Swertz, Christian; Wallnöfer, Elsbeth
Internet und Scham - Sensationen, Skurrilitäten und Tabus im Internet.
Wird sind korrupt.
Das ist leider weder skurril noch sensationell. Es zeichnet diesen Beitrag nicht einmal gegenüber den anderen Beiträgen dieses Bandes aus: Alle, die über Medien schreiben, sind korrupt; korrumpiert vom Gebrauch des Mediums, und hier gleich zweifach: vom Gebrauch des Buchdrucks und der vernetzten Computertechnologie. Schön wäre es, dies als wissenschaftliches Tabu ausweisen zu können – es gäbe die Chance auf eine Sensation; ein gehobener Impact-Faktor winkte am Horizont.
Nun ist dies nur ein Beitrag in einem Sammelband, und auch die Erkenntnis, dass Wissenschaft immer schon etwas voraussetzt (je nach Gusto: Bildung, Gesellschaft, Medien, Macht, etc.) ist nicht wirklich neu. Am Schreiben hat das fehlende Neue aber noch nie jemanden gehindert. Um unseren Korrumpteuren (vielleicht können wir ja wenigstens sprachlich skurril werden), die uns zum Schreiben dieses Beitrags eingeladen haben, nun nicht mit dem Hinweis auf die prinzipielle Ununtersuchbarkeit der Fragestellung zu antworten, wählen wir den traditionellen Weg: Wir bearbeiten die Frage nach Sensationen, Skurrilitäten und Tabus im Internet, indem wir eine andere beantworten:
Die Analyse von Sensationen, Skurrilitäten und Tabus im Internet erfordert angesichts der Komplexität der Fragestellung einen mehrmethodischen Zugang zum Feld. Wir wählen hier einen ethnografischen und einen systematischen Zugang. Im ersten Abschnitt untersucht Elsbeth Wallnöfer das Internet als rhizomatisches Gebilde, im zweiten Abschnitt analysiert Christian Swertz was das Medium Internet mit der Scham macht.
Kaum jemand wird noch Zweifel daran hegen, dass das Internet eine neue Form der Mitteilung, der Selbstdarstellung und der Selbstvergewisserung ist. Dies betrifft sowohl den Bereich der durch aktive visuelle Beteiligung via Web-Cams1 unterstützt wird, als auch jene Portale, in denen Texte in vorgebastelten Frames und Fotos einfach und schlicht eingestellt werden.
In jeder Hinsicht ist das Medium eine Entgrenzung sonstiger physikalischer mondialer Kategorien: man überwindet die für Präsenz/Anwesenheit so notwendige Schwerkraft, entzeitlicht sich in jeder Hinsicht und tritt von sich selbst weg – man verlässt den oftmals beschwerlichen Raum des Alltages und schickt sich und seine Lebensgeschichte hinaus in eine Welt der Möglichkeit, die mithin also nur virtuell besteht.
Das Faszinosum des Internet liegt folglich auch in der Kraft der Paradoxie: hier zu sein und weg zu sein. Da zu sein, so zu sein, potentiell zu sein: den Eindruck zu erwecken, so zu sein wie man sich hinaus vermittelt und gleichzeitig von sich weg zu sein. Man überantwortet sich damit Millionen von Menschen, wenn man sein Leben ausstülpt, aber man erleichtert sich auch bei gleichzeitiger körperlicher und seelischer „Nerdisierung“.1 Auf dem Portal www.muschi.de schreibt ein Johannes D. aus Mannheim Es ist nicht einfach eine Frau zu finden, die wie ich auf NS steht. Aber selbst bei dieser Neigung hatte ich hier noch eine große Auswahl. Treffe mich jetzt regelmäßig mit Susanne zu geilen Pee-Spielen. Nun sind Natursektspiele in der Tat keine übliche sexuelle Praxis, was auch folgerichtig bedeutet, dass Menschen mit Bedürfnissen außerhalb der „Normalität“ in diesen Foren Sicherheit und Erfüllung gewinnen können. Sicherheit die sich einstellt, sobald man sich im Kreis von Gleichgesinnten weiß, mithin verstanden weiß.2 Dies vermittelt auch Gernot L. aus Bonn. Er ist www.muschi.de dankbar, weil er nun ohne viel Stress regelmäßig zu seinen One-Night-Stands kommt.
