EUTHANASIA
DISSERTATION
zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie
an der
Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät der
Universität Wien
eingereicht von
Robert Hammer
Wien, Dezember
1997
EUTHANASIA
Eine philosophische Untersuchung
der
Euthanasieproblematik
unter besonderer Berücksichtigung
der
Singerschen Ethik
und der
existenzial-ontologischen Analyse Heideggers
Einleitung............................................................................................ 6
I. KAPITEL: Die Ethik
Peter Singers............................................................... 7
1. Abschnitt: Das
Ethikverständnis Singers...................................................... 7
2. Abschnitt: Die
leitenden Prinzipien der Singerschen Ethik................................ 13
§ 1 Interesse..................................................................................... 13
§ 2 Der Utilitarismus........................................................................... 14
§ 3 Das Ideal der
Gleichheit; Prinzipien...................................................... 15
§ 4 Zweck und Mittel........................................................................... 16
Demokratie - ziviler
Ungehorsam.......................................................... 18
§ 5 Wert des Lebens und
das Personalitätskriterium....................................... 18
§ 6
Evaluierungskriterien...................................................................... 20
3. Abschnitt: Die
Verfügbarkeit des menschlichen Lebens................................... 21
§ 1 Der menschliche
Fötus.................................................................... 21
§ 2 Das menschliche
Neugeborene........................................................... 22
§ 3 Euthanasieformen.......................................................................... 22
a) Die freiwillige
Euthanasie (voluntary euthanasia)..................................... 22
b) Die unfreiwillige
Euthanasie (involuntary euthanasia)............................... 25
c) Die nichtfreiwillige
Euthanasie (nonvoluntary euthanasia).......................... 26
d) Aktive und passive
Euthanasie.......................................................... 27
§ 4 Das Argument der
schiefen Bahn........................................................ 29
4. Abschnitt: Die
Rezeption der Singerschen Ethik............................................ 29
§ 1 Die hermeneutische
Rezeptionsproblematik............................................. 30
§ 2 Die öffentliche und
akademische Rezeption der Singerschen Ethik.................. 32
5. Abschnitt:
Änderungen zwischen den beiden Originalausgaben.......................... 35
II. KAPITEL: Allgemeine
Kritik der Singerschen Ethik......................................... 36
§ 1 Der
Universalitätsbegriff Singers........................................................... 36
§ 2 Interesse als
grundlegendes Kriterium der ethischen Entscheidung..................... 38
a) Das individuelle
Interesse................................................................... 40
b) Die kollektiven
Interessen.................................................................. 41
c) Der quantitative
Interessensaspekt......................................................... 46
d) Der qualitative
Aspekt von Interesse...................................................... 50
e) Interesse als
fundamentales ethisches Prinzip............................................ 52
§ 3 Personalität als
ethisches Kriterium......................................................... 55
a) Die Grenze zwischen
Tier und Mensch................................................... 55
b) Personalität des
Homo Sapiens............................................................ 58
Potentialität................................................................................... 63
c) Der Personenbegriff
Kants................................................................. 67
d) Kritik des
Personalitätskriteriums......................................................... 69
III. KAPITEL:
Euthanasie........................................................................... 74
1. Abschnitt:
Allgemeine Exposition............................................................ 74
§ 1 Geschichtliche
Entwicklung des Euthanasiebegriffs................................... 74
§ 2 Die kontemporäre
Situation............................................................... 81
§ 3 Der Suizid................................................................................... 82
a) Die Einstellung zum
Suizid im europäischen Denken................................ 83
b) Der Suizid aus
psychologischer Sicht.................................................. 87
c) Der Selbstmord bei
Kant................................................................. 89
d) Das japanische
Suizidverständnis...................................................... 93
§ 4 Der Tod in der
europäischen Geschichte,............................................... 99
§ 5 Die Todesthematik
in der europäischen Philosophie,................................ 118
a) Metaphysische
Todesmodelle.......................................................... 119
b) Das neue Denken........................................................................ 128
c) Der natürliche Tod...................................................................... 134
d) Euthanasie und
Freitod................................................................. 136
2. Abschnitt:
Euthanasie als partikuläres ethisches Problem................................ 138
§ 1 Analyse der
Euthanasieproblematik.................................................... 138
§ 2 Das absolute
Tötungstabu als Paralogismus........................................... 140
Die Frage der Moral in
ethischen Grenzsituationen.................................... 150
§ 3 Kritik des
Singerschen Euthanasiebegriffs............................................ 153
a) Freiwillige Euthanasie.................................................................. 154
b) Unfreiwillige
Euthanasie............................................................... 164
c) Nichtfreiwillige
Euthanasie............................................................ 165
§ 4 Gefahren von
Euthanasie für Sozietät und Individuum.............................. 175
§ 5 Solidarität.................................................................................. 178
§ 6 Der Sinn von
Existenz und Euthanasie................................................. 181
a) Die Todeskonzeption
Heideggers..................................................... 181
b) Dasein und
Personalität................................................................ 188
c) Der Sinn von Tod -
der Wert von Euthanasie........................................ 189
d) Conclusio................................................................................ 190
IV. KAPITEL: Warum
Euthanasie? - Resümee................................................. 191
Literaturverzeichnis............................................................................ 201
Lebenslauf......................................................................................... 203
“Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch
außerderselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte
gehalten werden, als allein ein guter Wille.”
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 1,2
Euthanasie zeigt sich als zeitgenössisches Problem, welches aufgrund des fortschreitenden technologischen Potentials der modernen Medizin akut wurde, die dem Menschen einerseits sein Sterben zu verwehren vermag, andererseits aber in der palliativen Medizin keine befriedigenden Resultate zeitigt, wodurch diese Entwicklung eine Tendenz zur Inhumanität aufweist. Weltweit wird Euthanasie von Ärzten illegal betrieben und der Ruf nach Legalisierung von Euthanasie wurde immer lauter. Die Lösungsversuche reichen von Straffreiheit bei Einhaltung bestimmter formaler Prozeduren wie in den Niederlanden bis zum Versuch, Euthanasie generell zu legalisieren wie im Rights of the Terminally Ill Act des Nordterritoriums Australiens.
In dieser Arbeit wird versucht, die philosophischen Aspekte der Euthanasieproblematik aufzuzeigen und auf ihre ethische Relevanz zu untersuchen. Als Ausgangspunkt dient die Ethik Peter Singers, welche mit ihren radikalen Positionen im deutschsprachigen Raum Aufsehen erregte und Proteste hervorrief. Es werden Bezüge zur historischen Entwicklung diverser Todesbilder hergestellt und die Einstellungen zum Suizid in Europa und der japanischen Tradition als euthanasierelevante Phänomene aufgezeigt. Besonders berücksichtigt wurden philosophische Lehren vom Tod, da Euthanasie als Form des Freitodes nicht ohne Bezug auf eine allgemeine Thanatologie adäquat untersucht werden kann und der Tod in der Philosophie einen besonderen Stellenwert einnimmt. Berücksichtigt wurden aber auch Untersuchungsergebnisse der Psychothanatologie und der modernen Sterbeforschung. Als tieferliegende Begründungsstruktur wurde die existenzial-ontologische Analyse Heideggers herangezogen.
Untersucht wurde, ob Euthanasie ethisch begründbar ist.
Gesucht wurden relevante Kriterien.
Gestellt wurde die Frage nach dem Sinn von Leid und Tod.
Der australische Philosoph Peter Singer veröffentlichte 1979 seine Arbeit Practical Ethics und erhob den Anspruch, damit Ethik auf eine neue Basis gestellt zu haben. 1984 erfolgte eine deutsche Übersetzung. Diese Veröffentlichung erregte Aufsehen und führte zur sogenannten Singer-Affäre, da Singer Tabu-Themen wie Euthanasie, Abtreibung, Infantizid, etc., aufgriff und vorbehaltslos nach Kriterien seine Ethik diskutierte.
Die nachfolgende Darstellung der Lehre Singers erfolgte nach der Maxime, das Wesentliche dieser Lehre zu erfassen und die hermeneutische Authentizität dieses Werkes zu bewahren.
Singer reflektiert zwei Ansätze zur Begründung ethischen Handelns:
Die Deontologie - ein System nach Regeln - löst ethische Konflikte durch das Finden von neuen und komplizierteren Regeln. Dies führt zu einer hierarchischen Normenstruktur und zu nackten Formalismen, welche zwar mit den verschiedenen ethischen Theorien kompatibel sind, jedoch keine Leitung für die Lebensführung bieten.
Der Konsequentialismus beginnt bei den Zielen und nicht bei der Anwendung von Regeln. Die Handlungen (actions) werden dann adäquat modifiziert. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt in der Praxisnähe. Einem Konsequentialisten kann niemals Realitätsmangel oder ein rigides Anhaften an lebensfremden Idealen vorgeworfen werden. Die bekannteste konsequentialistische Theorie ist der Utilitarismus.
Was Ethik im Verständnis Singers nicht ist:
- ein Normensystem, das auf Sexualmoral restringiert ist.
- ein ideales Normensystem, welches in der theoretischen Grundlage edel, in
der praktischen Anwendung aber unbrauchbar ist.
- nicht auf Religion beschränkt.
- relativistisch und subjektiv.
Die übliche Differenzierung zwischen Personen, welche an moralische Grundlagen glauben und danach leben und Personen, die keine solchen Grundsätze vertreten (has no such belief) und deshalb ihren Handlungen keine Restriktionen auferlegen, vermischt zwei Positionen:
A) B)
Personen, welche Personen, welche keine
an moralische Grundsätze moralischen Grundsätze
glauben und danach leben. vertreten und ohne jegliche
Restriktionen leben.
a) sind subjektiv überzeugt, a) leben nach irgendwelchen
daß sie nach richtigen Normen ethischen Normen.
leben.
b) sind subjektiv überzeugt, b) leben nach überhaupt
daß sie nach richtigen Normen keiner ethischen Norm.
leben, diese sind jedoch
falsch (Irrtum)
Die Rechtfertigung des eigenen, normativen Verhaltens mit Eigeninteresse stellt keinen hinreichenden Grund für ethisches Handeln dar. Handlungen aus Eigeninteresse müssen eine breite, ethische Basis haben. Ethik muß unter dem Aspekt der Universalität betrachtet werden, worin schon Moses und das Christentum mit Philosophen wie Kant, Hare, Hutcheson, Hume, Adam Smith, Jeremy Bentham, J.J.C. Smart, John Rawls, Jean-Paul Sartre und Jürgen Habermas übereinstimmen. Ethik fordert von uns, das Ich und Du zu transzendieren und zu einem universalen Gesetz zu gelangen, zu einer Beurteilbarkeit nach Kriterien der Universalität, zum Standpunkt eines unparteiischen, d.h. idealen Beobachters. Die Problematik besteht darin, daß kein Versuch einer allgemein akzeptierten, ethischen Theorie jemals gelungen ist.
