Christian Swertz: Computer und Bildung. Eine medienanalytische Untersuchung der Computertechnologie in bildungstheoretischer Perspektive.

Abstract

Computerechnologie als digitale elektrische Kalklsprachtechnologie ist ein kaltes Medium, daß in Bildungsprozessen ein spielerisches, unverbindliches Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Welt bewirkt.

Das ist das Ergebnis dieser Arbeit. Ausgangspunkt der Untersuchung ist der Wirbel, den Computertechnologie, anders als etwa Telefone, in der praktischen und theoretischen Pädagogik verursacht hat. Dabei werden zunächst Anlässe für diesen Wirbel im Kontext der Pädagogik gesucht. Die untersuchten Bereiche sind der Wirtschaftsbereich, die Politik und der private Bereich.

Für den Wirtschaftsbereich ist festzustellen, daß aus der Verbreitung der Computertechnologie in Unternehmen eine pädagogische Relevanz nur für den Weiterbildungsbereich abgeleitet werden kann. Der Umfang der angebotenen Weiterbildung im EDV - Bereich ist jedoch überschaubar. Im Politikbereich ist das Ergebnis eindeutig. Zwar wird Computertechnologie in der Politik verwendet. Zur Aufgabe für die Pädagogik wird Computertechnologie dadurch jedoch nicht. Anders sieht das im Privatbereich aus. Nutzungsdaten zeigen jedoch, daß der Stellenwert der Computertechnologie in Relation zu anderen Beschäftigungen gering ist. Auch dies rechtfertigt keine besondere Relevanz der Computertechnologie für die Pädagogik.

Als pädagogischer Anlaß zur pädagogischen Beschäftigung mit der Computertechnologie wird dann die Verwendung im Bereich der Didaktik untersucht. Computertechnologie wird als Lehrautomat, als Kommunikationsmittel, bei Simulationsspielen, als Präsentationsmedium und als Meßgert verwendet. Diese Möglichkeiten werden jedoch nur selten genutzt. Warum also beschäftigt sich die Pädagogik so intensiv mit der Computertechnologie?

Diese Frage lßt sich mit den im ersten Abschnitt verwendeten Zugängen offenbar nicht beantworten. Eine andere Herangehensweise ist nötig. Es genügt nicht, Medien wie den Computer als ußeren Anlaß pädagogischen Handelns aufzufassen. Medien stehen im Kern jeder Pädagogik; Medien sind dem Bildungsprozeß immanent. Der Ansatzpunkt muß daher eine Untersuchung des Effekts von Medien auf Bildungsprozesse sein. Die Frage ist: Wie verändert Computertechnologie die Bildung des Menschen?

Um diese Frage zu beantworten ist zunächst ein Medienbegriff erforderlich, mit dem die Effekte der Computertechnolgie im Bildungsprozeß analysiert werden können. Ein solches Instrument wird hier neu entwickelt. Medien werden bestimmt durch die Relation zwischen physikalischer Dimension, semiotischer Dimension und menschlicher Tätigkeit. Als weitere Merkmale von Medien werden die Temperatur, die Serialität, die Linearität, die mediale Reflexivität und die mediale Wissensverbreitung bestimmt. Damit wird ein differenzierter Medienbegriff vorgelegt, der es erlaubt, Computertechnologie in Relation zu anderen Medien zu analysieren und mit dem der Stellenwert von Medien im Bildungsprozeß am Beispiel der Computertechnologie nachgewiesen wird.

Mit dem Medienbegriff wird die Veränderung der Bildung des Menschen analysiert. Bildung wird im Anschluß an Meder verstanden als Prozeß der Ausbildung eines Verhältnisses zu sich selbst, zur Gesellschaft und zur Welt. Medien sind in diesem Prozeß das Mittlere zwischen dem Menschen und dem, woran sich Bildung vollzieht. Die Eigenschaften der physikalischen und semiotischen Dimension des Mediums wirken im Bildungsprozeß auf die Tätigkeit des Menschen.

Aus dieser Sicht sind zwei Fragen zu stellen: Welche Eigenschaften zeichnen das Medium Computertechnologie aus? Und wie verändern diese Eigenschaften das Verhältnis zu sich selbst, zur Gesellschaft und zur Welt, wenn Computertechnologie als Medium in Bildungsprozessen verwendet wird?

