Christian Swertz

Was das Medium mit dem Wissen macht. McLuhan und die Wissensorganisation.

Einleitung

Aus meinem Bürofenster sehe ich auf den Spielplatz der Bielefelder Laborschule. Es ist Frühstückspause und der Spielplatz ist voller Kinder, die herumlaufen, klettern und schaukeln. Mehrere Kinder sind auf die Schaukel geklettert, andere geben Anschwung oder stehen neben der Schaukel und gestikulieren. Ein Bild, bei dem mir als Pädagogen viele Fragen einfallen: Warum steht eine Schaukel auf dem Schulspielplatz? Was lernen die Kinder in der Pause? Was kommt in der Schaukel zum Ausdruck? Welche kulturellen Gehalte werden implizit tradiert? Dass eine Schaukel schaukelt und nicht wippt ist trivial. Aber worin unterscheidet sich z.B. eine Schaukel von einem Klettergerüst? Die Interpretation der Eigenbewegung der Schaukel als Metapher für unsere mechanisierte Gesellschaft, in der wir von Maschinen bewegt werden, ohne uns selbst zu bewegen, deutet die Reichweite der Fragen an. Erwachsene schaukeln selten. Sie spielen mit Fernsehern, Computern usw. Diese Spielzeuge1 enthalten wie die Schaukel ein implizites Wissen. Um das implizite Wissen in Medien geht es in diesem Artikel.

Medien enthalten explizites und implizites Wissen. Das explizite Wissen wird als Zeichen an die symbolische Dimension eines Mediums gebunden. Das implizite Wissen wird in die physikalische Dimension des Mediums eingebaut. Die physikalische Dimension enthält im Gebrauch geltende Spielregeln für die Rezeption der symbolischen Dimension. Diese Spielregeln werden meist habitualisiert. Um das Sprachspiel zwischen Medien vernünftig spielen zu können, ist es erforderlich, diese Spielregeln explizit zu machen und bei der Organisation des expliziten Wissens zu beachten.

Dazu werden hier die Arbeiten der Toronto School herangezogen. Für die aufgeworfene Frage relevant sind vor allem die Arbeiten von Innis und McLuhan, weniger die von Postman und deKerckhove. Wegen der Besonderheiten von McLuhans Arbeiten ist zunächst eine Annäherung an seine Denkstruktur als Grundlage für das Verständnis seiner Arbeiten erforderlich. Die Besonderheiten von McLuhans Denkstruktur machen es erforderlich, seine Arbeiten nicht zu rezipieren, sondern sie auf Grundlage einer Medientheorie neu zu formulieren. Daher wird hier im zweiten Abschnitt zunächst ein Medienbegriff vorgelegt. Davon ausgehend wird anhand der Arbeiten von McLuhan und seiner Unterscheidung von heißen und kalten Medien sowie der Arbeiten von Innis und seiner Untersuchung von medialer Zeit und medialem Raum die Sichtweise der Toronto School vorgestellt. Anschließend werden Konsequenzen für die Wissensorganisation diskutiert.

McLuhan lesen

McLuhan ist bekannt für seinen aphoristischen Stil und seine analogistische Argumentation. Enzensberger bemerkt deshalb 1970, dass McLuhan unfähig zu jeder Theoriebildung sei (Enzensberger 1970: 177). McLuhan wollte jedoch, so die in der aktuellen Rezeption vorherrschende Auffassung, keine Theorie im wissenschaftlichen Sinne präsentieren, sondern eine dem Zeitalter der Elektrizität angemessene Form des Denkens vorstellen (Kloock/Spahr 2000: 41). Sein Stil ist demnach Konzept. Das ist allerdings nicht überzeugend. Wenn der Stil Konzept ist, die Theorie aber trägt, muss durch eine Reformulierung in einem anderen Stil der theoretische Gehalt herausgestellt werden können. Das ist bisher nicht gelungen. Insofern ist Enzensbergers Vermutung nicht widerlegt. Wenn McLuhan aber tatsächlich unfähig oder unwillig zur Theoriebildung war, können Gründe dafür in seiner Denkstruktur zu suchen sein.

Biografische Darstellungen legen nahe, dass bei McLuhan - bei aller Vorsicht, die eine solche lediglich auf Biografien gestützte Aussage erforderlich macht - eine mehrjährige, wahrscheinlich chronisch fortschreitend verlaufende psychische Erkrankung vorlag. Im folgenden wird eine diagnostische Einschätzung der psychischen Störung, die bei McLuhan möglicherweise vorgelegen hat, versucht, um klären zu können, inwieweit eine Symptomatik vorlag, die McLuhan auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit beeinflußt haben könnte. Insbesondere in der von Marchand vorgelegten Biografie2 finden sich Hinweise auf Störungen des Affekts, der Stimmung, des Antriebs sowie Hinweise auf psychotische Symptome wie eingeschränktes Abgrenzungsvermögen und inhaltliche und formale Denkstörungen (Größenideen, wahnhafte Überzeugungen bis hin zur Entwicklung eines komplexen Wahnsystems) sowie daraus resultierende Verhaltensauffälligkeiten. Für die hier vermutete Beeinträchtigung der wissenschaftlichen Arbeit sind insbesondere die psychotischen Symptome relevant.

Für McLuhans eingeschränktes Abgrenzungsvermögen finden sich in Marchands Darstellung verschiedene Hinweise. McLuhans hatte die Neigung, unkritisch übergroße Mengen an Material zu sammeln und dieses Material seinen Ideen unterzuordnen, ohne sich mit Details zu beschäftigen und die Einordnung zu prüfen. Marchand schreibt: „Sein [McLuhans, C.S.] Spurenmaterial war so umfangreich, daß er unmöglich anhalten und jedem einzelnen Hinweis nachgehen konnte“ (Marchand 1999: 153). So sammelte McLuhan Werbeanzeigen, die er mit Kommentaren kistenweise ablegte. Eine Kiste aus dieser Sammlung gelangte Ende der 40er zu McLuhans Verlag. Sein Lektor fand in der Kiste ein fünfhundertseitiges Manuskript nebst hunderten von kommentierten Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten vor; nach McLuhans Angaben 0,01% des von ihm gesammelten Materials (Marchand 1999: 160). Ein Eingrenzung auf eine relevante Auswahl war McLuhan nicht möglich.