Der universale Aspekt von Ethik ist für Singer ein überzeugender Grund, die utilitaristische Position einzunehmen.
Ethische Sichtweisen sind das Ergebnis des sozialen Lebens und haben die Funktion, Werte zu fördern, welche allen Mitgliedern der Gesellschaft gemein sind.[ii] Ethisches Urteilen fördert diese Werte, indem es durch Lob und Tadel Handlungen mit guter oder böser Tendenz reguliert. Gewissen zu haben (conscientiousness; RA: Pflichttreue) ist ein besonders nützliches Motiv aus Sicht der Gemeinschaft, da Menschen mit Gewissen die Werte ihrer Gesellschaft akzeptieren und aus Pflicht handeln, obwohl sie weder eine großzügige (generous), noch mitfühlende (sympathetic) Disposition aufweisen.
Selbstzweck einer moralisch richtigen Handlung, d.h. die moralisch richtige Handlung wird um ihrer selbst willen gesetzt, wird als Motiv des richtigen Handelns propagiert, da Menschen mit anderen Handlungsmotiven, wie etwa Eigeninteresse, nur aus egoistischen Motiven handeln. Gewissen (zu haben) ist deshalb ein Lückenbüßer, um Menschen zu gesellschaftlichen Werten zu motivieren, auch wenn sie selbst keine natürlichen (natural) Tugenden wie Großzügigkeit, Mitgefühl, Ehrlichkeit, etc. besitzen. Gewissen wird deshalb als intrinsischer Wert propagiert.
Die Auffassung, daß eine Handlung nur dann einen moralischen Wert hat, wenn sie um ihrer selbst willen getan wird, ist in unserer Auffassung von Ethik so eingebettet, daß Erwägungen aus Eigeninteresse (self-interest) eine Handlung ihres moralischen Wertes berauben. Nach Singer ist dieser Ethikbegriff, der den moralischen Wert nur im Selbstzweck einer Handlung ohne weiterführendes Motiv sieht, irreführend. Aus der Perspektive der Gesellschaft wünschenswert, stellt er einen “Vertrauenstrick” dar: Das Hinterfragen der Normen unterbleibt (A 211). Daß diese Sicht von Ethik nicht zu rechtfertigen ist, geht schon daraus hervor, daß Ethik nicht rational begründet werden kann. Die rationale Begründung ethischer Normen kann über Kant bis zu den Stoikern zurückverfolgt werden. Auf diese Weise kann aber auch z.B. Egoismus rational universalisiert werden. Als Beispiel führt Singer den nicht-universalisierbaren Imperativ “Laß jeden tun, was in meinem Interesse liegt!” an und wandelt ihn in den Imperativ eines universalisierbaren Egoismus “Laß jeden tun, was ein seinem eigenen Interesse liegt!” um. Jeder rational Denkende kann so die rein egoistische Aktivität eines anderen als rational gerechtfertigt akzeptieren. Das moderne Geschäftsleben ist eine solcherart akzeptable Basis.
Die Universalität ethischer Urteile muß aber ein höheres Gewicht als die Universalität rationaler Urteile haben. Der eigene Vorteil einer Handlung kann als rationale Begründung schlüssige Gültigkeit besitzen, kann aber niemals eine ethische Begründung darstellen. Zwischen Vernunft und Ethik kann kein verbindendes Glied hergestellt werden. Das größte Hindernis ist die Natur der praktischen Vernunft. Die Argumentationen Humes und Thomas Nagls zeigen unüberwindbare Hindernisse in der Kompatibilität von rationalen und ethischen Handlungen auf. Bei Hume dient die Vernunft lediglich zur Wahl der Mittel: Die Zwecke werden durch unser Wollen und unsere Wünsche festgelegt. Bei den Argumenten Thomas Nagls, Altruismus durch Überwindung der individuellen Schranken in den Langzeitinteressen zu finden, wird gerade die individuelle Singularität in der Differenz zum anderen aufgezeigt.
Die Antagonismen zwischen ethischen Handlungen und Eigeninteresse wirft die Frage nach dem Motiv moralischen Handelns auf: Warum soll man moralisch handeln?
Philosophen haben diese Frage als logisch falsch und irreführend zurückgewiesen. Sie aber als bedeutungslos zu verwerfen, kann die Schwierigkeit im ethischen Schlußfolgern ebenfalls nicht lösen. Durch das Verwerfen dieser Frage wird die Universalisierbarkeit ethischer Urteile unmöglich. Die Frage “Warum soll ich rational sein?” ist logisch nicht schlüssig, da die Beantwortung Rationalität voraussetzt und dadurch einen Zirkelschluß darstellt. Analog dazu würde die Frage “Warum soll ich moralisch handeln?” bei Interpretation des Modalverbs “soll” als moralisches Sollen nach den moralischen Gründen für das Moralisch-Sein fragen. Dies ist absurd. Nachdem entschieden worden ist, daß eine Handlung eine moralische Verpflichtung darstellt, ist keine weitere moralische Frage zu stellen.[iii] Eine begründende Motivierung von ethischem Handeln mit Eigeninteresse würde ihren eigenen Zweck (aim) nicht vernichten.
Platon läßt Sokrates argumentieren, daß Tugend die verschiedenen Elemente der eigenen Persönlichkeit zur Harmonie führe, was eine notwendige Bedingung für das eigene, emotionale Glück (happiness) sei. Viele Philosophen sind dieser Argumentation gefolgt.
Zwei Theorien vertreten die These, daß ethisches Handeln und Eigeninteresse zusammenfallen:
1. Wir alle haben wohlwollende und mitfühlende Inklination, welche uns um das Wohl des anderen sorgen lassen.
2. Wir haben ein natürliches Gewissen, welches Schuldgefühle in uns wachruft, wenn wir etwas Falsche tun.
Die mögliche Argumentation wäre, daß Wohlwollen und Mitgefühl notwendige Bedingungen für Freundes- und Liebesbeziehungen sind und daß genuine Akzeptanz ethischer Normen ein offenes und ehrliches Leben ermöglicht, wodurch Schuldgefühle wegfallen. Dies ermöglicht emotionales Glück. Psychologische Untersuchungen weisen auf einen solchen Ansatz hin, aufgrund der Komplexität der menschlichen Natur sind aber Generalisierungen, um glücklich zu werden, zweifelhaft. Emotionales Glück kann nicht als Grundlage einer ethischen Motivation herangezogen werden, da die meisten sowieso dieses Ziel verfolgen.[iv] Die Fragen einer ethischen Weltanschauung (ethical point of view) als universale Sicht ist jedoch mit der Problematik des emotionalen Glücks verknüpft.
Die meisten Menschen, welche über ihr Leben nachdenken, wollen eine Bedeutung in ihrem Leben sehen.[v] Religion läßt eine Bedeutung unseres Lebens nur als Bedeutung für den Schöpfergott zu, eine atheistische Weltsicht nur eine evolutionäre Erklärung, daß die Entwicklung von Präferenzen zu Sinn und Bedeutung der eigenen Existenz führen können. Der Mensch als Gemeinschaftswesen könne kaum emotionales Glück finden, wenn er seine eigene Lust zum Selbstzweck erheben und seinen Mitmenschen und seiner Umwelt nur Gleichgültigkeit entgegenbringen würde. Die Lust (pleasures; RA: Vergnügungen) würde bald leer und uninteressant werden. Wir finden Erfüllung und emotionales Glück, indem wir eine Bedeutung für unser Leben jenseits unserer eigenen Lust suchen.
Das Paradoxon des Hedonismus besagt, daß diejenigen, welche sich das eigene, emotionale Glück als Ziel setzen, oft in ihrem Streben scheitern, während andere bei der Verfolgung anderer Ziele ihr (emotionales) Glück finden. Evolutionär gesprochen könnten wir sagen, daß emotionales Glück funktional eine innere Belohnung für unsere Erfolge darstellt. Unser eigenes Glücklich-Sein ist deshalb nur ein Nebenprodukt, eine innere Belohnung für unsere Erfolge.
Dies ist die Differenz des Lebens eines normalen Menschen zum Leben eines Psychopathen: Der Psychopath kann in seinem verantwortungslosen, ungebundenen Leben zwar glücklich sein, aber keine Bedeutung darin finden, weil er wegen der Lust des Augenblicks introvertiert in sich hinein und nicht nach außen, auf langfristige und weitreichende Ziele, sieht.
Um Bedeutung in unserem Leben zu finden, müssen wir auch das Leben des klugen Egoisten transzendieren, welcher zwar im Gegensatz zum Psychopathen Langzeitpläne verfolgt, aber nur mit seinen eigenen Interessen beschäftigt ist. So arbeiten die erfolgreichen Egoisten auch noch nach Erreichung ihres Zieles weiter - weil sie nicht glücklich sind; wie z.B. Menschen, die sich in ihrem Geschäft abrackern, sich immer vorsagend, daß sie dies nur so lange machen würden, bis sie genug Geld für ein bequemes Leben hätten und die dann noch lange, nachdem sie ihr Ziel erreicht haben, weiterarbeiten.
Hier beginnt Ethik eine Rolle im sinnvollen Leben zu spielen. Die ethische Weltanschauung ist eine Methode, unsere egozentrische “Innenschau” zu transzendieren und zur möglichst allgemeingültigen Betrachtungsweise einer universalen Sicht zu gelangen.[vi]
Für Singer kann uns Rationalität, welche das Wissen um uns selbst (self-awareness; RA: Selbstbewußtsein) und die Reflexion über die Natur und das essentielle Sein (point) unserer eigenen Existenz beinhaltet, die Enge unserer eigenen Existenz transzendieren lassen, wobei dies nicht ein notwendiger Prozeß ist.[vii] Briefmarkensammeln mag manchem einen Lebenssinn geben. Dies ist nicht irrational, aber andere wachsen aus diesem Stadium hinaus, werden sich ihrer Stellung in der Welt bewußt und denken über ihre Absichten nach. Für diese Menschen offeriert eine ethische Weltsicht Bedeutung und Sinn im Leben, aus welcher man nie hinauswachsen kann.
