lähmen, welche die
Kleinanleger treibt, ihr sauer Erspartes in einen Pensionsfond einzuzahlen.
Für den Kleinen ist die Zukunftssicherung dem Zufall überantwortet worden,
indes die Großen ihre Zukunft durch vielfältige Streuung mit Gewißheit zu
sichern wissen.
Hier von einem Auseinanderfallen der Gesellschaft zu
sprechen, ist bloß eine Metapher, die den wesentlichen Mechanismus verkennt, der
dahinter steht: Dem Egoismus wird der volle Spielraum gelassen, zu Lasten des
Gemeinschaftssinnes. Das höhlt letztlich jede Gemeinschaft aus, sodaß es
nicht Wunder nimmt, wenn die Gesellschaft die Aufgaben, die dem Staat
aufgebürdet wurden, nicht mehr finanzieren will oder kann. Der Abbau des
Sozialstaates ist eine weitere Folge, womit sich Europa wieder einen Schritt
weiter auf dem Weg zur Amerikanisierung begibt, wo der freie Wettbewerb eine
Ungezügeltheit und Brutalität erreicht hat, welche Ungerechtigkeiten schafft und
Existenzen vernichtet, gegen die gerade die Solidarität des Sozialstaates
antreten können soll. Europa und insbesondere die EU hat sich leider diesem
Trend in den letzten Jahren nicht verschlossen. Und da fragt man noch, warum die
Bürger und Wähler skeptisch sind?
III. ABSTRAKTES, KONKRETES UND
PRAKTISCHES
Angesichts der jüngst aufgebrochenen,
lang verdeckten Krise Europas, die nicht nur eine Frage der EU ist, muß sich
Politik in einem Spiel zwischen den Polen des Abstrakten und des Konkreten
abspielen. Nur Forderungen auf den Tisch zu legen oder bloß Tagespolitik zu
betreiben, wäre zu wenig. Europa ist in einem Wandel begriffen, den es zuvor nie
gab. Der Prozeß der europäischen Integration muß in seiner derzeitigen
Gestalt der EU als unabgeschlossen und kontinulierliche Dynamik verstanden
werden. Die Verfassung der EU hätte an diesem Faktum nichts geändert, sie
hätte bloß das Faktum anders umrahmt, die Dynamik in gewisse Bahnen zu lenken
versucht. Das ist jetzt gescheitert, aber die Aufgabe bleibt
bestehen.
Die Prinzipien, unter denen sich Europa entwickelt, stehen
großteils fest: Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung, Marktwirtschaft (im
Unterschied zur kommunistischen Planwirtschaft), Fortführung des
Zivilisationsprojektes der Aufklärung, an deren Spitze Europa für lange
Jahrhunderte fast ohne Unterbrechung führend gestanden hat. Die EU hat diese
Prinzipien explizit oder implizit akzeptiert und zu den eigenen gemacht.
Diese Prinzipien sind unaufgebbar. Die Prosperität Europas kann nicht wie
jene Asiens ohne Demokratie vonstatten gehen, dazu sprechen zu viele Ereignisse
der Geschichte, die Revolutionen der Stände, Bauern, Arbeiter, der Wünsche der
Bürger dagegen. Ähnlich wird auch eine große Wandlung geschehen, welche die
Privilegien der Einkommen aus Vermögen und Zinsen beschneidet.
Konkrete
Antworten scheinen allerdings schwerer zu fallen als die abstrakten, denn
letztere lehnen sich gerne an rhetorische Phrasen an, indes erstere Taten zu
bestimmten Zeiten verlangen. Nun, seit den Abstimmungen in Frankreich und den
Niederlanden, seit Luxemburg den Vorsitz in der EU an Großbritannien turnusgemäß
abgegeben hat, liegt der Ball bei Tony Blair, dem britischen Premier. Blair hat
nun Vorschläge gemacht, Forderungen gestellt, die in Konfrontation einerseits
mit bestimmten Vorstellungen von Einzelstaaten, andererseits mit dem status quo
des Regelwerkes der EU stehen. Dies ist auf Gegenvorschläge und politische
Äußerungen gestoßen, die die eigentliche Krise ausmachen, da sie allesamt in
sich unvereinbar erscheinen, daher nicht alle zusammen umgesetzt werden können.