Das Glück verstanden zu werden, ist die Chance, die Internetportale bzw. Weblogs bieten: Schwanzlustscher, Anhänger von griechischem Sex, Borderline-Patienten, lesbische Frauen, Tierzüchter usw., sie alle finden ihren Ort, an dem sie ihre Ängste, Wünsche und Kompetenzen deponieren können, wo sich Ängste egalisieren lassen, weil man in den gleichen Ängsten mit anderen aufgehen kann. Nicht selten bekommt man daher den Eindruck, hier hätten wir es mit einem Prozess existenziellen Seins im Werden zu tun. Auf dieser Seite möchte ich Euch gerne etwas über mich erzählen und wie ich zu meiner Zucht (Sucht!) gekommen bin ;-)3 Dies ist ein Satz einer Frau auf ihrem Portal, in dem sie ihre Vita, ihr Glücklichsein beschreibt, das unmittelbar mit der Anschaffung – nein nicht von Kindern, sondern von Meerschweinchen zu tun hat. Sie schildert eindrucksvoll, wie sie die Erlaubnis ihres Mannes bekommen hat, Tiere kaufen zu dürfen und mit welchem Aufwand sie diese Kreaturen jeden Tag versorgt, um sich am Ende selbstsicher zu bestätigen Sie lieben es! ;-)4 Das nun könnte man in der Tat mit „ich liebe mich“ paraphrasieren. In diesem Sinne ist das Internet das geeignete Werkzeug des Narziss und des Ungeliebten, auf jeden Fall ist es der absolute Ort der psychischen Verdichtung. Obwohl diese hyperpersonalistische Seite der Internetkultur nur eine Ansicht ist – die andere Seite hat den Informationismus zum Ausgangspunkt – steht sie symbolisch für das Medium.5
Das Internet ist ein rhizomatisches Gebilde entterritorialisierter Wesenheit, das in das Zeitalter der paradoxen Logik des Bildes (Virilio) und Wortes gehört.6 Mit dem Internet setzen wir die bisherigen linear gedachten, abendländisch interpretierten Modelle vom eigenen Leben und dessen Darstellung zeitweise außer Kraft. Wir haben keine Mitte mehr! Ähnlich den rhizomatischen Pflanzen gibt es keinen Anfang und kein Ende und wir egalisieren die klassisch-hierarchischen Machtgefüge, da Oben und Unten aufgehoben sind. Das Verhältnis Verleger-Autor, das einst als ein Qualitätsregulativ funktionierte, löst sich im und durch das Internet zugunsten der privaten Durchsetzungskraft auf. Alles kann und darf publiziert werden. Ich kann meine kannibalistischen Fressens- und Gefressenwerdenlüste ausbreiten und anbieten, ich kann mich einfach nur zum quatschen ausschreiben, ich kann ihnen meine Kinder nackt in der Badewanne zeigen, meine Amateurfotos, meine Gedichte und meine SMS-Sprüche offerieren. Das gesamte Spektrum physiologischer und psychischer Reife kann uneingeschränkt verheißen und die Persönlichkeit ausgetestet werden – die eigene und die der anderen.7 Infantile Lüste wie When a apple is green, it is ready to pluck, when a girl is fifteen, she is ready to FUCK8 stehen zur kreativen Verfügung. Letztlich entscheidet die Pfiffigkeit der Kriminalpolizei, was denn nun die Grenze des Erträglichen überschreitet.
In dieser Hinsicht ist das Internet der absolute Ort der Autonomie des Absurden und Skurrilen, Lustvollen, Perversen und exemplarisch für rhizomatische Verwachsen- und Verwuchertheit. Wir sind, sobald wir das Netz betreten frei und können uns rasend oft verteilen, wobei mir andere dabei helfen. Schrankenlos können wir nach allem fragen und alles suchen, sogar nach dem Horoskop der Jungfrau Maria. Wir werden es finden.9 Wir finden auch junge Frauen die sich – wahrscheinlich inspiriert von den künstlerischen Arbeiten Bettina Rheims – unter www.heilige-jungfrau.de angekleidet am Kreuz zeigen. Leidet Wie jener dort am Kreuz Und betet für Eure Peiniger Denn so will es Gott! Es ist eine unspektakuläre, harmlose möchtegern-blasphemische Seite, die ausschließlich ihrer Banalität wegen zu erwähnen ist. Denn selbst die Darstellung von Nichts findet im Internet einen optimalen Platz. Damit sind wir an einen Punkt angelangt, von dem aus wir sagen können, erkenntnistheoretisch bringt uns das Internet prima facie nicht weiter. Wahrscheinlich müsste man nach Art der negativen Theologie fragen, was es denn alles nicht ist, um zu einem Ergebnis zu kommen. Darum plädiere ich dafür, das Internet generell als mythischen Ort eines prälogischen wie logischen Zustandes auszuweisen. Denn auf diese Weise haben wir in ihm auch alle Ausdrucksformen menschlicher Entäußerungen vereinigt: Wissen, Ästhetik, Kreativität, Können, Denken, Kultur, Technik, Sprache, Phantastereien, Spekulationen, Perversionen usf. Der Kosmos der virtuellen Welt enthemmt und enttabuisiert nachgerade, weil er Distanz ist.