Interesse ist für Singer die Basis ethischen Denkens. Interesse - bei einer weiten Definition: “etwas, alles, was Menschen begehren” - wird im Substrat als Wunsch, Begierde (desire) definiert. Dieser Begriff kann nicht nur auf menschliche Interessen restringiert verwendet werden. Auch Tiere können Interessen haben. Die Fähigkeit, sich zu freuen und zu leiden, ist die notwendige Bedingung von Interesse. Empfindungsfähigkeit (sentience) stellt die Grenze zur unbelebten Natur dar. Dinge ohne Empfindungsfähigkeit können keine Interessen haben. Es wäre Unsinn, einem Stein Interessen zuzuschreiben. Interesse ist Interesse - gleichgültig, ob es sich um menschliche oder nichtmenschlich-tierische, oder um Interessen selbstbewußter oder nicht-selbstbewußter Tiere handelt.[viii] Die wichtigsten menschlichen Interessen, wie Schmerzvermeidung, persönliche Entwicklung, Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft, persönliche Beziehungen zu unterhalten, die Freiheit, seine eigenen Projekte zu verfolgen, etc., sind allen Menschen gemeinsam. Interessen in diesen Bereichen dürfen nicht aufgrund von Rasse, Intelligenz, Geschlecht, etc., mißachtet werden. Schmerz- und Leidminimierung sind von derart fundamentaler Bedeutung, daß sie auch als Interessenssphäre anderer Speziesformen gelten können. Im ethischen Denken werden die Interessen aller, die durch eine Entscheidung bzw. Handlung betroffen werden, in Betracht gezogen und nicht nur die eigenen. Dies erfordert, die Interessen aller Betroffenen abzuwägen, um eine Interessensmaximierung aller zu erreichen.
Singer steht in der empiristischen Tradition und gibt dem konsequentialistischen Ansatz von Ethik den Vorzug. Die von ihm geforderte Universalität des ethischen Denkens wird für ihn durch das utilitaristische Denken repräsentiert.
Verschiedene ethische Ideale, wie individuelle Rechte, die Heiligkeit (sanctity) des Lebens, Gerechtigkeit, Reinheit, etc., hätten zwar universale Gültigkeit, seien aber in verschiedenen Bereichen mit dem Utilitarismus inkompatibel. Die utilitaristische Position ist nur eine Minimalbasis, eine erste Basis, die wir erreichen, wenn wir unsere auf Eigeninteresse basierenden Entscheidungen universalisieren.[ix] Um nicht-utilitaristische Moralregeln oder Ideale zu akzeptieren, müßten jedoch noch gute Gründe angeführt werden, damit sie akzeptiert werden könnten.
Im klassischen Utilitarismus, wie bei Bentham definiert und von anderen Philosophen wie J.St. Mill und Henry Sidgwick weiterentwickelt, werden Handlungen nach ihrer Tendenz, Lust (pleasure) und emotionales Glück zu maximieren bzw. Schmerz und emotionales Unglück zu minimieren, beurteilt.
Singer bevorzugt den Präferenzutilitarismus. Nach einer anderen Notion wird er als ökonomischer Utilitarismus bezeichnet. In diesem werden als Entscheidungskriterien nicht Lust und Schmerz, sondern die Präferenzen eines Wesens herangezogen, welches durch eine Handlung oder deren Konsequenzen betroffen wird.
Im methodischen Verfahren machen wir im ersten, plausiblen Zug eine “Bestandsaufnahme” der Interessen einer Person, wägen sie ab (balance) und ziehen sämtliche relevante Fakten in Betracht (reflection), die eine Person präferiert. Nach dem Präferenzutilitarismus ist eine Handlung falsch, wenn sie gegen die Präferenzen eines Lebewesens verstößt, es sei denn, diese Präferenz wird durch andere Präferenzen aufgehoben (outweighed).
Nicht im klassischen, sondern im Präferenzutilitarismus ist die Universalisierbarkeit unserer Interessen gegeben.
Das Prinzip der Gleichheit kann nicht auf faktische Gleichheit[x] basiert werden.
Das erste Prinzip, welches Singer als das grundlegende Prinzip der Gleichheit formuliert, ist das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung[xi] (the principle of equal consideration of interests, A 19; RA 32: das Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen). In diesem Prinzip werden Interessen unparteiisch - wie auf einer Waage - abgewogen.
Das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung ist ein grundlegendes, moralisches Prinzip, welches eine Form von Gleichheit herstellt, die alle Menschen umfaßt, trotz aller Unterschiede, welche unter ihnen existieren. Dieses Prinzip kann nicht auf die Spezies Mensch eingeschränkt werden. Es erstreckt sich als gesundes, moralisches Gleichheitsprinzip auf die Beziehung zu anderen Speziesformen, die (nichtmenschlichen) Tiere, wobei die Empfindungsfähigkeit die Grenze zur leblosen Welt der Gegenstände bildet. Schmerz und Leid sind allen Lebewesen gemeinsam und deshalb ist das Prinzip der Gleichheit in betreff auf das Zufügen von Schmerzen ziemlich eindeutig.
Das zweite Gleichheitsprinzip ist das Prinzip des sinkenden Grenznutzens (the principle of declining marginal utility, A 22). Es handelt sich hier eigentlich um ein ökonomisches Prinzip, mit welchem ausgedrückt wird, daß in einer bestimmten Situation eine geringe Menge wichtiger ist, als eine große. So ist für jemanden, der mit 200 Gramm Reis pro Tag auskommen muß, eine zusätzliche Menge von 50 Gramm viel, während dies für jemanden mit einem Kilogramm pro Tag eine unbedeutende Menge darstellt.
Singer sieht in der instrumentalen Anwendung dieser beiden Prinzipien die Möglichkeit einer egalitären Verteilung der Güter. Gleichheit als grundlegendes, ethisches Prinzip wird auf diese Weise eher erreicht, als die derzeit proponierte Chancengleichheit. Das Prinzip der Chancengleichheit (principle of opportunity; A 34) entspricht zwar der gängigen Auffassung, wird aber von Singer als unzureichend abgelehnt. Individuelle Differenzen und Unterschiede in Geschlecht, Gene, Intelligenz, Mangel an Gelegenheit, verhindern das Erreichen des Ideals der Gleichheit als ethisches Regulativ.
Das Prinzip der umgekehrten Diskriminierung (reverse discrimination; in B: affirmative action) stellt einen Verfahrensmodus zur Beseitigung sozialer Ungleichheit dar. Es wird besonders in Bildung und Anstellungsverhältnissen angewendet.
So werden z.B. 16% der Studienplätze an einer Universität für schwarze Studenten reserviert, auch wenn sie den Bestimmungen eines Numerus clausus nicht entsprechen. Für Singer entspricht dieses Prinzip einem gesunden Gleichheitsprinzip und geht - richtig angewendet - mit dem Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung konform.
Die Problematik der Zweck-Mittel-Relevanz kann nicht durch die simplifizierende Formel “Der Zweck heiligt die Mittel” erfaßt werden. Die richtige Frage ist nicht, ob der Zweck jemals das Mittel rechtfertigen kann, sondern welche Mittel durch welchen Zweck gerechtfertigt werden. Singer meint im besonderen, ob die Zwecke, die er in den Practical Ethics vertritt, die gleichwertige Interessensabwägung - unter Mißachtung der Kriterien wie Rasse, Geschlecht oder Spezies -, liberale Abtreibungsgesetze, freiwillige Euthanasie (voluntary euthanasia) und die Reduktion der absoluten Armut, Mittel rechtfertigen, welche den gewünschten Zweck (aim) zustande bringen.
Ethisches Urteilen darf nicht auf eine “innere Stimme” als Gewissen zurückgehen. Diese “Stimme” ist eher das Ergebnis von Erziehung und Ausbildung als die Quelle einer genuinen, ethischen Einsicht. Ethische Probleme müssen durch Reflexion gelöst werden, was in unserer Verantwortung als rationale Wesen (rational agent) liegt. Diese Differenz zwischen Ethik und Gesetz (Ethik d Gesetz) bedeutet aber nicht, daß das (juristische) Gesetz kein moralisches Gewicht hat. Trotz der sozialen Natur des Menschen ist es nötig, sich vor Angriffen unserer Mitmenschen zu schützen und dies geschieht besser durch ein etabliertes und allseits bekanntes Gesetz, welches durch einen mit Autorität und entsprechenden Vollzugsvollmachten ausgestatteten Richter interpretiert wird, als durch irgendwelche Schutzgesellschaften (vigilante organizations). Etablierte Entscheidungsverfahren sind notwendig, um Streitigkeiten ökonomisch und schnell zu lösen, da ansonst die streitenden Parteien zur Gewalt greifen. In diesem Sinne sind Gesetze und entsprechende Entscheidungsverfahren eine gute Sache.
Zwei Gründe sprechen für eine Unterordnung unter das Gesetz:
1) Durch das eigene Beispiel verhilft man dem Gesetz zu Respekt. Das Brechen des Gesetzes gibt anderen ein schlechtes Beispiel und führt in extremen Fällen zu Bürgerkrieg.
2) Wenn ein Gesetz effektiv sein soll, muß eine Maschinerie da sein, um Gesetzesbrecher zu entdecken und zu bestrafen. Die Erhaltung dieser Maschinerie verursacht Kosten, welche von der Gemeinschaft getragen werden müssen.
In einem demokratischen System, in dem durch das Majoritätsprinzip die bestmögliche Basis für eine friedliche Ordnung der Gesellschaft in einem egalitären Zeitalter wie dem unseren gegeben ist und in welchem Gesetze durch legale Verfahren abgeändert werden können, ist die Anwendung illegaler Mittel im Prinzip ungerechtfertigt. Das in der Demokratie verwirklichte Majoritätsprinzip hat zwar substantielles Gewicht, die Mehrheit hat jedoch nicht immer recht. Eine Minderheit soll versuchen, bei einem moralischen Unrecht einen Umschwung der Majoritätsmeinung mit legalen Mitteln zu erreichen; sollte dies nicht gelingen, ist der zivile Ungehorsam ein zwar illegales, aber demokratisch legitimes Mittel. In extremen Fällen, wie z.B. einem Bösen in der Größenordnung eines Genozid in Nazi-Stil ist jedes Mittel, auch Gewalt, gerechtfertigt, und zwar auch dann, wenn die Mehrheit dieses Böse billigt.