Allein das wäre noch keine konkrete Krise zu nennen, da dies der Geist der
Politik schlechthin ist. Daß ein Konsens aber unmöglich erscheint, ist
erschreckend.
Die Terroranschläge in London vom 7. Juli 2005 sollen
uns von der Findung und Etablierung eines Konsenses und der Überwindung der
letzten Auseinandersetzungen und Differenzen in der EU nicht abhalten. Die
Anschläge auf Einrichtungen in London waren Anschläge auf Europa und ein
zivilisiertes Zusammenleben. Sie kamen wahrscheinlich von Gruppierungen des
Islamismus und anderer Radikaler, deren Ziele über die reine Feindschaft und
Aggression hinaus nicht wirklich rational und durchschaubar sind; sie dürften in
der Ausübung blinden Hasses auf den Westen und die anglosächsische Welt bzw.
deren Verbündete bestehen, was zur Eskalation beiträgt und den sog. "Krieg gegen
den Terror" verlängert. Eine Verlängerung dieses Krieges gegen den Terror in
der vorherrschenden Form liegt nicht im Interesse Europas; wer den Nutzen
aus der Eskalation zieht, ist eine eminent bedeutsame politische und soziale,
aber auch strategische Frage, auf die es offenbar in Europa andere Antworten
gibt als in den USA. Wer auch immer dahinter steht, man sollte bisher
unangedachte Möglichkeiten nicht außer Acht lassen, u.a. die Frage nach der Wahl
des Terrorismus als politisches Mittel seitens gewisser Regime im Fernen oder
auch Nahen Osten. Es steht zu hoffen, daß der Terror nicht dazu führt, daß die
Aufmerksamkeit sich auf eine Rhetorik des Krieges anstatt auf kluge und
verantwortliche Politik richtet. Wenn es Ziel der Anschläge war, eine Reform der
EU zu verhindern, Tony Blair von seinen Vorschlägen abzubringen, so ist es jetzt
an der Zeit, durch Standhaftigkeit und Festigkeit das Gegenteil zu beweisen, und
zwar über die Beschlüsse des Gipfels in Schottland hinaus. Der Rest ist den
ermittelnden Behörden zu überlassen, die in internationaler Kooperation die
Schuldigen und Drahtzieher fassen wird, mit breiter europäischer und
internationaler Unterstützung, welcher sich nicht nur Spanien oder Deutschland,
Österreich oder Rußland, sondern auch die USA und China angeschlossen
haben.
Nun, Blair schlug vor, die Subventionierung der Agrarkultur und
Agrarindustrie stark zu kürzen und die frei werdenden Mitteln in die
Förderung von Innovation, Wissenschaft und Bildung zu stecken. Er stellte
außerdem in Aussicht, den seinerseits von Thatcher ausgehandelten Rabatt für den
Beitrag der Briten zum EU-Budget zu kürzen, allerdings nur im Tausch gegen
bestimmtes Entgegenkommen. Damit hat er nicht nur Verhandlungsbereitschaft
innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen signalisiert, er hat vielmehr einen
Wandel der EU vorgeschlagen, der für sich genommen gar nicht so schlecht wäre.
Zugleich hat er Bedingungen des Wandels vorzugeben versucht.
