Die Stelle ist bekannt. Der Ich-Erzähler Sokrates berichtet von einem Gespräch über das Gerechte, das er mit einigen Männern bei einer Einladung geführt habe. Ungehalten greift bald ein gewisser Thrasymachos aus Chalkedon ins Gespräch ein und wirft Sokrates vor, das sei wieder ein typisches Geschwätz voller Albernheiten gewesen. Nach einem Geplänkel bringt es schließlich der Chalkedonier auf den Punkt: „Ich nämlich behaupte, dass das Gerechte nichts anderes ist als das dem Stärkeren Zuträgliche.“[1] Sokrates fährt – von dieser Definition unbehelligt – mit seiner berühmt-berüchtigten Hebammenkunst fort, „um der Wahrheit zur Geburt zu verhelfen“. Der Rest ist Philosophiegeschichte – der Bericht trägt den Titel Politeia, und sein Autor heißt Platon.
Will Thrasymachos einem zynischen Opportunismus huldigen? Oder will er, wie später Nietzsche auch, die Stärke zur ethischen Konstante erheben, verstanden – so jedenfalls die einhellige Rezeption – nicht nur als strukturierendes Prinzip, sondern auch als intrinsischer moralischer Wert? Ich glaube nicht. Er verweist vielmehr auf das Verhältnis, das zwischen der Moral, ja darüber hinaus: der Ethik als Diskurs, und den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, der Macht, besteht. Es handelt sich um ein Verhältnis, das gerade durch die ethische Rede gut versteckt wird – da Ethik angeblich nach Wegen sucht, um jene Konflikte ausgleichend zu lösen, die sich aus den Kräfteverhältnissen ergeben. „Moralische Werte sind das, was die Herrschenden für gut halten, da sie ihnen nützen, und was sie darum als gut für alle preisen“, meint – wenn auch mit anderen Worten – der Sophist aus Chalkedon.
Der Gerechtigkeitsdialog im ersten Buch der Politeia markiert einen historischen Einschnitt, an dessen Ausgang, um mit Foucault zu reden, der „Wille zur Wahrheit“ steht: „Der Sophist ist vertrieben.“[2] Übertragen von der ethischen auf die epistemologische Ebene, haben wir es mit einem Philosophen zu tun, der nach Wahrheit sucht, und mit einem Sophisten, der postuliert, Wahrheit sei das, was sich als solche durchsetzt. Er, der Sophist, hätte ein gutes Argument auf seiner Seite, wenn er nur sein eigenes Schicksal in der Überlieferung kannte. Platon, der treue Protokollant sokratischer Dialoge, gilt seit gut zwei Jahrhunderten als Torhüter der akademischen Philosophie und (was beinahe dasselbe ist) deren Geschichte. Thrasymachos hingegen ist heute ein Niemand, dessen Namen wir bloß von Platons Gnaden als negativen Replikgeber Sokrates’ kennen. Nicht von ungefähr!
Hier die Wahrheit, die, einmal gefunden, den Anspruch erhebt, für alle und immer gültig zu sein. Dort ein Versuch, eine solche Wahrheitssuche als verdeckte Operation zugunsten der Mächtigen zu entlarven. Der Philosoph gegen den Sophisten – das ist ein früherer Fall, in dem der Universalismus die Schlüsselrolle spielt.
Fast zweieinhalb Jahrtausende und einige Gegensätze später begegnen wir dem Begriff Universalismus neuerdings wieder. Im vorliegenden Essay will ich versuchen, diese Begegnung zu deuten. Drei Fragen werden mich dabei begleiten: In welchen Kontexten und Formen trat/tritt der Universalismus-Begriff auf? Woher rührt seine zunehmende Aktualität? Welche sind die Kontexte und die Motive seines heutigen Auftretens? Abschließend werde ich eine These formulieren, die jene rezenten Vorschläge zum Ausgang (und aufs Korn) nimmt, welche den stark angeschlagenen Universalismus-Begriff mit Hilfe von Neukonzeptionen reanimieren wollen.