Marchand berichtet auch, dass McLuhan die Tendenz hatte, „die eigenen Ideen und 'Wahrnehmungen' ständig zu wiederholen“ (Marchand 1999: 314). McLuhan wies einen starken Rededrang auf. Er war z.B. bekannt dafür, die ganze Nacht ohne Pause zu reden und auch weiterzusprechen, wenn Gäste schon eingeschlafen waren (Marchand 1999: 264). Solche auch bei psychosehaften Denkstörungen auftretenden Verhaltensauffälligkeiten zeigten sich bei McLuhan auch bei anderen gesellschaftlichen Auftritten, die von Marchand wiederholt als bizarr beschrieben werden. Zumindest zeitweise scheint er durch inhaltliche Denkstörungen in seinem Kontaktverhalten beeinträchtigt gewesen zu sein. Er neigte dazu, wenn er von bestimmten Ideen gefesselt war, geradezu „besessen“ zu wirken und seine einmal begonnenen Ausführungen zielstrebig weiterzuverfolgen und diesem so verhaftet zu sein, daß er sie auch auf deutliche Impulse von außen nicht siutationsangemessen unterbrechen konnte.

So versuchte McLuhan anläßlich einer Podiumsdiskussion zu Thesen Fryes, die McLuhan vehement ablehnte, Flahiff, einen der Diskussionsteilnehmer, in stundenlangen Gesprächen dazu zu bringen; nicht seinen eigenen, sondern McLuhans Beitrag als seinen in die Diskussion einzubringen. Flahiff berichtet, dass McLuhan von der Auseinandersetzung mit Frye „wie besessen ... von okkulten Ritualen“ (Frye; nach: Marchan 1992: 158) gewesen sei. Auch auf Flahiffs distanzierte Reaktion hin lies McLuhan nicht von seinen Versuchen ab.

Ein anderes Beispiel ist ein Vortrag, in dem McLuhan seinen typischen Stil aus unsystematisch verbundenen ungeprüften Tatsachenbehauptungen verwendete. Auf Einwände eines renommierten Kollegen antwortete er mit der Bemerkung: 'Meine Ideen gefallen Ihnen nicht? Ich habe noch andere' (Marchand 1999: 192). Diese Reaktion auf kritische Einwände war typisch für McLuhan. Er konnte es, wie Marchand schreibt, nicht ertragen, wenn man seine Gedanken hinterfragte (Marchand 1992: 193). Er hatte zwar ein Redetalent, konnte jedoch kaum zuhören. So berichtet ein Seminarteilnehmer einmal, daß es kaum zu Diskussionen kam, weil McLuhan ununterbrochene Monologe hielt und kritische Nachfragen gewöhnlich nach 30 Sekungen abbrach um mit seinem Vortrag fortzufahren (Marchand 1999: 98).

In seiner Begeisterung für Neues folgte McLuhan jeder Idee und ordnete alles, was er sah, dieser Idee unter; wobei er zugleich die Reichweite seiner Ideen überschätzte. So war er davon überzeugt, im Epyllion (einer kürzeren Form des Epos) das Geheimnis der Interpretation der gesamten abendländischen Kultur gefunden zu haben (Marchand 1999: 153). In solchen Thesen deuten sich überwertige bis wahnhafte Überzeugungen an.

Wahnhafte Überzeugungen liegen bei unbeirrbarem Überzeugtsein von objektiv Irrealem vor. Als einfacher Wahneinfall kann McLuhans Überzeugung gesehen werden, daß die persönlichen Mitteilungen in Tageszeitungen Botschaften über Zeiten und Orte schwarzer Messen enthielten. Seine realitätsfern - mystische Überzeugungen äußerten sich auch darin, dass er der Überzeugung war, dass die Geheimgesellschaften Rituale und Liturgien ausübten, um sich mit „geheimen geistigen Kräften in Verbindung zu setzen, die in überzeitlichen Gesetzmäßigkeiten existierten“ (Marchand 1999: 155). Auch die Opposition von Hochschulkollegen interpretierte McLuhan als Ausdruck der Macht von Geheimgesellschaften, die seiner Überzeugung nach auch an Hochschulen ihr Unwesen trieben. Er sah es als Fehler an, seine Ansichten in frühen Schriften dargelegt zu haben, so daß die Geheimgesellschaften vor ihm gewarnt waren und ging davon aus, dass es deswegen immer schwieriger wurde, seine Schriften zu veröffentlichen. McLuhan war davon überzeugt, dass zu seiner Zeit alle Lebensbereiche von elitären Gemeingesellschaften beherrscht werden (Marchand 1999: 154f.). In diesen Überzeugung findet sich der unmittelbare Ausdruck der paranoiden Färbung seines Wahns.

McLuhans Überzeugung, die Ideen von Geheimgesellschaften in den Schriften zahlreicher Schriftsteller wiederzufinden (Marchand 1999: 154), kann als Hinweis für den weiteren Ausbau der anfänglich einfachen Wahneinfälle zu einem komplexen Wahnsystem gewertet werden. Dazu trug auch seine intensive Beschäftigung mit den Freimaurern und ihren Ritualen bei. Er war von der Idee der Freimaurerei „geradezu besessen“ (Marchand 1999: 153). McLuhan war davon überzeugt, daß „der amerikanische Bürgerkrieg in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung zwischen der nördlichen und der südlichen Sektion der Freimaurer gewesen war“ (Marchand 1999: 155). Die Verzögerung bei der Vereidigung Kennedys interpretierte er als Trick des katholischen Kennedys, die für Freimaurer entscheidende Mittagszeit zu umgehen. Den Freimaurern lastete er auch seine persönlichen Rückschläge an. So war er davon überzeugt, dass die Freimaurer Buchbesprechungen in wichtigen Zeitschriften kontrollierten und sein eigenes Zeitschriftenprojekt verhinderten (Marchand 1999: 156). In seiner Auseinandersetzung mit den Freimaurern wird McLuhans paranoider Wahn als inhaltliche Denkstörung deutlich.