Dagegen
spricht der französische Präsident Jacques Chirac, der sich als Konservativer
vor die Bauern Frankreichs stellen muß, die u.a. von den Subventionen der EU
profitieren. Die Forderung, daß die Briten endlich volle Beiträge wie auch
die anderen Nettozahler unter den EU-Staaten leisten sollen, wird auch hier
erhoben, was sicherlich der Fairness entspräche, indes sich Länder wie die
Niederlande, die pro Kopf die größten Nettozahler sind, oder Schweden gegen ein
Anwachsen des EU-Budgets aussprechen, ihre Beiträge reduziert oder gedeckelt
sehen wollen, die neu beigetretenen Mitgliedsstaaten aber naturgemäß fürchten,
von den Einsparungen insofern betroffen zu sein, als ihnen zugesagte Förderungen
versagt werden. In Österreich wie Deutschland gibt es diesbezüglich ähnliche
Stimmen, wie sie andere Nettozahler äußern. Länder hingegen wie Spanien oder
Griechenland, die offenbar den seinerzeitigen Stabilitätspakt zur Sicherung der
Gemeinschaftswährung untergruben, aber auch Italien lassen von sich hören, daß
sie neue Erweiterungen nicht mittragen wollen. Die Briten selbst waren ohnehin
immer skeptisch zur EU-Osterweiterung, welche maßgeblich von Deutschland
betrieben wurde, und Deutschland unterstellt vielleicht zu Recht den Briten, daß
sie die Union verflachen und aushöhlen wollen, um eine reine
Freihandelszone einzurichten: Der Vorschlag, die Türkei solle der EU beitreten,
bekam Unterstützung von Seiten der USA (die gar kein Mitgliedsstaat der EU
sind), und von deren engstem Verbündeten, den Briten, woran sich seltsamer Weise
die Deutschen schlossen, indes Österreich und Frankreich sich skeptisch
verhielten. Daß Rumänien und Bulgarien für spätestens 2008 ein Beitritt zur EU
in Aussicht gestellt wurde, war den Briten auch recht, weil er weiter zur
Verdünnung der EU-Suppe beiträgt.
So hat sich also eine verfahrende
Situation ergeben, die nicht die Lösung durch Erfüllung aller konkreten
Forderungen und Ankündigungen bringen kann. Die andere Alternative, daß sich die
EU auflöse, wäre aber dennoch die schrecklichere. So bleibt nur zu hoffen, daß
unter Wahrung der abstrakten Prinzipien und des Bekenntnisses zur europäischen
Integration konkrete Kompromisse geschlossen werden, für die nun mögliche
Vorschläge angerissen seien:
- Was die Subventionen der Agrarindustrie angeht, so sind diese von derzeit
ca. 40% des EU-Budgets auf jeden Fall auf die Hälfte herunterzufahren, wobei
dies allerdings keinesfalls sofort und ohne Übergangslösungen gemacht werden
darf. Dies muß allmählich und schrittweise in absehbarer Form geschehen und
muß die aus den Entlastungen des EU-Budgets lukrierten Summen ökologisch,
zukunftsträchtig und nachhaltig reinvestieren, u.a. auch in Forschung. Tony
Blairs Vorstoß in diese Richtung hat seine Berechtigung. Hier konkrete Zahlen
zu nennen, wäre unklug, doch mein vorsichtiger Vorschlag wäre, daß diese
Subventionssenkung um einen langsam steigenden, einstelligen Prozentsatz
geschieht. Daß davon auch die Dritte Welt profitiert, die so mit ihren
Erzeugnissen von den Märkten der EU ferngehalten wird, ist kein Nachteil. Der
Abbau der Agrarsubventionen könnte auch ein Teil einer transatlantischen
Politik werden, wie Geroge W. Bush und T. Blair jüngst in Aussicht stellten.
Im übrigen muß man genau fragen, wem und welchen Bauern, welchen
Betriebsgrößen die Förderungen in welchem Ausmaß zugute kommen, ob also nicht
gerechtigkeitshalber die Struktur der Förderungen und Subventionen sowie ihr
Bezieherkreis und ihre Verteilung zu modifizieren wären.
- Die Förderungen für Wissenschaft und Innovation müssen nicht nur
flexibler, sondern von bisherigen Bindungen an etablierte Institutionen
befreit werden, ohne daß diese ihrer Mittel entblößt werden. Da diese
Förderungen steigen können, sobald das Budget von den Subventionen im
Agrar-Bereich erleichtert wird, ist das durchaus im wachsenden Ausmaß
finanzierbar. Die dadurch zu fördernden Forschungen und Innovationen müssen
den Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit, ökologische Verträglichkeit und Sicherung
der Zukunft in sozial verträglicher Weise legen; keineswegs darf unter
Innovationsförderung nur das Gewicht auf technologischen Fortschritt gelegt
werden; die Grundlagenforschung und die Forschung in nicht verwertbaren, nicht
markt-applikativen Bereichen sind ebenso wichtig, weil ihre Erkenntnisse und
Ergebnsisse oft wichtige, nicht monetär bewertbare Leistungen
betrifft.
