Demütigung.
Motive und Folgen erzieherischen Machterhalts.


Essay
von Gerhard GELBMANN



I.

Ein französische Autor des 20. Jahrhunderts, André Gide, sagte einmal in einer Rede über den russischen Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski:

"[...] sein ganzes Werk wird beständig von jener Idee bestimmt, daß die Demütigung verdammt, während die Demut heiligt."
(in Dostojewski. Aufsätze und Vorträge, übersetzt von Erich Plooy, Bürgers Taschenbücher Nr. 18, Verlag Das Goldene Vlies, Darmstadt, ohne Jahresangabe, p.81)

Dostojewski sprechen nicht nur A. Gidé oder Friedrich Nietzsche großes psychologisches Können zu; sein ganzes Werk, ob Schuld und Sühne (wie es lange auf Deutsch hieß) oder die Dämonen, Die Brüder Karamasow, Der Idiot, oder das Frühwerk Erniedrigte und Beleidigte, führt in vielen Variationen dieses Grundthema der Demütigung und ihrer charakterlichen Auswirkungen vor. Vor allem aber wird der Mensch studiert, wenn er demütig ist und vorbildlich wirkt, oder wenn er aus Demütigung zu Vergehen wider die Menschlichkeit, die Würde, den Anstand gelangt, oder aber Verbrechen aus ihm ein Subjekt der Demütigung durch andere machen.
Gidé, der Dostojewski nicht allein studiert, sondern sich angeeignet hat, faßt in seinen Vorträgen anläßlich des hundertsten Geburtstages Dostojewskis die wesentlichen Wirkungen von Demut und Demütigung auf den Menschen, wie sie als psychologische Erkenntnisse im Werk des großen Russen ausgearbeitet wurden, in knappen, eingängigen Zeilen zusammen:

"Der Mensch, der sich in Demut beugte, lehnt sich dagegen unter der Demütigung auf. Die Demut öffnet die Pforten zum Paradies; die Demütigung die zur Hölle. Die Demut bringt eine Art freiwillige Unterwerfung mit sich; sie wird aus freien Stücken angenommen [...] Die Demütigung im Gegensatz dazu erniedrigt, verkümmert, verunstaltet und reizt die Seele und bringt sie zum Verdorren und Verwelken; sie verursacht eine moralische Verletzung, die schwer heilbar ist."
(op. cit. p.80)

Diese Sätze sind so wahr, wie selten etwas, was über das seelische Leben des Menschen gesagt wurde; es sind nicht Sätze, die aus wissenschaftlicher Isolation oder rein dichterischer Phantasie entspringen, sondern sozialpsychologische Erkenntnisse, die nicht hellsichtiger verständlich und dem Nachvollzug nahe gebracht werden konnten, als in jenen großartigen Charakterromanen, die Dostojewski uns hinterlassen hat. Gidé, als Kenner sogar des Briefwechsels Dostojewskis und im Bewußtsein von dessen schwierigem, von Verbannung und Spielsucht, Geldnot und Fleiß wie von Gewissensbissen und Demut gezeichneten Leben, spricht hier etwas über die conditio humana aus, wie sie vor allem das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Gesellschaft, der Person gegenüber der Staatsmacht, des Ichs zu den Anderen betrifft.
Hellsichtig hat Dostojewski seine psychologische Einsicht, die nicht ohne die Saat eigener Erfahrung gereift ist, in Literatur geformt, welche schon immer die beste Form war, dem Menschen etwas über sich selbst nahezubringen.
Gidé zieht die Quintessenz aus dieser Leistung Dostojewskis, indem er in einem aufschlußreichen Absatz gleichsam individualpsychologisch und psychogenetisch erkennt, daß die geschädigte Psyche, wie sie das deviante oder gar verbrecherische Verhalten zeigt, durch eine voraufgegangene Demütigung zu dem wurde, was sie jetzt ist:

"Es ist, glaube ich, unter den charakterlichen Mißbildungen und Verirrungen -- durch die uns viele der Personen Dostojewskis so beunruhigend, so krankhaft absonderlich erscheinen -- nicht eine, die ihren Ursprung nicht in irgendeiner voraufgegangenen Demütigung hätte."
(op. cit. p.80)

Was hier bedeutsam ist, ist die zeitliche Abfolge: Zuerst war die Demütigung einer geraden, gesunden Seele, die Schädigung einer Person in ihrem Innersten, also ein Unrecht, eine Verletzung der Würde, ein Vergehen an jenem, der später als Untäter und Verbrecher dasteht. Zuerst war der Unheile und Charakterlose, der verirrte und verwirrte Mensch, das Opfer einer Demütigung. Dann wurde aus ihm ein Monster, das nicht nachvollziehbare Handlungen zu setzen scheint, ein aus dem Rahmen fallendes Wesen, das absurder Weise etwa jenen helfen kann, an denen es sich kurz darauf wie in Rache oder Wahnsinn rächt. Dostojewski schildert Schicksale wie jenes Menschen, der seinen Freund fürsorglich pflegt, als dieser krank darniederliegt, um ihn dann im Schlafe zu ermorden; oder das eines Verwirrten, der seinen eigenen Selbstmord ankündigt, um durch diesen Umstand Terroristen Vorwand und Ausrede zu verschaffen; sogar sich selbst Demütigende werden gezeichnet, deren heiligmäßige Demut die Wildheit anderer erst aufstachelt.
Der Spielarten der seelischen Verkrümmungen, die durch Demütigungen und im Akt der Demütigung entstehen oder begangen werden, gibt es viele und vielfältige; anhand ihnen wie nach einem Ariadne-Faden das gesamte Schaffen Dostojewskis zu interpretieren, wäre eine eigene und fruchtbare Aufgabe. Ohne jedoch all das literaturwissenschaftlich exemplifizieren zu wollen, sei wieder die zusammenfassende Stimme Gidés aufgesucht, wenn sie den Akt und Augenblick der Erniedrigung selbst betrachtet, wie er auf die Betroffenen wirkt und welch obskure, absurde, erschreckende Veränderung sie in diesen verursacht:

"Einige der Personen Dostojewskis, durch die Demütigung bis ins tiefste verdorbene Naturen, finden mitunter eine Art Freude, ja, Befriedigung an der Erniedrigung, die diese Demütigung mit sich bringt, so abscheulich sie sein mag."
(op. cit. p.81)