Universalismus
der Vernunft
Universalismus ist das Regime des Allgemeinen. Er hat viele Gestalten, jeweils von der gemeinsamen Referenz geformt, die Vernunft genannt wurde, und entsprechend viele Spiegelbilder. In der Geschichte der abendländischen Philosophie begegnen wir dem Universalismus grosso modo in drei Gegensätzen, die drei Teildisziplinen akademischer Philosophie zugeordnet werden können.[3]
Das Allgemeine gegen das Besondere: Im ontologischen Universalismus geht es um die Frage, ob den Begriffen einzelner (also: besonderer) Lebewesen und Gegenstände ein vorsprachliches und allgemeines Sein zugrunde liegt oder ob Begriffe nur willkürliche – wenn auch konventionelle – Bezeichnungen sind. Diese Frage, die sichtbar von Platons Ideenlehre geprägt ist, bildete den Kern des bekannten Universalienstreits. Das barocke Zeitalter brachte zwar die konsensuelle Ansicht mit sich, dass in der Natur nur Individuen existierten und Allgemeinheit eine bloß in unserer Erkenntnis (in Form von Kategorien) konstruierte Zuschreibung sei – es wurde also zwischen der Ordnung der Dinge und der Ordnung der Erkenntnisse unterschieden.[4] Die anthropologische Variante des Universalismus war aber so beschaffen, dass die Erkenntnis wieder mit der Natur zusammenfiel, just in der Frage: Was ist der Mensch?
Das besondere Eigene diente für die okzidentalen Philosophen allmählich als Muster des Menschen, des allgemeinen menschlichen Seins, mit einem Gegenpart. So konnte etwa Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte schreiben:
„Der Neger stellt (...) den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar: von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muss man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will; es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.“[5]
Der ontologische Universalismus lebt heute – von metaphysischen Denksystemen einmal abgesehen – in rassistischen und kulturalistischen Konzepten sowie im abstrakten Gemälde des „autonomen Subjekts“, das bereits an mehreren Stellen Risse bekommen hat.[6]
Allgemeingültigkeit gegen kulturelle Relativität: Der epistemologische Universalismus entzündet sich an der Frage nach dem Entstehungs- und Gültigkeitsmodus der Wahrheit. Der Empirismus-Rationalismus-Streit oder die Konstruktivismus-Realismus-Debatte stellen dabei eher Nebenschauplätze dar. In dem rezenten Streit zwischen (de-)konstruktivistischen und essenzialistischen Positionen wiederum wird zwar erkenntnistheoretisch argumentiert, den Gegenstand des Streits bildet aber die ontologische Frage nach dem Wesen der Differenz – eine Frage, die mit jener nach dem Subjekt zusammenfließt: Handelt es sich bei Differenz-Kategorien wie Geschlecht oder Ethnizität um (sprachliche) Konstrukte oder um anthropologische/biologische Konstanten?
Den „genuin“ epistemologischen Universalismus finden wir hingegen in der Behauptung, dass es wahre Aussagen gebe, die „kontexttranszendent“ (etwa kulturneutral) gültig seien, und zwar in dreierlei Hinsicht:
1. Die kontextuellen Bedingungen ihrer „Auffindung“ und Formulierung sind den wahren Aussagen äußerlich, ihre Wahrheit ist von solchen Bedingungen unvoreingenommen.
2. Sie sind zwingend allgemeingültig: überall und immer, solange sie nicht falsifiziert worden sind.
3. Dass diese Gültigkeit (noch) nicht von allen erkannt worden ist, ändert nichts am Wahrheitsgehalt wahrer Aussagen: sie sind trotzdem für alle gültig.
Wissenschaftlich wahre Sätze gehören demnach ebenso dazu wie philosophische Evidenzen, die nach einem wissenschaftlichen Verfahren (rationelle Argumentation, logische Konsistenz, methodische Nachvollziehbarkeit etc.) gewonnen wurden.
