[p.60]
"Die Theorie des Kinos zielt nicht auf das Kino, sondern auf die Begriffe des Kinos, die nicht weniger praktisch, wirklich oder existent als das Kino sind. (....) Das Kino ist eine neue Praxis der Bilder und Zeichen und es ist die Sache der Philosophie, zu dieser Praxis die Theorie (im Sinne begrifflicher Praxis) zu liefern." Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild (1991/85: 358)
"Die Theorie des Kinos zielt nicht auf das Kino, sondern auf die Begriffe des Kinos, die nicht weniger praktisch, wirklich oder existent als das Kino sind. (....) Das Kino ist eine neue Praxis der Bilder und Zeichen und es ist die Sache der Philosophie, zu dieser Praxis die Theorie (im Sinne begrifflicher Praxis) zu liefern."
Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild (1991/85: 358)
Will man die Bedeutung des Kinos nicht nur für den cineastischen, sondern auch für den gegenwärtigen philosophischen Diskurs einschätzen lernen, erscheint es sinnvoll, nicht einfach den verschlungenen Gang der Filmtheorie nachzuzeichnen, sondern sich zunächst den besonderen und, wie man annimmt, konstant bleibenden Eigentümlichkeiten des Mediums Film zu widmen. Ich wende mich der matière signalétique [2] der a-syntaktischen, signifikantenlosen, nicht genuin sprachlich verfaßten Materie des Films nicht, wie Christian Metz etwa, aus einer linguistischen Perspektive zu (weder langue, noch langage), sondern interessiere mich neben der technikgeschichtlichen und kulturhistorischen Betrachtung für ein medienbewußtes Vorgehen. Ich konzentriere mich im folgenden nicht auf einzelne Filmtheoretiker, sondern verfolge - querliegend zu den theoretischen Schulen - im wesentlich drei argumentative Ziele:
I. Zuspitzung der traditionell für das philosophische Nachdenken relevanten Selbstthematisierung des Films auf die drei miteinander koalierenden Figuren: 'Kino des Sichtbaren' (in Erweiterung von Deleuzes 'Bewegungs-Bild'), 'Kino des Blicks', 'Kino der Unsichtbarkeit' (in Anlehnung an Deleuzes 'Zeit-Bild'), welche sich aus der Problematisierung des Sehens und Gesehen-Werdens ergeben.
II. Skizzierung eines dreiphasigen, strategischen Durchsetzungs- und Behauptungs-Modells innerhalb des medialen Spektrums (zu welchem insbesondere Photographie und Fernsehen zählen), welches die innere Logik der cinematographischen Selbstthematisierung begleitet und sich auf die Sukzession von Selbstverschleierung, Selbstbewußtheit, Selbstvergessenheit des Mediums Films kapriziert, wobei ich mit dem Präfix "Selbst-" weder subjektphilosophische noch systemtheoretische Implikationen verbunden wissen möchte.
III. Über das Kino hinaus Reflexion auf die Eigentümlichkeiten des 'Medialen' selbst in Auseinandersetzung mit seinen 'künstlichen' und 'natürlichen Elementen'. Daran anschließend ein Plädoyer für die konstitutive 'Schwammigkeit' des Medienbegriffs.
Um der Veröffentlichung meiner Promotion mit dem Titel 'Travestien der Zeit im Werk von Gilles Deleuze. Anmerkungen zu seiner philosophischen Kinotheorie', deren Abschluß für Dezember 1998 avisiert ist, durch diese Internet-Publikation nicht vorzugreifen, stelle ich hier nur das thetische Gerüst meines vierten Kapitels über das Kino vor, ohne die dazugehörige Durchführung zu leisten.
Ich beginne mit einigen Annahmen über den Film, die für Nicht-FilmwissenschaftlerInnen nicht selbstverständlich sind und die meine Perspektive auf das Kino und den Umgang mit der Filmgeschichte deutlich machen sollen.
Der Film gehört für mich - hierin der Photographie ebenso wie dem Roman verwandt - innerhalb der protokollarischen Medien oder reproduktiven Aufzeichnungs-Techniken zu den Ausdrucksmedien, die weniger der Kommunikation dienen, als vielmehr ein relativ abgeschlossenes und nicht beliebiges Sinnangebot in Form eines konkreten Narrativs zur Verfügung stellen, dem wir uns genießerisch ebenso wie analysierend zu nähern vermögen. Unter Narrativ verstehe ich das künstliche Kontinuum, die Montage aus Bildern und Tönen, welches durch die Abfolge einzelner Bilder auf dem Zelluloidstreifen entsteht. Diese konkrete Abfolge - welche nach dem Schnitt nicht mehr verändert wird - ist es, die vom Betrachter im Rahmen historisch variabler Konventionen interpretiert wird. Das Narrativ eines Filmes ist nicht einfach seine Handlung, sondern die Gesamtheit der in der Bild- und Tonmontage [p.61] angelegten Bedeutungsattributionen.
Die Zuschreibung von Bedeutung wird von FilmemacherInnen in einem Höchstmaß kontrolliert. In diesem sehr zurückgenommenen Sinn hat Film für mich Anteil am Anliegen einer jeden Kunst. Kontrolliert wird das Narrativ neben dem nachträglichen Schnitt bzw. der Ton-Mischung vor allem durch Inszenierung der zwei natürlichen und im Film unabhängig voneinander einsetzbaren Wellenphänomene (im folgenden auch 'natürliche Medien' genannt): (a) Mithilfe manipulativer optischer Geräte [3] geht es im Film um die Inszenierung des Sichtbaren, d.h. des Lichts, welches die Dinge oder Menschen dieser Welt in verschiedenen Graden zurückwerfen oder absorbieren und (b) um die Inszenierung des Hörbaren, welches, neben der gesprochenen Sprache, die Welt der Geräusche und der Musik einschließt.
Vorkommen, Umfang, Reichweite, physiologische und psychologische Wirkung der optischen und akustischen Wellenphänomene sind außerordentlich verschieden und nicht aufeinander abbildbar. Auch im Film sind Töne und Bilder nicht austauschbar oder ohne Bedeutungsänderung ineinander übersetzbar. Die natürliche Asynchronizität der akustischen und optischen Welt (wie sie z.B. in der Abfolge von Blitz und Donner spürbar wird) macht sich die filmische Inszenierung zunutze, indem sie Bild und Ton als zwei nicht-symmetrische Ordnungen getrennt voneinander zu dramatisieren vermag; was den geläufigen, synchronen und diegetischen Gebrauch des Tons zu nur einer möglichen Inszenierungsform macht. [4]
Um etwas zu sehen, muß man immer schon etwas wissen. Das bisher Gesagte, insbesondere die Betonung des a-synchronen Gebrauchs von Bild und Ton, ist seinerseits Produkt einer historischen Entwicklung und wird verstehbar nur in Kennntnis der filmischen Erzählstrategien, wie sie sich im Umfeld von italienischem Neorealismus und französischer Nouvelle Vague herausgebildet haben. Womöglich ist es nach mehr als hundert Jahren Filmgeschichte für das Verständnis der aktuellen Filmproduktion wichtiger denn je, die dezenten Bezüge der FilmemacherInnen auf die Werke anderer zueinander ins Verhältnis zu setzen. RegisseurInnen zitieren nicht nur andere Kunstwerke oder stellen sie - wie beispielsweise Peter Greenaway - aus, sondern sie referieren auch mehr oder minder direkt, ernst oder parodistisch auf Konstellationen, Einstellungen oder Dialoge aus älteren Filmen. Die Art und Weise der Bezugnahme ist ihrerseits bedeutungsvoll für die Interpretation des aktuellen Geschehens in einem (neuen) Film. Was folgt für uns daraus?
Daß es eine "indirekte philosophische Untersuchung der Kunst durch die Kunst" (Danto 1994: 336) gibt, und daß die gesamte Logik des künstlerischen Fortschritts am Ende in ihrer eigenen Theorie aufgehen wird, hat Arthur C. Danto am Beispiel der bildenden Kunst vor allem in seinem 1986 veröffentlichten Buch 'The philosophical Disenfranchisement of Art' behauptet. Als "Gestalt des Lebens, die alt geworden ist" (Danto 1993: 136), besteht die hegelianische Pointe nach seiner Überzeugung darin, daß die moderne bildende Kunst - nachdem alle Materialien verfügbar sind - zu ihrer eigenen immateriellen Theorie geworden ist. [5] Ließe sich diese Gedankenfigur auf den Film übertragen? Könnte man folgern, daß auch im Laufe der cinematographischen Entwicklung
"die Gegenstände bis zum Nullpunkt reduziert werden, während die Theorie ins Unendliche wächst, so daß es am Ende praktisch nur noch die Theorie gibt und die Kunst sich zu dem blendenden Glanz der reinen Gedanken über sich selbst verflüchtigt hat und gleichsam nur noch als Objekt ihres eigenen theoretischen Bewußtseins existiert"? Danto (1993: 141)
Ich möchte hier nicht soweit wie Danto - mit Hegel - gehen und für den Film behaupten, daß auch seine Geschichte mit dem "Anbruch (...) des Sich-Selber-Wissens" (ibid: 137) ausklingt. Dies vor allem, weil ich bezweifele, daß beim Film eine ähnliche Entleerung oder Entwertung der materiellen Welt zugunsten einer immateriellen Theorie stattfinden kann. Ein wichtiger Unterschied scheint darin zu liegen, daß ein Kunstwerk in der modernen Kunst in Abhängigkeit des gewählten Materials (das im 20. Jahrhundert für die Frage der Kunstfähigkeit irrelevant und grenzenlos geworden ist) in einer Minute oder in mehreren Jahren hergestellt werden kann, während ein Film, so kurz er letztlich auch sein mag, immer an einen zeitraubenden Herstellungsprozeß und an ganz bestimmte Materialien gebunden bleibt.
Bei allen Unterschieden zu Danto wird die Reflexion auf den eigenen Status im Verhältnis zur Geschichte eines Mediums ein wesentliches Moment des 'Sich-Selber-Wissens' sein, welches ich im folgenden zu erklären versuche. An dieser Stelle sei bereits festgehalten, daß die historische Relevanz des Films heute zu einem beträchtlichen Teil darin liegt, wie er seine [p.62] 'eigene Philosophie' - verstanden als die Reflexion auf die Bedingungen seiner Möglichkeiten - bedeutsam werden läßt. Für den Gang meiner Argumentation soll die einfache Feststellung genügen, daß man - ohne die Thesen Dantos teilen zu müssen - weder in der Kunst-, noch in der Philosophie- oder Filmgeschichte zurückgehen kann, ohne sie zu verändern. Sie mit dem Wissen um die aktuelle Verfaßtheit des Kinos zu betrachten, heißt immer auch, die Geschichte um- und neu zu schreiben, denn wir können nicht absehen von dem, was wir über seine Gegenwart und Vergangenheit schon wissen. Den 'Anfang' eines Phänomens von seinem 'Gegenwartsende' her zu begreifen, ist die conditio sine qua non unseres Erkennens und als 'epistemische Falle', selbst wenn wir möchten, nicht zu überlisten.
Die Erfindung des Kinos im Ausgang der 19. Jahrhunderts läßt sich, neben der Erfindung der Glühbirne, des Telephons und des Radios, als "ein strukturell überdeterminiertes", ein überfälliges Ereignis beschreiben (vgl. Engell 1991: 42). Will man sein Auftauchen im Jahr 1895 ergründen, bieten sich zwei Erklärungshilfen an, die das Phänomen Film sozusagen in die Vergangenheit zurückverlängern. Aus technikgeschichtlichem Blickwinkel betrachtet gibt es strukturelle Ähnlichkeiten, wenn nicht sogar 'Verwandtschaftsbeziehungen' zwischen
(a) artilleristischem und cinematographischem Fortschritt (Paul Virilio) und
(b) Geschichtsschreibung und Bewegungsbeschreibung (Lorenz Engell).
So weit die beiden Vergleichsfelder zunächst auch auseinanderliegen, so haben doch die Perfektionierung der Artillerie und der Beginn der systematischen Geschichtsschreibung mit der Kinematographie gemeinsam, daß sie Ideenkinder des 19. Jahrhunderts sind und sich - wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise und zu unterschiedlichem Behufe - der methodischen Erforschung des Bewegungsphänomens verschrieben haben. Während die Geschichtsschreibung an Erkenntnis interessiert ist und sich ganz allgemein für Zeitüberwindung (vor allem durch schriftliche Überlieferung) begeistert und dabei mitunter auch das unsichtbare Telos langzeitlicher, unanschaulicher, abstrakter Makrobewegungen erforscht, ist die artilleristische Kriegstechnik an Raumüberwindung zwecks Vernichtung interessiert, indem sie das, was sie mittels optischer Prothesen 'sieht', zu treffen und auszulöschen versucht.
Je nachdem, welcher der beiden Analogien man den Vorzug gibt, zeichnen sich zwei sehr verschiedene Möglichkeiten ab, das Kino zu betrachten. In der Nachfolge Paul Virilios bietet sich eine Problematisierung des Sichtbaren an, die das Phänomen Film rückbindet an die Macht eines allgegenwärtigen, kontrollierenden 'Kamera-Auges' (der Begriff stammt von Dziga Vertov) und es an die Geschwindigkeit bzw. die Beschleunigung des Blicks als virtueller Angriffswaffe koppelt, wie es im Action-Kino geschieht. In der Nachfolge der Bewegungsbeschreibung, wie sie die Geschichtsschreibung (nach Engell) vornimmt, verschiebt sich das Augenmerk auf die 'unsichtbaren', eher zeitlich zu verortenden Bewegungen in Richtung eines Gedanken-Kinos. Die Kinematographie dringt - u.a. mit Hilfe von Vor- und Rückblenden, Zeitraffer und Zeitlupe - in die Bereiche des Gedächtnisses oder des Traumes vor und macht uns auf diese Weise Welten jenseits der aktuellen Wahrnehmung visuell erlebbar.
Zwischen den Extremen der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, die sich - wie ich später zeigen möchte - durchaus berühren, zeichnet sich eine dritte Position ab, die ich als 'Kino des Blicks' charakterisieren möchte. Darunter subsummiere ich die verschiedenen Spielarten der 'Lust am Schauen' und des 'ausbeutenden Blicks', welche innerhalb der Filmgeschichte als Voyeurismus-Theorien großen Raum einnehmen. [6] Wegen ihrer Bekanntheit und Gültigkeit auch für die Photographie [7] werden sie in meinen eigenen Überlegungen nur kurz Erwähnung finden. Das Kino der Sichtbarkeit, des Blicks und der Unsichtbarkeit kommen darin überein, daß es in der Kinematographie um das Überschreiten und Überwinden geht der Grenzen unserer natürlichen, situativen, selektiven, nicht-prothesengestützten Wahrnehmung.
Der Streit, ob nun der Film als Medium 'der Wirklichkeit' verpflichtet sei (vielleicht sogar "the redemption of Physical Reality" ermögliche, wie es der umstrittene Untertitel von Siegfried Kracauers »Theory of Film&laqno; suggeriert) oder eher auf das Unwirkliche, Fiktive und Monströse [8] abziele, ein Streit, der sich in seiner ganzen vorgeschobenen Rhetorik schon in der [p.63] Frühphase der neuen Mediums zwischen den Brüdern Lumière [9] und Georges Méliès [10] ankündigte, kann im Interesse aller Kontrahenten beigelegt werden. (Schon damals waren Lumières einfahrende Züge 'unwirklicher' und Méliès' Mondflüge 'wirklicher', als sie vorgaben.) Es hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß sich das Kino die Waage hält zwischen Projektion und Konstruktion von Wirklichkeit. Es macht wenig Sinn, das eine oder das andere als 'unfilmisch' oder 'nicht-mediengerecht' zu stigmatisieren.
Vielmehr leistet der Film einen wesentlichen Beitrag zum Entwurf 'möglicher' Welten und damit auch zum Erhalt der 'wirklichen' Welt. Und er leistet dies, gerade weil er die Fragmentierung ins Extreme treibt, weil er das Bruchstück, das Momentbild durch den Schnitt noch einmal bricht, bevor er es in der Montage neu zusammenfügt. [11] Die Kinematographie zielt, ob als Dokumentar- oder als Spielfilm, nicht auf Verdopplung, sondern auf Weltergänzung und Welterklärung.
In theoretischer Hinsicht hat das Kino - nach der Photographie - vor allem den Begriff des Bildes revolutioniert. Die Sensation, die nach der Hochzeit der Dioramen und Kaiserpanoramen die ersten kontinuierlich bewegten Bilder in Lyon und Paris auslösten, beruhte nicht auf Verwechselung oder der Angst, hier könnte eine zweite Form von Realität der ersten den Rang ablaufen. Vielmehr stülpte das Kino - als zweites photographisches Medium - ein weiteres Mal den Bildbegriff des Abendlandes um. Bis dato war ein reales Bild, im Unterschied zu virtuellen Spiegelbildern, Vorrecht der Malerei, der einzigen autographischen Kunst. Als einzige legitime Aktualisierung und Visualisierung des künstlerischen Genies erwarb es gegenüber den flüchtigen, nicht-fixierbaren und nicht-kommunizierbaren 'Vorstellungsbildern' das Recht, ausgestellt und gewertschätzt zu werden. (Auch die neuzeitlichen Tafelbilder, die sich allein durch ihre Transportierbarkeit vom vera-icon-Ideal zu lösen begannen und sich an wechselnden Orten ausstellen und betrachten ließen, waren noch Ausdruck eines absichtsvollen, künstlerischen Schaffensprozesses, der Anspruch auf ein Überdauern der Gegenwart erheben durfte.)
Daß mit den ersten öffentlichen Kinovorführungen plötzlich die Menschen über transitorisch erscheinende und sogleich wieder verschwindende Bilder in Entzücken gerieten und sich besonders vom aufsteigende Rauch einer Zigarette oder dem Windstoß, der das Wassser kräuseln machte, begeistern ließen und danach verlangten, andere flüchtige, alltägliche und bekannten Momente auf einer Leinwand zu sehen, scheint darauf hinzudeuten, daß sich hier erstmals Leonardo da Vincis Traum erfüllte von der "Wiedergabe all jener atmosphärischen Effekte" (Gombrich 1976/87: 75), die wir dem Beinahe-Unsichtbaren, dem Ephemeren zuschreiben. [12] So haben die ersten KinobesucherInnen wohl keinen Moment lang an der Existenz der neuen Lichtbilder gezweifelt, die sich da im Strahl des Projektors vor ihnen auffächerten, aber sie waren womöglich nicht sicher, worauf sich ihre 'Seinsvalenz' (Gadamer) wirklich gründete.
Von Gadamer stammt eine sehr frühe Kritik an der Genieästhetik, die durch die Dynamik in der bildenden Kunst im Verein mit dem Auftauchen der photographischen Medien genötigt wird, ihren Anspruch auf die Hoheit des Bildbegriffs abzugeben.