Liegt darin nicht ein großes Paradoxon? Müßte der Mensch nicht, etwa zufolge der Individualpsychologie Adlers, die Demütigung und Erniedrigung kompensieren, indem er umso stärker auftritt, sich sofor wie ein Phönix aus der Asche erheben, um in umso größerem Stolz als dem Ausdruck seines Selbstgefühls die Demütigung zu verwischen suchen, sich sofort wieder in das Licht der Anerkennung der anderen zu setzen, vor denen er so tief gestürzt wurde? Statt dessen spricht Gidé mit Dostojewski davon, daß der Erniedrigte noch vor den Augen der anderen seine Erniedrigung vertieft, sozusagen die Schmach, die ja zuerst nur ihm alleine fühlbar war, in Öffentlichkeit manifestiert, sich nochmals und selbst herabsetzt, und aus der privaten, vielleicht gar geheimen Demütigung die öffentliche Schande seiner selbst macht.
Nun, die Funktion des Stolzes, der in der Demütigung verletzt wurde, ist es, die zu diesem Verhalten führt. Unnachahmlich hat Dostojewski hierin die Schwäche des Hammer-Amboß-Prinzips der psychologischen Kompensationstheorie entdeckt, die glaubt, es bestünde ein Prinzip der Äquivalenz der seelischen Kräfte im Inneren mit jenen der äußeren, sozialen Sphäre, sodaß man die innere Schwäche mit der äußeren Stärke kompensieren könne bzw. aufgrund dieses Mechanismus automatisch zu kompensieren versuche.
Dostojewski sieht tiefer in die Seele, in der ein Schicksal waltet, für das es nicht die ausgleichende und wieder gut machende Gerechtigkeit gibt, die mit den künstlichen Erklärungen der Tiefenpsychologie um eines idealisierten Menschen- und Weltbildes willen gerettet werden soll. Nein, der Gefallene steht nicht wieder auf, der Phönix wälzt sich in seiner Asche, und wer schlecht ist und seine Schlechtigkeit hat einsehen müssen, bleibt schlecht. Verletzte Menschenwürde ist nicht wiederherstellbar durch selbst verliehene äußere Ehrenzeichen oder einen sozialen Feldzug der Eroberung von Herzen; Demütigungen sind nicht wiedergutmachbar, nicht wegwischbar wie ein oberflächlicher Makel. Es gibt keinen sozial- oder tiefenpsychologischen Superkleber für zerstörte Herzen.
Der Angriff auf das Selbst, der in der Demütigung erfolgt ist, bestärkt das, was das eigentliche Ziel des Angriffes war, allerdings in einer verqueren, perfiden Weise, sodaß dessen Äußerungsformen und Manifestationen, die normalerweise in Kommunikation und im Umgang mit anderen hervortreten und kultiviert werden, pervers werden. Der verletzte Stolz kennt die Kränkung, d.h. die soziale Dysfunktion der kommunikativen Seite der menschlichen Würde; die Demütigung kennt den übermäßig werdenden Stolz, der nicht anders kann, als die soziale Funktionalität zu verkehren, sich ihr zu entziehen. Der Gedemütigte wird dysfunktional, ist für die Gesellschaft und die anderen, die ihm das angetan haben oder es zuließen, dysfunktional. Er ist in seinem Grundvertrauen dermaßen verunsichert, daß es ihm der Selbsterhalt alleine gebietet, sich nicht mehr auf die vormals üblichen Weisen der Kommunikation einzulassen. Er ist mit Recht zu stolz für eine Gesellschaft, die ihn entwürdigt hat.- Gidé drückt das trefflich so aus:

"Denn wenn die Demut ein Aufgeben des Stolzes ist, so bewirkt die Demütigung dagegen eine Verstärkung eben dieses Stolzes."
(op. cit. p.82)

Die Verkehrung der Äußerungsformen des Seins durch die Demütigung führt in die Selbstdemütigung. Wenn man nicht verhindern kann, daß man dermaßen erniedrigt wird, vor den anderen, manipuliert wird und in seinem Innersten ausgeliefert wird, dann errettet man sich in seiner Freiheit und Würde, indem man sich den letzten Stolz bewahrt, der darin besteht, sich lieber selbst zu erniedrigen, als von anderen erniedrigen zu lassen.


II.

Ehe wir ein wenig die Frage behandeln, wer in der Lage ist, einen anderen Menschen zu demütigen, in welch spezifischer Beziehung er zu dieser Person stehen muß, sei in knappem Aufriß das an Motiven für eine Demütigung betrachtet, was zum Zwecke des Erhalts dieser speziellen Beziehung dienlich erscheint. Die Gründe also, die zu einer Demütigung eines anderen Menschen führen, liegen in der bestimmten Psychologie der Beziehung zwischen Demütiger und Gedemütigtem begründet.
Daraus folgt sofort ein Hauptmotiv, nämlich die Beziehung und damit das an Macht aufrecht zu erhalten, was einem überhaupt die Möglichkeit zu solchem Handeln gibt. Daher ist das Hauptinteresse, das sich in der Demütigung ausdrückt, ein Machterhalt, freilich spezifischer Form, wie wir sie hier ins Auge fassen wollen: Es geht um eine Maßnahme der Disziplinierung, der Erziehung, des Trainings, auch der Konditionierung und dergleichen. Dieses Hauptinteresse ist im Kern ein egoistisches, auch wenn es höhere Gründe vorschützt; es mag einer Staatsräson, einer Autorität der Elternschaft oder Kirche, der pädagogischen oder akademischen Institution dienen, doch ist es in diesem Dienst an das reine Eigeninteresse genau jener Instanz gebunden, die es in solchem Handeln und Vollzug autorisiert.
Die Motivation für eine Demütigung eines Mitmenschen erscheint am besten darin, daß man die Demütigung als eine Maßnahme begreift, die das Sein des anderen schwächt, etwa weil es das eigene Sein, die eigene Position gefährdet, oder weil ein schwaches Gegenüber aus anderen Gründen erwünscht ist. Man will dem anderen weh tun, ihn einschränken, ihm Freiheiten und Wahlrecht nehmen, seine Reputation, sein Prestige, sein Image zerstören, es ihm schlecht gehen lassen, ihm zeigen, wer der Stärkere ist.