Dieser Behauptung steht jene „kulturalistische“[7] und kulturrelativistische These diametral entgegen, der zufolge es keine wahre Aussage geben könne, die nicht kulturell bedingt sei. Alles, was mit Wahrheit zu tun hat, besitzt einen kulturellen Kontext und kann nur darin begriffen werden: von seinen Entstehungs- und Verbalisierungsbedingungen über seinen Gültigkeitsradius bis hin zu seiner Überprüfbarkeit und Überzeugungskraft.
Menschenrechte gegen Recht auf Kultur: Der ethische Universalismus kann bis in die Antike zurückverfolgt werden, wiewohl seine drei brisantesten Schübe im 16. Jahrhundert (während der Kolonisierung Amerikas), nach dem Zweiten Weltkrieg und in den „humanitären Interventionen“ unserer Gegenwart stattfanden, wie Immanuel Wallerstein in seiner jüngsten Publikation nachzeichnet[8].
Dass Moralvorstellungen – verstanden als Sittlichkeit – kulturelle Züge aufweisen, ist sogar Hegels philosophischem System inhärent. Nietzsches genealogische Rückführung des christlich geprägten Guten auf das aristokratisch geprägte Kriegerische ist eine entlarvende und auf Stände bezogene Spielart dieser Einsicht. In der „weltbürgerlichen Absicht“ Kants hingegen fühlt sich der ethische Universalismus – auch heute noch – ganz heimisch. Wie sehr der ethische Universalismus mit dem ontologisch-anthropologischen seiner Zeit verzahnt war, zeigt Kants eigene anthropologische Nomenklatur: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.“[9]
Darin zeigt sich, zumindest aus heutiger Sicht, der partikularistische Unterbau des vermeintlich das ganze Universum umfassenden Universalismus in all seiner Deutlichkeit. Natur und Recht schließen einander aus, wenn es um die Natur der „Anderen“ geht. Ein Kurzschluss folgt: Wer meine Vorstellungen von Moralität nicht teilt, befindet sich im Naturzustand und verdient nicht den Namen „Mensch“, ergo kann er gar keine Moral haben. Der „Naturmensch“ ist die Ausnahme, der meine Moralität auch nicht mehr gelten muss: „(…) Es ist die Grundlage der Sklaverei überhaupt, dass der Mensch das Bewusstsein seiner Freiheit noch nicht hat und somit zu einer Sache, zu einem Wertlosen herabsinkt. Bei den Negern sind aber die sittlichen Empfindungen vollkommen schwach, oder besser gesagt, gar nicht vorhanden.“[10]
Seine unantastbare Aura verdankt der ethische Universalismus dem Konzept, das seit dem 18. Jahrhundert Menschenrechte heißt, nach dem Zweiten Weltkrieg ein völkerrechtliches Regelwerk samt internationalen Einrichtungen geworden ist und in dessen Namen seit anderthalb Jahrzehnten Kriege geführt werden. Wallerstein erblickt eine argumentative Kontinuität zwischen der kolonialistisch-missionarischen Expansion des 16. Jahrhunderts und den „humanitären Interventionen“ unserer Tage. Vier Argumente dienen als universalistische Legitimation für die systematische Gewaltanwendung – so Wallerstein – seit dem theologischen Streitgespräch zwischen den Spaniern Juan Ginés Sepúlveda und Bartolomé de Las Casas über die „Indio-Frage“ um 1550: 1. Barbarei der anderen; 2. Unterbinden von Praktiken, die universelle Werte verletzen; 3. Verteidigung Unschuldiger; 4. Schaffung der Möglichkeit, universelle Werte (Naturrecht resp. Demokratie, Menschenrechte …) zu verbreiten.[11] Dass dem universalistischen Konzept der Ethik in vielen Regionen der Welt partikularistische Rechtfertigungen der lokalen Machtverhältnisse gegenüber stehen, erschwert freilich die Entkräftung solcher Argumente. Als religiöse Gebote, kulturelle Eigenart oder „Asian values“ titulierte Menschenrechtsverletzungen, die aus einem „Recht auf eigene Kultur“ abgeleitet werden, sind Wind auf die Mühlen des ethischen Universalismus.