Im folgenden möchte ich einen Abschnitt aus »Wahrheit und Methode&laqno; (1960) zum Ausgang nehmen, um die schon erwähnte Erschütterung des Bildbegriffs nicht erst durch den Film deutlich zu machen. Ich arbeite dabei mit der Hypothese, daß bereits in Gadamers etwas gewundener Begründung der 'Seinsvalenz' eines Bildes eine den gegenwärtigen Diskurs bestimmende Gedankenfigur zum Ausdruck kommt: Nicht der kultische oder der kulturelle Gebrauch, nicht der materielle, nicht der ideelle, sondern allein der perfomative Gehalt eines Bildes wird zu seinem Wesensmoment und Definiens erklärt und erlaubt damit, trotz der erheblichen Unterschiede bei verwendetem Material und Herstellungsprozeß, weiterhin von Bildern zu sprechen - ganz gleich ob Malerei, Photographie, Film und Fernsehen gemeint ist.
In seinen ontologischen Spekulationen über den Status der Bilder plädiert Gadamer dafür, der in einer bestimmten Darstellung erscheinenden Welt - also jedem Bild - eine eigene Daseinsberechtigung einzuräumen. "Ohne die Mimesis des Werkes ist die Welt nicht da, wie sie in ihm da ist, und ohne die Wiedergabe ist das Werk seinerseits nicht da" (Gadamer 1960/90: [p.64] 142). Anders als ein Abbild ziele ein Bild nicht auf Selbstaufhebung oder auf den platonisch abwertenden Vergleich mit dem Urbild. Es sei nicht Mittel zu einem Zweck, sondern selbst das Gemeinte, gerade weil es darauf ankomme, wie sich in ihm das Dargestellte darstelle. Das Bild verweise nicht nur auf seine Ähnlichkeit mit dem Dargestellten, sondern vor allem auf die Momente, die es von der dargestellten Sache selbst unterscheiden. [13]
Jedes Bild ist demnach reziprok auf ein nicht-dargestelltes Urbild bezogen, das seinerseits nur im Bild zur Darstellung kommt und damit im Moment der Darstellung einen Zuwachs an Sein erfährt. "Der Eigengehalt des Bildes ist ontologisch als Emanation des Urbildes bestimmt" (ibid.: 145). Die Zuspitzung, die sich Gadamer im Zuge seines auf den (neuplatonischen) Überfluß des Emanierten gegründeten Bildbegriffs erlaubt, besagt folgerichtig, daß "erst durch das Bild das Urbild eigentlich zum Ur-Bild wird" (147).
Am Beispiel des Staatsmannes, der sich portraitieren lassen müsse, um seiner Aufgabe als 'Repräsentant' des Staates überhaupt gerecht zu werden, zeigt Gadamer, wie der Staatsmann erst durch sein Bild seine "eigentlichere" Erscheinungsweise und Bestimmung erlange. Erst das Bild affirmiert seine omnipräsente (aber an und für sich unsichtbar bleibende) Macht, indem es sie von seinem (sterblichen) Körper löst und im ausstellbaren, vorzeigbaren Bild demonstriert. "Die Repräsentation des Bildes ist ein Sonderfall der Repräsentation des öffentlichen Geschehens (....). Wessen Sein so wesenhaft das Sich-Zeigen einschließt, der gehört sich selbst nicht mehr" (147), heißt es bei Gadamer. Das Bild ist damit der performative "Seinsvorgang" (149) des "Zur-Darstellung-Kommens" (153). Das Wesensmoment, welches ihm eigenes Recht verleiht, ist seine Potenz, einem So-Nie-Gesehenen, So-nie-Dagewesenen und -Dargestellten seine 'Funktion als Urbild' (i.d. bei Gadamer 'Urbildlichkeit') zuzuweisen und es als Bild existieren zu lassen. Die Reflexion auf die Darstellung selbst bzw. ihren performativen Gehalt - das läßt sich aus Gadamers Überlegungen von 1960 folgern - eröffnet die Suche nach der verschwiegenen Selbstthematisierung einer jeden künstlerischen Form.
Was die ersten KinobesucherInnen so erschauern ließ, war also die Ahnung, daß auf einmal alles, was existierte, auch als Bild existieren konnte und zwar losgelöst von dem Überleben der gezeigten Sache selbst. Das Erstaunen über den Zuwachs an Bildhaftigkeit wurde gesteigert durch die Tatsache, daß sich nicht nur Dinge, sondern Bewegung selbst zur sukzessiven, bildlichen Darstellung eignete. In der Darstellung bewegter oder beweglicher Wirklichkeit verschlang sich auf einmal originales mit reproduktivem 'Sein'. Im Anschluß an Gadamer könnte man sagen, daß erst die Bewegungsbilder den schon für die gemalten Bilder prognostizierten 'unauflöslichen Bezug' zu allen anderen Bildern, zu jedem möglichen nächsten Moment der gerade noch ablaufenden Gegenwart einzulösen vermögen. Mit der ersten öffentlichen Kinovorführung war die Angst und die Lust geboren, die Bilder könnten durch ihre schiere Existenz den natürlichen Fortlauf des Geschehens verändern und zu ihren eigenen, seriellen und ephemeren Gunsten entscheiden.
Man könnte meinen, erst mit dem Kino sei G.W.F. Hegels düstere Prognose [14] von 1818 aufgegangen, wonach auch in Deutschland - das letzte Land, in dem die philosophische Wissenschaft noch vorübergehend Asyl gefunden habe - "allein Unwahres, Zeitliches und Vergängliches gleichsam den Vorzug genieße, erkannt zu werden" (Hegel 1986: 402). Hundertachtzig Jahre später hat die Wissenschaft selbst den Ewigkeitsanspruch unserer Erkenntnisse nicht nur de facto, sondern auch de jure zurückgewiesen. Das Zeitliche, Vergängliche, vormals das Unwahre schlechthin, ist zur einzig verläßlichen, universellen Konstante geworden und als solches muß es festgehalten werden und läßt sich festhalten, gebannt wenigstens als Bild mit all den daran geknüpften und mit dem Namen Flussers verbundenen 'Dimensionsreduktionen'. Die Emanation und Reauratisierung des Ephemeren ist - Benjamin zum Trotz - zum Vorrecht unserer Bilder- und Starkultur geworden. Das Ewige ist heute wesentlich eine Ewigkeit des Bildes und eines seiner (gar nicht mehr so utopischen) Orte ist das Multiplexkino mit seinem THX-Sound.
Wie ich zeigen möchte, hat das Kino unseren Bildbegriff verändert und damit auch unsere Bedürfnisse, uns 'nach seinem Bilde zu formen'. Gibt es als Kehrseite der von Günter Anders attestierten 'prometheischen Scham vor der Apparatur' nicht auch eine 'prometheische Schamlosigkeit', den kaum verhohlenen Wunsch, sich selbst verwandelt in der Appartur wiederzufinden? Der Traum des frühen 20. Jahrhunderts, formuliert von Artaud und anderen Apologeten des 'geistigen Automaten', das Kino könne in prototypischer, emblematischer [p.65] Weise, nicht nur das 'moderne Denken', sondern das zerebrale Geschehen überhaupt versinnbildlichen, ist verständlich und aus medienhistorischer Sicht nichts Außergewöhnliches, zumal die Unerfüllbarkeit des Wunsches nie lange auf sich warten ließ. [15] (Artaud wandte sich wenig später enttäuscht vom Kino ab.)
Wie die Geschichte der Paradigmen-Entstehung und Paradigmen-Verwerfung lehrt, sind wir - von der unstillbaren Suche nach Substantiierung und Objektivierung getrieben - schnell bereit, eine technische Neuerung als Emanation des Intelligiblen anzusehen. Rationalistisch argumentiert dürfte es schwierig werden, das Intelligible jemals rest- und nahtlos im Sensiblen (Materiellen) aufgehen lassen zu können. Zwar lehrt uns Kants »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht&laqno; (IaG) im Anschluß an die 'Kritik der Urteilskraft' [16], daß das Sinnliche selbst seine letzten Zwecke nicht zu vollziehen vermag und es also einer "List der übersinnlichen Natur" bedarf, um eben diese zu verwirklichen, ist doch "dieser Zweck (...) das Übersinnliche selbst, insofern es vollzogen werden muß, das heißt eine Wirkung im Sinnlichen haben muß." [17] Andererseits gibt Kant uns wenig Aufschluß darüber, wie die Verwirklichung der übersinnlichen, 'inneren Natur' des Menschen (gemeint sind hiermit vor allem die Vermögen Einbildungskraft, Verstand, Vernunft) im Sinnlichen zuverlässig als solche erkannt werden kann, und wie weit dieser 'Effekt' unserer intelligiblen Vermögen sich von diesen selbst zu lösen und sich frei zu substantiieren vermag. Wirkungen im Sensiblen bleiben von der Natur des sie verursachenden Intelligiblen himmelweit unterschieden, denn "buchstäblich genommen und logisch betrachtet, können Ideen nicht dargestellt werden" (KdU: 115). Die Idee des Übersinnlichen können wir deshalb nicht weiter bestimmen, "mithin die Natur als Darstellung derselben nicht erkennen, sondern nur denken" (KdU: 116). Für Kant findet deshalb das Unendliche, Übersinnliche der eigenen Vermögen beispielsweise angesichts der rasenden Natur nur eine 'negative Darstellung'. Die Einbildungskraft vermag dem Verstand kein geschlossenes Bild zu liefern, ihre apprehensio geht selbst sukzessiv ins Unendliche, während die comprehensio und die Subsumtion unter einen Begriff scheitern muß.
Auch der berühmte kantische Perspektivismus ist damit strenggenommen ein Effekt stereoskopen 'Sehens' durch zwei ungleiche Brechungs- und Seinsverhältnisse: Intelligibles und Sensibles bleiben aufeinander verwiesen, ohne jemals ineinander aufzugehen. Ihr Zusammenspiel ist bloß 'subjektiv-zweckmäßig', an sich aber jederzeit zufällig.
Insofern möchte ich von Exemplifizierungen oder gar Substantiierungen genuin menschlicher Vermögen im Kino absehen. Ein Medium allein kann als Emanation des menschlichen Geistes nicht genügen. Aber es kann, da es ja von Menschen erfunden, genutzt und nach den eigenen Bedürfnissen geformt wird, natürlich in ausgezeichneten Fällen als Vexierspiegel der eigenen Natur dienen. Die schon erwähnte Suche nach impliziten Selbstthematisierungen des Mediums verstehe ich als einen durch die Existenz einer Apparatur gebrochenen 'Selbsterkundungsversuch', den Menschen im Namen eines Mediums anstellen. Die Losung müßte, genaugenommen, lauten: Selbsterkundung durch Fremdthematisierung. (Mit dieser an Merleau-Ponty erinnernden Wendung umgehen wir ein problematisches Moment der Selbstthematisierung, insofern sie Einheit von Ursache - hier sogar: Wesen - und Wirkung auf der Ebene der Darstellung verlangt.)
Gilles Deleuze hat die These vertreten, daß das Nachkriegskino, das ich zum 'Kino der Unsichtbarkeit' zähle, in besonderer Weise Beispiele für die Thematisierung des Undarstellbaren liefere. Nicht die Macht, sondern im Gegenteil die Ohnmacht des Denkens, das Scheitern der Einheit aus Denken und Handeln, führe uns der italienische Neorealismus vor Augen und zwar, indem er das Vergehen von Zeit (vor allem in Form von Langeweile) spürbar in die Bildzwischenräume einführe durch einen Schnitt, der auf sich aufmerksam mache, statt im Tarnmantel unserer optischen Gewohnheiten unsichtbar zu werden.
Was in der Logik eines bestimmten Filmstils, einer bestimmten Filmepoche noch als bloßes dramaturgisches Mittel erscheint, zieht auf philosophischer Ebene größere Kreise: Wie gelangt das Unsichtbare und doch Wirkmächtige schlechthin, wie gelangt Zeit zu einer adäquaten Darstellung? Die Frage nach der 'Natur' eines modernen Zeitbegriffs, welcher sich nicht länger der Logik von Bewegungen unterordnet, stellt sich im Ausgang der Logik des Kinobildes auch für uns Philosophen neu, aus dem einfachen Grund, weil wir gelernt haben, unser Verhältnis zur Zeit (insbesondere der Vergangenheit) immer exklusiver durch, über und im Medium des Bildes zu bestimmen und zu regulieren. Die Frage, ob und wenn ja, wie wir Kinobilder von der ihnen eigenen, multiplen Zeitlichkeit - Zeit der Aufnahme, Zeit des Schnitts, Zeit der [p.66] Projektion - zu trennen vermögen, ist so trivial nicht.
Die 'Natur' des Medialen selbst, das scheint der gegenwärtige Diskurs anzuzeigen, wird uns solange verborgen bleiben, wie wir seine zeitliche Struktur als bloß akzidentelle betrachten und die sog. 'vierte Dimension' (Zeit) zum zweidimensionalen Bild einfach nur imaginär dazu addieren. Wenn aber die Frage, warum es virtuelle Räume, aber keine virtuellen Zeiten gibt, auf einer Tautologie beruht, weil Zeit selbst der Inbegriff von Virtualität ist, wird auch die 'Medialität' eines Stoffes wesentlich ein Effekt seiner Zeitlichkeit sein. Die Fähigkeit des Kinos zur Selbstthematisierung wird dann davon abhängen, wie überzeugend es ihm gelingt, seine eigene zeitliche Struktur zu exponieren, dürfen wir sagen: abzubilden?
Kehren wir zunächst zurück zu der vierten These, die mir als Ausgang dient, die vielen möglichen Selbstthematisierung des Kinos auf eine einzige Fragestellung zuzuspitzen: Welche Natur hat das Sichtbare? Ist das Sichtbare gleichbedeutend mit dem, was sich zeigt? (Was ist wann, wo, wie lange und warum sichtbar?) Die Arbeitshypothese lautet demnach: Es gelingt es dem Film auf seine ureigenste Verfassung aufmerksam zu machen, indem er die Bedingungen des Sichtbaren erforscht, also das, was sichtbar ist, was sich sichtbar machen läßt und was unsichtbar bleiben muß. Tatsächlich hat das Kino auf diese Frage zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichem Nachdruck und in wiederkehrenden Zyklen im wesentlichen drei Antworten gegeben: Indem es sich
(1) auf das konzentriert, was sich sichtbar machen läßt ('Kino der Sichtbarkeit'),
(2) für das interessiert, was sich nicht sichtbar machen läßt ('Kino der Unsichtbarkeit'),
(3) auf das gestoßen wird, was sieht, aber für sich selbst unsichtbar ist, nämlich der Blick, das Auge, die Thematisierung des Sehens selbst ('Kino des Blicks').
Das komplizierte und nicht-statische, sondern bewegliche Verhältnis zwischen Sichtbarem und Unsichtbaren hat Maurice Merleau-Ponty in seinem gleichnamigen Buch 1964 nicht für den Film, wohl aber für die Philosophie skizziert. Ich schließe mich seiner Fassung des Problems (vgl. S&U: 275ff.) hier gerne an, wenn ich davon ausgehe, daß:
a) das Sichtbare nie eine 'objektive Präsenz', sondern immer auch Quale und Latenz ist (vgl. S&U: 324);
b) das Sichtbare selbst aus Unsichtbarem gegliedert ist, und umgekehrt das Unsichtbare als das "Nichturpräsentierbare" im Sichtbaren als "virtueller Brennpunkt" (ibid.), nur 'zwischen' den Bildern uneigentlich erscheint; [18]
c) das Unsichtbare also nicht das Gegenteil des Sichtbaren, sondern sein es ergänzendes, "geheimes Gegenstück" (S&U: 275) darstellt;
d) das Unsichtbare läßt sich gliedern in: 1. das, was temporär unsichtbar oder nicht aktuell sichtbar ist; [19] 2. das, was untrennbar mit dem, was sichtbar ist, verbunden bleibt; [20] 3. das, was auf nicht-okulare Weise sinnlich erfahrbar bleibt (taktil, auditiv, olfaktorisch, kinästhetisch usf.); 4. das, was konstitutiv unsichtbar ist, wie das intelligible Cogito zum Beispiel (vgl. S&U: 324).
'Das Sichtbare' ist, so wie ich es im Anschluß an Merleau-Ponty verstehe, nicht etwas "objektiv Positives", ebensowenig wie 'das Unsichtbare' seine Negation im logischen Sinne sein kann. [21] Eher sind beide Größen korrelativ zueinander, mit offenen, relativen, unscharfen Rändern. Sie sind nichts Natürliches, immer schon Gegebenes, sondern das Sichtbare und das Unsichtbare stellen sich als Effekt ein, als Produkt einer komplexen Situation aus Sehen und Gesehen-Werden. Sie sind 'Abweichungen' voneinander. Das Unsichtbare ist immer schon im Sichtbaren 'beschlossen' oder 'eingeschlossen' gleichsam als "Modalität derselben Transzendenz" (S&U: 324). Diese Fassung des Problems trägt auch der Tatsache Rechnung, daß Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, nicht nur im Film sondern auch im Leben, zuallererst an Merkmale gebunden sind, welche auf wahrnehmungsphysiologischen (sinnlichen) Konstanten ebenso wie situativen Konditionen fußen. [22]
Der Film versucht diese natürlichen und situativen Beschränkungen mit seinen eigenen Mitteln zu überschreiten, zu unterwandern durch Indienstnahme von besonderen Optiken (Nachsichtgeräten, Zoomobjektiven, Elektronenmikroskopen etc.), zeitmanipulierenden Aufnahme- oder Nachbearbeitungseffekten (Zeitlupe, Zeitraffer, time-lapse-Verfahren) und aufwendiger Licht- und Schattenregie. Es geht im Film fast immer darum, etwas genauer, länger und intensiver sichtbar und hörbar zu machen, als wir es gemeinhin tun. Die [p.67] Zugriffsmöglichkeiten des Sichtbaren und Hörbaren sollen maximiert werden. So verstanden zielt die Rede vom Kino des Sichtbaren, des Unsichtbaren und des Blicks zunächst nur auf ein mögliches gedankliches Zentrum, von dem aus Kino sich dem nähert, was es sichtbar und hörbar machen kann. Ich möchte hier nur kurz mein Verständnis der einzelnen Konzepte umreißen:
(ad 1) Das 'Kino der Sichtbarkeit' konzentriert sich auf das On, auf das zu erreichende, das zu schießende Bild. Es interessiert sich für alles, was sich versteckt, was flüchtig ist, was im Geheimen geschieht und sich auf die ein oder andere Weise zu entziehen versucht. Gemäß des (auch in der Philosophie der Aufklärung metaphorologisch virulenten) Ideals von Sichtbarkeit, muß das, was dunkel ist, erhellt und ins rechte Licht gerückt werden. Was sich zeigen läßt, das will ein solches Kino auch zeigen. (Direkte Beweisführung im Bild)
(ad 2) Das 'Kino der Unsichtbarkeit' hingegen thematisiert sich ausgehend von den Grenzen des Sichtbaren. [23] Das Unsichtbare ist mehr als nur das begriffliche Gegenstück zur Sichtbarkeit. Es umfaßt all das, was für unsere Augen entweder
(a) nicht aktuell sichtbar ist (situativ beschränkt): aktuelles hors-champ oder 'audio-visuelles Off',
(b) aber durch einen anderen Sinn erfahrbar ist (sinnlich beschränkt): die Tonspur als Off im On oder 'akustisches Off',
(c) alles, was sich überhaupt der Ordnung des Sinnlichen entzieht, wie die gesamte relationale und kausale Ordnung, Vergangenheit und Zukunft, die geistige und psychische Ordnung (Gedanken, Erinnerungen, Motive, Absichten): das 'Off-Off' oder 'absolutes Off'.