In der physikalischen Dimension sind Computer als elektrische digitale Turingautomaten konstruiert. Hauptkennzeichen von Turingautomaten ist die Universalität. Auch als digitale Medien sind Computer universell, weisen aber einen Bruch gegenüber kontinuierlichen Daten auf.

Die Effekte der physikalischen Dimension der Computertechnologie auf sich Bildende werden in Relation zu anderen Medien sichtbar. Um Computertechnologie mit anderen Medien vergleichen zu knnen wird McLuhans Unterscheidung zwischen heißen und kalten Medien herangezogen. Heiße Medien sind detaillreich und sprechen wenige Sinne an, kalte Medien sind detailarm und sprechen mehrere Sinne an.

Durch die Elektrizität und der Digitalität bringt Computertechnologie das heiße Alphabet zur Implosion. Die Linearität und die Serialität des Buchdrucks finden sich in der Computertechnologie nicht wieder. Computertechnologie lßt durch die hohe Geschwindigkeit elektronischer Turignautomaten lineare Vorgänge gleichzeitig erscheinen. Ebenso ist Computertechnologie ein Medium, daß serielle Vorgänge spezialisiert. Computertechnologie ist ein paralleles und spezielles, d.h. ein kaltes Medium. Diese Effekte werden an der Integration der Computertechnologie in das Fernsehen und das Telefon untersucht.

Diese Eigenschaften der Computertechnologie haben weitreichende Auswirkungen auf den Bildungsprozeß. Die Wirkungen werden an den Effekten der medialen Temperatur von Medien gezeigt. Heiße Medien wie das gedruckte Buch haben einen abkühlenden Effekt, sie distanzieren, kalte Medien wie das Fernsehen haben einen aufheizenden Effekt, sie involvieren. Das wird zum einen an der Aufhebung der Serialität des Buchdrucks sichtbar. Bildung wird mit der Computertechnologie nicht wie mehr an immer gleichen Büchern, sondern an individualisierten Lernmaterialien vollzogen. Die Uniformierung durch das Medium bleibt aus, der Bildungsprozeß wird individualisiert. Durch die Parallelität der Computertechnologie verliert die lineare, systematische Wissensanordnung ihren Reiz zugunsten topologischer Strukturen.

Aus diesen Wirkungen auf den Bildungsprozeß ergeben sich Konsequenzen für die Didaktik. Um diese Konsequenzen zeigen zu können wird die Unterscheidung von heißen und kalten Unterrichtsmethoden eingeführt. Heiße Methoden wie die Vorlesung distanzieren; kalte Methoden wie das Seminar involvieren. Kalte Medien oder kalte Methoden stoßen nun bei Menschen, die an heiße Medien gewöhnt sind, auf Ablehung. Kalte Medien sind für kalte Kulturen unverständlich. In einer vom heißen Buchdruck geprägten kalten Kultur stßt die kalte Computertechnologie daher auf Ablehung. Für eine vom kalten Fernsehen geprägte heiße Kultur ist Computertechnologie dagegen ein adäquates Medium. Da die Jugendkultur heute maßgeblich vom Fernsehen geprägt ist, stellt Computertechnologie in Kombination mit heißen Unterrichtsmethoden ein akzeptables Medium dar.

In der semiotischen Dimension handelt es sich bei der Computertechnologie um Kalkülsprachtechnologie. Wichtigstes Kennzeichen von Kalkülsprachen ist der fehlende Bezug zur physikalischen Welt oder zu einer Metasprache. Durch diese Reduktion wird es mglich, daß Computertechnologie Sprache abarbeitet. Computertechnologie kann jede Befehlsfolge abarbeiten, die in einer Kalkülsprache als Algorithmus formuliert ist; die semiotische Dimension der Computertechnologie ist in diesem Sinne dynamisch.

Da auf diese Weise Kalkülsprachen simuliert werden knnen, eröffnet die Computertechnolgie ein durch Superkalkülzeichen verbundenes Netzwerk simulierter Automaten. In diesem Sinne eröffnet Computertechnologie virtuelle Rume. Da dieser virtuelle Raum keinen Bezug zu einer Metasprache oder zur physikalischen Welt aufweist, herrscht im virtuellen Raum der Computertechnologie Beliebigkeit. Verantwortung braucht nicht übernommen zu werden.