Die Zugriffsmöglichkeiten auf diese Welt jedenfalls sind enorm groß, möglicherweise auch, weil man die schöpfergleiche Macht hat, diese Welt mitzugestalten. Es scheinen viele Menschen reichlich davon Gebrauch zu machen.
Der Gebrauch des Internet ist dabei kaum von Tabus gebremst. Alle als Tabus bekannten Handlungen im Zusammenhang mit Sexualität, Tod, Fanatismus etc. sind innerhalb weniger Minuten zu finden, finden dort aber weder statt noch werden Tabus verletzt, die nicht vorher schon einmal verletzt worden sind: Theater sind als Tabubrecher schon lange kaum zu schlagen, obwohl das Fernsehen sich nach Kräften bemüht, gleichzuziehen. In beiden Fällen werden Tabus aber nicht im Alltag, sondern in einer inszenierten Form gebrochen. Auch im Internet bleibt es bei der inszenierten Form: Es werden zwar Bilder mit jeglichen Tabubrüchen gezeigt, aber ebenso wie Theaterbesucherinnen und -besucher, die einen Mord auf der Bühne sehen, davon ausgehen, einer Inszenierung beizuwohnen, die sie in der Regel durchaus von ihrem Alltag zu unterscheiden wissen, ist davon auszugehen, dass Internetbesucherinnen und -besucher zum Zwecke der Aufmerksamkeitssteigerung als Sensation inszenierte Tabubrüche in der Regel von ihrer Alltagswelt zu unterscheiden wissen.
Der mit dem Internet entstandene öffentliche Raum weist jedoch einen anderen Charakter als die bisher bekannten öffentlichen Räume auf, wie sie z.B. durch die von Mauern begrenzten Theater, die von Gebäuden begrenzten Marktplätze oder die von Tiefdruckmaschinen begrenzten Zeitungen geschaffen wurden. Die engen Grenzen der Theatermauern sind mit dem Internet auf die Grenzen der Erde ausgeweitet: Auf einem http – Server angebotene Dateien werden einem potentiell großen Publikum präsentiert. Gleichzeitig wird die Präsentation für mehr Menschen im öffentlichen Raum des Internets möglich, da das benötigte Kapital ist etwa im Vergleich zu einer Zeitung relativ gering ist.
Diese neue Form von Öffentlichkeit erfordert einen zweiten Blick auf das Internet: Sich selbst öffentlich zu exponieren ist für die meisten Menschen peinlich. Zwar ist das etwas, an das man sich durchaus gewöhnen kann – jede Schauspielerin und jeder Schauspieler, jede Lehrerin und jeder Lehrer (die ja auch auf einer Bühne auftreten) hat dies gelernt. Anfängerinnen und Anfänger neigen zu Lampenfieber, Aufregung und vielleicht zu Angst vor Buhrufen im Publikum, weil öffentliche Auftritte etwas sichtbar machen, was normalerweise verdeckt ist: Auf öffentlich dargestellte Menschen können wir hemmungslos den Blick richten; der private Mensch wird öffentlich, indem etwa die Kamera den Moderator in Großaufnahme zeigt und damit jeden Versuch, Spuren im Gesicht durch Schminke zu übertünchen gnadenlos an die Öffentlichkeit zerrt. Aber diese Krise wird mit hinreichender Übung zur Routine. Diese Routine erwerben nun immer mehr Menschen: Mit der zunehmenden Möglichkeit, sich selbst im Internet zu präsentieren wird es immer mehr Menschen möglich, sich ständig selbst öffentlich darzustellen, es scheint sogar so, dass das Internet die öffentliche Selbstdarstellung forciert. Die sich öffentlich Darstellenden erlauben damit den Blick der Öffentlichkeit auf sich selbst; umgekehrt erlangen die Internetnutzerinnen und -nutzer die Möglichkeit, den Blick auf andere zu richten. Dieser Blick ist aber nicht tabulos, sondern schamlos.