Ein solches Kino zielt auf das bilderlose, akustische, zeitliche Off, [24] das zu jedem Zeitpunkt der Projektion viel größer ist als das On. Es sucht nach Mitteln, die Wirkungen des Off für das On spürbar zu machen. (Indirekte Beweisführung im Bild)
(ad 3) Das 'Kino des Blicks' schließlich schränkt die weite Problematik des Unsichtbaren auf die Bedingungen unseres Blicks ein, auf das Übersehen von Sichtbarem. Dieses Kino kreist um das Sehen als seinem eigenen 'blinden Fleck', nähert sich dem unhintergehbaren Scheidungsgrund von Sichtbarem und Unsichtbarem: Das Auge sieht überhaupt nur etwas, weil es sich selbst dabei nicht zusieht, weil es sich selbst nicht sehen kann, weil es - allegorisch gesagt - 'auf diesem Auge blind ist'. [25] (Relativität der direkten und indirekten Beweisführung)
Demzufolge ist die 'Aspektblindheit' - die Aufmerksamkeits-, Interessegeleitetheit, die Müdigkeitsanfälligkeit des Auges im Verein mit der Erwartungshaltung und dem Vorwissen des Sehenden - der wichtigste Grund für das Vorhandensein, das Überhandnehmen und sich beständig ausweitendenden Terrain des Unsichtbaren. Unsichtbar ist manchmal auch das, was - wie im Fall von Edgar Allen Poes Brief - ganz offen sichtbar, was allzu sichtbar - 'durch-sichtig' - ist. Das Sichtbare zieht das Unsichtbare mit sich und umgekehrt. Les extrèmes se touchent.
Diese drei Perspektiven, sich dem weiten Feld der Sichtbarkeit zu nähern, ergänzen, überschneiden und durchdringen sich in den meisten Filmen. Einschränkend sei auch gesagt, daß es nicht Vorrecht des Films ist, Fragen der Sichtbarkeit zum Gegenstand zu machen (was uns auch daran erinnert, daß der Film mehr als nur Sichtbares liefert!). Malerei und Photographie tun es auf je andere Weise auch. Es soll auch nicht der Eindruck erweckt werden, daß wir dem Unsichtbaren einen "merkwürdigen Vorrang" (Magritte in Foucault 1997/73: 56) einräumten. [26]
Mir geht es deshalb bei dieser Klassifizierung - der wie jeder Unterscheidung etwas Künstliches und Gewaltsames anhaftet - allein um das Aufzeigen möglicher Lösungsrichtungen, aus denen heraus sich der Film dem philosophisch weithin unergründeten, scheinbar so augenfälligen, unproblematischen Phänomen Sichtbarkeit nähert und - en passant - seine eigenen Bedingungen zum Gegenstand macht. Diese Annäherung gelingt dem Film auf vorbildlich vielfältige Weise: Denn nicht nur das, was die Kamera sieht, ist Gegenstand von Inszenierung, sondern auch das, was die Schauspieler sehen können und dürfen und was uns - den ZuschauerInnen - vorenthalten wird oder erst nach und nach enthüllt werden soll. Wir sehen mehr und weniger als die Figuren im Film es tun. Wir sehen ihnen beim Sehen und Übersehen zu, bei allem, was wir selbst in jedem Moment der Filmvorführung tun.
Zur besseren Verständlichkeit der drei Spielarten des Kinos des Sichtbarkeit, der Unsichtbarkeit und des Blicks, ihrer Überschneidungsmomente und Kreuzungstendenzen [p.68] möchte ich den interessierten LeserInnen David Lynchs Film »Lost Highway&laqno; (1997) empfehlen. Ich habe dieses Beispiel auch im Hinblick auf meine abschließende Thesen zum Medienbegriff gewählt, weil Lynch in diesem Film das Spiel von Sicht- und Unsichtbarkeit durch ein umfangreiches Aufgebot an medialer Kommunikations- und Aufzeichnungstechnik in Szene setzt und zugleich den Konventionen unseres medialen Gebrauchs übel mitspielt.
Daß sich die Konkurrenz von Bild und Ton eines 'Kinos des Sichtbarkeit' und eines der 'Unsichtbarkeit' auch in der geschickten Inszenierung ihres parallelen und diegetischen Gebrauchs erweist und sich mit einem gezielten Regelbruch ungeahnte Effekte erzielen lassen, zeigt David Lynch mit seinem neustem Film »Lost Highway&laqno;. Anders als in seinen früheren Filmen, wo die Spannung sich über das unspezifische Rumoren einer Maschine aufbaute, das von keiner im Bild zu lokalisierenden Quelle stammte, weshalb Slavoj Zizek dieses Rauschen auch als "Echo des Urknalls" [27] ansprach, besteht der cinematographische Coup von Lynch in »Lost Highway&laqno; darin, daß er die Macht des (akustischen) Off im (visuellen) On inszeniert und damit die Ordnung des Sichtbaren und Hörbaren völlig umkehrt. Mithilfe von richtigen - aber in der Kombination falschen - audio-visuellen Anschlüssen im Bild führt Lynch vor, was passiert, wenn die ansonsten getrennten oder verschachtelten Ordnungen des Sichtbaren und des Unsichtbaren auf ein und derselben Ebene entfaltet werden:
(1) Wenn die akustische Macht des Off im visuellen, diegetischen On stattfindet, wird sie von uns wie etwas Sichtbares behandelt und als solche beglaubigt. Damit verlagert sich das ansonsten Sichtbare virtuell ins Off. (Wir trauen unseren Augen nicht mehr.)
(2) Diese doppelte Konversion - das Spiel mit dem funktionellen Austausch von Bild- und Tonspur - spielt sich vermittelt durch ein technischen Medium ab: Lynch kehrt dabei unsere Erwartungen an einen konventionellen Umgang mit Aufzeichnungstechniken und Kommunikationsmedien um, indem er die Disjunktion von Anwesenheit und Abwesenheit aufhebt und einander ausschließende 'Anwesenheiten' in Gestalt zweier identischer Stimmen in ein und dasselbe (ungeschnittene) Bild setzt. (Wir müssen unseren Ohren trauen.)
(3) Der narrative Effekt dieser Inszenierung ist nicht, daß sich Bild und Ton - wie im kontrapunktischen, nicht-diegetischen Gebrauch etwa - voneinander entfernen, sondern im Gegenteil, daß beide Größen intensiv aufeinander bezogen werden. Vergeblich suchen wir nach einer kongruenten Erklärung für das akustische Paradox, dessen Zeuge wir geworden sind. (Wir wollen unseren Augen und Ohren trauen.)
Ich rekapituliere die entsprechende Szene aus »Lost Highway&laqno; (Lynch/Gifford 1997: 30-32):
Innen - Andys Haus - Nacht
Mystery Man: Wir kennen uns, nicht wahr?
Fred: Ich glaube nicht. Wo sollten wir uns getroffen haben?
Mystery Man: Bei Ihnen im Haus. Erinnern Sie sich nicht?
Fred (überrascht): Nein, ich erinnere mich nicht. Sind Sie sicher?
Mystery Man: Natürlich. Ich bin übrigens jetzt auch da.
Fred (ungläubig): Was meinen Sie nur? Wo sind Sie jetzt?
Mystery Man: In Ihrem Haus.
Fred: Das ist ja absurd.
Der Mysterie Man greift in seine Jackentasche, holt ein Mobiltelefon heraus und hält es Fred hin.
Mystery Man: Rufen Sie mich an.
[p.69]
Fred grinst wie über einen schlechten Scherz. Der Mystery Man legt ihm das Telefon in die Hand.
Wählen Sie Ihre Nummer.
Fred zögert, er ist verblüfft.
Machen Sie nur.
Fred zuckt mit den Achseln, lacht, wählt seine Nummer. Während wir weiterhin Freds Gesicht sehen, hören wir, daß jemand abhebt.
Stimme des Mystery Man (durchs Telefon): Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich da bin.
Fred hält immer noch das Telefon und starrt den Mann an, der vor ihm steht.
Fred: Wie haben Sie das gemacht?
Der Mystery Man deutet auf das Telefon.
Mystery Man: Fragen Sie mich.
Fred ist erst übermütig wie bei einem Partyspaß, doch dann wird er ernst - er denkt offensichtlich an die Videobänder. Er spricht ins Telefon.
Fred (wütend): Wie sind Sie in mein Haus gelangt?
Stimme des Mysterie Man (durchs Telefon): Sie haben mich eingeladen. Ich pflege nirgendwo hinzugehen, wo ich nicht eingeladen bin.
Fred schaut den Mann vor sich an, spricht aber weiter ins Telefon.
Fred: Wer sind Sie?
Der Mann lacht - es ist dasselbe Gelächter aus dem Telefon und der Person, die vor ihm steht.
Stimme des Mystery Man (durchs Telefon): Geben Sie mir das Telefon zurück.
Der Mann vor Fred streckt die Hand nach dem Telefon aus. Fred hört, wie die Verbindung unterbrochen wird, und er händigt dem Mystery Man langsam das Telefon aus. Der nimmt es, klappt es zusammen und steckt es in die Tasche.
Mystery Man: Es war nett, mit Ihnen zu plaudern.
Der Mann entfernt sich, Renee taucht auf und geht auf ihn zu.
Renee: Ich dachte, du holst mir einen Drink.
Obwohl sich Fred Madison und der Mystery Man (dessen 'no-name' wir im Film gar nicht erfahren) um Normalität und Unauffälligkeit bemühen, gibt es in dieser Szene wie in einer gothic novel zuviele Stimmen für zuwenige Personen: Ein und dieselbe - sichtbare Person - verfügt über eine Stimme aus zwei entgegengesetzten Richtungen. Diese Verschiebung und Aufspaltung einer Stimme wirkt wie ein akustischer Kubismus. [28] Die Stimmen des Mystery Man in Andys Haus erscheinen wie akustische Doppelgänger - oder sollte man sagen: Doppel-sprecher? - in ein und demselben, ungeschnittenen Bild. [29]
Das Bild, für sich genommen, ist völlig unauffällig: Hörten wir keinen Ton in dieser Szene, würden wir von einem ganz gewöhnlichen Telefonat ausgehen und den Mystery Man vielleicht für jemanden halten, der Fred dabei ein paar gute Ratschläge erteilt. Auch das Tonbild verfügt [p.70] über drei getrennte diegetische Tonquellen (Fred, Mystery Man und Mobiltelefon), so daß sich alle drei Stimmen leicht ihren 'Gastkörpern' zuzuordnen lassen. Auch sprechen die Stimmen nicht durcheinander, sondern drücken sich klar und verständlich aus. Alle gestellten Fragen werden beantwortet, bis auf die eine - entscheidende - nach dem Subjekt der Stimmen. Hierauf folgt ein zweideutiges Lachen. Beide Stimmen des Mystery Man fallen für kurze Zeit einvernehmlich ins Duett, bevor die telefonische Verbindung abrupt unterbrochen wird.
Wir sind genötigt - entgegen dem Augenschein - anzuerkennen, daß das, was ganz natürlich und wirklich aussieht, nicht möglich, sondern in klassischer Weise 'übernatürlich' ist. Schließlich hören wir ja weder Echos einer Stimme, noch eine durch Bauchrednerei verstellte Stimme, noch eine vorab aufgezeichnete Tonbandstimme, die einfach am anderen Ende des Telefons abgespult wird. Wir hören ganz einfach die "Stimme des Mystery Man (durchs Telefon)" neben der eines selber nicht telefonierenden Mystery Man.
Die vertrackte Struktur der Szene erhöht sich, wenn wir die Aufmerksamkeit von der Unmöglichkeit, die Personen und ihre Stimmen in Kongruenz zu bringen, auf den Inhalt des Gesagten verlagern. Offensichtlich benutzt der Mystery Man, der Fred im ganzen Gespräch mit einer Reihe von höflich vorgetragenen Anweisungen dirigiert, das Telefon dazu, um eine ungeheuerliche, scheinbar haltlose Behauptung zu beglaubigen. (Man könnte auch sagen, das Medium des Telefon selbst sei der eigentliche Befehlsgeber.) Der Unbekannte behauptet, obwohl er sich mit Fred auf einer Party bei Andy befindet, sich im selben Moment in Freds Haus aufzuhalten. Fred Madison soll sich davon vergewissern, indem er selbst bei sich zuhause anruft. Die durch das Telefon nun tatsächlich anwesende Stimme des Mystery Man steht also nicht einfach für sich oder soll als Geisterstimme schockieren, sondern sie ist als Supplement für einen abwesenden Körper gedacht. Die Telefonstimme soll Anwesenheit des Unbekannten an einem anderen, viel intimeren Ort 'beweisen'.
Die Aufforderung ließe sich also so reformulieren: 'Du denkst, wir kennen uns nicht, aber in Wirklichkeit bin ich längst Gast bei Dir zuhause. Glaube nicht, was Du hier siehst, glaube, was Du dort (im Telefon) hörst.' Die Stimmen (beide!) fordern die Ordnung der Sichtbarkeit selbst heraus, im On, verkörpert in Gestalt eines Telefons, das wohl nicht zufällig ein mobiles ist. [30] Daß diese Beglaubigung scheitert, liegt an der plastischen - haptischen und optischen - Präsenz des Mystery Man, die auch die stimmliche Doppelrepräsentanz nicht zerrütten kann. (Aber immerhin drängt Fred wenig später Renee zum Aufbruch, um sich zuhause mit eigenen Augen zu überzeugen, daß niemand dort war.) Die sichtbare Welt der Partyszene wird - obwohl die akustische Welt längst wie in David Bowies Titelsong derangiert ist - von Fred und den Filmzuschauern immer noch für 'wirklich' genommen. David Lynch arbeitet mit diesem Glauben an das Sichtbare und führt uns in seinem Film behutsam zu dessen undurchsichtiger Rückseite.
Das medial vermittelte Eindringen des Mystery Man in Freds und Renees Welt geschieht sehr vorsichtig, step by step. Nur widerstrebend willigt Fred in die Vorschläge und Direktiven des Unbekannten ein. Dessen Bedrohung geht weniger von den sich verdoppelnden Stimmen aus, die im übrigen durchweg höflich bleiben, sondern von der sich einschleichenden Vorstellung, es könne sich wirklich jemand in 'seinem' Haus befinden und für die mysteriösen Videobänder verantwortlich sein. Denn die Geschichte von »Lost Highway&laqno; beginnt mit einer Reihe von Tapes, die erst das Haus der Madisons von außen, dann die Madisons schlafend, schließlich die Ermordung der Ehefrau 'zeigen', noch bevor sie für die Zuschauerinnen überhaupt stattgefunden hat. Auf die Frage der Polizisten, ob die Madisons eine eigene Videokamera haben, kriegen wir zur Antwort (Lynch/Gifford 1997: 23):
RENEE: Nein, Fred mag das nicht.
Die beiden Detectives blicken Fred an.
FRED: Ich erinnere mich lieber auf meine Art an alles.
AL: Wie meinen sie das?
FRED: Wie ich die Dinge im Kopf habe, nicht unbedingt so, wie sie passiert sind.
ED: Haben Sie eine Alarmanlage?
[p.71]
Auch durch die Polizei, die eingeschaltet wird, werden die ZuschauerInnen immer wieder versichert, daß alles mit rechten Dingen zugeht. Wir haben wenig Chancen, das Geschehen mentalistisch auf den angeschlagenen Geisteszustand Freds abzuwälzen. Alles, was wir nicht selbst im Film 'als Wirklichkeit' sehen und hören (wie das Party-Telefonat), wird auf andere Weise technisch fixiert und protokolliert. Der Einsatz von Telefonen, Camcordern, Videobändern oder Filmen dient in »Lost Highway&laqno; vorzüglich dazu, Wirklichkeit und Unwirklichkeit, An-und Abwesenheit klar voneinander zu trennen, um uns so von der 'Normalität' der Situation zu überzeugen. So wie die Telefon-Stimme einen abwesenden Körper virtuell 'anwesend' macht, hält die Videoaufzeichnung eine unwirklich gewordene Vergangenheit aktualisierbar und präsentierbar. Was auf den Videobändern zu sehen ist, muß - nach den Konventionen unseres medialen Gebrauchs - stattgefunden haben, ebenso wie das Gespräch auf dem Mobiltelefon stattfindet, weil nicht nur Fred und der Mystery Man, sondern weil auch wir, die Film-ZuschauerInnen, es bezeugen können. Wir haben es ja mit eigenen Ohren gesehen. [31]
Fassen wir David Lynchs Strategien der Off-im-On-Inszenierung zusammen:
Lynch arbeitet nicht einfach mit der Immanenzebene des natürlich Sichtbaren (das auch aktuell Hörbare umfaßt), sondern vor allem mit dem künstlich Sicht- und Hörbaren, welches audio-visuelle Medien erzeugen. Er verzichtet auf alle Spannungselemente, die den Ton aus dem Off heraus zur Geltung kommen lassen und bringt damit das Off scheinbar im On zum Verschwinden. Unterdessen aber unterhöhlt das Off - hier: in Gestalt des Unerhörten und Unentdeckten (Morde, Wahnsinn) - das Terrain des Sichtbaren. In einem ästhetisch gesehen anti-psychologisch, anti-suggestiv inszenierten Film, wird das ganze Mysterium - der sich verzweigenden Stimmen, der sich aufteilenden Personen, der sich different wiederholenden Ereignisse - ins On verlegt. [32]
Lynch steigert so die Wirkung des Unheimlichen, die Ahnung einer großen Gefahr, indem er alle mysteriösen Spaltungen, Verdopplungen und Wiederholungen vor und mit unseren Augen beglaubigen läßt durch den intensiven Einsatz neuster Technik, die nicht erst in der Nachbearbeitung integraler Bestandteil des Geschehens wird. Heißt das im Umkehrschluß, daß wir unserer nicht-technisch vermittelten Wahrnehmung nicht trauen sollten? Daß wir ohne die 'Beglaubigung' durch Aufzeichnungs- und Protokolltechniken nicht sicher sein können, ob überhaupt etwas stattgefunden hat?