Dieses Wahnsystems beeinträchtigte auch McLuhans Alltag. Briefe wurden nicht abgeschickt, wenn nur zwei vorlagen, weil McLuhan von der Wirkung der Zahl drei überzeugt war. McLuhan weigerte sich, mit 13 Personen ein Abendessen einzunehmen (Marchand 1999: 154). Er wähnt sich durch die Zahl der Gäste in Gefahr. Diese Angst ist zugleich ein Beispiel für die affektive Beeinträchtigung McLuhans durch seine wahnhaften Erlebnisweisen. In seinen späteren Jahren führte McLuhans Wahnhaftigkeit auch zu apokalyptischen Überzeugungen, zu einer „Sehnsucht nach der Apokalypse“ (Marchand 1999: 340). So äußerte er 1976 die Befürchtung, dass die Gesellschaft kurz von einem Blutbad steht, das schlimmer sein würde als Dachau und Buchenwald. Auch glaubte an die Apokalypse in Form der Offenbarung einer Wiederkehr des Gottessohnes.

Insofern Marchands Darstellung über McLuhans Persönlichkeit zutreffend ist, liegt bei McLuhan eine mehrjährige, eher chronisch progredient verlaufende psychische Erkrankung vor. Sie äußert sich in den beschriebenen inhaltlichen Denkstörungen in der Form von wahnhaften Überzeugungen mystisch-religiöser Art mit deutlichem paranoidem Erleben. Aus zunächst einfachen Wahneinfällen entwickelte sich im zeitlichen Verlauf ein komplexes Wahnsystem, das McLuhan anhaltend in seiner Alltagsgestaltung beeinträchtigte. Eher milde Formen von formalen Denkstörungen drückten sich aus in dem übermäßigem verhaftet sein an Ideen. Allerdings finden sich in den Darstellungen über McLuhan keine Hinweise auf Halluzinationen oder schizophrenietypische, spezifische formale Denkstörungen. Eine schizophrene Psychose lag demnach nicht vor.

Psychotische Störungen treten in unterschiedlichen Formen auf. Häufig ist ein phasenhafter Verlauf, d.h. der Betroffene hat Phasen, in denen die psychotische Symptomatik akut ist und ganz im Vordergrund seines psychischen Erlebens steht. Daneben git es Phasen, in denen eine Beeinträchtigung durch die akute Symptomatik nicht zu beobachten ist. Andere Krankheitsverläufe sind durch eine kontinuierlich bestehende, meist im zeitlichen Verlauf eher zunehmende Symptomatik gekennzeichnet. Die meisten Psychosekranken fühlen sich in ihrem kognitiven Leistungsvermögen beeinträchtigt. Dies betrifft oft die gedankliche Flexibilität, die Konzentrationsfähigkeit und die Ausdauer. Typisch sind Schwierigkeiten, zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen unterscheiden zu können. Auch diese Symptome können phasenweise oder kontinuierlich auftreten.

Leider kann aus Marchands Text nicht sicher abgeleitet werden, in welcher Form psychosenahe Symptome bei McLuhan auftraten. Am ehesten scheint ein kontinuierlicher Verlauf vorzuliegen. Deutlich ist, dass er zumindest einen Teil der ihn erreichenden Informationen und Erlebnisse wahnhaft verarbeitete und in diesem Bereich nur sehr eingeschränkt kritikfähig war. Dies muss seine Kritikfähigkeit in anderen, vom Wahn nicht betroffenen Bereichen nicht beeinträchtigt haben. Klar ist, dass seine mystisch-religiösen Überzeugungen (Geheimgesellschaften, die Freimaurer, aber auch die katholische Religion betreffend) wahnhaft ausgestaltet waren. Deutlich wahnhafte Züge prägten auch den Umgang mit mindestens einem Teil seiner Hochschulkollegen, so dass die Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs hiervon überlagert war. Unklar ist, welche Bereiche (die es sicher gab) nicht vom wahnhaften Erleben geprägt waren; in welchem z.B. wissenschaftlichen Bereich seine Kritikfähigkeit also voll erhalten war.

Es muss davon ausgegangen werden, dass McLuhan in seiner Fähigkeit zu wissenschaftlicher Arbeit zumindest phasenweise eingeschränkt war. Nun korrumpiert McLuhans Erkrankung seine Schriften nicht. Es wird jedoch deutlich, dass seine Arbeiten nicht als eine raffiniert verpackte Theorie gelesen werden können. Seine Arbeiten müssen kritisch interpretiert und die haltbaren Thesen im Rahmen einer Medientheorie neu formuliert werden. Es ist hier also erforderlich, einen unabhängig von McLuhan formulierten Medienbegriff zugrunde zu legen.

Medien

Bei Medien handelt es sich um Gegenstände, die von Menschen zu Zeichen gemacht werden. Medien weisen eine pragmatische, eine semiotische und eine physikalische Dimension auf. Diese Dimensionen stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Ein dialektisches Verhältnis liegt nach Lay dann vor, wenn die Elemente voneinander unterschieden werden können, nicht ohne einander sein können und eine Veränderung des einen Elements zu einer Veränderung des anderen Elements führt (Lay 1996: 18).