- Das Zivilisationsprojekt der europäischen Integration muß weitergetrieben
werden, was insbesondere im Rahmen der EU bereits auf vorhandene Strukturen
und Vorleistungen stößt, an die anzuknüpfen ist. Insbesondere ist ein neuer
Konvent einzuberufen, der die Souveränitätskonzeption der EU-Organe
diskutiert und in Dokumente und Regeln schließt, die der demokratischen
Sanktionierung durch das EU-Parlament vorzulegen sind. Die EU-Verfassung
ist nicht vom Tisch, muß aber breit diskutiert und bekannt gemacht werden,
ehe sie nach einer Modifikation und Anpassung neuerlich zur Abstimmung kommt.
Der Abstimmungsprozeß muß dabei den europäischen Bürger im Auge haben und
sollte allen Nationalstaaten als den EU-Mitgliedern das gleiche Procedere
vorschreiben, damit nicht wie zuletzt ein Land im Parlament, ein anderes das
Volk selbst abstimmen läßt, indes wieder andere die Ergebnisse abwarten, um
dann einfach zu sagen, das Projekt sei gestorben. Das Projekt ist weiterhin am
Leben und virulent, weil es wichtige Regulierungsfragen betrifft, die nur
sträflich unbeantwortet bleiben. Das Ziel ist es, die Einwohner der EU zu
wirklichen und vollverantwortlichen Bürgern einer demokratischen EU zu machen,
die kein Superstaat sein wird, kein vereinigter oder föderaler Staat, sondern
eine Form der Kooperation von Nationalstaaten als den tragenden Mitgliedern
der Union festschreiben soll.
- Die Zukunftssicherung für die EU muß strategisch in politischer, sozialer,
wirtschaftlicher, militärischer, ökologischer Hinsicht im Hinblick auf das
geostrategische Umfeld und die Herausforderungen desselben gestaltet werden.
Als Zivilisationszentrum hat die EU hier globale Verantwortung, sowohl
was Treibhaus- und Klimaeffekte als auch den Nord-Süd-Konflikt anbelangt.
Manches ist hier bereits geschehen, vieles bleibt noch zu tun.
Verbesserungswürdig sind auf jeden Fall konzertierte, durchdachte,
langfristige Maßnahmen und Lösungen, so sie nicht gänzlich fehlen. Dieser
Punkt wird im Prozeß der europäischen Integration und hinsichtlich der
globalen Entwicklung je und je zu konkretisieren sein. Ein hoher Ölpreis ist
da nicht unbedingt ein Nachteil, er kann als zusätzlicher Anreiz gesehen
werden, technologische Innovationen in Richtung ökologischer Umgestaltung
unserer sozialökonomischen Verbrauchs- und Produktionssysteme, unseres
diesbezüglichen Verhaltens und unseres Ressourcenverbrauchs zu
fördern.