Auch private Räume im Internet sind nicht einfach identisch mit privaten Räumen in Gebäuden oder privaten Schriften. Und auch unser inneres Verhältnis zu uns selbst verändert sich, weil wir uns nicht ohne Entäußerung unserer selbst als uns selbst verstehen können. Das Verhältnis zu uns selbst ist jedoch mit dem Begriff des Tabus kaum angemessen zu fassen, da Tabus öffentliche Regeln sind, die nicht aus dem Verhältnis zu uns selbst hervorgehen. Ein zentraler Begriff, der das Verhältnis zu uns selbst besser erfasst ist der Begriff der Scham.
2.1 Die Struktur der Scham
Scham wird von Lietzmann bestimmt als „kurzfristiger Zustand der inneren Desorganisation“ (2003: 10). Damit ist nicht das einzelne Schamphänomen angesprochen, sondern die Struktur der Scham: In der Scham verliert der Mensch sein eindeutiges Verhältnis zu sich selbst und die Sicherheit über seine Identität. Die Struktur der Scham ist durch eine spezifische innere Desorganisation und eine spezifische Identitätskrise gekennzeichnet (Lietzmann 2003: 10). Die Überwindung dieser inneren Desorganisiertheit und der Identitätskrise kann zum Bildungsanlass werden, indem in der Überwindung der Scham die Identität erneut, aber eben anders als vorher wieder hergestellt wird. In der Scham macht das Selbst die Erfahrung seiner selbst als Anderer. Damit wird ein Aspekt aus der personalen Einheit des Menschen heraus gelöst, und zwar so, dass damit ein Kontrollverlust verbunden ist. Dieser Kontrollverlust spiegelt sich auch in der fehlenden äußeren Kontrollierbarkeit der Scham: Scham erleben kann nicht gezielt ausgelöst werden, sondern tritt unvorhersehbar auf. Scham stellt sich dem Geist als etwas Unverfügbares entgegen (Lietzmann 2003: 82). Dieses Unverfügbare verweist in der Scham auf das Andere meiner selbst, das mir nicht verfügbar ist.
Scham ist nun nicht nur etwas, das ein Individuum in seinem Inneren mit sich selbst ausmacht. Scham ist nicht unabhängig vom Anderen. Der Blick des Anderen ist, wie Sartre (1995) herausgearbeitet hat, ein wesentliches Moment von Scham. Insofern ist Scham auch auf ein Äußeres bezogen, d.h. abhängig von anderen Menschen. Und auch die alleine erlebte Scham kann als verinnerlichter Blick des Anderen verstanden werden, ein Moment, das an der Lektüre des eigenen Tagebuchs als möglicher Schamanlass sichtbar wird: Spätestens in der Schrift als überindividueller kultureller Leistung zeigen sich die Anderen in der Scham. In der Scham werden damit Anderes und Fremdes abgegrenzt. Scham erfüllt so eine identitätsbildende Funktion, sie ist ein Anlass zur Bildung der eigenen Persönlichkeit. Eine Funktion der Scham ist, den Menschen zu sich selbst zu bringen. Scham liefert einen Beitrag zur Ausbildung des Verhältnisses zu sich selbst und zu anderen im Bildungsprozess (Meder 1998).
Nun ist diese Funktion der Scham kein ahistorisches Moment, sondern unterliegt einem zeitlichen und räumlichen Wandel. Wann bei wem Scham ausgelöst wird ist empirisch höchst individuell und von einer Vielzahl von Faktoren abhängig (Kalbe 2002). Aus pädagogischer Sicht stellt sich damit die Frage, ob dieser Umstand systematisch genutzt werden kann. Nahe liegend wäre der Gedanke, in didaktischer Absicht Scham zu induzieren um Bildungsanlässe zu schaffen. Dafür wäre es allerdings notwendig vorhersagen zu können, ob Situationen Scham auslösen können oder nicht. Angesichts des inneren Beteiligt Sein, das stets auch nicht explizierbare Momente aufweist, ist dies jedoch systematisch nicht möglich. Daher kann es nicht darum gehen, didaktisch verwertbare Schamanlässe zu identifizieren, sondern darum, den Verschiebungen der Scham nachzugehen, die mit der ubiquitären Verbreitung der Computertechnologie einhergehen – und dies hier mit Blick auf das Internet. Insofern hier die Balance zwischen dem Verhältnis zu mir selbst und dem Verhältnis zu anderen betroffen ist, spielt Scham auch in das von Meder (1998) ausgewiesene reflexive Moment von Bildung hinein.