Dieser Beweis der Stärke jenes Egos, dem man sich als Demütiger verschrieben hat, beinhaltet mitunter auch jene Rechtfertigung, die vorher unter dem Terminus der "höheren Gründe" angesprochen war: Das höhere Ego, welches Freud als Super-Ego angesprochen hätte, kann dann ein Ideal, ein Konstrukt, eine Fiktion ebenso sein wie eine konkrete Gruppe von Menschen und deren Prinzipien, etwa der Staat oder die hypostasierte Gemeinschaft der Wissenschaftler, etc.
Der Beweis der Stärke erfolgt pragmatisch, also nicht durch Argumentation, sondern durch direkte Demonstration; und er erfolgt im Akt der Demütigung selbst. Doch bisweilen erfolgt die Demütigung zwar aus ähnlichen oder denselben Motiven, freilich aus niedrigeren Beweggründen, d.h. wird unternommen, um den anderen zu erniedrigen, kann und will sich aber gar nicht auf etwas berufen, was dem Akt irgendwie Recht verleiht; die Ohrfeige als Erziehungsmaßnahme ist selten, weil affektiv gesetzt, von einer Rechtfertigung oder Appellation an eine Autorität, an höhere Gründe, begleitet, weder in ihrer Motivation noch im Begreifen des Geschehens. Sie wird einfach gesetzt, aus dem Selbstgefühl einer Machtvollkommenheit heraus, die einem im Augenblick gewissermaßen alles Recht der Welt verleiht.

Das gilt mutandis mutatis eigentlich für den Akt der Demütigung überhaupt: Der Demütiger ist von einem Selbstgefühl erfüllt, das ihm jene Sicherheit seiner Selbst zuspricht, aus welcher er sich über den anderen stellt, um dessen Sein, dessen Wertigkeit zu verkleinern; er kommt sich als etwas Besseres vor, hat vielleicht sogar eine soziale oder politisch legitimierte Funktion, die ihn über die Menschenwürde anderer stellt, ist sozusagen der kleine Gott jener Menschen, die er verkleinert, denen er Verbeugungen abverlangt, die er wie Sklaven und Rechtlose anfährt, voller Hohn anspricht, ausgestattet mit Mehrwissen, Mehrkönnen, mit dem Selbstbewußtsein eines Unterteufels, der den Auftrag hat zu quälen. Zur Demütigung schwingt man sich auf; selbst vom hohen Rosse einer überaus eminenten Autorität kann man zwar auf andere herabsehen, sie aber wirklich zu demütigen, heißt, Angesicht zu Angesicht zum anderen zu treten, um dann dessen Antlitz in den Staub zu drücken. Demütigung ist nicht mit Herrschaft zu verwechseln, wiewohl es gewiß demütigende Herrschaft gibt; ein guter Herrscher hat es nicht nötig, seine Untertanen zu demütigen, vielmehr wird er sie in ihren Rollen und Funktionen anerkennen, und sich seinerseits ihrer Anerkennung seiner Stellung sicher sein.
Man muß sich den Demütiger als einen Menschen in doppelter Gestalt vorstellen, als trüge er gleichsam zwei Identitäten, wobei er die eine jederzeit hervorkehren kann, die Seite des Biests, des menschlichen Ungeheuers, der auf einmal den anderen erschrickt, überfällt, ihm besserwisserisch beikommt, ins Antlitz spuckt, das sich auf einmal noch interessiert und beinahe demütig im Gehör ihm geneigt hat. Der Demütiger kann im normalen Leben einen gewöhnlichen Beruf haben, wohnen, essen, schlafen, der Liebe und Lust frönen, ein Mensch wie Du und ich -- doch plötzlich ausgestattet mit der semiotischen Insignien der Macht, geschützt von anderen Umständen, vielleicht einem Zweit-Namen, einem Ausweis, einer Uniform, oder einfach einem Epitheton, das verschwiegen werden muß, geheim bleiben muß, das jedoch jeder spürt, der die Demütigung erfährt, die gleichsam in höherem Auftrage, im Namen des Staates und ohne Zugang zur Gerichtsbarkeit, verordnet wird, nicht wie ein Heilmittel, sondern wie ein Abführmittel, wie ein Gift, das nicht tötet, aber Todesbeklemmung erzeugt, wie eine ungenießbare Speise, wie Scheiße, die man in silbernen Terrinen serviert. Die Demütiger sind jene, die den kafkaesken Prozeß gegen einen Josef K. in Gang setzen; die Demütiger sind jene, die in einem Schloß wohnen, in welches zu gelangen einem, nachdem es sich als unmöglich erwiesen hat, im Nachhinein als leicht dargestellt wird; die Demütiger sind jene, die dafür sorgen, daß in der Gesellschaft Rationalität weder einkehren noch auftreten kann. Sie erzeugen Angst und dadurch jenen Gehorsam, der die eigenen Beobachtungen verleugnen lernt. Es sind die Beobachter, die den Beobachteten die Obacht abzwingen, sich unbeobachtet zu geben; die Demütiger sind jene, denen der Asphalt nicht hart genug ist, auf den sie die Zähne legen, indem sie zuschlagen oder zuschlagen lassen, es sind jene, die zu Verbrechen verführen, Verbrechen begehen lassen, deren Ausmaß sie festlegen, wozu sie sich veranlaßt sehen, sobald ihrem Maßstabe nach sich jemand gegen den Gehorsam, den Zwang der Erziehung, gegen die Macht, gegen die verordnete Demut vergangen hat.
Der Demütiger spricht dabei die Sprache der Höflichkeit, der gedrechselten Formulierungen, der verwirrenden Phrasen, stets durchblicken lassend, daß er mehr weiß, daß er dem anderen überlegen ist, und hinter all der Höflichkeit, der man sich so schwer entziehen kann, weil man ja freundlich sein will, weil man trotz aller Verwirrung die Anständigkeit haben will, auch dem Demütiger gegenüber Menschenfreundlichkeit an den Tag zu legen, hinter all dieser Höflichkeit steht eine eisige Berechnung, ein trotziger Wille, eine scheinheilige Selbstüberheblichkeit, eine Bereitschaft zu allen Mitteln, eine Boshaftigkeit, die der Gedemütigte nicht einmal in der Phase des größten Schmerzes, der größten Erniedrigung sich auszumalen imstande ist. Der Demütiger nützt die Institutionen der Sprache, der Semantik, der Bedeutungen, um sie zu seinen Gunsten zu verdrehen, setzt die Perfidität und Perversion in die Tat um, veranlaßt die jahrelange Quälerei der zu Demütigenden, indem er sich eines Apparats bedient, der in undurchschaubaren Netzwerken besteht, greift zu Lug, Verleumdung, Zuschreibung falscher Intentionen, Verdrehungen der Wahrheit, zu Unterstellungen und übler Nachrede, zur Ausnützung und Verrat von angelocktem Vertrauen -- und all das alleine um des einen Zweckes willen: die Zielperson zu demütigen, zu erniedrigen, zu einem Nichts zu machen, auf das er treten kann, auf das er hinaufsteigen kann, mit stolzgeschwellter Brust desjenigen, der sich selbst die Berechtigung dazu gibt, um dann mit dem Opfer zu machen, was er will: Informationen erpressen, eine Existenz zu zerstören, das Opfer auf seine Seite und in seine Machenschaften zu verstricken.