- Das institutionelle Gefüge der derzeitigen EU muß nachhaltig konsolidiert
werden. Das EU-Parlament ist als der wesentliche Entscheidungsträger zu
stärken, aus ihm soll der Kreis der für die Politik der EU
Verantwortlichen gewählt werden. Dies beinhaltet eine Umgestaltung des
Hohen Rates zu einer Zweiten Kammer des EU-Parlaments mit Veto-Rechten,
wofür die Möglichkeiten der hohen nationalstaatlichen Politiker, auf die
EU-Entwicklung direkt Einfluß zu nehmen, zu beschränken sind. Wie sich das
Zusammenspiel von EU-Parlament, EU-Kommission und nationalstaatlichen
Regierungen gestalten wird, ist neu zu diskutieren, kann hier nicht
vorentschieden sein. Das EU-Parlament muß auch die Macht erhalten, EU-weite
Steuern einzuheben bzw. zu beschließen, deren Exekution durch die
Nationalstaaten nur dann zu erfolgen hat, wenn diesbezüglich keine
Souveränitätskonflikte aufkommen. Das wird nur durch einen Abtausch und eine
Angleichung von Steuerregelungen gelingen. Um der Zentralisierung und
mangelnden Regionalvertretung vorzubeugen, sind im EU-Parlament
Regionalvertretungen einzuführen, welche dann teilweise die
nationalstaatlichen ersetzen mögen. Der EU-Bürger muß auf jeden Fall seine
Regionalvertretung und seine Nationalvertretung im EU-Parlament direkt wählen
können. Stimmenkauf und Lobbyismus, wie in den USA Gang und Gäbe, sind zu
unterbinden, wofür eigene Kontrollmechanismen zu schaffen sind. All das ist
natürlich nur skizzenhaft gesagt, soll aber Zündstoff und Ideen liefern für
weitere Debatten.
- Die Krise verdankt sich auch eindeutig einem Mangel an europäischer
Öffentlichkeit. Im zwischenstaatlichen Bereich gibt es bereits Ansätze,
Medien zu schaffen, die eine über die nationalstaatlichen Grenzen
hinausgehende Öffentlichkeit ansprechen. European Broadcasting und
bilinguales Senden etwa von französisch-deutschen Kooperationen aus sind gute
Vorreiter. Es müssen Zeitungen durch die EU gefördert werden, die mehrsprachig
in gut aufbereiteter Form für alle Schichten der Bevölkerung europäische
Themen bewältigen und unter Anteilnahme der Öffentlichkeit diskutieren. Das
Schaffen von europäischen Interessensvertretungen für Arbeitnehmer und
Arbeitgeber, für politisch Parteien und Vereine ist zum Teil schon angelaufen,
hat schon reüssiert, muß jedenfalls in die politischen Entschedungsfindungen
durch Repräsentation auf EU-Ebene eingebunden werden.
- Schließlich ist der österreichische, aber auch von anderen Seiten
vorgebrachte Vorschlag einer Vertretung der EU im UNO-Sicherheitsrat durch
eine Stimme oder durch ein EU-Gremium an Stelle von fixen Mitgliedschaften
der Briten, Franzosen und eventuell auch Deutschen zu diskutieren. Eine solche
Vertretung der EU in der UNO darf dann aber nicht nationalstaatlich
bestimmt werden, sondern muß dem EU-Parlament verantwortlich sein. Im
internationalen Umfeld und im Zusammenspiel mit den anderen Nationen muß die
EU eine konsistente und konsequente Außenpolitik entwickeln, was vielleicht
nur gelingen kann, wenn sie sich von der nationalstaatlichen Außenpolitik
emanzipiert, die oft von den Großmächten geprägt wird. Dies wird umso leichter
gelingen, je stärker der EU-Parlamentarismus wird und sich in unteren Gremien
und Verwaltungsebenen, aber auch in der Arbeit der Kommission und in der
Beschränkung des Hohen Rates auswirkt.