Die Unterschiedlichkeit zwischen physikalischer und semiotischer Dimension zeigt sich darin, dass mit der semiotischen Dimension etwas anderes bezeichnet werden kann als die physikalische Dimension (z.B. bei dem Zeichen 'Baum'). Allerdings ist ein physikalischer Gegenstand nur insofern als physikalischer Gegenstand zu erkennen, als er mit einem Zeichen als solcher bezeichnet wird, und für das Zeichen ist wiederum ein physikalischer Gegenstand als Zeichenträger erforderlich. Die physikalische Dimension begrenzt die semiotische Dimension, in der wiederum Regeln zum Gebrauch der physikalischen Dimension bestehen, so dass die Veränderung der einen Dimension auch eine Veränderung der anderen zur Folge hat.

Das Selbst des Menschen kann nicht mit der semiotischen Dimension gleichgesetzt werden, und Zeichen sind schon wegen des physikalischen Trägers nicht beliebig verwendbar. Menschen benötigen Zeichen für ihre Bildung. Zeichen werden erst durch menschliche Tätigkeit zu Zeichen. Wenn ein Mensch die Art seiner Tätigkeit verändert, ändert sich auch seine Verwendung der Zeichen. Wenn Zeichen verändert werden, z.B. indem sie im gesellschaftlichen Kontext anders verwendet werden oder an einen anderen physikalischen Gegenstand gebunden werden, ändert sich auch der Mensch, der die Zeichen verwendet.

Das Selbst des Menschen ist nicht mit der physikalischen Dimension von Medien identisch. Und die physikalischen Eigenschaften von Gegenständen können vom Menschen nicht beliebig verändert werden. Menschen benötigen die physikalische Dimension von Medien im Bildungsprozess. Physikalische Gegenstände werden erst durch menschliche Tätigkeit zu einer Dimension von Medien. Menschen können die physikalische Dimension von Medien, d.h. die den Gebrauch als Medium begrenzenden Eigenschaften von Gegenständen verändern.

Da die drei Dimensionen in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen, kann eine Dimension nicht ohne die anderen verstanden werden. Die Analyse von Medien muss alle drei Dimensionen von Medien berücksichtigen. McLuhan untersucht jedoch lediglich die physikalische Dimension von Medien und ignoriert die semiotische und pragmatische Dimension.

Die physikalische Dimension von Medien

Mit der Unterscheidung von heißen und kalten Medien und der abkühlenden und aufheizenden Wirkung von Medien hat McLuhan eine Terminologie eingeführt, die zum Verständnis der physikalischen Dimension von Medien geeignet ist. Allerdings hat McLuhan diese Terminologie mit Analogien und Beispielen eingeführt. Er verwendet dabei verschiedene Merkmale von heißen und kalten Medien, die diesen Aspekten jedoch nicht systematisch zugeordnet werden. Hier werden in Anlehnung an McLuhan Detailreichtum/Detailarmut, Anzahl der angesprochenen Sinne, Spezialität/Serialität sowie Linearität/Parallelität unterschieden.

Heiße und kalte Medien

McLuhan definiert lediglich heiße Medien: "Ein 'heißes' Medium ist eines, das nur einen der Sinne allein erweitert, und zwar bis etwas 'detailreich' ist. Detailreichtum ist der Zustand, viele Daten oder Einzelheiten aufzuweisen" (McLuhan 19641992: 35). Detailreichtum und die Erweiterung der Sinne ist dabei ausschließlich auf die physikalischen Dimension von Medien bezogen, die McLuhan für das einzig relevante Moment hält. McLuhan liefert nun keine weitere Erklärung für 'heiße Medien', sondern bietet eine Fülle von Beispielen an (Tab. 1).

Heißeres Medium Kälteres Medium S.
Radio Telefon 35
Fotografie Karikatur 35
Film Fernsehen 35
Phonetisches Alphabet Gesprochene Sprache 35
Phonetisches Alphabet Hieroglyphen 36
Phon. Alphabet Ideographische Schriftzeichen 36
Papier Stein 36
Buch Zwiegespräch 36
Radio Zeitung 43
Plattenspieler Fernsehen 46
Fotografie, Radio, Film Comics 195
Radio Fernsehen 342
Buchdruck Comics 352
Buchdruck Fernsehen 352
Zeitung Fernsehen 3533
Radio Fernsehen 356
Film Fernsehen 363
Buchdruck Handschrift 364

(Tab. 1: McLuhan 1992)

Interpretiert man die Beispiele ausgehend von McLuhans knapper Begriffsbestimmung ist zunächst festzuhalten, dass die Unterscheidung von heißen und kalten Medien relational gedacht ist. Ein Medium ist nicht heiß, sondern heißer als ein anderes. So ist die Zeitung heißer als das Fernsehen, aber kälter als das Radio. Die verwendeten Merkmale sind Detailreichtum und Anzahl der angeprochenen Sinne. Daraus ergibt sich das in Abb.1 dargestellte Modell.

Detailreich
^
heißer
|
Ein Sinn <-- heißer ----+---- kälter --> Mehrere Sinne
|
kälter
v
Detailarm
(Abb. 1)

Detailreichtum liegt vor, wenn bei einem Medium mehr Details pro Raum als bei einem anderen Medium wiedergegeben werden können. Eine Fotografie spricht wie ein Comic nur das Auge an. Während jedoch ein Comic in der Tageszeitung ca. 50 lpi (lines per inch) aufweist, erreicht eine Fotografie ca. 1.500 lpi. Die Fotografie ist also detailreicher als der Comic und damit heißer. Der Kinofilm ist heißer als das Fernsehen, da das Bild mit höherer Auflösung und der Ton mit einem größeren Frequenzspektrum übertragen wird. Die Anzahl der angesprochenen Sinne ist größer, wenn mehr Sinnesorgane (Auge, Ohr, Tastsinn, Gleichgewicht, usw.) angesprochen werden. Fernsehen spricht das Auge und das Ohr an, das Buch dagegen nur das Auge. Das Fernsehen ist daher kälter als das Buch. Ein Flugsimulator spricht Auge, Ohr, Gleichgewichtssin und Tastsinn an und ist daher kälter als das Fernsehen.