Die Motive für eine Demütigung mögen vielfältige Formen annehmen, indem sie in sexueller Weise oder durch Mobbing, durch Verkehrung der üblichen Kommunikationsformen, durch Manipulation und durch alle nur erdenklichen Maßnahmen das bewirken, was ganz spezifisch auf die zu demütigende Person abgestellt ist. Zuerst erforscht der Demütiger sein Opfer, sucht zu finden, was dieses verletzen könnte, da ja die Menschen alle so verschieden sind; daher ist es wichtig, das Vertrauen zum später zu Demütigenden herzustellen, sich ihm anzubiedern, ihn mit kleinen Gaben zu locken, Aufmerksamkeiten, hier ein kleiner Auftritt in der Öffentlichkeit, dort vielleicht ein Job, ein Stipendium, eine nette Rezension. Der Demütiger muß den zu Demütigenden wie eine Spinne in sein Netz, wie ein Verführer in den eigenen Bau locken, der Demütiger muß den zu Demütigenden zuerst beeindrucken, etwa mit Fachwissen und Jargon, um ihn heranzuziehen, ihm das Gefühl zu geben, er könne etwas lernen, dadurch sein Dasein mehren, bessern, aufwerten. Der Demütiger ist gewisser Maßen wie jemand, der einem süße Früchte gibt, um dann die Drogensucht, die er dadurch hinterhältig bewirkt hat, auszunützen. Der Demütiger ist wie ein Tier, ein schlaues Wesen, das sein Opfer alleine um des Umschleichens willen umschleicht, in dessen Natur es liegt, die Menschen zu belauern, und er instruiert seinen Apparat, seine Kumpanen, seine ihm Hörigen für seine Zwecke.
Ob Ärzte, Beichtväter, Psychologen, Ratgeber, Freunde, der Friseur, bei dem man sich vielleicht ausspricht und verplaudert, der Bankbeamte, der mehr wissen könnte und jedenfalls über das Finanzielle Bescheid weiß -- der Demütiger könnte jeden von ihnen für seine Zwecke benützen, und er weiß Frauen und der Leidenschaften fähige Menschen, Huren und Prostituierte, der Hingabe Fähige wie gefallene Mädchen, Abhängige, seinem Befehl Unterstellte, dem Staat Untergebene für sich zu nützen. Der Demütiger unterwirft sich, wenn es sein muß, gewissermaßen die ganze Welt, um sein Ziel zu erreichen, und wenn es ihm oder seinen dunklen Auftraggebern nötig erscheint, dann wird für das Ziel der Demütigung ein Vermögen aufgewendet, verschleudert, verpraßt, unkontrollierbar ausgegeben und aufgewendet, verschwendet, alleine um sozuagen der Demütigung willen, denn dann weiß er sich gedeckt, von Politikern oder Bossen, von noch größeren Machtmenschen.
Dem Demütiger geht es darum, den anderen unterzukriegen, ihn zu lehren, wer der Herr im Hause ist, ihm dann ein Geständnis oder ein Gedächtnisprotokoll abzupressen, ihn aufs Leben zu verängstigen, zum seelischen Krüppel zu machen, ihn im übertragenen Sinne oder wirklich zu kastrieren, ihm zu sagen, daß er sich einem Netzwerk anzuschließen, sich zu vernetzen hat, ihm dann die würgenden Stricke um den Hals zu legen. Den Demütiger motiviert der höhere Zweck, welch immer dieser sein mag, oder noch besser: die sanktionierte Einbildung, daß es solche höheren Zwecke gibt, denen er dient. Er weiß sich beauftragt, eine Struktur stützt ihn, so braucht er nur mehr zu handeln, wie er es perfektioniert hat.
Die Motivation des Demütigers muß auch darin gesucht werden, daß es ein spannendes und unterhaltsames Spiel ist, eine Strategie zu entwickeln, wie man jemanden demütigen kann. Es ist besser als Schach, fast so gut, wie einen Krieg zu planen. Es erhebt den Demütiger in jene rauschhaften Höhen, die er nach außen mit besonderer Kühle überspielen können muß, die sein Doppelspiel würzt. Es verleiht ihm die Weihen, die seine Heimlichkeit so lustvoll macht, so nützlich, so überaus geil. Der Demütiger ist in gewisser Weise ein besserer Kaiser von China, ein größerer Dschingis Khan, ein raffinierterer Hitler der Konzentrationslager, weil er ja in dem Reich, das er sich gestaltet hat, absolute Macht beansprucht, die absolute Macht aber in den Demütigungen auslebt. Man muß sich den Demütiger wie einen Mann vorstellen, der im Liebesakt im Orgasmus vergeht, stöhnt, sich fallen lassen kann, in der Demütigung als seinem ganzen Seinszweck aufgeht, sich erfüllt, verschwendet, über sich erhebt, sich entflieht, sich die aufblasbare Größe eines Luftballons, eines Kondoms gibt. Zugleich ist der Demütiger wie ein Vergewaltiger, ein grausam und selbstsüchtig Eindringender, ein Gewaltsamer und Übermächtiger, ein auf einem Liegender, Erdrückender, einer der abrotzen muß.
Man muß sich den Demütiger im Akt der Demütigung als überglücklich, als von Glücksgewalt und Gewaltglück Erfüllten, vorstellen. Wenn Sisyphos den Stein immer wieder hinaufwälzen muß, weil er knapp vor dem Ziel wieder herabrollt, so ist der Demütiger jener, der den Stein in die Mulde, in die Tiefe wirft, mit der vollen Gewißheit, daß er dort unten ankommen wird, sein Zerstörungswerk auszuführen. Könnte er Kometen auf die Welt schleudern, er würde es tun, könnte er Vulkane auslösen oder Tsunamis, er täte es, denn in der Demütigung ist er ohne Grenze ganz der Macht hingegeben, die er vertritt und ist.