Lynch verwendet diesen weitverbreiteten Glauben in »Lost Highway&laqno; planvoll. Sein Film, der in seinem Titel auch an die unerfüllten Träume vom Daten-Highway erinnert, ist auch eine böse Satire auf die mediale Begeisterung der 90er Jahre. [33] Lynch arbeitet sehr gezielt mit der medialen Gläubigkeit und Hörigkeit seiner ZuschauerInnen. Er nutzt die mediale Form als Camouflage für seinen ganz eigenen Mythenkanon aus nicht zuende geborenen Menschen, fehlenden Vätern, die inmitten einer Welt erwachen, in der Gewalt zärtlicher Ausdruck von Berührung und Folter noch eine Sentimentalität der Mächtigen ist. [34] Natürlich spielt Lynch - auch dies eine Referenz an Kafka, der ja schon in seinen Briefen argwöhnte, Gespenster könnten unterwegs die Küsse austrinken, die er der entfernten Geliebten ja selbst vorenthielt - mit der Tatsache, daß wir mittels Medien immer mit Abwesenden im Modus der Anwesenheit kommunizieren, also nicht nur in unseren Briefen möglicherweise längst mit Toten, ihren Geistern oder Simulacren reden. [35] Nur, daß bei Lynch die Geister real und eben gar nicht komisch sind. Lynch richtet mit seiner Party-Szene die mediale Überzeugungskraft gegen sich selbst ein, weil hier ein Signifikant sein Signifikat zerstört. Der Glaube, das, was medial vermittelt sei, entspräche einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit, verkehrt sich in die totale Verunsicherung des medialen Gebrauchs.
Die Unheimlichkeit der Telefon-Szene besteht schlicht darin, daß ein Anwesender als Abwesender spricht (was wir alle ja beim Telefonieren tun), nur daß sich die Stimme wirklich von ihrem Körper entfernt, eine eigene Richtung einschlägt und als zweite Stimme zu uns zurückkehrt. Lynch macht damit die ganz normale Spaltung, die uns jede Benutzung eines Kommunikationsmediums immer schon aufbürdet, erfahrbar. Die rekursive Stimmführung macht darauf aufmerksam, daß wir - solange wir als Anwesende mit Abwesenden im Modus der Anwesenheit sprechen - den Unterschied beider Modi gewöhnlich vergessen. Zugleich kündigt die Aufspaltung des Mystery Man in zwei Stimmen uns, den nach Deutungsmustern suchenden ZuschauerInnen, Madisons double-bind an, wenn er in diesen schizophrenen [p.72] Dialog einwilligt und anfängt, zu einem zugleich abwesenden als auch anwesenden Unbekannten zu sprechen. Die eigentliche Nachricht des Mystery Man für Fred kommt dann aus dem Telefon viel unverblümter, als von Angesicht zu Angesicht: "Sie haben mich eingeladen. Ich pflege nirgendwo hinzugehen, wo ich nicht eingeladen bin", was man so übersetzen könnte: 'Sie haben in Ihren Wahnsinn längst eingewilligt. Sie sind nicht mehr Herr in Ihrem Haus. Sie fangen an, sich zu spalten, und Sie wissen es. Was immer Sie tun, Sie übernehmen die Verantwortung dafür.'
Während Telefonieren uns doch gewöhnlich in die Illusion versetzt, den anderen wirklich zu sprechen und sprechend auf ihn Einfluß nehmen zu können, hat Fred am Ende das Gefühl, mit überhaupt niemandem mehr zu sprechen, weder mit dem Mann vor ihm, noch mit der Stimme des Mannes im Telefon. Aus der Kommunikation ist er im Gegenteil völlig ausgeschlossen, sein Schicksal scheinen diese höflichen Stimmen längst unter sich ausgemacht zu haben. Die Begebenheit entrückt Fred Madison nur weiter dem Geschehen.
Für die ZuschauerInnen aber beginnt etwas anderes: Sie sehen sich genötigt, die 'überzählige Stimme' entweder einer dritten, anderen, noch unbekannten Person zuzuordnen, oder aber den Mystery Man zu einer Ausgeburt von Fred Madisons Geist zu erklären. Beide Versuche müssen scheitern. Indem Lynch auf eine innerpsychische Darstellungsweise (mit frei flottierenden Schwimmbildern, wie wir sich aus der cinematographischen Ikonologie zu Genüge kennen) zugunsten einer außerphysischen verzichtet, macht die Spaltung nicht bei Madison halt, sondern 'infiziert' die gesamte Wirklichkeitsordnung des Films. Nachdem sich das Geschehen auf der Tonspur in offensichtlichem Widerspruch zum Bildschnitt befindet, tauschen die Ordnung des Sichtbaren und des Unsichtbaren beständig ihre Wirkungsfelder: Wir werden Zeuge weit wirklicher Spaltungen und materialer Verdopplungen, die sich auf den verschiedensten Ebenen, akustisch und visuell, seriell verketten. [36]
'Lost Highway' nimmt damit eine interessante Zwischenposition im Kino des Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit ein: Er überführt die Wirkungen beider Ordnungen in eine wechselseitige Permutationsbewegung und endet doch nicht bei einem perspektivischen Kino des 'Blicks', eher bei einem Kino der aufgebrochenen und in ihren Grundfesten erschütteten Wahrnehmungskonventionen. Sein Film ist ein virtuoses Spiel mit den Wirkungen von Kommunikationstechniken, die - selbst, wenn man sie scheinbar vorschriftsmäßig gebraucht -, nichts anderes kommunizieren, als ihre eigenen medialen Direktiven. Die anthropomorphe Medientheorie stellt Lynch von den Füßen auf den Kopf: Die menschliche Psyche ist nur einer der mögliche Extensionen der Kommunikationstechnik.
Genau diesen Gedanken faßt der Regisseur in der ersten Szene im Bild einer Wechselsprechanlage zusammen, die aus drei gleichgroßen, nebeneinander angeordneten Knöpfen besteht: SPEAK. LISTEN. DOOR. Was wäre die Tür in ihrer Doppelfunktion aus Schutz- und Einfallstor zwischen dem Sprechen und Hören positioniert, anderes als der Körper selbst, der sich den widerstreitenden Botschaften zu öffnen oder zu verweigern hat? Der Körper Madisons, der diese Unterscheidungen eben nicht mehr aufrechtzuhalten mag, ebensowenig wie der Film als Ganzes die andauernde, disjunktive Scheidung der Ordnungen respektiert? Wir ahnen, daß der Satz - die menschliche Psyche ist nur die Extension einer jeden Kommunikationstechnik - auch ein typischer Satz aus der Selbstbescheibung einer Schizophrenie ist. [37] Nirgendwo sonst kommunizieren Innen und Außen, Belebtes und Unbelebtes, techné und psyché so intensiv und schmerzhaft miteinander. (Was nicht heißen soll, daß 'Lost Highway' ein Film über Schizophrenie ist, zumindest nicht nur. Vor allem ist es ein Film, der scheinbar schizophrene Erfahrungen in seinem eigenen Medium vorführt. Was wir auch als Spiel mit den medialen Allmachtsphantasien unserer Zeit interpretieren können, erinnert uns zuletzt an die Überlegenheit von Lynchs eigener Medienbeherrschung.)
Wem es aber im Ernst gelingt, zugleich anwesend und abwesend zu sein, wie es der Dialog zu dritt so schön zeigt, der ist entweder mit Gott oder dem Teufel im Bunde oder ein armer Tor. Am Ende des Films erfahren wir, daß Fred Madison 'sich selbst' (nur wissen wir nicht mehr, was das zu bedeuten hat) am Anfang die Nachricht von Dick Laurents Tod liefert, die das Geschehen scheinbar ins Rollen bringt. Wir verstehen jetzt, daß die Wechselsprechanlage nur eine der Orte ist, wo das endlos geflochtende Möbiusband aus Sichtbarem und Unsichtbarem, Gesundheit und Wahnsinn sich unmerklich verdreht.
[p.73] Wohlbemerkt, mit der Zuspitzung auf eine Selbstthematisierung, die um Probleme der Sichtbarkeit kreist, ist weder ein Urteil gefällt über die Güte und Qualität eines Films, noch erschöpft sich in dieser Spielart das künstlerische oder narrative Potential des Kinos. Weit davon entfernt, hegelianisch die Daseinberechtigung des Films auf seine selbstreflexive Kraft einzugrenzen, hat dieser selbstaufklärerische Focus, gerade der philosophischen Beschäftigung mit dem Film, vielfach dazu geführt, daß andere mediale Tendenzen des Kinos ausgeblendet und epistemisch marginalisiert wurden. Wohlbemerkt, Selbstthematisierung betrifft nur eine von vielen medialen Phasen des Kinos. Sie ist selbst nicht abgeschlossen, sondern stellt sich zu jeder Zeit der medialen Entwicklung neu dar. Selbstthematisierung bleibt eine 'unabschließbare' Aufgabe des Kinos, eine Aufgabe unter anderen Aufgaben, Aufträgen und Möglichkeiten.
Als vorläufigen Abschluß meiner eigenen cinematographischen Überlegungen möchte ich deshalb drei ideale Phasen der Kinogeschichte vorschlagen, die sich prinzipiell auch auf andere Medien übertragen lassen sollten. Leitend ist dabei die Vorstellung, daß sich die Entwicklung eines Mediums immer in Konkurrenz und Auseinandersetzung mit anderen Medien entwickelt (was man als weiteres Indiz für die grundlegende Tendenz zur Multimedialisierung, zur 'Familienbildung' aller Medien werten kann) und sich die einzelnen Phasen aus stategischen - d.h. durchsetzungspraktischen - Überlegungen gleichsam 'aus der Sicht' eines Mediums heraus entwickeln lassen.
Strategien der Selbstbehauptung eines Mediums
A. Tendenz zu Multimedialisierung und Interaktion der verschiedenen (Ausdrucks-)Medien
In dem Maße wie die klassischen technische Medien (wie das Telefon, die Photographie, der Film) altern und lokalisierbarer Bestand einer historischen Entwicklung werden, verlieren sie ihre 'medialen' Besonderheiten und gleichen sich ihrer Funktion und ihren Aufgaben nach den transklassischen Medien (wie dem Computer) an. Beispiele: 'Strange Days' (Catherine Bigelow) 1995, 'Johnny Mnemonic' (Richard Longo) 1995
In dem Maße wie die klassischen technische Medien (wie das Telefon, die Photographie, der Film) altern und lokalisierbarer Bestand einer historischen Entwicklung werden, verlieren sie ihre 'medialen' Besonderheiten und gleichen sich ihrer Funktion und ihren Aufgaben nach den transklassischen Medien (wie dem Computer) an.
Beispiele: 'Strange Days' (Catherine Bigelow) 1995, 'Johnny Mnemonic' (Richard Longo) 1995
B. Drei ideale Phasen der medialen Durchsetzung und Selbstbehauptung
In der ersten medialen Durchsetzungs-Phase, wie sie u.a. von Benjamin im »Kunstwerk&laqno;-Aufsatz angesprochen wird, versucht sich ein neues Medium - wie z.B. die Photographie mit ihrer Imitation der Portraitmalerei - dadurch durchzusetzen, daß sie sich als 'altes', schon vertrautes Medium tarnt und seinen möglichen Gebrauch so zunächst freiwillig beschränkt.
Phase 1: Anlehnung an historisch ältere Medien, Verschleierungs-Phase im Zuge einer intermedialen Entschärfungs-Strategie Erst in einer zweiten Phase beginnt die Exploration und Reflexion auf die genuinen Möglichkeiten (und später auch Grenzen) des neuen Mediums. Sie ist unter dem Stichwort der Spezifikationsthese Kracauers medienhistorisches Allgemeingut geworden. Benjamin nennt deshalb die Arbeiten Atgets typisch, weil sie mit ihren menschenleeren Tatorten eine Reflexion auf die 'andere', nicht dem menschlichen Antlitz, sondern dem Objekthaften und Objektiven zugewandten Seite der Photographie leisten. Phase 2: Selbstexplorations- und Selbstthematisierungs-Phase als Suche nach einer innermedialen Selbstdefinition und Standortbestimmung [38] Bsp. für einen solchen Film: 'Camera Man' (Buster Keaton) von 1928 In einer dritten Phase muß sich das nicht mehr neue und noch nicht alte Medium neuerlich mit der Medienkonkurrenz auseinandersetzen, insbesondere mit dem Auftauchen neuer Medien. Es reagiert hierauf mit Eingemeindung, Inkorporation neuer Techniken und zukünftiger Medien und leitet so neuerlich eine, wenn man so will, Phase der friedlichen medialen Koexistenz ein. Phase 3: Inkorporations- und Selbsterweiterungs-Phase als Teil einer medien-mimetischen und medienverträglichen Strategie [39]
Phase 1: Anlehnung an historisch ältere Medien, Verschleierungs-Phase im Zuge einer intermedialen Entschärfungs-Strategie
Erst in einer zweiten Phase beginnt die Exploration und Reflexion auf die genuinen Möglichkeiten (und später auch Grenzen) des neuen Mediums. Sie ist unter dem Stichwort der Spezifikationsthese Kracauers medienhistorisches Allgemeingut geworden. Benjamin nennt deshalb die Arbeiten Atgets typisch, weil sie mit ihren menschenleeren Tatorten eine Reflexion auf die 'andere', nicht dem menschlichen Antlitz, sondern dem Objekthaften und Objektiven zugewandten Seite der Photographie leisten.
Phase 2: Selbstexplorations- und Selbstthematisierungs-Phase als Suche nach einer innermedialen Selbstdefinition und Standortbestimmung [38]
Bsp. für einen solchen Film: 'Camera Man' (Buster Keaton) von 1928
In einer dritten Phase muß sich das nicht mehr neue und noch nicht alte Medium neuerlich mit der Medienkonkurrenz auseinandersetzen, insbesondere mit dem Auftauchen neuer Medien. Es reagiert hierauf mit Eingemeindung, Inkorporation neuer Techniken und zukünftiger Medien und leitet so neuerlich eine, wenn man so will, Phase der friedlichen medialen Koexistenz ein.
Phase 3: Inkorporations- und Selbsterweiterungs-Phase als Teil einer medien-mimetischen und medienverträglichen Strategie [39]
C. Folgen der Phasenverschiebung der inner- und intermedialen Entwicklung
Die hier skizzierten Phasen überschneiden und überlappen sich im historischen Kontext, erfahren Reprisen und Renaissancen und bleiben in sich unabgeschlossen, so daß es Sinn macht, grundsätzlich von einer beweglichen Situation auszugehen, in der sich kontinuierlich Phasenverschiebungen ergeben. So ist die Frage nach der Zukunft des Kinos beispielsweise [p.74] untrennbar mit der Frage verknüpft nach den Aufgaben und Entfaltungsmöglichkeiten eines Mediums innerhalb des gesamten medialen Spektrums: Gelingt es, seine Stellung als relevantes Ausdrucksgeschehen zu behaupten? (Wie bleibt die 'Sprache' des Filmes kulturübergreifend verstehbar?)
Ich gehe davon aus, daß Film als das sinnlichste und dokumentarischste aller technischen Medien gerade wegen der Kombination aus fremden und vertrauten Bildern geeignet ist, unsere Vorstellungen von Wirklichkeit langsam und damit um so nachhaltiger zu verändern. (Was sich auch in der cinematographischen Vorliebe für apokalyptische Settings und hybride Charaktere wie in »Blade Runner&laqno; spiegelt.)
Wenn es stimmt, daß Kino das letzte, große, kulturell verbindende, audio-visuelle Narrativ des 20. Jahrhundert formiert, dann artikuliert es Gefühle, generiert Sprache, produziert neue Sachverhalte und manipuliert unseren Sinn für das Mögliche.
Die Philosophie sollte sich demnach, dem Sinnlichen wie dem Übersinnlichen verpflichtet, an das Kino wenden vor allem bei der Aufklärung der Fragen: Was ist ein Bild? (Zwitter aus fluidem Lichtbild und präsignifikanter Zeichenmaterie?) Was ist Zeit? (Schnitt, Diskontinuität, Mangel an Erkenntnis, Überschuß an Ereignis?)
Zusammenfassend sei gesagt: Bis heute existiert Kino als Hollywood-, ebensogut wie als Experimentalfilm, wobei immer wieder die minoritäre 'independend'-Kultur in 'mainstream' aufgeht und sich neuerlich von ihm absetzt, womit die äußersten Pole der medial möglichen Nutzung des Kinos stets besetzt bleiben. Welche Bedeutungen Kino zu welchen historischen Zeitpunkten mit welchen Mitteln generiert, ist nie im voraus zu entscheiden. Als Ausdrucksgeschehen, das unsere visuellen und auditiven Gewohnheiten prägt, verändert und im Zeitalter der Globalisiserung einen - die Nationalgrenzen sprengenden - gemeinsamen Erfahrungshorizont bildet, eignet sich das Kino - gerade aufgrund seines Zusammenschlusses mit einer leistungsfähigen Filmindustrie - mehr denn je als exegetisches Experimentierfeld, auf dem transkulturelle Sinn- und Bedeutungsstiftung stattfindet. Wir tun gut darin, das Kino nicht über einen vereinfachenden, kulturpessimistischen Leisten zu spannen, sondern es verstehen zu lernen als hochpotentes Fernmedium mit taktiler Nahwirkung, das uns einführt in eine ganz andere, platonische Höhle, aus dem Reich der bloß akustisch-visuellen Illusionen heraus und hineinführt in das affektive Zentrum des 20. Jahrhunderts. Solange also das Kino - im Sinne von Kracauers Spezifikationsthese - für die Medientheorie epistemisch interessant ist nur in der Phase seiner Selbstdefinition und Selbstthematisierung, wird der Blick verstellt bleiben auf zwei Phänomene, die theoretisch noch gar nicht ausgelotet sind:
(1) Tendenzen der Entmedialisierung des Kinos im Zuge der Inkorporation anderer, vorzugsweise 'neuer' Medien (wie z.B. der 'virtual reality') als Zeichen für die mediale Beweglichkeit des Film. Es geht darum, zu eruieren, wie das optische Medium Film sich andere Medien, d.h. andere Ordnungen und Arten der Weltorganisation einverleibt und neue Umgangsformen mit ihnen herausbildet. Die Inkorporation, Verein- oder Beschlagnahmung - wenn sie denn erfolgreich sein soll - werte ich nicht nur als 'Beweglichkeit', sondern auch als 'Überlebensstrategie' eines alternden Mediums.
(2) Weisen der 'Fremdthematisierung', über die das Kino verfügt, insbesondere der philosophischen. Als Beispiel hierfür kann die deleuzianische Kinophilosophie gelten. In ihr geht es wesentlich um das Spürbar- und Fühlbar-Werden philosophischer Begriffe und Termini. Es geht dabei um den Versuch, dreitausend Jahre Geschichte des Denkens in hundert Jahren Filmgeschichte zu rekapitulieren und zu extrapolieren. Wenn dieses ehrgeizige Projekt gelingen soll, dann nur aufgrund einer - unterstellten - Strukturisomorphie zwischen kinematographischen Bewegungsbildern und bestimmten philosophischen Denkfiguren, welche sich über die Leitdifferenz eines - sich von der Subsumtion unter die Bewegung emanzipierenden - Zeitbegriffs entfaltet, ein Begriff, der querliegt zu den bislang ausgeführten Selbstthematisierungen des Kinos. Deleuze arbeitet mit einer folgenreichen Verschränkung, die der kantischen Lösung in der »Kritik der Urteilskraft&laqno; verwandt ist: So, wie es 'Zwecke' der sinnlichen Natur gibt, die nur die intelligible, menschliche einzulösen vermag, gibt es 'Zwecke' des Kinos, die nur die Philosophie begrifflich einzuholen vermag. Dabei findet ein regelrechter Eigenschaftstausch statt: Mit diesen Vokabeln, welche die Philosophie entlang und im Kontakt mit dem Kino aus der Materie des Kino heraus entwickelt, eröffnet sich zuletzt auch eine Perspektive auf Begriffs-Umbrüche in der Philosophie selbst.