Universalismus
des Hausverstands
Ontologischer, epistemologischer und ethischer Universalismus: transkulturelle Konzeptionen von Subjekt, Wahrheit und Handeln. Dieser Trias des vernunftbezogenen Allgemeinen steht eine Vielzahl von verstreuten Einwänden gegenüber, die auf den Vorrang des Partikularen pochen, ein Recht auf Kultur einfordern und die Kontextualität von Subjekt, Wahrheit und Handeln postulieren. Dass diese widerständige, in großen Teilen der Welt jedoch machterhaltende Rede an den „historischen Diskurs des Rassenkriegs“ (Foucault)[12] erinnert, ist wohl kein Zufall, wollte Foucault mit seiner genealogischen Beschreibung doch auf zeitgenössische Nachläufer dieses Diskurses hindeuten. Damals wie heute haben wir es mit universalistischen, herrschenden, nivellierenden Sieger-Reden auf der einen, mit partikularistischen, kolonisierten, aufbegehrenden Diskursen von Besiegten auf der anderen Seite zu tun. Was Foucault „römische Geschichte“ nennt, ist hier die von Menschenrechten flankierte westliche Rationalität; was dort als „Rassenkrieg“ (später: Klassenkampf) begriffen wurde, die treibende, unterirdisch schwelende Kraft hinter dem Frieden von Verträgen, ist hier der hegemoniale Kampf, den Subalterne und Minderheiten gegen die Macht des Eurozentrismus, des neuen Imperiums oder gegen die Mehrheit führen. Die von Differenz und Identitätspolitik motivierte „Rehistorisierung der Vergessenen“ nimmt heute den Platz ein, den einst – so Foucault – die „jüdische Geschichte“ für sich beansprucht hatte.
Und doch ist gegenwärtig keine der beiden Positionen, weder der westliche Universalismus noch der mannigfaltige Partikularismus, in ihrer bisherigen Form gefragt. Wir werden Zeuginnen und Zeugen einer Auflösung: nicht so sehr der des Universalismus – das hatten wir bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt –, sondern seiner Widersacher: des Kulturrelativismus, des Partikularismus und des Minoritären. Die Krise der „neuen sozialen Bewegungen“ und der „postmodernen Moralitäten“ zieht nun eine Wiederkehr des Universalismus nach sich, diesmal als versöhnliche Position der Mitte. Nicht mehr das autonome Subjekt mit seiner allgemeingültigen Wahrheit und seinen kulturtranszendenten moralischen Werten spricht die universalistischen Zauberformeln. Paradoxerweise tut dies nun das mehrfach dezentrierte, eingebettete, kontextualisierte Subjekt mit seinem fragmentierten Wissen und seiner Skepsis gegenüber der Moral. Weniger mit der abendländischen Konzeption der Vernunft, dafür aber mit dem Hausverstand ausgestattet, sagt es uns, dass wir den Universalismus nun selber bräuchten. Müde von den Strapazen des aufreibenden Partikularismus, mahnt es uns vor einer Indifferenz gegenüber dem Leid in der globalisierten Welt ebenso wie vor der Vereinnahmung durch den Neoliberalismus. In der Tat erfahren Menschen vielerorts von Staatswillkür geprägte Unterdrückung, konfessionelle Gewalt und Diskriminierung. Und in der Tat ist „Ethno“ en vogue – auf dem Markt der Moralitäten, der Identitäten und der Waren gleichermaßen.