Diese Vorschläge
enthalten ein Zukunftsprojekt, das in der Fortführung des schon
Begonnenen besteht. Wenn sie auch nicht alle realisiert werden mögen oder
gar keiner davon realisiert wird, so markieren sie doch die Richtung, in der die
Entwicklung gehen sollte. Dahinter steht ein großer Idealismus, der nicht mit
Naivität zu verwechseln ist. Es ist der Idealismus eines Denkers, der sich mehr
und mehr als Europäer versteht, auch und gerade als geborener Österreicher, der
seine nationale Zugehörigkeit begrüßt. Daher sind die Gedanken, die hier
geäußert werden, Ausdruck einer Form der Teilnahme am Diskussionsprozeß, die in
multiplizierter Weise von Intellektuellen äußerst notwendig und wichtig ist. Es
genügt nicht, ab und an als Österreicher an einem Forum Alpbach
teilzunehmen, einzelne Wortmeldungen abzugeben, sich hie und da in einer Debatte
im Fernsehen vertreten zu lassen. Man muß hier Stellung beziehen, und die
Stellung, die viele Intellektuelle bisher bezogen haben, war als eine des
skeptischen Schweigens und der Ignoranz einfach zu flach und zu minder. Wer
sich vor einem neo-liberalen Europa fürchtet, wer Kultur, Kunst, Philosophie,
Humanwissenschaften, sog. Orchideenfächer, Geisteswissenschaften, marktfreie
Grundlagenforschung, Vielfalt der Medien u.a.m. bedroht sieht, der muß daran
mitarbeiten, daß sich Europa und die europäischen Länder anders, besser,
nachhaltiger, erträglicher entwickeln. Als Intellektueller hat man die
Aufgabe, sich eine Meinung zu bilden und durch die eigene, argumentierte Meinung
zur Bildung und Information anderer beizutragen.
Die Gefahren, die auf
dem skizzierten Weg eines Zukunftsprojektes drohen, sind allerdings nicht zu
unterschätzen. Konkret seien da einige Fragen aufgeworfen:
- Hat Großbritannien mit seiner Eigensinnigkeit auch ehrliche Vorschläge
gemacht -- oder fährt es einen Kurs, der die EU spalten, aufreiben,
zersplittern soll, in Verfolgung des alten Zieles der Schaffung einer
Freihandelszone?
- Liegt Frankreich an seinen Bauern wirklich so viel, daß es das europäische
Projekt gefährdet, was im übrigen auch nicht hilft, die Arbeitslosigkeit zu
bekämpfen, da die Förderung der Landwirtschaft vielfach gerade die
Großbetriebe stützt und nicht Arbeitsplätze bringt?
- Kann Österreich einer Kürzung der Agrarmittel, die es von der EU erhält,
zustimmen, wenn seine Topographie es zwingt, nationale Mittel für den Ausfall
von Förderungen einzusetzen, wenn von einer entsprechenden Kürzung Bergbauern
und kleine Betriebe betroffen sind? Ist es da nicht klug und ratsam, eine
Umgestaltung dieser Subventionen mit deren Kürzung anzustreben? Was ist aus
den Reformvorschlägen des seinerzeitigen Kommissars Franz Fischler geworden,
der die Agrar-Subventionen in der Tierhaltung an fixe Flächengrößen pro Tier
binden wollte, um die Tierfabrikation in Massenställen und die zum BSE-Skandal
führenden Entwicklungen zu verhindern? Wenn in der Tat nur 5% der Förderungen
im Agrarbereich bei den kleinen Bauern landen, so muß man sich fragen, welche
Betriebe eigentlich die restlichen Anteile kassieren und ob dort nicht
einzusparen ist.
- Wie ist die Verkehrsproblematik zu sehen, die Österreich als
Transitland besonders trifft -- werden solche Themen, die nur einzelne
Mitgliedsstaaten angeht, plötzlich EU-weit gar nicht mehr behandelt?
- Wird es Minderheitenrechte für Mitgliedsstaaten der EU geben, oder werden
nur mehr die Majoritäten regieren, die jetzt schon vieles blockieren? Wird
gerade in Hinsicht auf den Verfassungskonvent nun etwas Neues auf die Beine
gestellt, daß die Form der Kooperation innerhalb der EU, die Institutionen der
EU selbst reguliert und fixiert?
Auch an konkreten Vorschlägen
für Österreichs Politik und der Politik der kleineren Staaten ist einiges
vorzubringen, das keineswegs kontraproduktiv sein oder große Staaten
gegeneinander ausspielen soll:
- Zusammenschluß ist hier wichtig, den Großen muß einerseits
das an Stimmgewicht eingeräumt werden, was ihrer Bevölkerungszahl entspricht,
andererseits muß ihnen etwas entgegengestellt werden, daß sie dazu bringt,
nicht nur untereinander zu kooperieren, sondern ohne Gängelung der Kleinen
auf deren Anliegen einzugehen.