Die begriffliche Konzeptualisierung des Kino führt umgekehrt zu einer Re-Konzeptualierung [p.75] und Substantiierung der Philosophie. Beide Ordnungen werden sich wechselseitig zur Bühne und zum Darstellungsgrund. Unverzichtbar ist für Deleuze deshalb der Nachweis, daß die 'Fremdthematisierung' des Kinos durch und mittels der Philosophie keineswegs akzidentiell oder uneigentlich ist, sondern zu den geheimen, unbewußten Zwecken, zum 'metonymischen Eigenschaftsspektrum' der matière signalétique des Films gehört. (Die Ausführung dieses Programms findet sich in meiner Dissertation und kann und soll hier nur angedeutet werden.)
Meine medienstrategischen Überlegungen kündigen es schon an. Sie bedienen sich einer Hypothese, mit der schon Walter Benjamin arbeitete, als er in der Entwicklung der Kulturgeschichte naturgeschichtliche Züge entdeckte und eine Reihe von Ähnlichkeiten benannte, die ein neues, aber durchaus 'archaisches' Deutungsmuster für moderne Kulturen formieren halfen. In einer sehr viel schwächeren Form habe auch ich versucht, die Entwicklung einer besonderen Form von Technik zurückzubinden an Überlebens- und Durchsetzungsstrategien, die für Lebewesen typisch sind, ganz so, als ob das 'Mediale' selbst von ähnlichen Interessen geleitet sei. Damit rückten auch die audio-visuellen Ausdrucksmedien nicht nur in die Nähe der organischen Natur, was einer Rechtfertigung bedarf, sondern auch in die Nähe von handelnden Agenten, die - scheinbar ohne menschliches Zutun - die Dynamik ihrer eigenen Entwicklung und medialen Nutzung selbst entfalten können. Zu letzterem ist zu sagen, daß ich es hier mit der Systemtheorie halte und deshalb die technischen Medien wie ein eigenständiges, soziales System betrachte, das in Punkto Geschlossenheit, Komplexität und Ausdifferenzierung Autonomie beanspruchen kann, die sich jenseits von klassischen subjektphilosophischen Positionen entfalten kann. (So daß meine wiederholte Rede von 'Selbstthematisierung' sich in der Terminologie Maturanas oder Luhmanns als Beobachter- und Beschreibungsphänomen wiederfinden könnte.) Die erste Suggestion aber, die 'Familienähnlichkeit' oder zumindest partielle Vergleichbarkeit von medialen und organischen Prozessen, ist durchaus beabsichtigt und hat zu tun mit der zwittrigen oder verschwommenen Natur des Medialen selbst, wie sie sich im ontolgoischen (Zerr-)Spiegel der abendländischen Philosophie darbietet.
Das Problem, das vor allem die abendliche Philosophie mit dem Medienbegriff (bis heute) hat, ist aus diesem Grund weniger ein praktisches oder wirkungsästhetisches, nicht einmal ein kulturkritisches. Probleme bereitet die Tatsache, daß sich Medien ontologisch nicht einfach in die bestehende Ordnung einzufügen scheinen, sondern in einem - nebulösen - Zwischenreich residieren. Weder fest noch flüssig, weder konstant noch variabel, weder seiend noch werdend besetzt der Medienbegriff eine ontologische Grauzone, die sich einseitigen Bedeutungsattributionen und Funktionsbeschreibungen gleichermaßen entzieht. So ist der Medienbegriff seit seinen Anfängen von der Vorstellung getragen, daß es sich hierbei um etwas Drittes handeln müsse. Dieses 'Dritte' spielt sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen ab, die ich stark vereinfachend, kursorisch, ohne Anspruch auf Finessen so skizzieren möchte:
(a) auf der Ebene der Sinnstiftung, die lange ausschließlich einer zeichentheoretischen Terminologie verpflichtet war: Demnach sollen (technische) Medien zunächst einmal - ganz allgemein - semiotisch strukturierbares, zeichenempfindliches Material sein, das als künstliches Kontinuum wirken kann, weil es den zeit-räumlichen Bestand von Marken [41], optischen oder akustischen Signalen in Form elektromagnetischer Schwingungen oder digitalen Codes, zu garantieren, zu reproduzieren und in andere Zeiten und Räume zu transportieren vermag. Das 'dritte Moment' eines Mediums kommt dann bei der Aktualisierung (Aufführung/Realisierung) von abriträren Zeichenkörpern hin zu einem bedeutsamen Zeicheninhalt ins Spiel, wobei über den Grad und die Qualität der Einflußnahme eines spezifischen Mediums auf den sinnstiftenden Prozeß bis heute große Uneinigkeit herrscht. Das Spektrum verläuft über die radikale und kulturkritische These, das Medium sei selbst die Botschaft und transportiere ausschließlich eigene Inhalte über schwächere Lesarten hin zu dem Idealbild eines Mediums, das als uneigennütziger, neutraler Mittler und Konvertierer wirken soll zwischen dem Trägermaterial und der semiotischen Form der Marken einerseits und der semiotischen Form und den menschlichen Rezeptoren andererseits. Man verständigt sich in einem Minimalkonsens auf ein Moment von Verschränkung aus Trägermaterial (Stoff) und Zeichensystem, wobei die Tragweite und die Grenzen des Konvertiermaterials ebenso ungeklärt bleiben wie die Frage nach der Form, die das Zeichensystem anzunehmen frei oder gezwungen ist. [p.76]
(b) Auf der Ebene der Bedeutung von technischen Medien kündigen sich weitere Unsicherheiten an, die sich aus der 'Unhaltbarkeit' einer dritten Position zu ergeben scheinen: Auch die Vorstellung, die sich in Siegmund Freuds Idee des 'Prothesengottes' ankündigt und dann u.a. von Peter Weibel in seinen ars-electronica-Aufsätzen und Norbert Bolz in der »Theorie der neuen Medien&laqno; aufgegriffen und erweitert wurde hin zu der Idee, Medien seinen Extensionen der menschlichen Sinnlichkeit, zeugt von der Spannung, die sich ergibt, wenn die Natur des Medialen im Diskurs länger eine ontologische Leerstelle besetzt. Die Lösung, die Vereinfachung, die sich hier ankündigt, besteht darin, die Angst vor dem Medialen dadurch zu besänftigen, daß es an die menschliche Natur, an die Sinnlichkeit rückgekoppelt wird. Dem liegt die - nicht ganz abwegige Intuition zu Grunde - daß die menschlichen Sinne im Sinnstiftungsprozeß einen ähnliche 'Brückenkopfposition' besetzen, eine ähnliche Zwischenstellung einnehmen zwischen ausgedehnter Um- & Außenwelt einerseits und intelligibler, undurchsichtiger Innenwelt andererseits. Allerdings sind die Sinnstiftungsleistungen der menschlichen Sinne bis heute ähnlich ungeklärt, wie jene, die durch technische Medien vermittelt werden, so daß sich die anthropologische Position auch den Vorwurf gefallen lassen muß, etwas Neues, Unvertrautes durch etwas Vertrautes, aber ebenso Ungeklärtes substituiert zu haben.
Die GegnerInnen dieser Position lösen das Problem auf ähnlich redundante Weise, indem sie die Medien gerne der Technik zuschlagen, um sie damit ontologisch eindeutig in den Bereich der Artefakte einordnen zu können. Die Grenzen der Werkzeugmetapher für eine phänomenologisch triftige und konsistente Beschreibung des Medialen zeigt sich dann spätestens mit dem Aufkommen des Computers, der als die erste universelle Transformations- und Computiermaschine den bis dato existierenden technischphilosophischen Diskurs sprengt.
(c) Auf der Ebene des Gebrauchs: Erschwerend kommt hinzu, daß technische Medien über ein viel breiteres Spektrum möglicher Nutzung als herkömmliche Maschinen verfügen und Unsicherheit herrscht, ob es überhaupt einen 'adäquaten Gebrauch' für sie geben könne. Hinzukommt, daß in fast jedem Medium bereits verschiedene Zeichensysteme koexistieren (im visuellen Medium etwa Graphik und Schrift) und sich Medien in ihrem Gebrauch noch am Leichtesten danach unterscheiden lassen, an welche menschlichen Sinne sie sich hauptsächlich wenden, was der Extensions-These neuen Auftrieb gibt. Damit führt man gleichzeitig eine versteckte Teleologie in die Medienentwicklung ein, die darauf abzielt, nicht nur die Fernsinne, sondern auch die Nahsinne (Taktilität, Geruch, Geschmack) in das multimediale Erleben zu integrieren im Bestreben, unsere Sinne synästhetisch zu überwältigen. (Was wiederum die KulturkritikerInnen beunruhigt.)
Die Unsicherheit, die nicht nur über den richtigen medialen Gebrauch herrscht, sondern auch die Sinnstiftung durch ein Medium und die Bedeutung eines Mediums selbst betreffen, werte ich als Indiz für die philosophisch prekäre Situation, mit einem Phänomen konfrontiert zu sein, das in einer konzeptuellen Lücke angesiedelt ist, welche sich mit einer klassischen abendländischen, dichotomischen Ontologie nicht mehr schließen läßt. Die allerseits beklagte Schwammigkeit des Medien-Begriffs halte ich als Krise einer bestimmten Ontologie für symptomatisch. (In diesem Jahrhundert hat am ehesten die Phänomenologie Begriffe zur Verfügung gestellt, welche die Natur des Medialen beschreiben helfen.) Halten wir zunächst einmal nur fest, daß der Begriff 'Medium' Verwendung findet für ganz unterschiedliche Dinge:
(a) zur Charakterisierung von künstlerischen Materialien (Papier, Leinwand, Farbe);
(b) zur Benennung von künstlichen Medien, die man danach unterscheiden kann, 1. welche Sinnesorgane sie primär ansprechen, [42] (z.B. Blindenschrift als Medienwechsel und Haptischwerden der Schrift) oder 2. danach, welcher Funktion sie dienen. So lassen sich Kommunikations- (wie das Telefon, Radio, Fernsehen), Ausdrucks- (Film, Photographie) und Steuerungsmedien (Computer) unterscheiden. Den Film halte ich im Unterschied zur Photographie nicht primär für eine reproduktive, sondern eine produktive Ausdruckstechnik, wegen der aufwendigen Nachbearbeitung seiner Bilder.
(c) Zuletzt dient der Medienbegriff als Bezeichnung für das, was wir früher als Elemente ansprachen, als Name für 'natürliche Medien' wie Luft, Wasser, Erde, in denen sich nicht nur bestimmte chemische, organische und anorganische Elemente (wie Silizium) lösen, sondern auch trägerlose Wellen auf verschiedene Weise ausbreiten können (Licht- und Schallwellen, Strahlung), welche wiederum die natürlichen Grundlagen bilden für die Entwicklung künstlicher Medien.
Meine abschließende These konzentriert sich auf diesen dritten Aspekt des Medialen, seine [p.77] Abhängigkeit und Nähe - eben nicht nur zu den menschlichen Sinnen oder der von Menschen geschaffenen technischen Natur - sondern auch zu diesen 'natürlichen' Elemente, die - wie ich vorschlagen möchte - die konstitutive 'Schwammigkeit' des Medienbegriffs erhellen helfen. Ich deute eine begriffliche Unsicherheit (nicht in der Zuschreibung des Medialen, aber in seinem Gehalt und seiner Rolle als ominöses 'Drittes') als strukturverwandten (wenn nicht -isomorphen) Ausdruck eines eigentümlichen Chiasmus aus künstlichen (manipulativen) und natürlichen (physikalisch gegebenen) Aspekten im Medialen, die sich ihren jeweiligen 'Seinsstil' wechselseitig aufprägen.
Merleau-Ponty hat, als er den Begriff des 'chair', des Fleisches in »Das Sichtbare und das Unsichtbare&laqno; zu erklären versuchte ebenfalls auf den Begriff des Elements (le vieux terme d''élément') zurückgegriffen, um etwas zu charakterisieren, das selbst "weder Summe noch Tatsache 'materieller' oder 'geistiger' Tatsachen" (ibid.) sein könne, nämlich
"in dem Sinne, wie man ihn (den Terminus 'Element') früher benutzt hat, um vom Wasser, von der Luft, von der Erde oder vom Feuer zu sprechen, d.h. im Sinne eines 'generellen Dings' (une chose générale) , auf halbem Wege (mi-chemin) zwischen raum-zeitlichen Individuum und der Idee, als eine Art inkarniertes Prinzip (sorte de principe incarné) , das einen Seinsstil (un style d'être) überall dort einführt, wo ein Teil davon zu finden ist (qui importe un style d'être partout où il s'en trouve une parcelle)."
(Kursiv von mir) (Merleau-Ponty, S&U: 183f., I&IS (frz.): 184)
Die natürlichen Elemente und die in ihnen möglichen Wellenphänomene, welche sich technische Medien zunutze machen, sind - im Sinne Merleau-Pontys - deren weiterhin wirksamen, wenn auch unsichtbaren 'inkarnierten Prinzipien'. [43] Was ist also unter dem Import ihres style d'être zu verstehen, wenn wir ihn auf das Mediale ausdehnen wollen? Es geht darum, den natürlichen Medien (Elementen) einige Eigenschaften zu entlehnen, die uns die scheinbare Schwammigkeit auch der technischen Medien besser begreifen lassen:
(1) Natürliche Medien sind besondere Raumdeterminanten: Sie bilden, wie Luft ganz wörtlich, eine 'Atmosphäre', einen unsichtbaren Raum, ein empfindliches, reagibles Feld im Sinne eines field-dressing, das von jedem Wesen, das sich in ihm aufhält, ganz bestimmte Anpassungsleistungen verlangt.
(2) Sie stellen Bedingungen des Existierens: Diese Anpassungsleistungen sind sehr komplex und nicht damit zu vergleichen, ein Werkzeug oder eine Maschine sinnvoll zu bedienen. [44] Für Lebewesen sind diese Anpassungen von vitaler Bedeutung, sie sterben, wenn sie das Medium, in dem sie sich bewegen, nicht zu nutzen verstehen.
(3) Die Bedingungen selbst bleiben unwahrnehmbar: Die Anpassungsfähigkeiten der Lebewesen sind nicht an Bewußtsein und auch nicht an sinnliche Wahrnehmung gebunden. Die relative Unsichtbarkeit des natürlichen Mediums Luft hängt z.B. mit unseren Sinnesorganen zusammen, die nicht diesselbe Empfindlichkeit wie unsere Lungen haben. Wir sehen der Luft eben nicht an, daß wir nur mit ihrer Hilfe existieren können, wobei es durchaus nicht ihre ganze physikalische Breite ist, die wir zum Überleben nutzen. [45] Auch das scheint für den Begriff des Mediums eigentümlich:
(4) Die Bandbreite der Möglichkeiten und die geringe Weite an faktisch genutzter medialer 'Wirklichkeit' stehen in einem eigentümlichen Konstrast zueinander. Der relativiert sich erst mit Blick auf die friedliche und oft unbemerkte Koexistenz vieler verschiedener Lebens- und Zeichenformen innerhalb eines einzige Mediums.
(5) Die Interdependenz von natürlichen, anorganischen Medien und dem organischem Leben in ihnen verweist uns zuletzt darauf, daß es sich hierbei um koevolutive Prozesse handelt, die gar nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können.
Fassen wir also zusammen: Ein natürliches Medium leistet zuallererst also ein field-dressing. Es diktiert eine oft als immateriell erscheinende, materielle Situation, die sich begreifen läßt als die Gesamtheit der raum-zeitlichen Bedingungen, nach denen gespielt wird. Je angepaßter, je gebräuchlicher diese Erfordernisse sind, desto 'unauffälliger' erscheint das Medium, in dem sich etwas bewegt. Die Unauffälligkeit des Mediums signalisiert so verstanden den Grad der Anpassung an sie.
Was läßt sich von diesen Eigenschaften nun auf die technischen Medien - insbesondere auf den Film als Ausdrucksmedium - übertragen? So wie sich die natürlichen Medien einteilen lassen nach Ausdehnung, Dichte, Temperatur und Viskosität (Luft, Feuer, Wasser, Erde), im weitesten Sinne also räumlich verteilten Eingeschaften einerseits und nach ihrer Leitfähigkeit (für Wellen etc.), der zeitlich verfaßten Übertragungsgeschwindigkeit andererseits, läßt sich [p.78] Technik - je nachdem, ob die Überwindung des Raumes und die der Zeit im Vordergrund steht - unterscheiden in Fortbewegungs- und Ausdruckstechniken:
(a) Fortbewegungstechniken, die unsere Körper beschleunigen und ferne Räume für uns begehbar machen (Raum-Überwindung);
(b) Ausdruckstechniken, die unsere Welt auf der Ebene von Bildern und Tönen beschleunigen und damit Zeiten und Räume für uns visuell und akustisch verfügbar machen. Es sind Zeitabkürztechniken (Zeit-Durchquerung). Zu ihnen zählt - als Reproduktionstechnik - auch das audio-visuelle Medium des Films.
In beiden Fällen geht es um die Überwindung oder Überbrückung von Raum, aber eben einmal für dreidimensionale Körper und einmal für zwei-, ein- oder nulldimensionale Entitäten. Damit sind wir bei einem entscheidenden Unterschied zwischen natürlichen und technischen Medien angelangt. Natürliche Medien stiften eine 'Atmosphäre', einen Lebensraum für Lebewesen, die immer zeit-räumlich ausgedehnt und begrenzt sind. Künstliche Medien hingegen - als raum-zeitliche Beschleunigungstechniken - können sich nur auf zwei- oder weniger dimensionale Gegenstände beziehen; in ihnen gibt es das 'Überleben' von Lebewesen nur als physikalischer Abdruck, als Bilder und Töne, die jederzeit reproduziert, gespeichert und übertragen werden können.
Die Dimensionsreduktion ist alles andere als marginal, sie ist vital. Lebende Körper sind nicht einfach in drei Dimensionen ausgedehnt, sondern sie sind untrennbar mit der ihnen eigenen Zeit verbunden, vor der sie nicht ohne Folgen getrennt werden können. Weil alles, was lebt, auf physiologisch nicht beliebig verkürzbare oder verlängerbare Zeiten (der Verbrennung von Nährstoffen z.B.) angewiesen ist, kann es - wenn es lebendig, intakt bleiben soll - nur unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen beschleunigt werden und zwar in eigenes dafür abgeschotteten Kapseln, Fahrerkabinen und Flugzeugkörpern, die eine andere Reisegeschwindigkeit als die tatsächliche simulieren. Zeit deformiert lebende Körper, so wie ein Körper sich nur als ausgedehnter in einem Raum (re)generiert. Damit gilt auch im Umkehrschluß: Körper formieren Zeit, aber nur als ausgedehnte. Ohne Ausdehnung kein Leben. [46]
Es gibt also keine Zeitreisen, weil unsere Körper bestenfalls eine positive, nie aber eine negative Beschleunigung (egal, ob in die Vergangenheit oder die Zukunft gerichtet) überleben können. Zeitreisen gibt es allerdings in unserer Vorstellung (nulldimensional) und für zweidimensionale Bilder, die sich ungeschadet ihrer Konsistenz sehr wohl in Lichtgeschwindigkeit bewegen können. In diesem Sinne ist jedes Ausdrucksmedium sehr begrenzt und keinesfalls realistisch zu nennen. Es ist perspektivisch und nur bedingt interaktiv.