Diese Eigenschaft legt es aus pädagogischer Sicht nahe, Computertechnologie als Spielzeug zu begreifen. Um dies genauer untersuchen zu knnen, wird zum Zweck der Medienanalyse ein Spielzeugbegriff entwickelt. Damit wird gezeigt, daß es sich bei der Computertechnologie in der Tat um ein Spielzeug handelt. Diejenigen, die Computertechnologie als Medium der Bildung verwenden, werden zu Spielerinnen und Spielern.

Neben der Nutzung als semiotisch dynamisches Medium, daß Sprache abarbeitet, kann Computertechnologie auch als semiotisch statisches Medium, als Informations- und Kommunikationstechnologie verwendet werden. Wenn Computertechnologie als IuK - Technologie verwendet wird, werden Zeichen an Computertechnologie gebunden, aber nicht abgearbeitet - so wie das auch bei der Luft oder dem Papier der Fall ist.

Computertechnologie als IuK - Technologie simuliert Medien. Um die mit einer Simulation verbundenen Veränderungen abbilden zu knnen wird der Begriff der medialen Reflexivität eingeführt. Anhand der medialen Reflexivität werden die Wirkungen der Computertechnolgie auf die zeitliche und räumliche Wissensverbreitung untersucht. Dabei zeigt sich am Beispiel von Textverarbeitung, Hypertext und Telefon, daß Computertechnologie die räumliche Wissensverbreitung forciert, die zeitliche Wissensverbreitung dagegen erschwert. Die Transport- und Übertragungsgeschwindigkeit von Zeichen wird erhöht, die Haltbarkeit und die Bedeutung pro Zeichen sinken. Die Zeichen verlieren damit an Verbindlichkeit.

Für die sich Bildenden bedeutet dies, daß Zeit gleichsam verschwindet, zur Punktzeit wird. Die Gestaltbarkeit von sozialen Räumen nimmt zu. Damit wird die Orientierung in einer heterogenen Zeit und in wechselnden Gruppen zur Bildungsaufgabe. Die Verbindlichkeit der physikalischen Welt gerät mit der Computertechnologie dagegen aus dem Blick.

Computerechnologie ist also eine digitale, elektrische Kalkülsprachtechnologie, d.h. ein kaltes Medium, daß in Bildungsprozessen ein spielerisches, unverbindliches und involvierendes Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Welt bewirkt. Wann sollte ein solches Medium in Bildungsprozessen eingesetzt werden?

Die Absicht dieser Arbeit kanne es nicht sein, ein abgeschlossenes Urteil über Computertechnologie und Bildung zu fällen. Es geht um Aufklärung über Computertechnologie, um Mittel, die ein überlegtes Urteil über Computertechnologie erlauben und so einen vernünftigen, dem distanzlosen Reflex überlegenen Gebrauch der Computertechnologie ermöglichen. Computertechnologie muß nicht verwendet werden. Menschen entscheiden selbst, ob sie Computertechnologie oder ein anderes Medium verwenden.

Hinweise für die Entscheidung über den Einsatz von Computertechnologie können hier nun gegeben werden. Computertechnologie stellt, das hat die Untersuchung gezeigt, eine bestimmte Art von Wissen in den Mittelpunkt. Zu empfehlenist daher, Computertechnologie als Medium zu verwenden, wenn das Medium zum Wissen paßt.

Symbolträchtiges, mystisches oder religiöses Wissen, daß tiefe Bedeutung und Sinn übermittelt und an Orte oder Zeichen gebunden ist, die eine tiefe Bedeutung haben, läßt sich mit der Computertechnologie nicht übermitteln. Wenn es um Sinn oder um Verantwortung geht, ist das Gespräch und die persänliche Begegung, so wie v. Hentig (1996: 191ff.) es empfiehlt, vorzuziehen.

Für die Übermittlung entmystifizierten, dynamisierten und objektivierten Wissen ist Computertechnologie gut geeignet. Damit ist Computertechnologie prädestiniert für die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens. Auch für den spielerischen, unverbindlichen Umgang mit anderen Menschen und mit Gegenständen ist Computertechnologie ein geeignetes Medium.