Ein konsequentialistischer Pazifist hat stichhaltige Gründe gegen Gewalt anzuführen, wie daß die Anwendung von Gewalt zu einem Gewöhnungseffekt führt. Wenn ein Mord verübt wurde, wird der Widerstand zur Begehung neuer Morde geringer. Der Verlauf der Geschichte spricht gegen die Anwendung von Gewalt. Sie kann nicht leicht gerechtfertigt werden, wenn sie gegen Gegenstände, noch weniger, wenn sie gegen empfindungsfähige Wesen gerichtet ist; oder die Gewalt gegen einen Diktator im Gegensatz zur unterschiedslosen Gewalt gegen die allgemeine Öffentlichkeit. Man muß aber bei der Anwendung von Gewalt differenzieren, ob es sich um eine generell vertretbare, oder um eine generell verdammenswerte Form von Gewalt, wie die terroristische, handelt.
Singer differenziert zwischen drei Formen des Lebens und proponiert eine hierarchische Wertestruktur:
1) Lebewesen ohne jegliches Bewußtsein - wie z.B. das von Unkraut, welches keinen intrinsischen Wert besitzt.
2) Lebewesen mit Bewußtsein, welche Lust und Schmerz empfinden können: Die meisten Tiere fallen in diese Kategorie, aber auch Menschen mit einer geistigen Behinderung und Neugeborene. Das Kriterium für die Beurteilung des Werts dieser Lebensform ist die Fähigkeit, Lust und Schmerz zu empfinden. Wenn ein Lebewesen in der Zukunft Lust empfinden kann, wäre es falsch, dieses Lebewesen zu töten. Das gleiche Argument in bezug auf Schmerz zeigt in die entgegengesetzte Richtung. Nur dann, wenn ein Lebewesen mehr Lust als Schmerz erfährt, kann dies als Argument gegen das Töten eines solchen Lebewesens angeführt werden.
3) Lebewesen mit Selbstbewußtsein, welche sich als Individuen (distinctive entity) mit Vergangenheit und Zukunft wissen. Singer greift mit diesem Kriterium auf John Lockes Definition der Person zurück. Locke charakterisiert eine Person als denkendes, intelligentes Wesen mit Identitätsbewußtsein, sowie zeitlichem und örtlichem Orientierungsvermögen. Das Leben einer Person hat einen höheren Rang als das Leben anderer Lebewesen, weil eine Person als selbstbewußtes Wesen aufgrund ihres Wissens um die Zukunft mehr leiden oder glücklicher sein kann als andere Lebewesen. Dieses Argument ist mit dem Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung kompatibel.
Singer schließt sich dem Argument Tooleys an, daß nur Personen ein Recht auf Leben haben.
Daß das Leben einer Person einen höheren Wert darstellt, als das Leben eines lediglich empfindungsfähigen Wesens, läßt sich durch vier mögliche Argumente darlegen:
1) Im Argument des klassischen Utilitarismus, daß selbstbewußte Wesen die Fähigkeit haben, ihren eigenen Tod zu fürchten und daß das Töten solcher Wesen negative Auswirkungen auf die anderen hat.
2) Die präferenzutilitaristische Haltung, daß der Wunsch einer Person zu leben gegen ihren Tod abzuwiegen ist.
3) Die Theorie des Rechts, die nur demjenigen ein Recht einräumt, der auch den Wunsch dazu entwickeln kann. Dies bedeutet in bezug auf den Wert des Leben, daß nur derjenige ein Recht auf Leben hat, der die Fähigkeit besitzt, das Andauern seiner Existenz zu wünschen.
4) Der Respekt vor der Autonomie bzw. der autonomen Entscheidung eines rational handelnden Wesens (rational agent).
Die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch ist jedoch keine hinreichende Bedingung, um das Personalitätskriterium zu erfüllen. Geistig Behinderte der Spezies Mensch erfüllen dieses Kriterium nicht, während es bei verschiedene Tierarten sehr wohl zutreffen kann. Grenzen zwischen Mensch und Tier, die man glaubte, gefunden zu haben, erwiesen sich immer wieder als falsch - wie die Verwendung bzw. Erzeugung von Werkzeugen oder die Verwendung von Sprache. Es wurden Tiere gefunden, die Werkzeuge verwendeten oder erzeugten. Es gibt aber Hinweise, daß Wale und Delphine eigene, komplexe Sprache haben. Schimpansen und Gorillas haben die Zeichensprache der Taubstummen gelernt. Beobachtungen von Jane Goodall lassen vermuten, daß Schimpansen nicht nur mit einem Gegenwartsbewußtsein, sondern auch mit einem zeitlichen Orientierungsvermögen (in Vergangenheit und Zukunft) ausgestattet sind. Das Leben dieser Tierarten fällt, da sie das Personalitätskriterium erfüllen, in den Bereich des speziell zu schützenden Lebens.
Bei Lebewesen mit Schmerz- und Lustempfindungsfähigkeit ist die zukünftige Lust das Kriterium für den Wert des Lebens. Lust (pleasure) macht das Leben lebenswert. Es ist gut, den Betrag der Lust (= Summe) in der Welt zu erhöhen. Es ist schlecht, ein angenehmes Leben (pleasant life) vorzeitig zu beenden. Diesem Ziel nähern sich zwei Betrachtungsarten auf verschiedene Weise:
In der Totalansicht (total view) wird die gesamte Summe - der absolute Betrag - von Lust als Evaluierungskriterium herangezogen, wobei es gleichgültig ist, ob man den Betrag der Lust bereits existierender Lebewesen erhöht oder die Anzahl der Lebewesen.
In der Vorausgesetzten-Existenz-Ansicht (prior existence view) werden nur Lebewesen zur Lustmaximierung in Betracht gezogen, welche bereits vor dem Zeitpunkt der Entscheidung existierten oder wenigstens unabhängig von der Entscheidung lebten.
Der menschliche Fötus hat keinen größeren Wert als der Fötus eines nichtmenschlich-tierischen Lebewesens. Da ein Fötus nicht das Personalitätskriterium erfüllt, hat er auch kein Recht auf Leben. Es ist unwahrscheinlich, daß ein Fötus von weniger als 18 Wochen überhaupt etwas fühlen kann, da das Nervensystem noch nicht vollständig entwickelt ist. Dieses Leben hat keinen intrinsischen Wert. In der Zeit von 18 Wochen bis zur Geburt mag ein Fötus zwar Bewußtsein haben, besitzt aber kein Selbstbewußtsein. Eine Abtreibung in diesem Stadium beendet zwar ein Leben von einigem intrinsischen Wert und soll nicht leichtfertig durchgeführt werden, aber sie kann kaum verdammt werden, auch wenn sie zu einem sehr späten Schwangerschaftsstadium aus trivialen Gründen durchgeführt wird. Das entscheidende Kriterium für die Abtreibung ist das Prinzip der Schmerzvermeidung. Aus den potentiellen Entwicklungsfähigkeiten eines menschlichen Fötus, welche die eines tierischen weit übersteigen, kann nicht geschlossen werden, daß er ein höheres Recht auf Leben hat.
Aus utilitaristischer Sicht besteht ein besonderer Schutz des Lebens nur für eine faktisch-existierende, nicht für eine potentielle (werdende) Person. Diese Betrachtungsweise trifft sowohl für den klassischen Utilitarismus zu, der die Furcht des Einzelnen vor dem Getötet-Werden in Betracht zieht, als auch auf den Präferenzutilitarismus, welcher das Gewicht auf die Wünsche (desires) der Personen legt. Auch Tooleys Verbindung des Rechts auf Leben mit der Fähigkeit, sich ein Weiterleben wünschen zu können, und das Prinzip des Respekts vor der Autonomie treffen nur auf Lebewesen zu, welche zu dem betreffenden Zeitpunkt mit Identitäts- und Zeitbewußtsein ausgestattet sind, aber nicht auf solche, welche in diesem Moment diese Bewußtseinsformen nicht aufweisen und niemals vorher die Fähigkeit hatten, sich selbst auf diese Weise zu sehen. Dies Kriterien treffen nicht nur auf tierische, sondern auch auf menschliche Föten zu.
Das Personalitätskriterium ist auch auf neugeborene Menschen anzuwenden. Ein Baby im Alter von einer Woche ist kein rationales und selbstbewußtes Wesen. Es gibt viele Tiere, deren Rationalität, Selbstbewußtsein, Wahrnehmungsvermögen (awareness), Empfindungsfähigkeit, usw. einem menschlichen Baby weit überlegen sind. Die logische Konsequenz der Argumentation in bezug auf Föten führt zum Schluß, daß das Leben eines Neugeborenen nicht als das Leben einer Person anzusehen ist. Das Leben eines Neugeborenen hat weniger Wert als das Leben eines Schweins, eines Hundes oder eines Schimpansen. Aus evolutionärer Sicht ist der instinktiv-emotionale Schutz für Kinder verständlich, das Töten eines Erwachsenen ist jedoch schwerwiegender.
Bei einer legislativen Regelung - im Sinne Singers - soll das (legalistische) Recht auf Leben einem Baby unmittelbar nach der Geburt abgesprochen werden. Singer schlägt einen Zeitraum von ca. einem Monat vor, obwohl das Kind noch auf Jahre hinaus nicht das Personalitätskriterium erfüllt. Es besteht keine intrinsische Differenz zwischen dem Infantizid und der Abtreibung, welche die Tötung eines Fötus darstellt.
Singer definiert Euthanasie nach dem Wörterbuch als “sanfter und leichter Tod”. Dieser Begriff werde aber jetzt für das Töten derer verwendet, welche unheilbar krank seien und große Schmerzen hätten bzw. Ungemach (distress) erleiden. Zweck ist, Leiden zu vermeiden. (A 127)
Singer unterscheidet drei Arten der Euthanasie:
liegt vor, wenn eine Person den Wunsch äußert, daß man sie töte.
Als Beispiel führt Singer den Zygmaniak-Fall an: George Zygmaniak wurde bei einem Motorradunfall verletzt und war seit dieser Zeit vom Nacken abwärts gelähmt. Er hatte beträchtliche Schmerzen und sagte sowohl zum Arzt als auch zu seinem Bruder, daß er nicht mehr leben wollte. Lester, sein Bruder, erfuhr, daß die Chancen Georges auf Heilung gleich Null waren. Er schmuggelte eine Schußwaffe ins Spital, fragte seinen Bruder, ob er noch immer sterben wolle. Als dieser seine Zustimmung gab, schoß er ihn in die Schläfe.