Auf der Grundlage dieser Dimensionsreduktion hat sich der Film der Manipulation der Zeit angenommen und stiftet Als-Ob-Gleichzeitigkeit zwischen einem entfernten Dort und einem unmittelbaren Hier. [47] Als zeitmanipulative Technik, die ihrerseits zu Inszenierungen verschiedener Zeiten visuell in der Lage ist, und zwar im Sinne des Merleau-Pontyschen Chiasmus, aufgrund ihrer 'inkarnierten Prinzipien', ist die audio-visuelle Aufzeichnungstechnik Film in erster Linie ein Ausdrucksmedium, das sich auf die Inszenierung einer Bilderzeitlichkeit versteht, die eben nicht vergleichbar ist mit der Zeitlichkeit von Lebewesen. Film ist damit trotz seiner technischen und physikalischen Grundlagen nicht mit Technikphilosophie allein verstehbar und gibt schon gar kein Paradigma für Technik überhaupt ab. [48]
Künstliche Medien machen sich die natürlichen Medien zur Erzeugung von Sinn zu nutze, indem sie die natürlichen Medien in eine rezeptive und in eine reproduzierbare Form bringen. (Der Film verbindet dabei Momente der in Echtzeit darstellenden und der zeitunabhängigen symbolischen Künste mit dem direkten Kontakt zu Millionen von ursprünglich abwesenden BetrachterInnen.) Ich behaupte also: Nicht nur der Mensch und seine Sinne, sondern auch die Natur, vor allem die anorganische, unbelebte Natur wird in den audio-visuellen Ausdrucksmedien nutzbar gemacht (natürlich für den Menschen), aber eben nicht nach dem Abbild der menschlichen Wahrnehmung, sondern nach dem Vorbild eines Chiasmus, einer Koevolution aus Anpassung, Einbettung und Eingliederung eines natürlichen Mediums in ein künstliches, gemachtes. Es geht in diesem Sinne um rendition, um einen Übertragungsvorgang, um eine intensive, wenn auch tonlose Kommunikation der unbelebten mit der belebten Natur.
Abschließend also nur soviel: Man soll von Oberbegriffen epistemisch nicht mehr erwarten, als Platon/Sokrates von der Pferdheit des Pferdes erwartete. Die Frage dieser Ringvorlesung: [p.79] "Was ist ein Medium" möchte ich einreihen in ähnlich formulierte Fragen nach: "Was ist Kunst?" oder "Was ist ein Mensch?" Die Natur der Frage zielt auf eine essentialistische Definition, deren Nutzen fragwürdig bleibt. Medium ist ein funktionierender Begriff unsere Alltagssprache, ein Oberbegriff, der nicht im Singular, sondern im Plural die Runde machte und damit das Thema der Multimedialität immer schon in sich barg. Die plurale Verfassung der Begriffs verhindert aber zugleich, daß die Phänomene in den Blick geraten, die das Kino oder die Photographie oder irgendein anderes Medium wirklich interessant machen, nämlich das, was sie voneinander trennt und nicht das, was sie vereint.
Nach der Materialvergessenheit insbesondere der idealistischen und rationalistischen Philosophie, wird mittlerweile zurecht ein materialorientiertes und materialbewußtes Umgehen eingefordert: Die medientheoretische Wendung hat auch die Philosophie der Repräsentation in Bedrängnis gebracht, arbeitet doch ein technisches Medium nie stellvertretend oder bloß repräsentativ, sondern im Gegenteil aktualisierend, realisierend, notierend, performativ. Das hat Folgen für die Erzeugung von Sinn: Erst die Materialität des Mediums selbst eröffnet und begrenzt den konventionellen Gebrauch eines Zeichens und definiert so seinen eigentlichen Darstellungsraum.
Die paradigmatische Orientierung der Episteme an der Schriftkultur, die ja einst das mythische, bildverfallene Denken ablöste, wird nun ihrerseits von der digitalen symbolischen Ordnung abgelöst, die auf der Basis von zwei Zahlen, die als elementares differentielles System das Fließen oder Stocken des elektrischen Stroms zur Codierung von Signalen benutzen, aus der heraus sich sowohl Schriften alsauch Bilder problemlos generieren und in jeden einzelnen Moment manipulieren lassen. Obwohl ich zögere, diese 0-1-Struktur, wie Vilém Flusser das beispielsweise tut, als Simulation der quantischen Sprünge unseres Nervensystems anzusehen, stimme ich ihm zu, wenn er die Einführung der digitalen Ordnung in unser epistemisches Selbstverhältnis als Indiz für eine veränderte Interpretation unseres eigenen Denkens ansieht. Es hat sich die Vorstellung durchgesetzt - und der Filmschnitt hat dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet - daß Denken kein kontinuierlicher, diskursiver, bildleerer oder rein begrifflicher Vorgang ist, sondern daß das Denken 'quantelt' und 'komputiert', Begriffe ebenso wie Bilder, nennen wir sie auch Konzepte oder Perzepte (vgl. Flusser 1993:124-130). Für Flusser stellt sich damit die Aufgabe des Umcodierens der alten in die neuen Codes: "Sie verlangt von uns, aus unserer Gedankenwelt in eine fremde hinüberzusetzen: aus der Welt der gesprochenen Sprachen in die der ideographischen Bilder, aus der Welt der logischen Regeln in die der mathematischen, und vor allem aus der Welt der Zeile in die des aus Punkten gebildeten Netzes" (Flusser 1993: 136). So zumindest stellt sich für Flusser am Ende des 20. Jahrhunderts die Herausforderung dar, die eine auf flüchtigen Bildern gebaute Kultur auf sich nehmen muß.
Der Film hat in seiner Geschichte in aller Bescheidenheit nur zwei Phänomene 'natürlicher Medien', zwei Wellenphänome, die sich in Luft und Wasser ausbreiten können, in sein ureigenestes, zweidimensionales, inkorporiert: Farbige Lichtbilder und Töne, nicht aber: Geschmack, Geruch, Materialität (Räumlichkeit). Daß es im Grand Café 1895 in Paris bei der ersten kommerziellen Aufführung eines tonlosen, geruchlosen, schwarz-weißen, einminütigen Films der Brüder Lumière, angesichts des »L'arrivée d'un train en gare&laqno; zu tumultartigen Panikreaktionen gekommen sein soll, ist einigermaßen erstaunlich und gehört wohl zu den wirkungsvollsten Gründungsmythen eines neuen Mediums. [49]
Warum aber tut ein Film wie so, als könne 'man' seine Bilder mit der nicht-bildhaften Wirklichkeit verwechseln, wenn doch gleichzeitig alle Indizien dafür sprechen, daß eine solche Verwechselung haltlos ist, da doch neben Stummheit und Farblosigkeit, das beschränkte zeitliche und räumliche Format und die schlechte Qualität der Bilder offenkundig der tagtäglich erlebten äußeren Wirklichkeit fremd sind? Warum sollte der Film einen Verwechslungsgrund fingieren, eine Verwechslungsgefahr schüren?
Ich vermute, daß es im Gegenteil gerade die schmerzlich empfundene Harmlosigkeit der ersten Bilder war, welche die umfangreichen Dramatisierungsbemühungen des Films als kompensatorische Maßnahme in Gang brachte. Damit meine ich nicht nur die einsetzende Suche nach katastrophischen Ereignissen und Sujets (Verfolgungsjagden, Mord und Totschlag), sondern auch die künstliche Verschärfung der harmlosen Bildern selbst, wie sie sich im Heraufbeschwören einer realen Verwechselungsgefahr manifestiert. Ironie der [p.80] Geschichte, daß diesem Gründungsmythos - Überlebende eines einfahrenden Zuges zu sein, eines Zuges aus Bildern, der wie eine Dampflok immer von neuem über uns hinwegrollt [50] - niemand so dankbar Glauben geschenkt hat wie die Kulturkritiker der Frankfurter Schule. In einem kollektiven platonischen Schutzreflex wurde fortan dem Film die Verwechselung von Schein und Sein zum alles andere überschattenden Vorwurf gemacht. [51]
Allan, Richard
- (3/1995): Film, Fiktion und psychoanalytische Theorie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, hrsg. v. A. Honneth et al., Berlin (Akademie), 507-520.
Arnheim, Rudolf
- (1972): Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff, Köln.
Balázs, Béla
- (1984): Schriften zum Film, Bd.2 . Der Geist des Films. Artikel und Aufsätze 1926-1931. Hrsg. v. H.H. Diedrichs und W. Gersch. München (Hanser).
- (1924): Der sichtbare Menschen oder: die Kultur des Films. Wien, Leipzig (Deutsch- Österreichischer Verlag).
Barthes, Roland
- (1989/80): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, [La chambre claire. Note sur la photographie, Paris (Gallimard/Le Seuil)], Frankfurt/M (Suhrkamp).
- (1984): Le bruissement de la langue, in: Essais critiques IV, Paris (Editions du Seuil), 63-69.
- (1982): L'obvie et l'obtus. Essais critiques III. Darin vor allem: I. L'écriture du visible: L'image (Le message photographique, Rhétorique de l'image, Le troisième sens) und II. Le corps et la musique: La musique, la voix, la langue. Paris (Éditions du Seuil).
- (1964): Rhétorique de l'image. Communications 4, 40-51.
Bazin, André
- (21994): Qu'est-ce que le cinéma? Paris (Les Éditions du Cerf).
Berger, John
- (1974): Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Hamburg (Rowohlt).
Blumenberg, hans
- (1997): Das Sein - ein MacGuffin. [Erstveröffentlichung in der F.A.Z. vom 27. Mai 1987] In: ders., Ein mögliches Selbstverhältnis. Aus dem Nachlaß. (=Universal-Bibliothek Nr. 9650), Stuttgart (Reclam), 157-160.
Boehm, Gottfried
- (1978): Zu einer Hermeneutik des Bildes. In: Hans-Georg Gadamer/ Gottfried Boehm (Hg.): Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Frankfurt/M., 444-472.
- ders. (1987): Bild und Zeit, in: Hannelore Paflik (Hg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft. Weinheim, 1-23.
- ders. (1990): Bilder versus Wort, in: Günther Hauff, Hans Rudolf Schweizer, Armin Wildermuth (Hg.): In Erscheinung Treten. Heinrich Barths Philosophie des Ästhetischen. Basel, 261-273.
- ders.u. Pfotenhauer, Helmut (Hg.) (1995): Beschreibungskunst. Kunstbeschreibung. München (Fink).
Bohn, Volker
- (Hg.) (1990): Bildlichkeit. Frankfurt/M.
Bordwell, David und Kristin Thompson
- (1994): Film History: An Introduction. New York et al. (McGraw-Hill Compagnies).
- (1997): Film art. An Introduction. New York et al. (McGraw-Hill Compagnies).
[p.81]
Bresson, Robert
- (1975): Notes sur le cinématographe. Préface de J.M.G. Le Clézio. Paris (Gallimard).
Buñuel, Luis
- (1994): "Wenn es einen Gott gibt, soll mich auf der Stelle der Blitz treffen." Hrsg. und mit einem Nachwort versehen v. Carlos Rincón. Aus dem Spanischen von G. Schattenberg und F. R. Fries. Berlin (Wagenbach).
Châteauvert, Jean
- (1996): Das Kino im Stimmbruch, in: KINtop 5, Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, hrsg. von. F. Kessler, S. Lenk und M. Loiperdinger. Basel, Frankfurt (Stroemfeld/Roter Stern) , 81-95.
Danto, Arthur C.
- (1994/90): Reiz und Reflexion [Encounters & Reflections]. Aus dem Engl. von Christiane Spelsberg. München (Fink).
- (1993/86): Die philosophische Entmündigung der Kunst [The Philosophical Disenfranchisement of Art]. Aus dem Engl. von Karen Lauer. München (Fink).
- (1984/81): Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst.
[The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art.]. Übers. v. Max Looser. Frankfurt a.M. (Suhrkamp).
Decker, Edith und Peter Weibel
- (Hrsg.) (1991): Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst. Köln (DuMont).
De Lauretis, Theresa
- (1984): Alice doesn't. Feminism, Semiotics, Cinema. Bloomington (Indiana University Press).
Deleuze, Gilles
- (1993): Filme. In: ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Aus dem Franz. v. Gustav Roßler. Frankfurt (Suhrkamp es 1778): 57-120.
- und Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Aus dem Franz. übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Herausgegeben v. Günther Rösch, Berlin (Merve).
- (1991/85): Das Zeit-Bild. Kino 2. [L'image-temps. Cinéma II. Paris (Les Éditions de Minuit)] Aus dem Franz. übers. v. Klaus Englert. Frankfurt a.M (Suhrkamp).
- (1989/83): Das Bewegungs-Bild. Kino 1. [L'image-mouvement. Cinéma I. Paris (Les Éditions de Minuit)] Aus dem Franz. v. Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann. Frankfurt a.M. (Suhrkamp).
- (1986): Sur le 'Régime cristallin', in: Hors Cadre No. 4, 39-45.
Derrida, Jacques
- (1997/90): Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. [Mémoires d'aveugle. L'autoportrait et autres ruines. Paris (Éditions de la Réunion des musées nationaux)] Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Michael Wetzel. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel. München (Fink).
- (1988): Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text, in ders.: Randgänge der Philosophie, Wien (Edition Passagen), 205-259.
- (1978): La verité en peinture, Paris, [dt. Die Wahrheit in der Kunst, Wien 1992].
Dewey, John
- (1984/34): Art as Experience. New York.
Didi-Huberman, Georges
- (1997/82): Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. [p.82] [L'Invention de l'hystérie. Charcot et l'iconographie photographique de la Salpêtrière. Paris (Éditions Macula)] Aus dem Franz. übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Silvia Henke, Martin Stingelin und Hubert Thüring. München (Fink).
- (1990): Devant l'image - Question posée aux fins d'une histoire de l'art. Paris.
Doane, Mary Ann
- (1987): The Desire to Desire: The Women's Film of the 1940s Bloomington (Indiana University Press).
- (1982): Film and the Masquerade - Theorizing the Female Spectator. In: Screen No. 23, 1982, 74-87.
Engell, Lorenz
- (1992): Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte. Frankfurt, New York, Paris (Campus/Edition de la Maison des Sciences de l'Homme).
Fink-Eitel, Hinrich
- (3/1995): Lust und Weisheit des Scheinens. Die Alptraumwelt Alfred Hitchcocks, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, hrsg. v. A. Honneth et al., Berlin (Akademie), 539-548.
Flusser, Vilém
- (1983): Für eine Philosophie der Fotographie, Göttingen.
- (1985): Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen.
- (1993): Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Frankfurt a.M. (Fischer).
Friedberg, Anne
- (1993): Window Shopping. Cinema and the Postmodern. Berkeley et al. (University of California Press).
- (1990): A Denial of Difference: Theories of Cimematic Identification. In: Ann E. Kaplan (Hrsg.): Psychoanalysis & Cinema. New York et al. (Routledge), 24-36.
Gadamer, Hans-Georg
- (61990/60): Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübigen (J.C.B. Mohr).
Gombrich, Ernst H./ Hochburg, Julian / Black, Max
- (1977): Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit. Frankfurt/M.
Gombrich, Ernst H.
- (1987/76): Die Entdeckung des Sichtbaren. Zur Kunst der Renaissance III. [The Heritage of Apelles, Oxford (Phaidon Press)]. Aus dem Englischen übertragen von Lisbeth Gombrich. Stuttgart (Klett Cotta).
- (1984): Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Stuttgart (Verlag).
- (1969): The Evidence of Images, in: Charles S. Singleton (Hg.) (1969): Interpretation. Theory and Practice. Baltimore (Verlag), 35-104.
- (1967): Kunst und Illusion. Köln.
Goodman, Nelson
- (1973/96): Sprachen der Kunst, Frankfurt/M. (Suhrkamp).
- (1984): Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a.M. (Suhrkamp).
Hansen, Miriam
- (1987): Pleasure, Ambivalence, Identification: Valentino and Female Spectatorship. In: Cinema Journal, Nr. 25 (Sommer 1987), 6-32.
Hauskeller, Michael
- (1995): Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung. [p.83] Berlin (Akademie Verlag).
Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno
- (1969/47): Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug. In: diess., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. (Fischer), 128-176.
Hrachovec, Herbert
- (3/1995): Fotogene Enttäuschungen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, hrsg. v. A. Honneth et al., Berlin (Akademie), 455-464.
Jäger, Christian
- (1997): Gilles Deleuze. Eine Einführung. (=UTB für Wissenschaft) München (Fink).
Kaplan, Ann E.
- (Hrsg.) (1990): Psychoanalysis & Cinema. New York et al. (Routledge).
- (1987): Woman and Film. Both Sides of the Camera. New York et al. (Methuen).
- (1983): Is the Gaze Male? In: Snitow, Ann et al. (Hg.): Powers of Desire. The Politics of Sexuality. New York (Monthly Review Press), 309-327.
Koch, Gertrud
- (3/1995): Nachstellungen - Film und historischer Moment, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, hrsg. v. A. Honneth et al., Berlin (Akademie), 497-506.
Kracauer, Siegfried und Erwin Panofsky
- (1996): Briefwechsel 1941-1966. Mit einem Anhang: Siegfried Kracauer »under the spell of the living Warburg tradition&laqno;. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Volker Breidecker. (=Schriften des Warburg-Archivs im Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg, Bd. 4) Berlin (Akademie).
Kracauer, Siegfried
- (31996/1960): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. [Theory of Film The Re redemption of Physical Reality, New York] Vom Verfaser revidierte Übersetzung von F. Walter und R. Zellschan, hrsg. von Karsten Witte, Frankfurt a.M. (=stw 546).
- (1963): Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a.M. (Suhrkamp).
Kraus, Alfred und Christoph Mundt (Hg.)
- (1991): Schizophrenie und Sprache. (=Sammlung psychiatrischer und neurologischer Einzel- darstellungen), Stuttgart, New York (Georg Thieme Verlag).
Lacan, Jacques
- (1976): La femme n'existe pas. Übersetzt von Horst Brühmann. In: alternative 108/109 (Juni/August 1976), 160-163.
Lefebvre, Thierry
- (1996): Flimmerndes Licht. Zur Geschichte der Filmwahrnehmung im frühen Kino, in: KINtop 5, Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, hrsg. von. F. Kessler, S. Lenk und M. Loiperdinger. Basel, Frankfurt (Stroemfeld/Roter Stern), 1-80.
Loiperdinger, Martin
- (1996): Lumières Ankunft eines Zuges. Gründungsmythos eines neuen Mediums, in: KINtop 5, Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, hrsg. von. F. Kessler, S. Lenk und M. Loiperdinger. Basel, Frankfurt (Stroemfeld/Roter Stern), 37-70.