- Der gute Kontakt zu Ländern außerhalb der EU kann von
kleinen Staaten wie Österreich mitunter besser und für die EU nützlicher
bewerkstelligt werden, als ein kompliziertes diplomatisches Getriebe.
Realitäten werden dann ohnehin in politische Fakten einfließen.
- Österreich soll und wird sich zu den osteuropäischen, den
mittel- und südeuropäischen Staaten außerhalb der EU weiterhin als Partner
verhalten.
- Wirtschaftspolitisch sind die Räume der Ukraine, Weißrußlands,
der Republik Moldau, Rußlands selbst, des Kaukasus, auch der Türkei für
Österreichs Handel zusehends wichtig.
- Innerhalb der EU kann hier Österreich informelle Kontakte
nützen, zugleich auch weiterhin seine Rolle spielen, deren Bedeutung
überproportional im Vergleich zur Größe des Landes ist.
- Die Präferenz für einzelne EU-Mitgliedsstaaten ist vorsichtig
zu handhaben, die kulturelle Nähe zu Deutschland, der Schweiz, zu Italien,
Ungarn, Tschechien, der Slowakei, auch zu Kroatien sollte nicht zu politischen
Meistbegünstigungen führen, aber Kooperationen nicht ausschließen; die
Vernachlässigung einer guten und engen Kooperation mit Großbritannien,
Frankreich oder Spanien kann sich einmal rächen.
- Als Sitz von über-nationalen bzw. internationalen
Organisationen wie der OPEC und der UNO, der OSCE und IAEA wird Österreich
auch weiterhin eine europäische und internationale Rolle spielen, die niemand
mit dem Spiel einer Großmacht verwechseln wird. Das prädestinierte uns schon
zuletzt dafür, in der Außenpolitik der EU eine repräsentative Rolle zu
übernehmen. Das Vertrauen, das wir diesbezüglich im Westen wie im Osten
genießen, darf nicht verspielt werden. Es muß aber auch gefragt werden, ob
wir es im Norden und Süden noch haben und nicht besser erringen sollten. In
beiden Fällen ist die Neutralität eine gute Entwicklungshilfe für die
österreichische Rolle.
Nicht zuletzt sei darauf aufmerksam
gemacht, daß der Verfasser dieser Gedanken Europäer ist, aus Gründen seines
Werdegangs, nicht wegen eines Aufdrucks in seinem Paß, aus Überzeugung und nicht
wegen des Zufalls der Geburt. Europa wird von ihm als ein Modell dafür
verstanden, wie die Zivilisation nach und in der Phase der sog. Globalisierung
aussehen und gelingen gehen kann, wo die Schäden und Opfer der Veränderungen
gering gehalten werden, wo seit sechs Jahrzehnten Friede herrscht, der
nur im unseligen Yugoslawienkrieg und dessen Nachfolgekonflikten durchbrochen
wurde, aufgrund der europäischen Schwäche, die es zu beseitigen gilt. Als Bürger
eines neutralen Landes begrüßt er ein demokratisches und soziales Europa des
Wohlstandes der breiten Masse, eines Kontinents, der sich an ein erneuerndes und
demokratisiertes, rechtsstaatliches Rußland ebenso annähern wird wie an einen
sich zivilisierenden Nahen Osten, ohne die gute und für beide lebenswichtige
transatlantische Bindung an die USA zu verlieren. Dies zieht kein Plädoyer für
das Ende der NATO nach sich; die NATO befindet sich selbst im Wandel, hat mit
der Partnership for Peace den Kalten Krieg beenden geholfen. Die
transatlantische Bindung wird sich nicht lösen, allerdings werden die
nächsten Jahre zeigen, ob sie sich festigen kann und ob sie noch ausbaufähig
ist. Dies hängt auch von den USA und deren Präsidialpolitik ab. Gefragt werden
muß, inwiefern nach China und Indien zu sehen ist, welche Entwicklungen dort zu
fördern wären, ob eine Ausweitung mancher Faktoren des europäischen Projekts
nicht auch für diese Länder zu deren eigenen Vorteil nützlich, der Menschheit
aber dienlich wäre. Die EU muß da nach Wegen der Kooperation suchen, die nicht
in der Anbindung an sie gegen andere Bindungen bestehen kann, sondern den Weg
weitergeht, der die Globalisierung zivilisiert, d.h. deren soziale und
ökologische Begleiteffekte mit im Auge hat, um sie möglichst schonend und
verträglich zu machen.