Durchaus auch theorieimmanente Gründe hat die Suche nach einem neuen Universalismus. Denn beide Pole dieses Wettstreits führen in ihrer logischen Konsequenz bestenfalls auf Holzwege. Der relativistisch-partikularistische Lehrsatz etwa, alles sei relativ, ist paradoxerweise eine Aussage mit Universalitätsanspruch – und das ist seit der Antike bekannt. Ein Paradoxon ist es aber auch, dass die Behauptung, die Wahrheit und die Menschenrechte seien allgemeingültig, selbst weder verifizierbar noch falsifizierbar ist und somit eine Behauptung bleibt – davon einmal abgesehen, dass jeder Universalismus wenn nicht auf partikulare Interessen, so zumindest auf kulturell geformte Vorstellungen zurückgeht.
Die Liste der neuen Universalismen, die der Hausverstand als versöhnliche, vermittelnde Auswege aus Aporien, politischen Vereinnahmungen, segmentierenden und entsolidarisierenden Identitätspolitiken sowie aus ethischer Indifferenz vorschlägt, ist relativ lang: Wir finden darauf einen „wiederholenden Universalismus“ (Walzer), einen „Universalismus als Horizont“ (Laclau), einen „strategischen Universalismus“ (Gilroy), ein „Restaging the Universal“ (Butler), eine „singuläre Universalität“ (Badiou) oder einen „universellen Universalismus“ (Wallerstein).[13]
Kritik
am Universalismus
An den berühmten Satz von Marx lässt die Lage denken, weltgeschichtliche Tatsachen und Personen würden sich vielleicht doch im Hegelschen Sinne wiederholen, aber das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce[14]. Der neue Universalismus des Hausverstands, den gerade kritische Geister vorschlagen, hat etwas Farcehaftes an sich.
Eine binäre Struktur lässt sich jedenfalls nicht auf diese Weise überwinden. Was solcherart „entsorgt“ wird, der Partikularismus, erinnert an die „Aufhebung“ der bipolaren Welt – mit dem Ergebnis, das wir es nun mit nur einer allmächtigen Universalmacht zu tun haben, die im Namen der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte Kriege führt. Das Aufgehobene hat die Aufhebung überlebt; der Universalismus ist mit all seiner Macht zurück. Was hier als Lösung angeboten wird, wirft dieselben Fragen erneut auf, um deren Lösung es ging.
Was tun, wenn der Partikularismus wahrlich keine haltbare Position ist und der neue Universalismus letztendlich der Universalismus in neuem Gewand zu sein scheint?
Gehen wir zum Anfang zurück, zum Sophisten und Philosophen: Trasymachos verwies auf den Universalismus des partikularen Interesses, auf eine moralische Heuchelei, auf den Willen zur Wahrheit, der den Mächtigen in die Hände spielte. Was aber Trasymachos dieser Ethik entgegensetzte, war kein partikularistischer Wertekanon. Er hat keine andere Macht zu rechtfertigen gesucht; er war kein Partikularist, kein Kulturrelativist; es ging ihm nicht einmal um das Besondere. Er war ein Diagnostiker und Kritiker. In seinem Versuch der Entlarvung finden wir den Gestus der modernen Intellektuellen wieder – was ihnen der Universalismus in rezenter Zeit (durch Diffamierung der kritischen Tätigkeit als „nützliche Idiotie im Dienste der Diktatoren“) streitig macht.
Es geht weder darum, einen wie auch immer gearteten Partikularismus zu verteidigen oder dem Kulturrelativismus das Wort zu reden, noch geht es darum, durch strategische Tricks dem Universalismus seinen machthungrigen Geist auszutreiben oder einem „wahren“ Universalismus, der noch kommen mag, den Weg zu bereiten. Der Gestus des Sophisten ist einfach: Es geht um die Kritik des Universalismus, unabhängig davon, ob dieser als Rede der Mächtigen auftritt oder als Wille zur Macht in der Rede der Aufbegehrenden. Die Schwierigkeit, die intellektuelle Kompetenz erfordert, liegt darin, den jeweiligen Modus einer solchen Universalismuskritik zu entwickeln oder zu bestimmen, vorhandene kritische Wege zu beschreiten oder neu zu bahnen: damit das Kritisierte nicht – wie oft auch – der Kritik das eigene Spiegelbild aufprägt, damit die Universalismuskritik nicht zu einem Partikularismus wird. Denn das ist der Ursprung jedes späteren Universalismus.