Nach Singer zeigt dieses Beispiel, daß legale Prozeduren zur Durchführung von Euthanasie geschaffen werden müssen. So wurde bei diesem Fallbeispiel eine medizinische Diagnose nur in einer informellen Art eingeholt; es fand keine sorgfältige Feststellung einer rationalen Begründung des Todeswunsches Georges vor unabhängigen Zeugen statt. Der Tod wurde nicht durch einen Arzt herbeigeführt - eine Injektion wäre viel besser gewesen. Singer billigte jedoch die Vorgangsweise Lesters, da keine andere Möglichkeit zur Verfügung stand.
Rechtfertigung: Die freiwillige Euthanasie hat mit der nichtfreiwilligen Euthanasie eine gemeinsame Basis. Es wird getötet, um Leiden zu beenden. Die Differenz liegt darin, daß bei der freiwilligen Euthanasie eine Person getötet wird, d.h. ein rationales und selbstbewußtes Wesen.
Wenn ein Individuum, d.h. ein Wesen, welches das Personalitätskriterium nicht erfüllt, an einer schmerzhaften und unheilbaren Krankheit leidet, ist Euthanasie gerechtfertigt.
Eine Untersuchung der vier Gründe, welche dem Leben einer Person einen besonderen Wert zuordnen, zeigt, daß Euthanasie auch bei einer Person zu rechtfertigen ist.
a) Die Ablehnung des klassischen Utilitarismus fällt weg, da Euthanasie nur bei Personen durchgeführt wird, die ihren eigenen Tod genuin wünschen und dadurch keine Tendenz zu einer generellen Furcht oder Unsicherheit anzunehmen ist. Wer nicht getötet werden will, gibt keine Zustimmung. Tatsächlich spricht diese Position für eine freiwillige Euthanasie, weil niemand Angst haben muß, daß der eigene Tod unnötigerweise hinausgezogen wird und qualvoll ist.
b) Der Präferenzutilitarismus spricht ebenfalls für und nicht gegen eine freiwillige Euthanasie. Wie der Wunsch weiterzuleben gegen das Töten zählt, ist der Wunsch zu sterben ein Grund für das Töten.
c) Das Recht auf Leben ist kein kontraindikatives Argument, weil jeder auf ein Recht verzichten kann. Mit dem Wunsch, sein Leben durch den Arzt beenden zu lassen, verzichtet man auf sein Recht auf Leben.
d) Der prinzipielle Respekt vor der Autonomie eines rational handelnden Wesens (rational agent) soll nicht nur gewährleisten, daß jeder sein eigenes Leben führen kann, sondern ebenso zur Akzeptanz, daß der rational Agierende in bestimmten Fällen den Tod wählen kann - und ihm dabei zu helfen.
Das Besondere an selbstbewußten Wesen, den Personen, ist, daß sie um ihre Existenz in Raum und Zeit wissen. Unter normalen Umständen wird das Andauern dieser Existenz sehnsüchtig gewünscht. Wenn allerdings diese voraussehbare Existenz mehr gefürchtet als gewünscht wird, kann der Tod mehr als das Leben gewünscht werden. Die Gründe für das Leben werden zu Gründen für den Tod umgekehrt. Deshalb sind die Gründe für die freiwillige Euthanasie stärker als für die nichtfreiwillige.
Einwände gegen Euthanasie können nicht auf grundlegende, ethische Prinzipien zurückgeführt werden, sondern lediglich auf die Verfahrensmodalität der Legalisierung.
Zurückgreifend auf Vorschläge von Gesellschaften für Euthanasie in Großbritannien proponiert Singer folgendes Verfahren zur Legalisierung von Euthanasie:
1. Zwei Ärzte müssen eine unheilbare Krankheit diagnostizieren, welche ernstliche Qualen oder den Verlust der rationalen Fähigkeit verursacht.
2. Mindestens 30 Tage vor dem geplanten Akt der Euthanasie muß ein schriftliches Ansuchen in Anwesenheit von zwei unabhängigen Zeugen unterzeichnet werden.
Die Euthanasie muß durch einen Arzt durchgeführt werden.
Argumente pro und kontra Euthanasie:
Durch dieses Verfahren wird die Gefahr von Mißbrauch (Mord) und Fehldiagnose reduziert.
Durch legalisierte Euthanasie können ein paar Menschen den Tod finden, obwohl sie vielleicht später geheilt worden wären. Im Gegensatz dazu wird viel Leid und Schmerz vermieden. Dies ist kein Argument gegen Euthanasie, da der große Betrag von vermiedenem Leid aufgerechnet gegen ein paar Tote mehr wiegt.
Das Argument von Kübler-Ross, daß bei richtiger Pflege niemand Euthanasie verlangt, mag vielleicht richtig sein; aber nur wenige erhalten realiter eine solche Pflege.
Schmerz ist nicht das einzige Problem im Sterbensprozeß, sondern auch andere Krankheitszustände, wie Fragilität der Knochen, langsames Verhungern bei Krebs, Schwierigkeiten bei der Atmung, die Unfähigkeit, Harn oder Stuhl zu kontrollieren, usw.
Legalisierung von Euthanasie gibt dem Individuum Freiheit und Autonomie in dem Ausmaß, daß es über sein eigenes Ende, seinen Tod, bestimmen kann. Gegen eine paternalistische Argumentation kann eingewendet werden, daß freiwillige Euthanasie für eine gute Sache steht. Freiwillige Euthanasie wird nur dann durchgeführt, wenn eine Person an einer unheilbaren und schmerzvollen Krankheit leidet oder sich sonst in einem qualvollen Zustand befindet. In diesem Fall kann man nicht sagen, daß es irrational sei, schnell sterben zu wollen.
Entscheidungsrationalität, d.h. die rationale Begründung der Entscheidung, Respekt für die Präferenzen oder die Autonomie sind die Stärken einer Argumentation für freiwillige Euthanasie.
Eine Person hat die Fähigkeit, zu ihrem eigenen Tod zuzustimmen, gibt aber ihre Zustimmung nicht, weil sie
a) nicht gefragt wird oder
b) sie gefragt wird und weiterleben will.
Für diese Art der Euthanasie ist nur das Motiv, Schmerzen zu verhindern, gültig.
Argumente gegen eine Rechtfertigung: Die Übereinstimmung mit der freiwilligen Euthanasie besteht darin, daß jemand getötet werden soll, der zu seinem Tod zustimmen kann, die Differenz, daß die Opfer nicht zustimmen.
Alle vier Gründe gegen das Töten selbstbewußter Wesen sind anwendbar, wenn eine Person nicht die Wahl trifft, sich töten zu lassen. Es lassen sich utilitaristische Erwägungen vorstellen, eine Person mit dem Willen zum Weiterleben zu töten, wenn die betreffende Person nicht weiß, welche Qualen sie in der Zukunft erleiden wird. Dieser Fall ist aber eine Fiktion. Wenn eine Person leben will, ist dies der beste Beweis, daß dieses Leben lebenswert ist.
Wenn im realen Leben kein gerechtfertigter Fall unfreiwilliger Euthanasie gefunden werden kann, ist es das beste, diese Form der Euthanasie absolut zu verbieten.
Euthanasie ist nur dann gerechtfertigt, wenn
1. die Fähigkeit der Zustimmung zum eigenen Tode (= getötet werden) fehlt, weil kein Verständnis für den Unterschied zwischen der Existenz und Nicht-Existenz vorliegt;
2. das Wahlverständnis zwischen dem Andauern des eigenen Lebens und dem Tod vorliegt und eine gut informierte, freiwillige und gesetzte Wahl zu sterben getroffen wird.[xii]
liegt vor, wenn der Mensch nicht den Unterschied eines Wählens zwischen Leben und Tod versteht.
Beispiel: Louis Repouille hatte einen unheilbar schwachsinnigen Sohn, der seit Geburt bettlägerig und seit fünf Jahren blind war. Repouille sagte: Er war die ganze Zeit wie tot. Er konnte nicht gehen, nicht sprechen, er konnte nichts tun. Schließlich tötete Repouille seinen Sohn mit Chloroform.
Rechtfertigung: Ein besonderer Schutz von Leben ist nur aufgrund der Personalitätskriterien, wie Rationalität, Autonomie und Selbstbewußtsein zu gewährleisten.
Die nichtfreiwillige Euthanasie trifft zu bei
a) Wesen, die nie die Fähigkeit hatten, eine Wahl zwischen Leben und Tod zu treffen, d.h. sie hatten nie die Unterscheidungsfähigkeit. Daraus folgt, daß nicht nur behinderte, sondern auch gesunde Kinder getötet werden können. Gegen das Töten gesunder Kinder spricht nicht das vermutete Recht auf Leben, sondern der negative Effekt auf die Eltern. Die Qual behinderter Kinder, deren Leben aufgrund des Leidens nicht wert ist, gelebt zu werden, ist eher ein Argument für das Töten. Singer führt als Beispiel Spina bifida an. Sowohl die Totalansicht, als auch die Vorausgesetzte-Existenz-Ansicht liefern die schlüssigen Argumente, es sei denn, daß extrinsische Gründe, wie die Gefühle der Eltern, dagegen sprechen. Das Töten bereits geborener Kinder ist oft einer Abtreibung vorzuziehen. So kann Hämophilie nicht durch Amniozentese zuverlässig festgestellt werden. Infantizid ist hier vorzuziehen, da eine Erkrankung nach der Geburt mit absoluter Sicherheit diagnostiziert werden kann und auf diese Weise durch Verschieben des Zeitpunktes der Entscheidung über Leben und Tod viele Abtreibungen unnötig werden.
b) Personen, welche diese Fähigkeit hatten, sie aber aufgrund eines Unfalls, einer Krankheit oder aufgrund des Alters verloren, ohne ihre Einstellung zu Euthanasie zu äußern, wie z.B. bei einem Unfallopfer, dessen Gehirn unheilbar geschädigt wurde und sich in einem komatösen Zustand befindet. Ein solches Leben ist nicht selbstbewußt und hat nur einen intrinsischen Wert, insofern es mehr Lust als Schmerz erfährt. Es ist schwierig einzusehen (to see the point), daß ein derart miserables Leben erhalten werden soll.