Linearität und Parallelität

Linearität und Parallelität bezieht sich auf die zeitliche Strukturierung der sinnlichen Wahrnehmung durch die physikalische Dimension von Medien. Bei linearen Medien erfolgt die Wahrnehmung in einer zeitlichen Abfolge kleinerer Schritte. Bei parallelen Medien werden die Inhalte gleichzeitig rezipiert. Diese beiden Aspekte des Medienbegriffs sind wie die Unterscheidung zwischen heißen und kalten Medien relativ gefaßt.

Die Linearität als Eigenschaft des phonetischen Alphabets in Relation zur gesprochenen Sprache besteht darin, daß die Worte in Buchstaben zerlegt und hintereinander aufgereiht werden. In Relation zum Buchdruck ist das Fernsehen paralleler. Während eine Szene in einem Buch nach und nach beschrieben wird, wird im Fernsehen die Szene auf einmal präsentiert. Die Wirkung eines linearen Mediums ist eine andere als die Wirkung eines parallelen Mediums. Während lineare Medien Abfolgen nahelegen, begünstigen parallele Medien ganzheitliche Gestalten. McLuhan schreibt dazu: "Das geschriebene Wort entziffert in zeitlicher Abfolge, was im gesprochenen Wort sofort und uneingeschränkt gegeben ist" (McLuhan 1992: 97).

Ein Beispiel für Wirkung der Linearität (das McLuhan von Lewis Mumford übernommen hat) ist die Wirkung des Alphabets auf die Wahrnehmung der Zeit. Das Alphabet bewirkt durch die lineare Anordnung der Buchstaben die Wahrnehmung der Zeit als Dauer und die Messung dieser Dauer mit Uhren (McLuhan 1992: 170ff.). Ein Beispiel für die Wirkung eines parallelen Mediums ist die Wirkung der Fotografie auf die Wahrnehmung des Reisens in Relation zum Buchdruck. Eine Reisebeschreibung liefert keine genaue Vorstellung eines fremden Ortes. Dagegen erweckt eine Fotografie den Eindruck, daß der neue Ort schon bekannt ist. Die Fotografie bewirkt bei Reisenden, daß sie kaum Unbekanntes oder Neues erfahren. Sie sehen das, was sie vorher schon auf der Fotografie gesehen haben. Auf der Reise entsteht keine Distanz mehr zu den Dingen, sie erscheinen genau so, wie sie zu Hause auf dem Foto auch ausgesehen haben. Auf dem Foto und auf der Reise wird dieselbe Gestalt wahrgenommen (McLuhan 1992: 229f.).

Serielle und spezielle Medien

Mit dem Begriff der Serialität hat McLuhan die Wirkung der Reproduktionsverfahren als ein Moment der physikalischen Dimension von Medien in den Blick genommen. Serialität als Eigenschaft eines Mediums liegt dann vor, wenn die immer gleiche Exemplare produziert werden. Bei einem speziellen Medium werden jeweils besondere Exemplare produziert. Serialität ist z.B. eine Eigenschaft des Buchdrucks in Relation zur Handschrift. Wenn Bücher mit der Hand geschrieben werden, wird eine kleine Zahl spezieller Exemplare angefertigt. Mit dem Buchdruck wird die Vervielfältigung mechanisiert. Es entsteht eine Serie identischer Bücher. Das gedruckte Buch unterscheidet sich vom handgeschriebenen durch die exakte und massenhafte Wiederholung des immer gleichen.

Die Wirkung heißer und kalter Medien

McLuhans Interesse gilt nun der Wirkung, die von heißen und kalten Medien ausgeht. Diese ist ihrer medialen Temperatur entgegengesetzt: Kalte Medien heizen auf, heiße Medien kühlen ab. Ein Beispiel dafür ist der Vergleich von Buchdruck und Fernsehen. Der Buchdruck ist in Relation zum Fernsehen ein heißes Medium. Das wird schon am Detailreichtum deutlich: Der Buchdruck erreicht über 1.200 dpi (dots per inch); ein Fernseher ca. 50 dpi4.

Die gedruckte Schriftsprache ist mit der hohen Auflösung, in der die Buchstaben wiedergegeben werden, detailreich. Die detailreichen Buchstaben machen keine Ergänzung durch die Leserinnen und Leser erforderlich. Weil nur der Sehsinn angesprochen wird, müssen die Leserinnen und Leser andere sinnliche Wahrnehmungen aus sich heraus ergänzen, z.B. Geräusche und das Aussehen von Personen bei Szenen in einem Roman. Die Nicht - Sehsinne werden gleichsam abgetrennt. Weil sie viel aus sich heraus ergänzen müssen und die Informationen nicht vom Medium präsentiert werden, distanzieren sich die Rezipientinnen und Rezipienten vom Text. Der Abstand zum Medium wird groß, die Rezipientinnen und Rezipienten werden vom Medium distanziert - sie kühlen ab.

Das Fernsehen ist in Relation zum gedruckten phonetischen Alphabet ein kaltes Medium, da Hörsinn und Sehsinn angesprochen werden und das Fernsehen diesen Sinnen wenig Details liefert. Wegen des geringen Detailreichtums müssen die Zuschauerinnen und Zuschauer mehr Details selbst ergänzen. Sie müssen Bild und Ton vervollständigen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden gleichsam in das Medium involviert. Da das Fernsehen Hörsinn und Sehsinn anspricht, müssen weniger eigene Vorstellungen ergänzt werden. Weil das Medium vervollständigt werden muß und die Rezipientinnen und Rezipienten wenig Informationen aus sich heraus ergänzen müssen, werden die Rezipientinnen und Rezipienten in das Medium involviert. Sie werden beteiligt und damit aufgeheizt.