Lynch, David und Barry Gifford
- (1997): Lost Highway. Das Buch zum Film. Mit einem Interview von Chris Rodley mit David Lynch. Aus dem Amerikanischen von Mechthild Küpper. Frankfurt (Fischer).
[p.84]
McLuhan, Marshall
- (1964): Understanding media. London (Routledge).
Maillot, Pierre
- (1996): L'écriture cinématographique. Paris (Merdiens Klincksieck Masson).
Malewitsch, Kasimir
- (1997): Das weiße Rechteck. Schriften zum Film. Hrsg. v. Oksana Bulgakowa. Berlin (PotemkinPress).
Mast, G., Cohen, M., Braudy, L.
- (41992). Film Theory and Criticism. Introductory Readings. New York, Oxford (Oxford University Press). Darin vor allem: Kap. III.: The Film Medium: Image and Sound mit Texten von Panowsky, Kracauer, Balázs, Arnheim, Carrol, Mast, Cavell, Baudry, Metz, Eisenstein, Pudovkin, Alexandrov, Straub/Huillet, Belton, Affron, Ellis), 227-350.
Menil, Alain
- (1991): L'écran du temps. Lyon (Presses Universitaires de Lyon).
Merleau-Ponty, Maurice
- (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Hamburg (de Gruyter).
- (1984a): Das Auge und der Geist. Hamburg.
- (1984b): Die Prosa der Welt. München.
- (1985/64): Das Sichtbare und das Unsichtbare. [Le visible et l'invisible, Paris (Éditions Gallimard)] München.
Monaco, James
- (1996 [1977]): Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. Mit einer Einführung in Multimedia. Dt. Fassung. hrsg. von H.-M. Bock, übers. v. B. Westermeier und R. Wohlleben. Hamburg (Rowohlt).
Pape, Helmut
- (3/1995): Der Gedanke als Überblendung in der Folge der Bilder. Peirces visuelles Modell geistiger Prozesse, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, hrsg. v. A. Honneth et al., Berlin (Akademie), 479-496.
- (1997): Die Unsichtbarkeit der Welt. Eine visuelle Kritik neuzeitlicher Ontologie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Platon
- (1959): Timaios. In: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck (=Griechische Philosophie Bd. 6), Hamburg (Rowohlt), S. 142-213.
Rodley, Chris
- (7/1996): David Lynch - Mr. Contradiction. In: Sight and Sound, London (British Film Institute), 7-10.
Rodowick, David N.
- (1997): Gilles Deleuze's Time Machine. Durham, London (Duke University Press).
Seel, Martin
- (3/1995): Fotografien sind wie Namen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, hrsg. v. A. Honneth et al., Berlin (Akademie), 465-478.
Schwab, Angelica
- (1991): Aspekte der Kontrolle und Disziplinierung weiblicher Körperlichkeit in den Musical-Filmen Busby Berkeleys. Magisterarbeit im Fach Amerikanische Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
[p.85]
Schwab, Martin
- (1996): Unsichtbares - Sichtbar gemacht. Zu Samuel Becketts »Film&laqno;. München (Fink).
Seesslen, Georg
- (1997): Ein endlos geflochtenes Band: Lost Highway. In: ders., David Lynch und seine Filme. 3., erweiterte Auflage. Marburg (Schüren), 185-206.
Silverman, Kaja
- (1981): Masochism and Subjectivity. In: Framework 12 (1981): 2-9.
Sloterdijk, Peter
- (2/1997): Sendboten der Gewalt. Zur Metaphysik des Action-Kinos am Beispiel von James Camerons TERMINATOR 2. In: Der Schnitt. Kino - Blickfang - Augenschmaus. Bochum (Dark Room Verlag).
Sontag, Susan
- (1995/77): Über Fotographie [On Photographie]. Übers. von Mark W. Rien und Gertrud Baruch. Hanser (München).
Tarkowski, Andrej
- (1989): Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Aus dem Russischen übertragen v. H.-J. Schlegel. Mit einem Nachwort von Maja Turowskaja (übers. v. P. Rollberg). Leipzig und Weimar (Gustav Kiepenheuer Verlag).
Virilio, Paul
- (1993/91): Krieg und Fernsehen. [L'Écran du Désert, Paris (Éditions Galilée)]. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. München (Hanser).
- (1991/84). Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. [Guerre et cinéma I., Logistique de la perception] Aus dem Französischen von F. Grafe und E. Patalas. Frankfurt (Fischer).
- (1986/80): Ästhetik des Verschwindens. Aus dem Französischen von M. Karbe und G. Roßler. Berlin (Merve).
- (1989a/84): Der negative Horizont. Bewegung - Geschwindigkeit - Beschleunigung [L'horizon négatif]. Aus dem Französischen von B. Weidmann. München (Hanser).
- (1989b/88): Die Sehmaschine [La machine de vision]. Aus dem Französischen von G. Ricke und R. Voullie. Berlin (Merve).
Warner, Marina
- (8/1997): Vodoo Road. David Lynch's new identity-swap chiller »Lost Highway&laqno; reflects the fractured image of modern Narcissus. In: Sight and Sound, London (British Film Institute), 6-10.
Zizek, Slavoj
- (3/1995): Der audio-visuelle Kontrakt - der Lärm um das Reale, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, hrsg. v. A. Honneth et al., Berlin (Akademie), 521-538.
[1] Meine Gedanken sind hervorgegangen aus dem Vortrag, den ich am 25. November 1997 im Rahmen der von Sybille Krämer initiierten Ringvorlesung »Was ist ein Medium?&laqno; am Philosophischen Institut der Freien Universität gehalten habe. Der Vortrag firmierte damals unter dem Titel: 'Wieviele Medien (ge)braucht der Film? Versuch einer medientheoretischen wie -praktischen Einschätzung' und hat inszwischen Eingang gefunden in ein größeres Dissertationsprojekt.
[2] Der Terminus findet sich in L'image-temps (1985) (IT: 43) - dt. Zeit-Bild (1991) (ZB: 46) - und weist darauf hin, daß Deleuze einem Zeichenbegriff verpflichtet ist, der quer zur Saussureschen Unterscheidung in signifiant-signifié liegt. In der Nachfolge von Ch. S. Peirces Semiotik, die "das Zeichen ausgehend von Bildern und ihren Kombinationen" (ZB: 47) begreift, orientiert sich die matière signalétique des Films an einer dynamischen und modulatorischen Sinnbewegung. Der Film arbeite, so Deleuze, anders als Sprache es tue, an [p.86] seiner eigenen plastischen Masse (vgl. ZB: 46) - am "Aussagbaren" (frz. "un énonçable", IT: 44) -, das sich im Unterschied zu jeder sprachlichen Äußerung oder Aussage einen höheren Grad an Potentialität bewahrt habe. Zwar gründe die "Erzählhandlung" im Bild, sie sei aber nie eine echte oder unwandelbare 'Gegebenheit' des Bildes selbst. - Vgl. Deleuze (ZB: 47).
[3] Damit meine ich Zooms, Weitwinkel, Fischaugen und andere anamorphotische Geräte, die bei Aufnahme oder Projektion der Bilder in Einsatz sind (z.B. in der Breitwandtechnik, in der ein Anamorphot die Bilder in horizontaler Richtung im Verhältnis 1:2 zusammenzieht und später wieder entzerrt).
[4] Gewöhnlich unterscheidet man den (diegetischen) Ton einer aktuell sichtbaren Quelle von dem einer nicht-sichtbaren (nicht-diegetischen) Quelle. Der nicht-diegetische Ton läßt sich fernerhin unterscheiden in off-camera (einer im selben Raum wie das aktuelle Bild befindlichen Quelle) und in off-scene, wie sie tpyischerweise in Form eines kommentierenden Sprechers oder der Musik zum Ausdruck kommt. Der diegetische Ton einer sichtbaren Quelle läßt sich wiederum einteilen in syn- und a-synchronen Ton, der sich wiederum kontrapunktisch oder parallel zum Bild verhalten kann, indem seine Aussage unterlaufen oder unterstürzt wird. Besonders reizvoll erscheint dabei die Möglichkeit, a-synchronen Ton parallel zu verwenden: Er bietet die Möglichkeit, dem sichtbaren Geschehen 'falsche' Töne zu unterlegen, wie es Jacques Tati in 'Les vacances de M. Hulot' getan hat, wenn das Schwingen der Eßzimmertüre mit dem Streichen einer Cello-Seite unterlegt ist oder aber in Hitchcocks 'Psycho', wo der Mord unter der Dusche weniger vom Schreien der Frau, als vom 'Schreien' der Violinen begleitet wird.
[5] Am Beispiel von Andy Warhols Suppendosen - aus dem Lebensmittelregal heraus in der New Yorker Stable-Galerie ausstellt - versucht Danto, den unsichtbaren, ontologischen Unterschied zwischem dem Konsumgut und dem Kunstwerk 'Campbell Soup' mithilfe der 'interpretativen Geste' Warhols zu erklären, wodurch die ordinäre Dose den Status eines Kunstwerkes erwirbt (vgl. Danto (1984/81: 314f.)). Während Marcel Duchamps Flaschentrockner und Urinale (die nicht mit ihren gewöhnlichen Namen betitelt waren) aus den Jahren 1913 bis 1917 von Danto noch als "Scherze" gewertet werden, hat sich Kunst mit Andy Warhol zu ihrem eigenen Doppelgänger - zur "Anti-Art" (Danto 1994: 338) - entwickelt. Indem er das Alltägliche und Gewöhnliche als Kunst zelebrierte, verklärte Warhol kurzlebige, billige Wegwerfprodukte zu "time capsules" (ibid. 341), die auf sehr ironische Weise den Ewigkeitswert der Kunst und ihrem Preis zum Inhalt haben.
[6] So zieht Christian Metz mit seinem Buch über Psychoanalyse und Film, The Imaginary Signifier, eine Parallele zwischen dem prä-ödipalen, vor-sprachlichen "Reich des Imaginären" bei Lacan und dem "Reich der Filme", in welchem die ZuschauerInnen ihre Lust am Imaginären entfalten können. Da diese Lustbefriedigung allerdings unilateral sei und anders als ihr sexueller Namensvetter nicht der Dialektik aus Voyeurismus und Exhibitionismus gehorche, findet Metz die Schaulust beim Film nicht gleich pervers. John Berger schließlich hat die psychosexuelle Dynamik des männlichen Blicks - 'Sehen als Auswahl eines Opfers' - in seinem Buch Sehen: Das Bild der Welt in der Bilderwelt aufgegriffen und die Verbindung zwischen männlichem Sehen und weiblichem Gesehen-Werden aufgezeigt. Die Frage nach der Geschlechtlichkeit des Blicks findet sich u.a. in Ann Kaplans Is the Gaze Male?, in Mary Ann Doanes Woman's Film, in Kaja Silvermans Masochism and Subjectivity, in Theresa De Lauretis' Alice doesn't oder in Miriam Hansens Pleasure, Ambivalence, Identification, um nur einige Texte zu nennen.
[7] Zum Beispiel Susan Sontag in On Photography (1977), wo sie ihre These von der voyeuristischen 'Supertouristin' Diane Arbus vor allem in ihrem Aufsatz 'In Platons Höhle' entfaltet und sich zur Aufbesserung der Beweislage auch auf einen Film stützt, nämlich auf Michael Powells 'Peeping Tom' (1960), "der nicht von einem bloßen Voyeur, sondern von einem Psychopathen handelt, der Frauen mit einer in seiner Kamera verborgenen Waffe tötet, während er sie photographiert. (...) Er begehrt nicht ihre Körper; er will, daß sie in Gestalt von fotographischen Bildern anwesend sind, die zeigen, wie sie ihren eigenen Tod erfahren." - Vgl. Sontag (1995/77: 19).
[8] Es ist sicherlich kein Zufall, daß sich unter den "100 wichtigsten deutschen Filmen", auf die sich der Kinematheksverbund (darin u.a. das Bundesarchiv/Filmarchiv (Berlin/Koblenz), das Deutsche Filmmuseum und das Deutsche Filminstitut für Filmkunde (beide Frankfurt a.M.)) verständigt haben, allein in den Anfangs-Jahren 1920-1933 unter 37 Filmen sieben Arbeiten finden, in denen Gespenster, Wiedergänger, Untote - kurz: Wesen, die nicht sein [p.87] dürfen (Monster) - auftauchen. Den Anfang machte 1920 Robert Wienes 'Das Cabinett des Dr. Caligari', gefolgt von Paul Wegeners 'Der Golem, wie er in die Welt kam', Fritz Langs 'Der müde Tod' (1921) und ein Jahr später sein erster 'Dr. Mabuse', F.W. Murnaus 'Nosferatu' entstand ebenfalls 1922. Die nächsten zehn Jahre waren dann von einer verstärkten Reflexion auf die steingewordenen Monströsitäten der Großstadt geprägt ('Die freudlose Gasse', 'Berlin, Sinfonie der Großstadt', 'Metropolis', 'Asphalt', 'Berlin Alexanderplatz'), bevor Carl Theodor Dreyer seinen 'Vampyr' 1932 inszenierte und Lang - ein Jahr später - 'Das Testament des Dr. Mabuse' vollendete (Schäfer 1995: Deutscher Film Almanach 1995, 471-474). Ich werde auf das Monströse als Spielart des extrem Sichtbaren in meiner Dissertation ausführlicher zu sprechen kommen.
[9] Einer der ersten Filme, der im Jahr 1895 gezeigt wurden, zeigte auch eine Variante des 'L'arrivée d'un train en gare', der die versammelte Menge angeblich in Panik versetzte und seither für die Wirklichkeitsillusion des Films bürgen soll. Wie Martin Loiperdinger (1996: 37-70) in der Zeitschrift 'KINtop' sehr schön nachgewiesen hat, ist diese Anekdote völlig haltlos. Auch war der Film, obgleich in zwei oder drei Kameraeinstellungen gedreht, bereits durch und durch inszeniert. Die Aussteigenden schauen nicht etwa neugierig in die am Bahnsteig aufgebaute Kamera, sondern bewegen sich, als ob sie sich unbeobachtet fühlten. Bei den Passanten die frontal und teilnahmslos in die Kamera schauen, handelt sich um instruierte Familienmitglieder der Brüder Lumière. Das Dokumentarische als Ideal uninszenierter Natürlichkeit gehört zu den wirkungsvollsten Gründungsmythen des neuen Mediums. Siehe hierzu auch den Schluß dieses Aufsatzes.
[10] Méliès drehte 1902 den ersten Film mit einer Erzählhandlung und gilt damit zurecht als Erfinder des Spielfilms. In 'Le Voyage dans la Lune' reist ein experimentierfreudiger Professor mit einer Schar Freiwilliger in einer projektilförmigen Kapsel zum Mond und stößt dort im Tal der Pilze, in denen die von der Erde mitgebrachten Regenschirme vortrefflich weiterwachsen, auf das Volk der Seleniten, die sich hartnäckig an die Fersen der Erdlinge heften und sich nur mithilfe der magischen Regenschirme in Rauch auflösen. Der Film ist voller phantastischer Landschaftsaufbauten und Tricksequenzen und gleichzeitig - nach H.G. Wells' Roman Time Machine (1895) - der erste science-fiction-Film, der geradezu paradigmatisch den weiteren Gang der Filmgeschichte beeinflussen sollte.
[11] Jeder Kameramann weiß, daß ein Schnitt eher der menschlichen Wahrnehmung entspricht, als eine lange Fahrt, ein Schwenk oder gar ein fokussierender Zoom. Unsere Wahrnehmung bleibt - weil sie interessegeleitet ist - immer sprunghaft, diskret und selektiv. Wir malen, wenn wir etwas sehen, keine Bilder, sondern wir synthetisieren und montieren sie aus vielen Einzelbildern, die wir genügend schnell miteinander 'verblenden'. So haben "Schnitte und Brüche im Kino seit Beginn die Macht des Kontinuums gebildet" - Deleuze (ZB: 235).
[12] Ernst H. Gombrich spricht in seinem Aufsatz über Leonardo da Vincis Forschungsmethode - wie später Deleuze - bereits von Bewegungsbildern, wenn er da Vincis diversen Wasserstudien begutachtet: "Das Wasser gibt aber auch Anlaß zu noch schöneren Bewegungen; Leonardo wäre entzückt gewesen, hätte er sehen können, was die Photographie uns zeigt." - Gombrich (1976/87: 67), Die Entdeckung des Sichtbaren.
[13] "[G]erade das, worin es mit dem Abgebildeten nicht dasselbe ist, gibt ihm gegenüber dem bloßen Abbild die positive Auszeichnung, ein Bild zu sein." - Gadamer (1960/90: 144).
[14] Festgehalten in seinem Manuskript, das seiner Antrittsrede an der Universität Berlin von 1818 zugrunde lag und als Einführung in die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften gedacht war. - Vgl. Hegel (1986/1818: 399-417).
[15] Kaum gab es personal computer, war ein neues Paradigma vom brain- und think-tank geboren. Die Künstliche-Intelligenz-Forschung sammelte über Jahrzehnte Gelder vor allem mit der vagen und nie bestätigten Hoffnung, Computer könnten sich als Substantiierung des menschlichen Geistes erweisen.
[16] Zitiert fortan nach der Original-Seitenpagierung der dritten Auflage von 1799. Textbasis ist die Meiner-Ausgabe der Kritik der Urteilskraft (KdU), herausgegeben von Karl Vorländer, Philosophische Bibliothek 39a.
[17] Gilles Deleuze (1990/63: 149): Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen. Pointiert gesagt, scheint uns Deleuze mit Kant nahezulegen, daß die 'List des Übersinnlichen', ihrerseits eine "höchst transzendentale Erscheinung" (ibid.), gerade in der zufälligen Übereinstimmung der menschlichen Vermögen (Einbildungskraft, Verstand, [p.88] Vernunft) mit der sinnlichen Natur bestehe. Gleichzeitig aber sei es die sinnliche Natur im Menschen, die verhindere, daß ein guter Wille gute Werke garantiert. Die Vernunftsentfaltung als letzter Naturzweck erfülle sich nie individuell, sondern bestenfalls gattungsgeschichtlich. Bei Kant heißt es: "Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit (...)! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit auf ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht." - Kant (IaG, 4. Satz).
[18] "(...) [J]eder Versuch, es [das Unsichtbare] dort zu sehen, bringt es zum Verschwinden, aber es liegt auf der Linie des Sichtbaren (...), es schreibt sich ein (zwischen den Zeilen)". - Vgl. Merleau-Ponty (1994: 275).
[19] Husserl nennt es in den Cartesianischen Meditationen (Huss. I., S. 85) auch das "Unsichtliche", wie Bernhard Waldenfels in seiner sorgsam kommentierten Übersetzung von Merleau-Pontys Das Sichtbare und das Unsichtbare anmerkt. - Vgl. Merleau-Ponty (1994: 323).