Ein Argument kann gegen diese Form der Euthanasie angeführt werden: Daß jemand dadurch beunruhigt werden könnte, daß er selbst in diese Lage kommen könnte. Dieses Argument könnte entkräftet werden, daß Personen, welche auf keinen Fall eine nichtfreiwillige Euthanasie wünschen, ihre Verweigerung registrieren lassen. Wenn ein solches Verfahren derartige Ängste nicht beseitigen könnte, wäre nichtfreiwillige Euthanasie nur bei denen gerechtfertigt, welche niemals die Differenz zwischen Leben und Tod erkennen konnten.
Singer verwendet für seine Ausführungen Säuglinge mit Spina bifida und Down‘s Syndrom als Exempel.
Durch die medizinische Entwicklung wurde es möglich, Säuglinge überleben zu lassen, die ansonst gestorben wären. Durch einen Vorschlag John Lorbers wurden nur mehr die Säuglinge behandelt, bei denen die Spina bifida gering ausgeprägt war. Diese Form der selektiven Behandlung fand breite Akzeptanz. Die anderen Säugling wurden nicht aktiv behandelt, obwohl Schmerz und Ungemach so weit wie möglich vermindert wurden. So wurden bei Auftreten von Infektionen keine Antibiotika verabreicht. Da das Überleben der Säugling nicht gewünscht wurde, sind auch Behandlungen unterblieben, die dem medizinischen Wissensstand entsprechend den Tod verhindern hätte können. Singer hinterfragt die Richtigkeit dieses Verfahrens und warum es falsch sei, solche Säuglinge in einem Akt der aktiven Euthanasie zu töten. Die Ursache für diese Form von Moralität liegt in einer deontologischen Ethik, welche die Emphase auf die Befolgung von Regeln legt, ohne sich um die Folgen zu kümmert. Diese ethische Auffassung führt zu einer Unterscheidung zwischen aktivem Tun und passivem Unterlassen, weshalb aktive Euthanasie verboten ist, obwohl sie üble Folgen nach sich zieht, wie z.B. bei mongoloiden Kindern, welche noch Jahre leiden bevor sie sterben. Als Vertreter einer konsequentialistischen Ethik ist für Singer das entscheidende Kriterium die Folge einer Handlung, während die moralische Regel sekundäre Bedeutung hat. Bei diesem Ansatz hat die Differenz zwischen aktivem Töten und passivem Sterbenlassen keine moralische Signifikanz und die negativen Auswirkungen einer deontologischen Ethik werden vermieden.
Da auf Speziezismus beruhende Begründungen nicht als moralische Grundlage für einen besonderen Stellenwert von Leben herangezogen werden können und man jedes verwundete oder kranke Tier tötet, bedeutet das apodiktische Verbot der aktiven Euthanasie eine Schlechterstellung des Menschen, welche auf einen falschen Respekt vor der Heiligkeit des Lebens zurückzuführen ist. Aktive Euthanasie ist ein Akt von Humanität.
Durch aktive Euthanasie werden Menschen getötet, deren Leben unerträglich und deshalb nicht wert ist, gelebt zu werden. Ihr Elend wird nicht unnötig verlängert. Die verbreitete Akzeptanz von Abtreibung und passiver Euthanasie hat bereits die Schwächen der traditionellen Ethik aufgezeigt. Eine gesunde, wenn auch in den Begrenzungen nicht so klar definierten Ethik mag auf lange Dauer eine festere Basis gegen das ungerechtfertigte Töten bieten. (A 157)
(The Slippery Slope Argument)
Die Opposition gegen aktive Euthanasie entspringt dem Argument, daß legalisierte Euthanasie ein gefährliches Instrument des Staates oder skrupelloser Individuen sein könnte, um unschuldiges Leben zu vernichten. Generell werden die Nazi-Verbrechen als Argumentationsbasis herangezogen. Dem ist entgegenzuhalten, daß Euthanasie in unserer Zeit einer lebenswürdigen, d.h. lebenswerten Existenz dient, während die Nazi-Grausamkeiten eine rassistische Haltung gegen “Untermenschen” repräsentierten. Daß den Nazis bewußt war, daß die Endlösung (the so-called ‘euthanasia‘ programme) nicht ethisch zu begründen war, geht daraus hervor, daß diese Verbrechen geheim gehalten wurden. Der beste Schutz gegen einen Mißbrauch der echten (genuinen) Euthanasie ist ein funktionierendes, demokratisches System. Mit der Legalisierung wäre Euthanasie einem ärztlichen Kontrollmechanismus unterworfen, wogegen sie dzt. von Ärzten in Eigeninitiative geheim durchgeführt wird. Das Argument, daß durch eine tolerante Haltung gegen das Töten einer bestimmten Kategorie von Menschen zu einem generellen Zusammenbruch jeglicher Restriktionen führt, wird durch die Geschichte widerlegt. Wie historische Beispiele zeigen, wurde Euthanasie praktiziert, ohne daß die allgemeinen Hemmschwellen gegenüber dem Töten von Menschen gefallen wären.
Wie aus der obigen Darstellung hervorgeht, hat Singer Normen, die als selbstverständlich und nichthinterfragbar galten, angegriffen. Die im deutschen Sprachraum resultierende, heftige Reaktion läßt sich weitgehend auf die in der deutschen Übersetzung verwendete Begrifflichkeit zurückführen.
Auf die Schwierigkeit der Wahrung einer hermeneutischen Authentizität bei Übersetzungen hat schon Gadamer hingewiesen. Er zeigt auf, daß das Angewiesensein auf eine Übersetzung einer Selbstentmündigung des Lesers gleichkommt[xiii] und daß eine Übersetzung wie jede Auslegung eine Überhellung darstellt. Bei Grenzfällen, in denen im Original etwas wirklich unklar ist, befindet sich der Übersetzer sich in einer Zwangslage. Er muß klar sagen, wie er versteht.[xiv]
“Jede Übersetzung, die ihre Aufgabe ernst nimmt, ist klarer und flacher als das Original. Auch wenn sie eine meisterhafte Nachbildung ist, muß ihr etwas von den Obertönen fehlen, die im Original mitschwingen.”[xv]
Bei der Übersetzung der Practical Ethics wurde der semantische Inhalt des Textes - auch wenn es sich um eine korrekte, den Dolmetscherregeln konforme Übersetzung handelt - nicht nur in den “Obertönen” verfremdet, sodaß eine Fehlrezeption begünstigt wurde.
Zur Belegung dieser These mögen einige Beispiele dienen:
a) “What‘s wrong with killing” (A 72) stellt eine wertneutrale Frage zweckfreier Neugier dar. In der Übersetzung wird daraus die bewertende Frage “Weshalb ist töten verwerflich?” (RA 101), wobei durch das “verwerflich” schon eine moralische Indikation gegeben ist. In der Übersetzung von 1994 wird dieser Satz auf die rechtliche Ebene transferiert und lautet: “Weshalb ist Töten unrecht?”
b) Der Euthanasiebegriff ist durch die jüngere deutsch-österreichische Geschichte psychisch derart negativ belastet, daß die ursprüngliche Bedeutung der antik-griechischen Geistigkeit, die darin einen guten, ehrenvollen, zumindest nicht schändlichen Tod, einen Tod in Erfüllung des Lebens, der schnell und ohne Schmerzen eintritt[xvi], im deutschen Sprachraum völlig verloren ging. Obwohl aus dem Kontext der deutschen Ausgabe (RA 174ff) die Univozität des Singerschen Ansatzes hervorging, wurde dies bei vielen Kritikern nicht zur Kenntnis genommen.
c) Der Lebensunwertbegriff eines Menschen in der nationalsozialistischen Ära indizierte, daß der Betreffende nicht den Kriterien der damaligen Herrenmenschen entsprach, d.h. für die damalige Gesellschaft ohne Nutzen war. Singer zeigte die Tendenz der Nazi-Intentionen auf[xvii] und proponiert im Gegensatz dazu aktive Euthanasie, wenn sich das Leben für den Betroffenen - aus der Binnenperspektive - als lebensunwert erweist. Er vertrat dabei nicht nur die Position der freiwilligen, sondern auch die der nichtfreiwilligen Euthanasie.[xviii] Für ihn stand nicht der gesellschaftliche Wert des Individuums im Vordergrund. Den Vertretern des Standpunkts der Heiligkeit des Lebens warf er vor, daß sie bei konsistenter Beweisführung genötigt wären, jede Form des Lebens zu verlängern, gleichgültig wie hoffnungslos und schmerzhaft diese Existenz sei. Dieser Standpunkt sei für einen humanen Menschen zu grausam, um ihn zu unterstützen. (B 346)
Auf die Schwierigkeit der Übersetzung im Kontext zur Heiligkeit des Lebens verweist Roland Wittmann.[xix]
d) Das Slippery Slope Argument Singers wurde als sprachliche Metapher verwendet, um das Abgleiten des “guten Todes” in den Völkermord darzustellen. So wie man bei einem schlüpfrigen Hang ausgleiten und hinunterstürzen kann, könnte ein geregeltes Euthanasieverfahren in Völkermord enden.[xx] In der ersten deutschen Ausgabe wurde dieser Ausdruck mit “schiefer Bahn” übersetzt: “Wäre die Euthanasie der erste Schritt, der uns auf eine schiefe Bahn bringt?” (RA 210) Dem natürlichen Sprachempfinden assoziiert sich dieser Ausdruck sofort mit der Notion des Kriminellen, Verbrecherischen. Der obige Satz produziert bei solchen, die nicht das gesamte Werk gelesen haben, eine psychisch negative Besetzung und rückt die Singersche Euthanasie in die Nähe des Verbrechens. In der zweiten deutschen Ausgabe wurde diese Diktion beibehalten (RB 272), aber auf “schiefe Ebene” abgeändert (RB 108), welches sprachlich neutraler klingt.