III.

Ob der Demütiger sich der Folgen bewußt ist, die er in seiner Machtausübung setzt? Er will ja demonstrieren, wer er ist, für was er steht, und hinter sich Macht, Einfluß, den Staat versammelt zu wissen, ist allemal ein guter Motivator. Nehmen wir an, daß den Demütiger hohe Motive beseelen, also daß er helfen will, erziehen will, daß er vor dem entsetzlichen Dilemma steht, nicht anders helfen zu können als durch eine Demütigung. Man muß sich das so vorstellen -- um beim Ton des Obigen zu bleiben --, daß der Demütiger wie ein Vergewaltiger ist, und wenn er hohe Motive hat, dann will er sozusagen wie ein Vergewaltiger sein, der weiß, es tut der Frau nur gut, wenn er sie mit Gewalt nimmt, es ist zu ihrem Besten. Der Demütiger als Erzieher ist sozusagen wie ein Vergewaltiger, der seine Tat zum Wohle der Vergewaltigten setzt.
Man sage jetzt bloß nicht, ich sei zynisch, wenn ich solches schreibe. Ich bin doch nicht zynisch. Wie kann jemand angesichts des Demütigers zynisch sein? Zynismus gehört doch zum Repertoire des Demütigers, Sarkasmus ebenso, Perfidie, Ironie, schneidender Witz, beißender Spott. Wie kann man das dem Demütiger nehmen? Schließlich ist es doch nur hochherzig, dem Demütiger Gutes zu unterstellen, mal davon auszugehen, daß alles, die ganze Demütigung, nur blöd ankam, verquer wurde, nicht so gemeint war, anders wirkte, als es gemeint war, daß alles nur ein furchtbarer Irrtum, ein Unglück ist! Der Demütiger wollte ja in seinem tiefsten Herzen helfen, nicht demütigen.
Denn gewiß wollen Folterer helfen, dem Opfer vor der Inquisation sozusagen dazu helfen, sich von der Wahrheit zu befreien, selbst wenn sie das Opfer selber nicht weiß. Der Gefolterte ist mit einem Kranken vergleichbar, dem sich der Arzt heilend nähert. Ärzte müssen einem manchmal weh tun, Medizin schmeckt nun mal bitter. Der Demütiger will einem ja zur Demut verhelfen, die wir oben, mit so berufenen Größen wie Dostojewski und Gide, das Paradies nannten. Die gute Absicht des Demütigers ist es, den anderen zu demütigen, damit der noch eine Chance aufs Paradies hat. Der Demütiger ist eben ein helfender, ein verzeihender, ein guter Gott, und sein Wille ist unerforschlich.

So wird aus dem Demütiger ein semiotischer Hochstapler, jemand, der erfolgreich vorgibt und anderen weismacht, daß er aus rein zeichentheoretischen Gründen Gutes will mit dem Schlechten, das er tut. Die zeichentheoretischen Gründe sind dabei unerforschlich und auf jenes Blabla zurückführbar, das den Demütiger bei seiner Demütigung beflügelt, das diese begleitet und der Gedemütigte zur Antwort bekommt, wenn er verzeifelt nach Gründen sucht und fragt. Der Demütiger demütigt zuerst und zuletzt dadurch, daß er die Vernunft verleugnet, die Fähigkeit des Menschen, nach Gründen zu suchen und nach Begründungen zu verlangen. Der Demütiger demütigt das Denken, den Verstand, das Herz, den Geist, die Intelligenz im anderen, die Gefühle, die Seele, den Körper sowieso.
Niemand ist dem Demütiger lästiger als der selbständig denkende, unvernetzte, keiner Gruppierung und Orientierung zurechenbare Einzelne, der Philosoph. Der Philosoph ist dem Demütiger ein Dorn im Auge, ein Objekt seines Hasses, eine beständige, wenn nicht ewige Aufgabe für seine Demütigung, und so setzt er an dem Philosophen um und fort, was er an Demütigungen aufbringt, und wenn es durch Generationen hindurch und von Familienmitgliedern zu deren Nachkommen geht, wie ein strafender Gott des Alten Testaments, der bis ins siebente Glied verfolgt, was schon das erste Glied nicht verstehen konnte. Denn der Demütiger ist zuallererst ein sich selbst setzender Gott, ein zum sich setzenden Gottbewußtsein berufener Angestellter der Macht.
Doch wir wollen nicht politische Theologie betreiben, vielmehr dem Phänomen der Demütigung weiter nachgehen, das wir als machterhaltende Erziehungsmaßnahme erkannt haben. Diese Erziehungsmaßnahme motiviert sich rein aus der überlegenen Stellung des Demütigers; ihr Ziel ist nicht das Wohl des Gedemütigten, sozusagen das Wohl des Klienten, sondern ein Eigeninteresse desjenigen, für den der Demütiger auftritt, so er es nicht selbst ist. Tritt etwa der Demütiger auf als Staatsorgan, Staatsvertreter, so handelt er in jenem Interesse, das er für das Staatsinteresse auszugeben fähig ist bzw. das er als solches glaubwürdig machen kann. Die Legitimation seines Tuns besteht dabei nicht etwa im Nachweis einer Identität oder Zugehörigkeit, sondern allein darin, daß er im Zweifelsfall bereit ist, mit den furchtbaren Konsequenzen der Staatsmacht, die hinter ihm steht, zu drohen -- und sei es nur in Andeutungen.
Letztendlich läuft solch pädagogische Handlungsweise natürlich auf diktatorische Willkür hinaus; und wenn der Demütiger noch dazu hinter sich einen Apparat, eine Organisation hat, wenn er sich von mehr oder weniger geheim zu haltenden Dienststellen gestützt weiß, wenn er selbst solche vertritt, dann ist die Willkür sowohl zeitlich als auch örtlich ziemlich unbegrenzt. Der Demütiger braucht demütige Untertanen, gehorsame Menschen, denn auf allein diese baut seine Macht, seine Stellung; daher korrespondiert dem Demütiger eine Gesellschaft, ein Staat, in dem Gehorsam bis hin zum Kadavergehorsam, Widerspruchslosigkeit, Unterordnung an der Tagesordnung stehen, also eine Gesellschaft bar der Courage sowohl im zivilen als auch staatlichen Bereich. Die Bedürfnisse des Demütigers bestehen unter anderem darin, Menschen um sich zu haben, die die Angst, die er ausstrahlen will und muß, verstärken und weiterleiten, damit die dunkle Macht, die er repräsentiert, kräftiger wird, besser wirkt, besser demütigen kann. Gedemütigt werden aber jene, die sich diesem System nicht anpassen, nicht unterordnen, die Widerspruch wagen, aufbegehren, die sich verweigern.