2.2 Medien und Scham
Werden Medien als Gegenstände verstanden, die von Menschen zu Zeichen gemacht werden (Swertz, 2001) ist klar, dass nicht nur Computertechnologie, sondern auch der Blick des Anderen ein Medium ist, das in der physikalischen Dimension aus Licht besteht und in dieser Hinsicht nicht letztlich von der schamauslösenden Bedeutung der semiotischen Dimension getrennt werden kann. Das aus sich selbst herausgetrieben werden ist nicht nur Wesensmerkmal des Blickes, sondern kann auch mit anderen Medien einhergehen: Die Lektüre selbst verfasster Texte etwa treibt den Menschen nach Humboldt (1979: 91) aus sich selbst heraus. Die Empfindung der Scham ist also auch abhängig vom Medium, das in der schamauslösenden Situation verwendet wird, und damit auch abhängig von der physikalischen Dimension der Mediums: So schäme ich mich angesichts des Angesehen Werdens durch Andere anders als angesichts meiner eigenen Tagebuchaufzeichnungen. Während der Blick des anderen zum einen auf die Sozialität des Menschen verweist und als synchrones Medium an die Gegenwart gebunden ist, verweist die eigene Tagebuchaufzeichnung auf die eigene Subjektivität und ist an die Vergangenheit gebunden.
Das Internet etabliert hier eine neue Struktur: Es fokussiert die Punktzeit in einem weltweiten Raum (Gendolla 1987) und damit eine spezifische Struktur in der Verständigung mit anderen und mir selbst. Die Empfindung von Scham ist mit dieser spezifischen Verschiebung der Grenze von Privatheit und Öffentlichkeit einer erheblichen Veränderung unterworfen. Diese Veränderung fügt sich ein in die Verschiebung der Grenzen von Involviertheit und Individualisierung, die mit der Verbreitung von Computertechnologie einhergehen: Computertechnologie ist in Relation zu Buchdruck und Fernsehen ein zugleich involvierendes und individualisierendes Medium.
Nach Seidler (1995: 39f.) manifestiert sich Scham, wenn im Vertrauten Fremdes begegnet und das Subjekt auf sich selbst zurückgeworfen wird. Das Vertraute ist nun weniger das Private, sondern der Andere, während ich mir selbst fremd werde. Die Intensität der Involviertheit durch die Computertechnologie verschiebt dabei die Aspektgrenzen, d.h.die Grenzen, an denen Scham erlebt wird. Unter der Bedingung des Buchdrucks ist die Aspektgrenze eine Grenze zwischen mir und dem in mir vorgestellten Anderen – der hochauflösende, aber nur visuelle Buchdruck forciert die Verinnerlichung des Anderen. Diese buchdruckinduzierte Distanz wird mit einer plötzlichen Nähe im schamauslösenden Blick des Anderen (Sartre 1993) durchbrochen.
Anders als der Buchdruck ist Computertechnologie ein Medium, das Involviertheit, mithin also Nähe induziert (Swertz 2001). Gleichzeitig ist es ein Medium, das öffentliches Dasein forciert. Es entsteht also eine öffentliche Nähe, in der die unter der Bedingung des Buchdrucks dominante Form von privater Distanz fehlt, die mit dem Blick des Anderen durchbrochen wird. Wenn aber der Blick des Anderen keine Distanz durchbrechen kann, kann er auch keine Scham auslösen. Damit gewöhnen sich Menschen, die das Internet als dominantes Medium verwenden, an andere Vorstellungen von Scham als die Menschen, die den Buchdruck als dominantes Medium verwenden. Bei Menschen, die vernetzte Computertechnologie als dominantes Medium verwenden, entsteht ein medialer Habitus, der auf Menschen, deren Schamerleben die Struktur des Buchdrucks spiegelt, schamlos wirkt.
Wenn nun der Scham eine identitätsbildende Funktion zukommt (Lietzmann 2003: 114f.) und unter der Bedingung der Computertechnologie als dominantem Medium Scham nicht im Durchbrechen privater Distanz, sondern im Durchbrechen öffentlicher Nähe empfunden wird, dann zeigt sich hier die Verschiebung der Bildung des Menschen unter dem Eindruck der Computertechnologie. Während mit dem Blick des Anderen, den ich verinnerliche, ich innerhalb meiner Selbst aus mir herausgetrieben werde, ist für den öffentlichen Menschen der Blick des Anderen veräußerlicht. Es entsteht weniger eine an Innerem als eine an Äußerem orientierte Persönlichkeit – eine empirische Hypothese, die eine eigene Untersuchung erfordert.