Die ethische Position Singers, wie er sie in seiner Schrift Praktische Ethik vertritt, hat im deutschen Sprachraum erbitterte Kontroversen ausgelöst. Vorträge an Universitäten oder Symposien, zu denen Singer eingeladen wurde, mußten aufgrund öffentlichen Drucks abgesagt werden. Lehrveranstaltungen zu diesem Thema konnten aufgrund massiver Störaktionen nicht abgehalten werden. Ursache der Proteste waren Singers Thesen zur Euthanasie, im besonderen wurde seine Position zur Früheuthanasie und nicht- bzw. unfreiwilligen Euthanasie angegriffen. Man versuchte, Singer an der Darlegung seiner Argumente zu hindern, bei einem Vortrag in Zürich wurde Singer sogar körperlich malträtiert (B 357, Anhang). Universitätsprofessoren, die Lehrveranstaltungen zur Euthanasiethematik ansetzten oder Einladungen an Singer aussprachen, wurden diffamiert und angegriffen. Nur ein einziger Vortrag Singers konnte aufgrund des Geschicks von Prof. Meggle in Saarbrücken stattfinden.[xxi]
In der Folge berichtete die “Zeit” in einem Artikel[xxii] über die Ereignisse und setzte mit einer Artikelreihe zur Euthanasiethematik fort, was dazu führte, daß auch die “Zeit” Ziel der Protestaktionen wurde.
Die deutschsprachigen Fernsehsender berichteten über diese Vorfälle und Singer nahm an TV-Diskussionsrunden teil, wodurch er Gelegenheit hatte, seine Thesen nicht nur einem akademisch gebildeten Publikum, sondern auch einer breiten Öffentlichkeit vorzutragen.
Die Initiatoren hatten mit ihren Aktionen einen gegenteiligen Effekt zu dem beabsichtigten erzielt.
In englischsprachigen Ländern sind die Auffassungen Singers nicht mehr ungewöhnlich[xxiii]. Die schwerwiegenden Angriffe auf Singer in Deutschland führten in England zu Besorgnis und die “Aristotelian Society of Great Britain” drückte in einer Deklaration vom 16.9.1989 ihre Sorge über die akademische Freiheit, die Freiheit der Rede in bezug auf die rationale Diskussion wichtiger ethischer Belange aus[xxiv].
Singer drückt im Anhang der zweiten Ausgabe der Practical Ethics aufgrund seiner Erfahrungen starke Bedenken für die Entwicklung des rationalen Diskurses um neue ethische Themen in Deutschland und Österreich aus (B 353). Er stellt Bezüge zwischen dem Fanatismus, der in der Euthanasiediskussion aufgetreten ist und der Mentalität derer her, die den Nationalsozialismus ermöglichte. (B 354f).
Die Kritiken können in folgende Kategorien eingeteilt werden:
1) Distanz zur Position Singers, jedoch Betonung der Redefreiheit.
2) Kategorische Ablehnung, teilweise sehr emotional geführt, oft mit persönlichen Angriffen in einer pejorativen Diktion gegen die Person Singers und absolutem Nichtverstehen der Singerschen Intentionen verbunden.
3) Aufgreifen der Argument Singers und reflexive Auseinandersetzung mit seinen Themen.
Folgende Aussagen werden als Argumente gegen die Singersche Ethik vorgebracht:
Das menschliche Leben darf nicht verfügbar sein, menschliches Leben ist nicht lebensunwert.[xxv]
Personalität ist ein defizientes Kriterium für einen besonderen Schutz des Lebens.[xxvi]
Die Singerschen Thesen haben Affinität zur Nazi-Ideologie.[xxvii]
Die Argumente Singers ermöglichen eine Philosophie nach Gesichtspunkten der Rentabilität und der Konkurrenzfähigkeit. Die Gesunden halten ihren Lebensstandard auf Kosten der Kranken, Alten und Behinderten.[xxviii]
Die Singersche Philosophie verfolgt das Ideal einer leidensfreien Gesellschaft und sucht einen neuen Menschen.[xxix]
Tabus haben die Funktion eines sozialen Schutzprinzips und dürfen nicht gebrochen werden. Eine neue, negative Entwicklung in Richtung Euthanasie kann durch das Hinterfragen eingeleitet werden.[xxx]
Das Mitleidsargument ist nur Vorwand. Diese Philosophie ist sozio-technokratisch und inhuman.[xxxi]
Interessen, Präferenzen, Glück können nicht nach objektiven Kriterien verglichen werden bzw. sind generell inkommensurabel.[xxxii]
Singer sah keine Notwendigkeit, seine Position zu den diversen Themen zwischen den beiden Ausgaben zu modifizieren. In Diskussionen mit Freunden und Kollegen wurde er in seiner Überzeugung, daß die konsequentialistische Methode der ethischen Problemlösung richtig sei (fundamentally sound), nur bestärkt.
Zwei Modifikationen in bezug auf die Form des Konsequentialismus sind jedoch eingetreten:
1. Singer verwendet die Differenzierung Hares‘, der zwischen zwei verschiedenen Ebenen der moralischen Argumentation (moral reasoning): der intuitiven und der reflexiven, kritischen Ebene.
2. Die Kombination von Totalansicht und Vorausgesetzte-Existenz-Ansicht, wobei jene von ihm für lediglich empfindungsfähige, diese für selbstbewußte Lebewesen versuchsweise vorgeschlagen wurden, hält er nicht mehr aufrecht. Er sei zur Schlußfolgerung gelangt, daß der auf Präferenzen basierende Utilitarismus eine hinreichend scharfe Trennungslinie zwischen diesen beiden Lebensformen ziehe und damit eine Version des Utilitarismus für alle empfindungsfähigen Wesen genüge.
Singer paraphrasierte in der zweiten Ausgabe verschiedene Passagen, ohne semantische Änderungen vorzunehmen. Die verwendeten Exempel wurden modifiziert und aktualisiert. Neue Kapitel bezüglich Flüchtlings- und Umweltproblematik, sowie Erweiterungen wurden zu den bestehenden Kapiteln hinzugefügt, wie A Concluding Note: Equality and Disability (B 51ff), The Status of the Embryo in the Laboratory (B 156ff), Making Use of the Fetus (B 163ff), etc.
Wie aus der Darstellung der Singerschen Ethik hervorgeht, kann man gegen Singer nicht den Vorwurf erheben, daß er aufgrund seiner ethischen Position ein unmoralischer Mensch sei. Die Vorwürfe, die seine Lehre in die Nähe der nationalsozialistischen Ideologie rükken, sind völlig unhaltbar und weitgehend auf ein Nichtverstehen der Singerschen Intentionen zurückzuführen. Singer versucht mit diesem Buch, eine neue Ethik zu begründen und durch eine utilitaristische Orientierung die ethischen Probleme unserer Zeit zu lösen.
Die Problematik, die in unserer Behandlung der Tiere, der Euthanasie, den Umweltproblemen, in der Abtreibung, im Umgang mit fötalem Gewebe liegt, kann - nach Singer - durch die traditionellen Ethiken nicht gelöst werden.
Die emotionalen Ausbrüche, die nach der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe Praktische Ethik erfolgten, stellen keine angemessene Reaktion auf eine philosophische Arbeit dar. Diese Reaktionen sind weitgehend auf ein Unverständnis und auf die Unkenntnis der philosophischen Tradition zurückzuführen, aus der heraus Singer argumentiert. Es gilt jedoch, metaethisch zu untersuchen, ob diese Ethik eine aktualisierbare Basis für menschliches Handeln in moralischer Hinsicht bietet oder ob sie - genauso wie andere Ethiken - einen defizienten Modus existentialen Theoretisierens darstellt - mit anderen Worten: Ist es Singer gelungen, eine neue Ethik zu introduzieren?
Die Frage, warum man moralisch handeln soll, wird von Singer damit beantwortet, daß wir nichts über die letzten moralischen Motive sagen können. Ob wir aus ethischen Überlegungen, Eigeninteresse, Etikette oder Ästhetik handeln, ist nur auf Meinung gegründet bzw. auf eine zufällige Wahl (arbitrary choice) zurückzuführen. Für Singer ist die Universalisierbarkeit ethischen Urteilens ein unterscheidendes Kennzeichen von Ethik. Ethik verlangt von uns, daß wir von einer persönlichen, egozentrischen Weltsicht zur Weltsicht eines unparteiischen Betrachters schreiten, welcher einen universalen Standpunkt einnimmt (B 317). Singer versucht mit diesem Universalitätsbegriff eine Basis zu schaffen, die eine applizierbare Grundlage allgemeingültiger, ethischer Normen zu Verfügung stellt. Alle Menschen sollen dadurch verpflichtet werden, diese Prinzipien anzuwenden. Das Gleichheitsprinzip stellt den Garant der Universalisierbarkeit für alle Personen dar. In dieser Begrifflichkeit liegt jedoch nicht die Universalisierbarkeit der Regeln als quasi subsistierende Struktur menschlichen Denkens, welches versucht, die Applizierbarkeit auf normatives Verhalten im faktischen Bereich - in Richtung “Sache” - zu fixieren. Dieser Universalitätsbegriff kennt keine objektive, unveränderliche Grenzbestimmung. Allgemeingültigen Regeln, wie “Lüge nie!”, schreibt Singer zwar das Prädikat “ethisch” zu, bezeichnet solche Normen aber als “großartige Urteile” (sweeping judgements). Der Kontext weist auf eine leicht pejorative Bedeutung[xxxiv]. In den Practical Ethics kommt die pragmatische Einstellung Singers noch stärker zum Vorschein. Die Sicht aus der Perspektive des Universums wird als hehrer Standpunkt (lofty standpoint) bezeichnet. In deren dünnen Luft (rarified air) könne man zu einer Redeweise hinweggetragen werden wie Kant, der in Hinsicht auf die moralische Sichtweise von einer unvermeidlichen Demütigung aller spreche, wenn man seine eigene, beschränkte Natur mit dieser vergliche.
Singer spricht sich expressis verbis gegen eine solche Betrachtungsweise aus (B 334). Seine Universalität beschränkt sich auf Unparteilichkeit und Transzendenz des egozentrierten Horizonts, d.h. Interessen und Haltungen können nicht mehr Gewicht haben, nur weil sie die eigenen sind.[xxxv] Einen ethischen Standpunkt (Sichtweise) zu vertreten heißt, den möglichst objektivsten Standpunkt einzunehmen und sich damit zu identifizieren. Das ist der “Standpunkt des Universums”, wie er von Sidgwick genannt wird (B 334).