IV.

Die Folgen der Demütigung sind schwerer abzuschätzen; sie bestehen zum Teil sicher in dem, was der Demütiger bewirken wollte; andererseits mögen im Gedemütigten Emotionen und Widerstände, Verweigerungen und Rachegelüste wachsen, mit deren Intensität und potentieller Wirkung niemand gerechnet hat. Vordergründig wird der Demütiger sein Opfer so zerstört, erniedrigt, klein gemacht haben, daß dieses nachgibt, vergeht, krank wird, sich zurückzieht, resigniert, stirbt, das preisgibt, was es vielleicht nicht mehr wußte, verdrängt hatte, zurückhielt an Information, an Wissen, an Kontakten, an Vermutungen, an Notizen, etc., kurzum, der Gedemütigte wird sich den Absichten des Demütigers unterwirfen, das auf sich nehmen, was ihm der Demütiger zugedacht hat, es nolens volens akzeptieren, wie eine bittere, würgende Pille, deren ekeliger Geschmack niemals vergehen wird.
Die Demütigung wirkt hinsichtlich dieser Folgen wie eine Nötigung, um es juridisch zu sagen, wie eine Erniedrigung, um es psychologisch zu sagen, wie eine Degradierung, um es militärisch zu sagen, wie eine Dehumanisierung, um es moralisch zu sagen, wie eine Verstümmelung, um es medizinisch zu sagen, wie Verlust von Ansehen und Ehre, um es sozial-ethisch zu sagen, wie eine Kastration, um es in der Sprache der Mafia zu sagen. Die Demütigung soll den Gedemütigten dort treffen, wo es ihm am meisten schmerzt; dem Intellektuellen trifft man unter der Gürtellinie, den Freiheitsliebenden, indem man ihm sein Schicksal vorhersagt, den Sportlichen durch eine Unsportlichkeit, den Idealisten durch die Aufforderung zu unmoralischem Handeln oder durch die Zuschreibung von unmoralischen Absichten, den Künstler durch die Zerstörung seiner Schaffenskraft, den Schriftsteller durch den Diebstahl seiner Gedanken und Schriften, den Philosophen durch die Verkehrung seiner Ansichten. Für jeden hat der Demütiger ein rechtes Maß bereit, ein Maß an Demütigung, das den Gedemütigten in den Wurzeln seines Bestehens schädigt. Der Demütiger ist wie der Folterknecht aus George Orwells "1984", der zuerst herauszufinden versucht, wovor sein Opfer am meisten Angst hat, indem er dessen Vertrauen sucht, zu einem Zeitpunkt, als die Demütigung längst beschlossen ist und das Opfer seinen späteren Demütiger noch als freundschaftlichen Bekannten, als Vertrauensperson oder Therapeuten, als Arzt oder Vorgesetzten kennt und schätzt. Die Demütigung besteht zuletzt darin, daß das Vertrauen mißbraucht wird, das ein erschlichenes Geschenk war, das sich nun als Waffe gegen den Gedemütigten kehrt. So besehen schwingt in der Demütigung soetwas wie Verrat mit, menschlicher Verrat, persönlicher Verrat, Hintergehung und Unehrlichkeit, eine Unaufrichtigkeit geplanter und gewollter Art, eine Verlogenheit und Meineidigkeit, die straflos bleibt und um ihre Unantastbarkeit mit jener Häme weiß, in der der Demütiger dem Gedemütigten gegenübertritt.

Für den Gedemütigten bricht eine Welt zusammen; sein Selbstbild wird ebenso beeinträchtigt wie seine Chancen in Beruf und Gesellschaft, seine Reputation mag zum Teufel gehen wie auch sein Vermögen, ja auch seine Beziehungen, Liebschaften, familiären Bindungen. Darüber hinaus mag der Gedemütigte seine Achtung vor sich, vor dem Staat und dessen Organen verlieren, er wird das Vertrauen zu vielen oder allen seinen Mitmenschen einbüßen, je nach Grad der Demütigung, weil er zuletzt in eine Art Paranoia getrieben wird, welche der Demütiger in seiner Vielgestaltigkeit höhnisch "veränderte Wahrnehmung" zu nennen bereit ist.
Der Gedemütigte wird letztlich der Zerstörung seiner gesamten Persönlichkeit, all dessen, womit er sich definiert hat, zusehen müssen, bis zu jenem letzten Grund des Menschen, der jenseits des Schmerzes aus einer Gleichgültigkeit besteht, die alles erträgt und zu allem fähig ist. Aus Gedemütigten macht man Mörder, Verbrecher, Untäter; aus Vergewaltigten werden Vergewaltiger; aus Gedemütigten werden Demütiger.
Angesichts dieses Sachverhaltes muß man Mitleid mit den Demütigern haben, denn wahrscheinlich wurden auch sie einmal gedemütigt, und zwar so dauernd und tiefsitzend, daß sie es vergessen, verdrängt, in die unantastbaren Tiefen des Unterbewußtseins geschoben haben. Wer die Unfreiheit wählt, die darin besteht, anderen die Freiheit zu nehmen, muß einmal darüber getäuscht worden sein, daß er Sklave ist. Die Dialektik der Demütigung ist darum einer Todesspirale vergleichbar, die durch Demütigung aus Verdrängung holen möchte, was sich Demütiger an wichtiger Information und Korrektur erwarten, um dadurch nur noch mehr an Verdrängungen sowohl psychischer als auch sozialer Art zu verursachen. Die Regel Auge um Auge, Zahn um Zahn, in ihrer alttestamentarischen Versteinerung, drückt diese Wirksamkeit der Demütigungsstruktur aus, welche aus dem Gedemütigten einen von Zorn erfüllten, nach Ausgleich rufenden Hassenden macht, der dann all des Hohnes und Sarkasmus fähig wird, die der Demütiger so gut anwenden kann, besser als ein Chirurg sein scharfes Skalpell.