Dadurch, dass immer mehr Menschen zu öffentlichen Menschen werden verschiebt sich also die Funktion der Scham. Immer mehr Menschen müssen als öffentliche Menschen einen medialen Habitus entwickeln, der es erlaubt, öffentliche Entblößung nicht als Scham zu erleben. Damit wird in Bildungsprozessen nicht mehr das Verhältnis zu mir selbst, die Ausbildung meiner eigenen Kräfte zu einem proportionierlichen Ganzen forciert, sondern die feinen Unterschiede (Meder 1998) zu den Anderen. Es wird weniger wichtig, ein Verhältnis zu mir selbst aufzubauen; statt dessen rückt die Verortung in der Kultur, das Erzeugen von Aufmerksamkeit und die Inszenierung stärker in den Mittelpunkt. Ist es unter der Bedingung des Buchdrucks als dominantem Medium das öffentliche Dasein, das das unmittelbare Erleben stört und Scham auslöst (Lietzmann 2003: 112), ist das öffentliche Dasein unter der Bedingung der Computertechnologie als dominantem Medium der Normalfall. Die das Internet als dominantes Medium verwendenden Menschen sind bereits öffentlich bloßgestellt und haben einen dem angemessenen medialen Habitus entwickelt; die öffentliche Existenz ist der Normalfall. Eine öffentliche Bloßstellung wird unter diesen Bedingungen nicht mehr als schamhaft erlebt.
Damit ist klar, dass internetgeprägte Menschen die Erwartungen von buchdruckgprägten Menschen an das Scham Erleben nicht erfüllen. Ein gutes Beispiel dafür sind Partnerbörsen. Ein derzeit ausgezeichnetes Geschäft, an dem sich Millionen von Menschen schamlos beteiligen. Während solche Erfahrungen den medieninduzierten Wandel der Scham zumindest plausibiliseren und damit eine genauere empirische Untersuchung induzieren muss eine andere Frage hier auch theoretisch noch offen bleiben: Wann schämt sich ein Cybercitizen?
Literatur
Gendolla, Peter (1987): Auf dem Weg in die Punktzeit. In: Bamm´e, A. (u.a.): Technologische Zivilisation. München, S. 121-131.
Humboldt, Wilhelm von (1979): Natur und Beschaffenheit der Sprache überhaupt. In: ders.: Bildung und Sprache. Paderborn, S. 89-100.
Kalbe, Wolfgang (2002): Scham. Komponenten, Determinanten, Dimensionen. Univ. Diss.: Hamburg.
Lietzmann, Anja (2003): Theorie der Scham. Eine anthropologische Perspektive auf ein menschliches Charakterstikum. Univ. Diss.: Tübingen.
Meder, Norbert (1998a): Neue Technologien und Erziehung/Bildung. In: Borrelli, M.; Ruhloff, J.: Deutsche Gegenwartspädagogik Bd.III, Hohengehren 1998, S. 26-40
Sartre, Jean Paul (1993): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Rowolth: Reinbek bei Hamburg 1993
Seidler, Günter (1995): Der Blick des anderen. Eine Analyse der Scham. Stuttgart.
Swertz, Christian (2001): Computer und Bildung. Univ. Diss.: Bielefeld.
1 Zur kulturellen Phänomenologie von nerds siehe Kevin Kelly: www.sciencemag.org/cgi/content/full/279/5353/992
2 Beispielsweise merkt man dies auch auf www.suicidegirl.de
3 www.baselbietermeerschweinchen.ch
4 www.baselbietermeerschweinchen.ch
5 An dieser Stelle wäre zu klären, ob „symbolisch“ nicht im freudianisch-psychoanalytischen Sinne gedeutet werden sollte.
6
Zur Philosophie des Rhizoms siehe die Arbeiten von Gilles Deleuze
und Felix Guattari.
Zur Frage des Verhältnisses von Sehen
und Gesehenem siehe: Virilio, Paul: Die Sehmaschine. Berlin 1989
7 www.keirsy.com; www.de.outofservice.com/bigfive/; www.scientology.org
8 www.free-smsworld.de
9 www.erloeser.org