McLuhan diskutiert die Wirkung heißer und kalter Medien nun in Relation zu der Kultur5, in der ein Medium verwendet oder eingeführt wird. Dabei unterscheidet er zwischen explosiven und implosiven Kulturen. In explosiven Kulturen dominieren heiße Medien; in implosiven Kulturen dominieren kalte Medien. Diese Unterscheidung wird anhand von Beispielen eingeführt (Tab. 2).

Explosive Kultur (heißes Medium dominiert) Implosive Kultur (kaltes Medium dominiert) S.
atomistisch, kontinuierlich 22 Gestalt, Bildsymbol 23
Uniformierung Aufhebung der Uniformierung 29
Vorlesung Seminar 36
mechanistische Weltanschauung organischer Mythos 38
Zentralisierung Dezentralisierung 51
Atomistisches Wissen Koordination des Wissens 51
Unterordnung unter die Willenskraft großer Männer Unterordnung unter den eigenen Intellekt 89
Trennung von Denken und Fühlen Einheit von Denken und Fühlen 202
Trennung von Arbeit und Alltag Verbindung von Arbeit und Alltag 393

Tab.2: McLuhan 1992: Seitenzahl jeweils am Ende der Zeile)

Dabei wird von McLuhan implizit vorausgesetzt, dass die Temperatur des dominanten Mediums die Kultur bestimmt. Der historische Wechsel dominanter Medien führt zu kulturellen Umbrüchen.

Die herausragenden Eigenschaften einer implosiven Kultur (z.B. autonome Dorfgemeinschaften) sind Ganzheitlichkeit und dezentrale Strukturen. Eine explosive Kultur (z.B. Industriegesellschaft) tendiert zu Trennung und zentralen Strukturen. Auf ein anderes als das dominante Medium bereagiert eine Kultur nun mit Akzeptanz und Unverständnis (Tab. 3).

kaltes Medium heißes Medium
explosive Kultur Unverständnis Akzeptanz
implosive Kultur Akzeptanz Unverständnis

(Tab. 3)

Ein Beispiel ist der Umgang einer durch das Fernsehen dominierten Kultur mit Texten. McLuhan schreibt: "Sie [die Kinder C.S.] bringen dem Druck alle ihre Sinne entgegen, und der Buchdruck weist sie ab" (McLuhan 1992: 352). Das kalte Medium Fernsehen erzeugt bei Kindern, die viel Fernsehen, eine heiße Kultur. Wenn diese heiße Kultur mit heißen Medien wie dem Buchdruck konfrontiert wird, führt das zu Unverständnis. Die Fernsehgeneration versucht Texte mit gesamtpersönlicher Beteiligung zu lesen und erwartet vielfältige und gleichzeitige Ansprache die aufheizt. Statt dessen liefert der Buchdruck eine einheitliche und lineare Präsentation und spricht nur einen Sinn an, er kühlt ab - und stößt auf Unverständnis. .

Die Implosion von Medien

Nach McLuhan gibt es bei jedem Medium eine kritische Grenze, an der das System plötzlich in ein anderes umschlägt (McLuhan 1992: 49-56). Er formuliert den Ablauf allerdings nicht explizit, sondern erläutert ihn an einer Vielzahl von Beispielen. Der Kern der Beispiele ist: Ein Medium hat eine Eigenschaft und eine daraus resultierende Temperatur. Die Eigenschaft wird verstärkt, indem das Medium zur Botschaft eines anderen Mediums wird. Ein Medium wird zu einem anderen, indem z.B. das Telefon in das Internet integiert wird. Durch solche Kombinationen können Temperaturwechsel ausgelöst werden. Das heiße Medium wird zu einem kalten und umgekehrt.

Mit der Implosion ist die doppelte Bedeutung von McLuhans bekanntem Satz „Das Medium ist die Botschaft“ deutlich: Zum einen ist gemeint, dass es auf die Wirkung der physikalischen Dimension von Medien und nicht auf die semiotische Dimension (den Inhalt) ankommt. Zum anderen ist gemeint, dass ein Medium ein anderes enthält.

Zeit und Raum

Ein von Harold A. Innis diskutiertes Merkmal von Medien ist die Verteilung von Wissen in Raum und Zeit. Medien, die schwer, dauerhaft und schlecht zu transportieren sind begünstigen die Verteilung in der Zeit; Medien die leicht und gut zu transportieren aber nicht dauerhaft sind begünstigen die Verteilung im Raum (Innis 1997: 95). Innis nimmt wie McLuhan die Wirkung auf die Kultur in den Blick und belegt an zahlreichen historischen Beispielen, dass Medien, die sich besonders für die zeitliche Wissensverbreitung eignen, die Förderung von Ideen der Fortdauer, Religion und dezentraler politischer Macht mit sich bringen Die Medien, die sich besser für die räumliche Wissensverbreitung eignen, begünstigen dagegen die Stärkung von Verwaltung, Recht und zentraler politischer Macht.

Innis belegt diese Thesen u.a. an einer Analyse der Entwicklung des römischen Reiches. So steht um 200 v. Chr. Ägypten unter römischer Herrschaft. Das sichert eine ausreichende Versorgung des römischen Reiches mit dem in Ägypten produzierten Papyrus, das leicht herzustellen und zu beschriften und gut zu transportieren ist. Die Verwendung von Papyrus fördert im römischen Reich die Kodifizierung von Gesetzen, den Aufbau eines bürokratischen Verwaltungsapparates und die Kaiserverehrung. Es werden räumliche Probleme in den Mittelpunkt gerückt, zeitliche Probleme jedoch vernachlässigt (Innis 1997: 107). Papyrus weist eine Lebensdauer von etwa drei Generationen auf. Pergament ist demgegenüber wesentlich haltbarer (Innis 1997: 168). Es ist den Christen zu dieser Zeit gelungen, eine umfangreiche Sammlung christlicher Schriften auf Pergament aufzubauen. Konstantin wählt 330 Konstantinopel als neue Hauptstadt und vertritt die Interessen der christlichen Bevölkerung. Dadurch entsteht auf der Basis des Pergaments ein Gegengewicht gegen die Einflüsse der Bürokratie.