Doch es gibt noch subtilere Formen der Demütigung, deren Folgen nicht so leicht einzuschätzen sind. Die Demütigung, die dem Gedemütigten die Entscheidungsfreiheit nimmt, indem sie ihm auf Jahre hinaus die Kommunikation mit anderen vergiftet, ihm jeden Erfolg nimmt, indem ihm die Anerkennung durch Betrug, Diebstahl, Lüge, Plagiarismus und anderen Vergehen genommen wird, diese Demütigung besteht darin, daß eine Persönlichkeit an ihrer Entfaltung verhindert wird, um sie so zu formen, daß sie das sagt und tut, was der Demütiger will. Diese Demütigung demütigt nicht einen Menschen in einer Situation, an einem bestimmten Tag, der dereinst vielleicht vergessen wird, sondern sie wendet die gesamte Gesellschaft auf Lebzeiten gegen diesen Menschen, indem sie sein Wesen demütigt.
Das Wesen eines Menschen demütigt man, indem man ihm die selbstgewählte Seinsform nachhaltig verunmöglicht. Ein gutes Beispiel dafür sind Schriftsteller, Philosophen, Denker, Dichter, Künstler, die von dem Wohlfahrtsstaatssystem oppressiver Art wie Parasiten gesehen werden. Oft wendet man auf sie ein richtiggehendes Programm der Demütigung behaviouristischer Art an, indem man sie durch unergründliche Aktionen der Belohnung und Bestrafung, der Konditionierung, an eine erwünschte Vernetzungsstruktur bindet oder von jeglicher gesellschaftlichen Position abhält, oft so subtil und ohne Frist eingefädelt, daß eine ganze Lebensspanne sich in der Verfangenheit in solchen Netzen der Macht verausgabt.
Die Skrupellosigkeit der Demütiger ist in Wohlfahrtsstaaten sozialabgesicherter Demokratien eigentlich noch schlimmer, als es die Psychiatrie-Programme in den Tyranneien des Ostblocks waren. Denn die Doppelbödigkeit einer Gesellschaft, die sich nach außen und medial als libertär, offen, an Bürgerrechten und Individualfreiheiten orientiert gibt, dann aber vom Gedemütigten als eine zum Teil gelenkte Demokratie erlebt wird, in der ihm auf eine nicht einklagbare Weise alle Rechte genommen werden, seine Persönlichkeit zerstört wird, ist unerträglich und die letzte Form der Verachtung, die einem denkenden Wesen entgegengebracht werden kann. Diese Verachtung ist das beim Gedemütigten bewirkte Gefühl seinen Demütigern gegenüber, Verachtung als jene Form, die niemals dem Demütiger das an Recht und Verständnis für dessen Handeln zuerkennen wird, was dem Gedemütigten vielleicht jemals irgendwann einsichtig machen könnte, um welcher Ziele willen so mit ihm verfahren werden mußte und warum die Demütiger glaubten, so vorgehen zu müssen.
Verwandt mit dieser Verachtung des Gedemütigten für seine Demütiger ist die Verweigerung des Gedemütigten, an einer Gesellschaft teilzuhaben, sich in Vernetzungen verstricken zu lassen, die zuvor noch zu seiner Demütigung mit all dem Hohn beigetragen haben, den Menschen für ihre Mitmenschen aufbringen können. Der Gedemütigte wird nach seiner Demütigung sich den Demütigern und damit weiteren Demütigungen um den höchsten Preis zu entziehen, sich ihnen zu verweigern versuchen. Wer den Folterkammern jener Nazi-Mediziner entkommen ist, die ihre Patienten zu medizinischen Zwecken quälten, wird am ehesten das Verhalten des Gedemütigten verstehen. Ein GULAG überlebt zu haben, wappnet einen nicht gegen weitere; die Demütigung ist nicht wie eine Infektion, die überstanden zu haben zur Immunisierung beiträgt.
Will der Demütiger dann etwa Gnade walten, in der für solche Verbrecher seltenen Einsicht, daß er zu weit gegangen sei, will die Macht dann Erbarmen anwenden, so wird sie durch die Weigerung des Gedemütigten nur noch weiter gereizt. Die Botschaft der Verweigerung lautet: Es ist nicht wieder gut zu machen, und der Gedemütigte fragt sich mit der Verwunderung jener, die das Böse erkannt haben, worin der Sinn seines Lebens noch liegen kann, wenn nicht irgendwann in einer Aufrechnung all dessen, was ihm angetan wurde.

Die Demütigung ist etwas Absolutes, und das mag den intelligenten Gedemütigten wundern, insbesondere wenn er sich selbst als schuldhaft erkannt hat, wenn er um die Vielfältigkeit des Bösen weiß und sogar den Demütiger in dessen Struktur und Notwendigkeit durchschaut hat. Denn der Demütiger ist eine Emanation der Macht, ein unvermeidlicher Ausfluß jener Ansammlung von Mächtigkeit und Erziehungs-, ja Bestimmungsgewalt, die mit den bürokratischen, polizeilichen, staatlichen Apparaten gegeben sind. Die Demütigungsbereitschaft ist eine Folge der oppressiven Struktur des Machterhaltes solcher Organe, die ihr Bestehen eigentlich aus ihrer Fähigkeit zum Erhalt ihrer Macht ableiten, unter dem Vorwand von gewünschten, legalen, legitimen Ordnungen. Das Schicksal, das man dem Gedemütigten als einen Teil der Demütigung bereitet und vorhergesagt hat, ist eigentlich das Schicksal des Demütigers, das Schicksal der Macht, die nur dann Macht ist, wenn sie Böses wollen kann, wenn sie schuldig werden kann und schuldig ist.
Das ist der tiefere Grund, warum die Demütigung so gerne mit Verstrickung in Verbrechen, mit ungewollter und unbeabsichtigter Mitwisserschaft einhergeht. Die Krake der Mafia umgarnt ihre Opfer mit Versprechungen, Drohungen, den Verlockungen jener Verstrickung in die Vernetzung, die nur den Spinnen selbst gefallen kann. Als mafiös muß jedoch eine Struktur der Demütigung bezeichnet werden, die als eine Maßnahme ihrer erzieherischen und besserwisserischen Maßnahme ihren Opfern die Vernetzung empfiehlt. Die Überrednungskunst der Spinnen ist gegen die Kunst der Demütigung nichtig.
Was den Demütigern darum aufstößt, störend ist, sind einzelne Menschen, die unabhängig und frei in jenem Sinne sind, als sie sich die Naivität erlauben, ihr Dasein nicht aus einem Netzwerk zu speisen. Die Demütiger wollen die Gesellschaft in einen Ameisenstaat verwandeln, in eine Ansammlung von sozialen Tieren, die sich leicht und durch einfache Mitteln lenken lassen, die in ihrer Gesamtheit keinen Gedanken kennen, deren Solidarität nur in der Unterwerfung unter die Vernetzungsstruktur besteht, nicht aber zu einem Widerstand gegen die herrschende Ordnung fähig ist. Fügsamkeit ist jene Form verquerer Demut, die den Demütigern willkommen ist; den Fügsamen wird die Demütigung erspart.