Die Paarung von politischer Naivität mit
Abgebrühtheit zur Machtpolitik, welche das Schicksal der Welt und Europas im
Kalten Krieg den Ideologien überließ, muß überwunden werden. Die weltweite
Friedenssicherung kann nur durch zivilisatorische, nicht durch militärische
Maßnahmen und Entwicklungen erfolgen; daher muß Europa im Sinne des
Kyoto-Abkommens und der ökologischen Politik für eine Wirtschafts- und
Energiepolitik eintreten, die der Menschheit insgesamt ohne Ansehung der
Nationalität und Staatsbürgerschaft zugute kommt. Denn die Zeit des
Nationalstaates, der in Europa mit dem Frankreich Richelieus und Rousseaus, mit
der Französischen Revolution, mit dem code civil begonnen, der mit der
britischen Rechtsordnung sich verbreitet hat, der sich in hunderterlei Gestalt
in Staatsgebilden zu etablieren suchte, ist mit der europäischen Intergration,
dem Projekt, auf dessen Wege die Union Europas als EU ein wichtiger Meilenstein
ist, mit der bevorstehenden Umgestaltung der UNO und mit den jüngeren
Alleingängen der USA, mit der neueren Einbindung Rußlands in die globale
Verantwortlichkeit an seinem historischen Ende, ohne daß die nationalen und
regionalen Eigenheiten der Sprache und Bevölkerung, der Kulturen und Differenzen
aufgegeben werden müssen.
Die EU ist auf dem Wege, Strukturen und
Institutionen zu entwickeln, die diesen Zivilisationsschritt ermöglichen. Dieser
Weg ist bislang einzigartig und noch kaum nachgeahmt, wird noch in Sackgassen
und über schwierige Hürden führen, wird des Schlagens von Brücken bedürfen,
mitunter auch der Umkehr und Neuorientierung. Doch wir hinterlassen jetzt
bereits Wegweiser und Markierungen für jene, die uns aus den Ländern Afrikas,
der arabischen Welt, aus Asien oder Polynesien, aus Lateinamerika folgen. Auch
wenn die EU nicht alle Staaten aufnehmen kann, die gerne mit dabei wären, so
verbietet sie niemanden, einen ähnlichen Versuch zu wagen und unsere Ideen und
Erfindungen zu kopieren. Gerade der Ukraine, Rußland, der Türkei und anderen
Staaten, die in der assoziativen Nachbarschaft zur EU stehen, kann man nur
raten, daß sie sich ihrerseits zu parallen Entwicklungen von Zusammenschlüssen
und Kooperationen finden, ähnlich wie etwa die EFTA längere Zeit neben der
EWG/EG bestand und rudimentär noch besteht. Die Debatten des EU-Parlaments, die
Dokumente der EU, die politischen Entscheidungen auf diesem Wege sind großteils
öffentlich zugänglich, in einer historisch einmaligen Transparenz. Wer davon
Gebrauch machen und davon lernen will, ist herzlich eingeladen, sie zu studieren
und zu benützen. Ein dem Zivilisationsprojekt Europa gewidmeter Weg wird sich
der Menschheit genauso wenig verschließen können wie sich die Menscheit ihm
verweigern wird.---
Created by G.G. in June and July 2005,
designed for publication at http://h2hobel.phl.univie.ac.at/~yellow/greet/Europa.html
by G.G.
Last update by G.G. on July 9th 2005.
© Gerhard
GELBMANN, Josef Hofgasse 2 / 5, A-2345 Brunn am Gebirge, Austria