Innis nimmt mit seiner Darstellung lediglich die physikalische Dimension in Form der Transportgeschwindigkeit und der Haltbarkeit in den Blick. Eine Erweiterung der Perspektive auf die semiotische Dimension bringt die Übermittlungsgeschwindigkeit in den Blick.

Die Bedeutung der Zeichen

Die Bedeutung von Zeichen liegt in der semiotischen Dimension von Medien. Die in der semiotischen Dimension übermittelte Bedeutung pro Zeichen variiert mit den im Medium verwendeten Zeichen. Meder beschreibt die Strukturierung des sozialen Raums durch den semiotischen Raum der Medien als abhängig von der Übertragungsgeschwindigkeit der Zeichen und der Dichte der Zeichen, d.h. als abhängig von der Frage, wieviel Zeichen pro Zeit transportiert werden können und wieviel Bedeutung pro Zeichen transportiert werden kann (Meder 1995: 12f.). Als Beispiel nennt er Bilder, die mehr Bedeutung pro Zeichen transportieren als Buchstaben.

Die Übermittlungsgeschwindigkeit sinkt nun mit steigender Bedeutung pro Zeichen, weil der Codier- und Decodierungsaufwand steigt. Die physikalische Transportgeschwindigkeit und die semiotische Übermittlungsgeschwindigkeit stehen dabei in einem Zusammenhang. Medien, die sich besonders für die zeitliche Verbreitung von Wissen eignen, weisen eine relativ hohe Haltbarkeit auf. Damit ist in der Regel ein hoher Codier- und Decodieraufwand verbunden. Daher können nur wenige Zeichen transportiert werden. Das erfordert eine hohe Bedeutung pro Zeichen und damit eine geringe Übermittlugnsgeschwindigkeit. Medien, die sich gut für die räumliche Verbreitung von Wissen eignen, weisen eine geringe Haltbarkeit und eine hohe Transportgeschwindigkeit auf. Die Bedeutung pro Zeichen kann daher gering gehalten werden. Das führt zu einem geringen Codier- und Decodieraufwand. 6

Setzt man nun den zu übermittelnden Informationsgehalt als Konstante, erfordert eine geringe Transportgeschwindigkeit bei hoher Haltbarkeit eine hohe Bedeutung pro Zeichen. Mit Innis am Beispiel des frühen Christentums gesprochen: "Jedes Wort war mit tiefer Bedeutung, mit Mysterien und magischen Kräften angefüllt" (Innis 1997: 155). Dagegen erfordert eine hohe Transportgeschwindigkeit bei geringer Haltbarkeit eine geringe Bedeutung pro Zeichen. Das ist z.B. bei vernetzter Computertechnologie der Fall. Im WWW werden Zeichen nicht dauerhaft im anzeigenden System gespeichert, sondern in der Regel bei jedem Aufruf neu übertragen. Die Haltbarkeit im Speicher ist gering. Daher eignet sich vernetzte Comptuertechnologie vor allem für die räumlich, nicht aber für die zeitliche Wissensverbreitung. Die tiefe Bedeutung, die Mysterien und magischen Kräfte der Zeichen werden mit der Computertechnologie gleichsam ausgeblendet. Dieser Effekt wurde schon mit dem Buchdruck gegenüber der gesprochenen Sprache erreicht. Er wird von der Computertechnologie weiter vorangetrieben.

Mediale Aspekte der Wissensorganisation

Aus der hier vorgestellten Medientheorie ergeben sich für die Wissensorganisation mehrere Konsequenzen. Zunächst ist festzuhalten: Die mediale Dimension von Wissen muß in wissenschaftlicher Reflexion und professioneller7 Produktion von organisiertem Wissen berücksichtigt werden, da Wissen stets an Medien gebunden ist.

Die möglichen Erträge der entworfenen Terminologie für die wissenschaftliche Analyse der medialen Dimension der Organisation von Wissen wurden bereits deutlich. Für die praktische Frage, wie Wissen organisieren werden soll, lassen sich an der Unterscheidung von Medium, Kultur (Zielgruppe) und Wissen verschiedene Strategien aufzeigen. In der Regel ist Zielgruppe und Medium gegeben und der Inhalt wird angepasst; wenn z.B. ein Fernsehjournalist eine Reportage produziert oder eine Wissenschaftlerin einen Zeitschriftenaufsatz formuliert. Dabei erfolgt eine Antizipation der durch divergierende mediale Strukturen erzeugte Rezeptionsprozesse durch eine meist intuitive Anpassung der Inhalte, die habitualisiert wird (z.B. durch das Volontariat bei Journalisten oder Seminare zu „Techniken wissenschaftlichen Arbeitens“ bei Wissenschaftlerinnen).

Ein Beispiel für die Medienwahl bei gegebener Zielgruppenwahl gegebenem Inhalts ist die Übermittlung religiöser Wahrheiten. Wenn Sie z.B. tiefe religiöse Wahrheiten an Gläubige übermitteln wollen, empfiehlt sich keine Website, sondern ein Ritual. Wenn Sie wissenschaftliche Erkenntnisse über eine Religion bei Studierenden verbreiten wollen ist eine Website dagegen geeignet, erfordert aber einen für eine parallele Rezeption adaptierten Stil: Knapp schreiben und mit ikonischen Repräsentationen ergänzen (Nielssen 2000).

Es ist auch denkbar, Medien in der physikalischen Dimension gezielt so konstruieren, dass sie zu einem Inhalt und einer Zielgruppe passen. Ein einfaches Beispiel dafür ist das Herstellen von Exponaten im Museum. Komplexere Möglichkeiten eröffnet die Computertechnologie, bei der ein Algorithmus im Gebrauch als physikalische Dimension verstanden werden kann, wobei allerdings über die Eigenschaften elektrischer digitaler Turingautomaten nicht hinausgegangen werden kann.