Daß diese Form der Demut natürlich weit von jener Demut entfernt ist, die Dostojewski und Gidé als das Heil kannten, ist ganz offenbar. Der wirklich Demütige ist nicht einer Macht der Menschen gegenüber demütig, ist nicht fügsam und gehorsam den menschengemachten Regeln gegenüber, sondern anerkennt die Gesetze des Seins als etwas ihm nicht ganz Verständliches, doch als sich in der Achtung der Menschheit in jedem einzelnen am besten ausprägend. Der wahrhaft Demütige ist sogleich bereit, in seinem Mitmenschen etwas Anerkennenswertes zu sehen, um seiner und dessen selbst willen.
Der Fügsame anerkennt bloß, daß der andere mehr Macht hat, daß der andere die Gewalt hat und anwenden wird, sich durchzusetzen; der Fügsame handelt, um sich und seine nackte Haut zu retten. Für die Fügsamkeit ist keine Einsicht in die Intentionen, die Macht, die Gesetzlichkeit, die Legitimität des anderen notwendig, zur Fügsamkeit gehört nur eine gehörige Portion Feigheit. Der Demütige jedoch ist tapfer genug, auch das ihm nicht Bekannte zuerst einmal in seinem Recht anzuerkennen, dem anderen eine Vernünftigkeit zuzubilligen, die Güte darstellt; der Demütige riskiert sozusagen in seinem Entgegenkommen enttäuscht zu werden. Demut korrespondiert darum der Güte, weil sie sich nur dort voll erfüllt, wo sie auf Güte trifft.. Fügsamkeit ist hingegen die Haltung aus Angst als Antwort auf das Auftreten des anderen. In Zeiten wie den unseren, wo das Auftreten beruflich so enorm wichtig geworden ist, ist die Fügsamkeit die erwünschte Haltung des Personals; Angst regiert nicht nur Staatswesen und Bürokratie, Wissenschaft und andere Hierarchien des Wissens, sondern den beruflichen Alltag.
Die Demütiger machen einen zwar glauben, daß sie demütige Menschen produzieren wollen, treten gerne selbst als demütig auf, in all ihrer höflichen und wortreichen Scheinheiligkeit. Aber was sie wirklich wollen und bewirken, ist das sich Fügen unter ihre Macht: Unterordnung, nicht Ordnung; Vergütung und Vergeltung, nicht Güte und Gültigkeit. Der Gedemütigte aber, dem die Demütigung die Selbstachtung genommen hat, ist noch viel schlimmer darin geschädigt, daß er sich fügen mußte und ihm zugleich die Demut versagt bleibt mit jenem Verlust an Vertrauen, der den anderen um der Möglichkeit von dessen Güte von vornherein anerkannt und schätzt. Das ist das wahrhaft Schlimme am Verbrechen der Demütigung, jene Verkehrung der Seele, die Gidé als von Dostojewski so gut erkannt und geschildert bemerkt.


V.

Dem Gedemütigten zuerkennt, gleichsam als Entschuldung und mit beschreibendem Interesse des Psychologen zugleich, Dostojewski eine moralische Verletzung, die eine charakterliche Mißbildung zur Folge hat, wie wir eingangs gesagt haben. Jetzt wissen wir, welch Form diese charakterliche Mißbildung auch immer annimmt, worin die Verletzung der seelischen Natur besteht, die die Demütigung verursacht: Sie macht zur Demut unfähig.
Ob aus Stolz oder Scheinheiligkeit, aus sich Ergehen in phrasenhaften Höflichkeiten, Untertänigkeit, schleimiger Speichelleckerei, ob in überstarkem Auftreten, in all den Formen, die verletzte menschliche Naturen annehmen, ersinnen, wechseln, ergreifen, abstoßen, sich anlegen wie Schauspielergewänder -- die einfache, schlichte Demut, die die Demütiger gerne als Naivität und Einfalt hinstellen, ist verloren. Damit sind für den Gedemütigten die Mitmenschen nicht mehr potentiell Gütige, sondern Teufel.
Darum ist auch das tiefere Interesse der Mächtigen an der Demütigung leicht zu erkennen: In einer Welt, in der jeder jedem ein Wolf ist, in der die Hölle in den anderen besteht, sind die Demütiger immer im Vorteil, sind automatisch die Herrscher. Die Verkehrung der menschlichen Natur drückt sich in der Maßlosigkeit der Herrschaft aus, in der Durchstaltung der Gesellschaft mit Abhängigkeits- und Manipulationsmustern, die zu Vernetzungen beschönigt werden. Sowenig wie die Mafia oder Geheimdienste demütig sind, so sehr sind die Menschen der modernen Staaten fügsam bis hin zu jenem Punkt, wo sie einander Leid zufügen und die Güte der Begegnung verweigern.
Aus der Herrschaft der Demütiger ergibt sich die Herrschaft der Demütigung; die Demut ist die gedemütigte Natur des Menschen, die pervertiert wird in eine Fügsamkeit, die einem aufs Leben hinaus abverlangt wird. Die Erziehung des Menschengeschlechts hat sich darin selbst beschlossen, indem sie zur Macht erzogen wird durch die beiden Formen, die mit und durch sie als Seinsformen möglich werden: demütigende Demütiger oder fügsame Gedemütigte. Ein Drittes gibt es nicht und darf es nicht geben können.---



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