Mir wäre es lieber, wir würden die Rückkehr des Sophismus feiern als jene des Universalismus. Auch als Farce.[1] Platon, Politeia. Sämtliche Werke, Bd. II., Darmstadt: WBG 2004, 338c.
[2] Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt /M., Berlin, Wien: Ullstein 1982, S. 11f.
[3] Der Universalismus-Gedanke kommt sowohl in außereuropäischen Philosophietraditionen als auch auf anderen Gebieten des Wissens vor – wenn auch nicht immer explizit und oft unter anderen Namen. Aus nahe liegenden Gründen will ich mich hier nur auf die okzidentale Philosophie beschränken.
[4] Vgl. Hakan Gürses, Libri catenati. Eine historisch-philosophische Untersuchung der Sekundärdiskurse, Wien: WUV 1996.
[5] Georg W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Stuttgart: Reclam 1975, S. 155. Weiter unten werde ich mich nochmals mit dem anthropologischen Aspekt des ethischen Universalismus befassen.
[6] Eine sehr gute Schilderung dieses Prozesses stellen die „fünf De-Zentrierungen des Subjekts“ dar: Stuart Hall, Die Frage der kulturellen Identität, in: ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument 1994, S. 180-222,193 ff.
[7] Vgl. Dirk Hartmann/Peter Janich (Hg.), Die Kulturalistische Wende. Zur Orientierung des philosophischen Selbstverständnisses, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998.
[8] Immanuel Wallerstein, Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus, Berlin: Wagenbach 2007.
[9] Immanuel Kant, zitiert nach Heinz Kimmerle, Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Hamburg: Junius, 2002, S. 58.
[10] Georg W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Stuttgart: Reclam 1975, S. 158.
[11] Wallerstein, op. cit., S. 14 ff.
[12] Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Suhrkamp: Frankfurt/M. 1999, S. 82 ff. In zwei Vorlesungen aus dem Jahr 1976 beschreibt Foucault einen Diskurs, der im frühen 16. Jahrhundert aufkam, einen antagonistischen „Rassenkrieg“ zwischen den Herrschenden und Geherrschten konstatierte und teilweise von der im Niedergang befindlichen Aristokratie übernommen wurde. Aus diesem historischen Diskurs, so Foucault, entstanden im weiteren Verlauf zwei weitere, die ganz gegensätzliche Richtungen nahmen: die Theorie des Klassenkampfs und die Rassenlehre.
[13] Vgl. Michael Walzer, Lokale Kritik – globale Standards. Hamburg: Rotbuch 1996; Ernesto Laclau, Universalismus, Partikularismus und die Frage der Identität, in: ders.: Emanzipation und Differenz, Wien: Turia + Kant 2002, S. 45-64; Paul Gilroy, Against Race: Imagining Political Culture Beyond the Color Line, Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press 2000; Judith Butler, Das Universale auf die politische Bühne bringen. Hegemonie und die Schranken des Formalismus, in: Junge World, Subtropen ‚6/10, Oktober 2001: http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/41/sub01a.htm (23. 4. 2007); Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus. München: Sequenzia 2002 und Wallerstein, op. cit. Differenziertere Antworten auf die Universalismus-Frage gibt indessen das interkulturelle Philosophieren; hier ist besondere das Polylog-Konzept von Franz M. Wimmer zu erwähnen, vgl. Franz M. Wimmer, Interkulturelle Philosophie, Wien: WUV 2004. Eine weitere Gegenüberstellung im Rahmen der Menschenrechts-Debatte finden wir zwischen Moral und Politik. Vgl. hierzu Mathias Thaler, Gründen, Fundieren, Rechtfertigen. Eine Untersuchung moralischer Argumente im Feld des Politischen, Unveröff. Dissertation, Wien 2006.
[14] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW Bd. 8. Berlin: Dietz-Verlag 1956 ff, S. 115.