Diskussion

Es ist zwar richtig, dass eine „Verfälschung der Inhalte durch Anpassung an physikalische Gegebenheiten“ (Jaenecke 2000) stattfindet. Die Anpassung von Inhalten an die physikalischen Gegebenheiten ist nach der hier vorgestellten Position jedoch nicht zu vermeiden, da jedes Medium eine physikalische Dimension aufweist, und daher nicht negativ zu werten, sondern als Aufgabe aufzufassen. Es geht darum, Wissen so zu organisieren, wie wir das wollen. Dabei müssen alle Dimensionen von Medien berücksichtigt werden.

Dass das nicht so einfach ist, wird allerdings daran deutlich, dass das, was wir Jaenecke schreibt: „Jedes medium hat seinen Anwendungsbereich, für den es gut geeignet ist; für alles, was darüber hinausgeht, ist es entweder schlecht oder garnicht geeignet“ (Jaenecke 2000). Diese Frage ist allerdings nicht zu beantworten, weil der Gebrauch eines Mediums Einfluß auf unsere Vorstellung von „Geeignet“ hat. Die Toronto School unterstellt einen materialen Determinisums. Diese Position greift zu kurz und übersieht wichtige Momente medialer Strukturen und Prozesse. Dennoch ergeben sich interessante Hinweise: Unsere Beziehungen zu uns selbst, zu anderen und zur Welt (Meder 1998) sind medial vermittelt und unterliegen daher auch den Einflüssen der physikalischen Dimension von Medien. Diesen Einflüssen können wir uns im Gebrauch eines Mediums nicht entziehen; Medien sind ein Moment der Grammatik unserer Sprachspiele. Allerdings unterschätzt die Toronto School mit ihrer deterministischen Sichtweise die Freiheit, die der menschliche Geist im Spiel mit und zwischen Medien entfaltet.

Literatur

Enzensberger, Hans Magnus (1970): Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch (20), S. 159-186.

Innis, Harold A. (1997): Tendenzen der Kommunikation. Wien, New York.

Jaenecke, Peter (2000): Email an die Mailingliste wiss-org@bonn.iz-soz.de am 21.12.2000

Kloock, Daniela; Spahr, Angela (2000): Medientheorien. 2. überarb. Aufl., München.

Lay, Rupert: Das Ende der Neuzeit. Düsseldorf 1996.

McLuhan, Herbert Marshall (1992): Die magischen Kanäle. Düsseldorf (u.a.).

Meder, Norbert (1995): Multimedia oder McLuhan in neuem Licht. In: GMK - Rundbrief 37/38, S. 8-18.

Meder, Norbert (1998): Neue Technologien und Erziehung/Bildung. In: Borrelli, M.; Ruhloff, J.: Deutsche Gegenwartspädagogik Bd. III. Hohengehren, S. 26-40.

Marchand, Philip (1999): Marshall McLuhan. Stuttgart.

Nielssen, Jakob (2000): Erfolg des Einfachen. München.

Oevermann, Ulrich (1999): Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Combe, A.; Helsper, W.: Pädagogische Professionalität. 3. Aufl., Frankfurt am Main.

Swertz, Christian (1999): Computer als Spielzeug. In: Spektrum Freizeit (2), S. 112-120.

Anmerkungen

1Zum Verständnis von Computern - d.h. von digitalen elektrischen Turingautomaten - als Spielzeug vgl. Swertz (1999).

2Die psychische Störung McLuhans wird hier an der biographischen Darstellung Marchands belegt. Marchand hatte Zugang zu den unveröffentlichten Tagebüchern McLuhans. Seine Arbeit kann daher als fundiert angesehen werden. Marchand selbst hat die psychische Auffälligkeit McLuhans gesehen und bemerkt, dass McLuhan „Gewinn aus seiner Phobie“ gezogen habe (Marchand 1999: 154). Marchand verwendet den Begriff der Phobie dabei eher im umgangssprachlichen Sinne, nicht in der enger umgrenzten psychopathologischen Bedeutung

3Daß die Zeitung einmal als heißes und einmal als kaltes Medium beurteilt wird zeigt das relative Verständnis der Unterscheidung zwischen heißen und kalten Medien: Im Vergleich zum Radio ist die Zeitung kalt; im Vergleich zum Fernsehen dagegen heiß.

4Die Auflösung eines Fernsehers läßt sich eigentlich nicht in dpi angeben, da die Anzahl der Bildpunkte unabhängig von der tatsächlichen Bildschirmgröße festgelegt ist, während beim Buchdruck bei größeren Seiten auch mehr Punkte dargestellt werden können. Die auch bei Computermonitoren übliche Schätzung in dpi (für das WWW wird z.B. üblicherweise mit 72 dpi gearbeitet) verdeutlicht jedoch in ausreichender Weise die Eigenschaft der physikalischen Dimension des Mediums.

5Der Begriff der Kultur wird von McLuhan vermutlich zunächst im Sinne von Nation gebraucht, aber auch in einem sehr weiten Sinne als Gesellschaft, Subkultur oder Individuum gedacht

6Fernsehbilder scheinen mit ihrem hohen Verbreitungtempo und einer hohen Haltbarkeit diese Differenz wieder aufzuheben. Die Haltbarkeit eines Fernsehbildes beträgt jedoch nur ca. 1/25 Sekunde, ist also relativ gering. Anders stellt sich die Haltbarkeit von Videobändern dar, die jedoch nicht so schnell zu verbreiten sind.

7Professionelles Handeln wird hier nach Oevermann (1999) verstanden als „der gesellschaftliche Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis unter Bedingungen der verwissenschaftlichen Rationalität“ (Overmann 1999: 80), d.h. als riskobehaftetes und wissenschaftlich legitimierungsbedüftiges Handeln.