[20] Merleau-Ponty nennt es die 'Existentialien des Sichbaren', seinen dimensionalen, nicht-figurativen Gliederbau. Unklar bleibt, ob er damit neben einer - verdeckten - räumlichen Ausdehnung einer Sache auch die zeitliche Dimensionierung meint, wie das Alter zum Beispiel oder aber - wie der Rekurs auf den 'Gliederbau' verheißt - vornehmlich das Innere oder sogar den chemischen Aufbau eines Dings avisiert. In ersten Fall scheint es sich um die Spezifikation von temporärer Unsichtbarkeit, bei der zweiten Deutung eher um einen Sonderfall von prinzipieller Unsichtbarkeit zu handeln, die nur mit nicht-okularen Sinnen oder technischen Hilfsmitteln - chemischen Analysen etc. - zugänglich gemacht werden kann. Auf den Film übertragen werden sich diese Unterscheidungen wiederfinden in meiner Untergliederung des Off.
[21] Merleau-Ponty wählt etwas mißverständlich den Begriff der "négation-référence" (V&I: 311), den Waldenfels als "Bezugs-Negation" (S&U: 324) übersetzt. Treffender scheint mir hier der auch gebrauchte Ausdruck "écart" i.S.v. 'Abweichung' zu sein: Ausgedrückt werden soll die fließende Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem dergestalt, daß das Unsichtbare in den drei ersten Gliederungsmomenten prinzipiell sinnlich erfahrbar bleibt, während nur die konstitutiv unsinnlichen Dinge (die Beziehungen und Relationen zwischen Personen, cogito etc.) notwendiger Weise unsichtbar bleiben. Ich will in meiner Dissertation mit Deleuze zeigen, daß das 'Kino der Unsichtbarkeit' in der uneigentlichen, indirekten oder allegorischen Darstellung des 'Off-Off' seine größte Herausforderung findet.
[22] Sichtbar ist überhaupt nur das, was für unsere Augen genügend stark beleuchtet ist, was eine bestimmte Größe besitzt, sich langsam genug bewegt und lange genug dauert. Die Ordnung der Sichtbarkeit ist die der Oberflächen der Dinge, die der Konturen der Phänomene und ihrer Verteilung im Raum. Überdies ist das Sichtbare im Film wie im wirklichen Leben gebunden an den schmalen, zeitlich wie räumlich sehr begrenzten Ausschnitt des ON. Der Moment eines distinkt wahrnehmbaren Einzelbildes (im Film) oder des aktuellen Geschehens (im Leben) ist ja immer schon eingerahmt von dem nicht-mehr oder noch-nicht-Sichtbaren (der Vergangenheit und der Zukunft).
[23] Dazu zählen neben dem verborgenen Inneren der Gegenstände (das man aufbrechen oder durchleuchten kann), die schon erwähnten ephemeren, nur flüchtig wahrnehmbare Dinge wie der Rauch oder das sich kräuselnde Wasser (welche man in der Zeitlupe verlängern kann) und natürlich das einsame oder geheime Seelenleben der Menschen, das sich nur indirekt aus Gesten, Anspielungen, Handlungen oder Indizien rekonstruieren oder prognostizieren läßt.
[24] Das Off ist im engeren Sinn (a) das Hörbare (Tonspur) - akustisches Off; im weiteren Sinn (b) das Noch-nicht- und Nicht-Mehr-Sichtbare (Bild- und Tonspur) - audio-visuelles hors-champs; (c) das Nie-Sichtbare (Leerzone, Weiß in Weiß, das Nichtfilmbare) - Off-Off. Es stiftete den (virtuellen) Bezug der Teile zum Ganzen. Es verweist darauf, daß das Ganze nie abschließbar ist, sondern daß die Teile nur zu einer größeren Gesamtheit überführt werden können. Es kann verwendet werden als Kasch (cache), der wie eine bewegliche Maske das Bildfeld erweitert und einengt oder aber als fester Rahmen (cadre). Das Off ist also durchaus auch eine visuell aktualisierbare Beziehung des Ensembles zu allen anderen Bild-Ensembles und zum Ganzen des (montierten) Films.
[25] Die Paradoxien, die sich von dem Ursprungsparadox ableiten sind bekannt: Wer die Dunkelheit sehen will, muß sie zum Verschwinden bringen. Wer sich sehend sehen will, wird sich blenden, muß erblinden. Wahrlich, es gibt größere cinematographischen Themen als den [p.89] Voyeurismus: die Blendung, das Blind-Werden, das Sich-Selbst-Blenden, die Verblendung. Welche Beunruhigungen im Film von Weißblenden ausgehen... - Vgl. Derrida (1997/90), Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen.
[26] Wie René Magritte in seinem zweiten Brief an Michel Foucault schreibt, verbirgt "das berührbare Sichtbare unausweichlich ein anderes Sichtbares" (ibid.: 56). Es macht deshalb wenig Sinn, dem - temporär - Unsichtbaren gegenüber dem Sichtbaren den epistemischen Vorzug zu geben. (Er stellt fest, daß das konstitutiv Unsichtbare im Unterschied zum Sichtbaren gar nichts verbergen kann.) Foucault ist ähnlicher Ansicht, wenn er wiederum in seiner Exegese von Magrittes Zeichnung 'Ceci n'est pas une pipe' darauf hinweist, daß es - solange ein Bild der traditionellen Repräsentationslogik gehorcht - egal sei, "ob die Malerei auf das Sichtbare verweist, das sie umgibt, oder ob sie sich allein ein Unsichtbares schafft, das ihr gleicht" (Foucault 1997/73: 27).
[27] Lynch gilt als Meister der Tonspur, nicht zuletzt wegen der Eröffnungssequenzen aus 'The Elephant Man' (in dem sich das Hämmern von Maschinen mit dem Intimsten des Körperinneren, mit dem schlagenden Herzen vermischt) und 'Blue Velvet'. In beiden Fällen ist der Lärm der Realität schwer zu lokalisieren, er schwillt an, je mehr wir uns mit der Kamera dem Realen selbst nähern. "Diese Geräusche gehören dem Universum nicht einfach an, sie sind Reste, die letzten Echos des Urknalls, der das Universum selbst geschaffen hat". Bei Lynch bilden unspezifische Geräusche den ontologische Horizont des Geschehens selbst. (Vgl. Zizek 1995: 531). Zum kosmischen Rauschen siehe auch Seeßlen (1997: 181f.).
[28] Ich nehme mit dem Terminus Kubismus hier eine Anregung von Willi Schroll auf, die sich in der Diskussion zu meinem Vortrag am 25.11.97 entspann. Weiterführendes hierzu findet sich bei Tanja Cummings (1996: 38), Gedanken zu Joyce, Kubismus und Stilpluralität, Berlin (Hausarbeit an der FU), die sehr schön herausarbeitet, warum die kubistische Fragmentierung gerade in ihrem Entwurf 'nur möglicher Welten' die Wirkung des Unmittelbaren, des Wirklichen nie verliert, sondern vielmehr potenziert.
[29] Es ist von größter Wichtigkeit, daß Lynch in dieser Szene nicht einfach zwischen Fred und dem Mystery Man hin-und-her-schneidet, sondern alle beide samt Telefon in einer ungeschnittenen Sequenz diskutierend gezeigt werden, so daß es für den Zuschauer nicht der Eindruck entsteht, der Verdopplungseffekt der Stimme sei Resultat eines Schnittes. (Im Unterschied zu Schnitten auf der Tonspur, die gänzlich unauffällig verlaufen, wie auch in diesem Fall, ist der Bildschnitt immer für die ZuschauerInnen sichtbar!)
[30] Während früher das Telefonieren uns an ein Zuhause band oder in einer Telefonzelle auf der Straße lokalisierbar machte, hat das mobile Telefonieren dazu geführt, daß Menschen bei allen möglichen anderen Tätigkeiten, an allen möglichen Orten wie abwesend und scheinbar mit und zu sich selbst sprechen können. Gleichzeitig wird die scheinbar intime Telefonsituation immer schon veröffentlicht und dadurch pervertiert. Was erfährt man nicht alles von seinen telefonierenden Zeitgenossen, ganz unauffällig beim Warten in einer Kassenschlange? - In der Lynch-Szene sorgt die Wahl des Mobiltelefons auch dafür, daß Freds eigene Ortlosigkeit, insbesondere seine Abwesenheit von Zuhause, zum unterschwelligen Thema wird, so wie andererseits die Telefonprobe nur unter der Prämisse funktioniert, daß Fred mit dem Mobiltelefon seinen fest installierten Hausapparat anruft.
[31] Auch als sich Fred, nach dem Gespräch, beim Gastgeber und seiner Frau nach der Identität des Mystery Mans erkundigt, kriegt er nicht etwa zur Antwort, diesen Mann gäbe es auf der Gästeliste nicht, sondern man erfährt, er sei ein Freund von Dick Laurent. Worauf Fred auf der Rückfahrt im Auto gegenüber Renee nur bemerkt, Andy habe "ein paar ziemlich kappute Freunde." - Lynch/Gifford (1997: 34).
[32] Lynch zeigt die sich ankündigende Ich-Spaltung als ganz normale Sache. Freds ganz natürliches Schwanken zwischen einfachem Unglauben und dem schrittweisen Einwilligen in einem Partyspaß (im Sinne von Bauchrednerei) funktioniert wie ein Beweis für Fred geistige Gesundheit und erleichtert den ZuschauerInnen nicht nur die Identifikation mit Fred, sondern auch das Ernstnehmen seiner Situation.
[33] Die Multimedia-Begeisterung der 90er Jahre - abgesehen von der Tatsache, daß es besser Unimedium hieße, weil es mehr um die digitale Kodierung/Vereinheitlichung als um die Kombination verschiedener Medien geht - sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Tonfilm das erste synästhetische Multimedium war und Regisseure es auch immer als solches inszenierten. Es scheint sinnvoll zu untersuchen, wie die neuen Medien im Film thematisiert werden, z.B. in Catharine Bigelows 'Strange Days' oder Richard Longos 'Johnny Mnemonic' [p.90] (beide 1995).
[34] Vgl. Seeßlen (1997: 164-184) in seinem Kapitel Die Methode Lynch: Zeichen und Wunder.
[35] Bei Kafka heißt es in seinen Briefen (1902-1924): "Wenn ich nicht schreibe, so hat das vor allem (...) 'strategische' Gründe, ich vertraue den Worten und Briefen nicht, ich will mein Herz mit Menschen, aber nicht mit Gespenstern teilen, welche mit den Worten spielen und die Briefe mit hängender Zunge lesen. Besonders Briefen vertraue ich nicht, und es ist ein besonderer Glaube, daß es genügt, den Briefumschlag zuzukleben, um den Brief gesichert vor den Adressaten zu bringen. Hier hat übrigens die Briefzensur des Krieges, die Zeit besonderer Kühnheit und Offenheit der Gespenster, lehrreich gewirkt." - Kafka (1975: 452f.).
[36] Der Film zerfällt in zwei Teile, getrennt durch das (nicht genau gezeigte) Geschehen in einer Gefängniszelle, die Polizisten Ed und Al verdoppeln sich in Hank und Lou, Pete Dayton (Balthazar Getty) führt Fred Madisons (Bill Pullman) Leben weiter, die dunkelhaarige Renee (Patricia Arquette) wird zur blonden Alice, Mr. Eddy entpuppt sich als Dick Laurent usf.; manche Szenen und Stimmen, wie die Nachricht durch die Sprechanlage, sehen wir zweimal, aber anders. Die letzten Bilder des Filmes sind auch die ersten. Das Geschehen scheint wie ein Möbius-Band zusammengehalten zu sein mit zwei nur partiell diskreten, unendlich groß werdenden Oberflächen, die sich beständig ineinander transformieren. - Vgl. auch Seeßlen (1997: 185ff.).
[37] Vgl. hierzu: Jörg Frommer, Sprachauffälligkeiten Schizophrener - Historische Wurzeln moderner Forschungsperspektiven; Wolfgang Hofmann, Einführung in die Linguistik schizophrener Sprache; Silla Consoli, Erzählungen Schizophrener; alle in: A. Kraus und Ch. Mundt (Hg.), Schizophrenie und Sprache. Stuttgart, New York (Georg Thieme Verlag) 1991, S. 117-139; 31-37; 22-30.
[38] Die Fragen, die sich hieran anschließen lauten zum Beispiel: Hören Medien nach dieser Phase auf, Medien im engeren Sinne zu sein? (Macht es heute noch Sinn, den Film unter medialen Gesichtspunkten zu befragen?) Gibt es ein Telos der gesamten medialen Entwicklung? (Im Sinn einer schrittweisen Eroberung der Sinne, einer Veränderung der sozialen Umwelt, dem Aufbau einer medialen Gegenwelt; im Sinne der Fiktionalisierung und Pluralisierung von Realität, welche wachsenden Raum-Zeit-Deformationen ausgesetzt ist?)
[39] Die dritte Phase eines Ausdrucksmediums - die Öffnung für neue Impluse und neue Medien - ist für den Film gerade erst angebrochen und öffnet auch den Blick der TheoretikerInnen für neue Aufgaben für alte Medien.
[40] Der Begriff 'Medium' ist eine typische Substantivierung aus dem 17. Jahrhunderts, ein Abkömmung des Adjektivs 'medius' - in der Mitte von etwas oder vermitteln. Er ist morphologisch verwandt mit 'Milieu' - mitten drin sein (ein adverbial gebrauchter Dativ, auch der Plural von Mitte). Man versteht darunter auch ein Hilfsmittel i.S.v. "das zwischen Täter und Objekt liegende" - weder aktiv noch passiv, am ehsten paktiv. Das Medium schließt einen Pakt mit dem, was in der Mitte zwischen zwei verschiedenen Dingen oder Ontologien liegt.
[41] Eine Marke ist bei Nelson Goodman ein Dingschema (so wie ein Bild als Unikat die einzige mögliche Aktualisierung eines bestimmten hochkomplexen Dingschemas ist), ein Artefactum, ein Zeichending und als solches beständig, aktualisiert sich gemäß bestimmter Schemata (einer Syntax) - in denen sich Handlungs- und Zeichenhandlungsanteile verschränken - in einem Medium, das ihre einheitliche sinnliche Gestalt garantiert. Allerdings ist die Rezeption einer Marke von den Bedingungen ihrer Generierung unabhängig (die Rezeption wird eine eigenständige Handlung), die keine einfache Rezeption der Ausgangsbedingungen ist (Das Lesen eines Briefes wiederholt nicht den Akt seiner Verfassung).
[42] So z.B. die Unterscheidung in audio-visuelle (Kino), visuelle (Photographie) oder auditive (Kassetten, Schallplatten, CDs) Medien.
[43] Interessanterweise war es Platon, der im Timaios genau diese Elemente als ideale platonische Körper ausgestaltete, in dem er sie nach dem höchst möglichen räumlichen Symmetriegrad organisierte und damit die Grundlage der späteren Kristallographie schuf. [Siehe in meiner Disseration auch die Ausführungen zur Kristallpyramide in Leibnizens Theodizee.]
[44] Beispiel Wasser: Wer jemals getaucht ist, weiß, da unten herrschen andere Gesetze: Der Schall bewegt sich diffus und über größere Entfernung mit derselben Lautstärke, die Befreiung von der Schwerkraft und der zweidimensionalen Bewegungsform ist frappierend. Auch hier [p.91] gilt, wer sich nicht anpaßt, wird nicht überleben. Man kann sich unter Wasser nicht wie an Land verhalten. Wer schreit, ertrinkt, wer überleben will, verständigt sich mit Gesten. (Aber auch die Schiffsbauer mußte sich der glatten Oberfläche des Wassers anpassen, um schnelle und sichere Schiffe zu bauen, wobei die Bedingungen, die für schnelle und sichere Landfahrzeuge galten, gerade nicht auf Schiffe übertragbar waren!)
[45] Bekanntlich nutzen Pflanzen Kohlendioxyd und Stickstoff, den wir atmen, ohne ihn in nennenswerter Weise zu gebrauchen.
[46] Wird so ein Körper aber ungebremst, ungefedert, auf die tatsächliche Beschleunigung aufmerksam gemacht, ist er zum Tod durch Schwerkraft, genauer durch den raum-zeitlichen Vektor der Geschwindigkeit verdammt, welcher die den physiologischen Vorgängen inhärente Zeitlichkeit empfindlich stört. Der biblische Satz hat nichts an Aktualität verloren: Ein Jegliches hat seine Zeit. Altern ist der Name für die Wirkungen der 'natürlichen' Beschleunigung, der unsere Körper durch die vergehende Zeit ausgesetzt sind.
[47] In meiner Dissertation versuche ich zu zeigen, daß die Zeitlichkeit des Films sich nicht darin erschöpft, Zeitlupen und Zeitraffer einzusetzen. Das interessante am Kino ist - hier schließt sich hoffentlich der Kreis zu dem Exkurs über die 'natürlichen Medien' -, daß es einen intensiven Dialog - wenn auch einen unpersönlichen, unhörbaren - unterhält mit den drei natürlichen Dimensionen der Raumes und den drei Modi der Zeit (Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft).
[48] Die Euphorie, die in den ersten Medientexten (von Norbert Bolz, Friedrich Kittler) spürbar wird, hat sehr viel damit zu tun, daß Medien als epistemische Sinnbilder eines Technikbegriffs fungieren, der sich auf die Freudsche Prothesenthese bzw. die Extension der menschlichen Sinnlichkeit - à la McLuhan - gründet. Wobei ich den Vorwurf des Anthropomorphismus, der gegen dieses Medienmodell erhoben wird, nicht für triftig halte, weil sich in der Natur des Medialen wirklich Verschränkungen mit den menschlichen Sinnen ergeben, anderenfalls wären Medien gar nicht 'menschenwirksam'. Mir geht es in diesem Zusammenhang eher darum, auch die andere Seite des Medialen zu beleuchten, die nämlich ihre 'Kommunikation nach der anderen Richtung', mit der unbelebten Natur und deren natürlichen Elementen berücksichtigt.
[49] Siehe dazu den hervorragend argumentierenden Aufsatz von Martin Loiperdinger (1996), Lumières Ankunft eines Zuges. Gründungsmythos eines neuen Mediums, S. 37-70.
[50] Der Zug eignet sich als doppelsinniger Gründungsmythos vor allem deshalb so hervorragend, weil die ersten FilmzuschauerInnen sich nicht nur von Bildern überrollt fühlten (worauf sich die Legende von der panischen Flucht entspann), sondern weil sie sich eingeladen fühlten, die Plätze zu tauschen und in eines der Zugabteile zu wechseln. Ähnelten die Bilder des Kinos nicht am ehsten der Landschaft, wie man sie aus einem fahrenden Zug heraus sah? Nur, daß sich das Zentrum der Bewegung unmerklich vom Zuschauer wegzubewegen begann?
[51] Daß die Verhältnisse bei den Philosophen komplexer lagen, als ich es hier ausführen will, zeigt die Einschätzung von Christian Jäger: "Von Anfang an gingen die Philosophen ins Kino und schrieben darüber ob Ernst Bloch oder Alfred Bäumler, Georg Lukacs oder Konrad Lange. Doch diese Kinobesuche blieben folgenlos für die akademische Diskussion, die sich das Problem anders stellte, als Problem der Wahrnehmung und der Bewegung von Wahrnehmung, die nicht von den technischen Apparaten zu verantworten wäre." - Jäger (1997: 241f.).
11.11. 1998 - http://userpage.fu-berlin.de/~sybkram/medium/schaub.html