Diese begriffliche Extension bietet hohe Flexibilität in Hinsicht auf veränderte Sachlagen und ermöglicht die Modifizierung von Regeln, falls erforderlich. So kann z.B. die Regel der Heiligkeit des Lebens obsolet sein, wenn sich aus einer atheistischen Weltsicht nach utilitaristischen Prinzipien bei einer Analyse der Lebensumstände als Resultat lediglich Leid ergibt. Euthanasie kann ohne Verstoß gegen das Universalisierbarkeitspostulat praktiziert werden. Diese Konzeption läßt einer konsequentialistischen Ethik nicht nur Raum für notwendige Entscheidungen und Handlungen bei äquivoken Normen, sondern ermöglicht auch die erforderlichen Abänderungen bei eindeutig falschen Regelungen. Deontologische Restriktionen, die keine Lösungen für neuartige Probleme im ethischen Bereich bieten und nur durch das von Singer angegriffene Erweitern und Schaffen neuer Regelsysteme bewältigt werden können, ergeben sich aus diesem Ansatz nicht. Ethische Probleme können systemimmanent ohne Qualitätsänderung oder strukturellen Veränderungen gelöst werden.
Der Interpretation Jantzens[xxxvi], daß Singers Standpunkt des Universums eine Reduktion auf reine Rationalität darstellt und durch einen Verzicht auf Gefühle verbiete, Glück und Leid als sozial vermittelte Formen menschlichen Seins zu begreifen, kann nicht beigepflichtet werden, da Singer mit seinem Universalitätsbegriff lediglich versucht, seinen ethischen Thesen Allgemeingültigkeit zu verleihen, ohne die von ihm geforderte Flexibilität ethischer Begründungsmodi aufgeben zu müssen. In dieser Argumentationsstruktur liegt jedoch auch die Schwäche des Singerschen Lösungsansatzes: Durch den Verzicht auf jegliche, absolute Grenzbestimmung wird die Akzeptanz moralischer Normen in den intersubjektiven Konsens verlegt. Wie Singer selbst im Abschnitt zur Demokratie feststellt, ist es keineswegs sicher, daß die Majorität - im politischen Bereich - immer die richtige Entscheidung trifft (B 300). Es ist nicht schlüssig, daß eine intersubjektiv gefundene Lösung zu einem moralischen Problem immer zu einer objektiv verifizierbaren, eindeutigen Richtigkeit des Lösungsansatzes führt. Durch das Fehlen jeglicher Grenzbestimmung kommt das in die Singersche Ethik, was er selbst für den ethischen Bereich striktest ablehnt (B 6f): Sie wird subjektiv, d.h. die Entscheidung wird in das kollektive Subjekt (der Personen) verlegt, und dadurch relativistisch, da das strenge Kriterium für eine objektiv richtige Interessensabwägung fehlt.
Interesse ist der archimedische Punkt der Singerschen Ethik und wird von Singer als Basis für eine ethisch-orientierten Lebensweise proponiert. Singer versucht außerdem, Interesse als allgemeingültiges Entscheidungskriterium zur Lösung ethischer Probleme zu introduzieren und auf ein quasi wissenschaftliches Niveau zu stellen, d.h. damit eine neue Ethik zu entwickeln. Aufgrund der konsequentialistischen Orientierung wird Interesse in dieser Arbeit nicht als abstraktes Prinzip thematisiert und als solches einer philosophischen Untersuchung unterzogen, sondern es wird versucht, anhand konkreter Probleme eine praktische Philosophie zu entwickeln, deren Mängel durch fortlaufende Korrekturen beseitigt werden. Singer glaubt, auf diese Weise die negativen Konsequenzen einer deontologischen Ethik zu vermeiden. Interesse nimmt dabei einen Stellenwert ein, der dem des kategorische Imperativ in der Ethik Kants gleichkommt. Durch die Reduktion des Interessensbegriffs auf Freudens- und Leidensfähigkeit (B 57) wird das Tertium comparationis der Interessen aller Lebewesen postuliert. Singer verwendet damit eine Argumentationsbasis, die der utilitaristischen Tradition entspricht. Luststreben und Schmerzvermeidung können berechtigterweise als fundamentale Interessen aller Lebewesen betrachtet werden, wenn auch eine qualitative Differenz zwischen dem Bewußtsein personaler und dem Bewußtsein nichtpersonaler Lebewesen besteht. Das Interessenskriterium wird auf verschiedene Sphären des Lebens ausgedehnt. Singer reflektiert in diesem Horizont die Probleme des Rassismus, Flüchtlingsprobleme, konfligierende Interessen werdender Müttern und Föten, etc.
Die Singersche Konzeption, Interesse als fundamentales ethisches Prinzip zu verwenden, wird auch von anderen Philosophen geteilt. Helga Kuhse[xxxvii] geht von der Voraussetzung aus, daß Interessen die Bausteine der Moral sind und daß ein Wesen moralische Achtung verdient, wenn es Interessen hat.
“Wenn auch die Fähigkeit, Freude und Schmerz zu
empfinden, nicht die einzige Eigenschaft ist, aufgrund deren menschliche (und
andere) Wesen Interessen haben und Achtung verdienen, so ist die Fähigkeit,
Bewußtseinszustände zu erfahren, doch immer die Voraussetzung für alle
anderen moralisch bedeutungsvollen Werte, wie die Befriedigung von Präferenzen
und Wünschen, selbstbestimmtes Handeln, das Streben nach moralischen Zielen,
Idealen und so weiter. Das bedeutet, daß Interessen, und nicht das Lebens als
solches, moralisch bedeutungsvoll ist.”
Auch hier werden die individuellen Präferenzen wie bei Singer betont.
Zu hinterfragen ist, ob Interesse als grundlegendes, ethisches Prinzip die hinreichende Bedingung für die theoretische Begründung einer praktikablen, allen Belangen der existentiellen Lebensproblematik genügenden Ethik darstellt.
Eine Untersuchung der formalen Relevanzstruktur von Interesse ergibt eine vierfach reziprok konfligierende Korrelation:
1. das individuelle Interesse (die Interessen der einzelnen Individuen)
2. kollektive Interessen (die Interessen der Gemeinschaft)
3. Qualität der Interessen
4. Quantität der Interessen
Das von Singer postulierte Verfahren einer objektiven Interessensabwägung ist aufgrund der Subjektivität eines personalen Individuums ein aussichtsloses Unterfangen, da sowohl Objekt als auch Wertschätzung der verschiedenen Interessen differieren. Das Auffinden allgemeingültiger Beurteilungskriterien, welche die adäquate Applikation des Interessensprinzips in der objektiven Realität existentiellen Seins möglich machen, darf mit Berechtigung als unüberbrückbarer Hiatus personalen Reflexionsvermögens angesehen werden.
In der Folge werden kasuistische Fallbeispiele angeführt, welche die Problematik einer auf Interesse fundierten Ethik - und damit auch der Singerschen Ethik - aufzeigen.
Selbstverwirklichung ist das höchste Interesse personaler Individuen. In der Realisierung dieses Ziels wandeln sich die verschiedenen partikulären Interessen, weshalb intraindividuelle Interessenskonflikte als wesentlicher Bestandteil selbstbewußten Lebens angesehen werden können. Das Individuum sieht sich oft in ausweglosen Situationen und kein noch so ausgefeiltes Prinzip kann aufgrund der Komplexität personaler Existenz Abhilfe schaffen.
Eine Kollision verschiedener Interessen tritt im Zusammentreffen mit anderen Individuen auf.
Anhand eines einfachen Beispiels läßt sich zeigen, daß eine durch entgegengesetzte Interessen entstandene Konfliktsituation im individuellen Bereich nicht durch die Anwendung des Prinzips der gleichwertigen Interessensabwägung zu lösen ist:
Eine Person mit rheumatischen Beschwerden hat sofort Schmerzen, wenn sie dem geringsten Luftzug ausgesetzt ist. An ihrem Arbeitsplatz muß sie mit einer ca. 50jährigen Frau zusammenarbeiten, welche aufgrund des Menopausen-Syndroms Wallungen hat. Diese muß auch zu Winterszeiten die Fenster öffnen, um ihre Hitzeempfindungen und die damit verbundene Übelkeit in den Griff zu bekommen, was aber zu einer Abkühlung der Zimmertemperatur und zu Luftzug führt.
Der Konflikt läßt sich nicht durch eine Interessensabwägung lösen, da beide Parteien vergleichbare, körperliche Beschwerden aufweisen und die Bevorzugung der Interessen einer Partei zu körperlichem Unwohlbefinden der anderen Partei führt.
Interessen können der Art nach gleich, den individuellen Interessen aber diametral entgegengesetzt sein, wie die Konkurrenz im wirtschaftlichen Bereich:
Z.B. bewerben sich zwei völlig gleich qualifizierte Manager um eine leitende Position in einem kaufmännischen Betrieb.
Bei beiden ist das Interesse, die Stellung zu erhalten, gleich zu bewerten. Zusätzliche Kriterien, wie z.B. daß der eine Manager verheiratet ist und eine Familie zu ernähren hat, während der andere ledig ist und daher keine zusätzlichen sozialen Lasten zu tragen hat, führen bereits über das bewerbungsrelevante Interessenskriterium hinaus. Bei Anwendung zusätzlicher Interessenskriterien kommt das Gerechtigkeitskalkül ins Spiel: Ist eine derartige Berücksichtigung anderer Interessen gerecht?
Wie aus diesen alltäglichen Beispielen ersichtlich ist, führen die diametral entgegengesetzten Interessen in Antinomien.
Die Komplexität der Möglichkeit von Interessenskonflikten steigt bei Kollektivinteressen, d.h. bei Interessenskonflikten zwischen Individuum und Gemeinschaft bzw. zwischen verschiedenen Gruppen, exponential an. Singer thematisiert diese Art von Interessenskonflikt im 9. Kapitel der zweiten Ausgabe[xxxviii] anhand der Flüchtlingsproblematik. Seiner sozialen Einstellung entsprechend ergreift er die Partei der Flüchtlinge.
In der Parabel eines Bunkers, in dem sich nach einem Atomkrieg die Insassen einem luxuriösen Leben hingeben, während diejenigen, die draußen geblieben sind, durch eine lebensgefährliche, radioaktive Strahlung bedroht werden, stellt Singer den kontemporären Konflikt zwischen den Interessen der Wohlfahrtsstaaten und den Interessen der Flüchtlinge aus den Entwicklungsländern dar. Das Problem stellt sich als Frage, ob Flüchtlinge überhaupt aufgenommen werden sollen und in welchem Ausmaß, oder ob man Flüchtlingen generell die Aufnahme verweigern soll.
Die allgemeine Einstellung, Flüchtlingsaufnahme als Gnadenakt aufzufassen, weist Singer genauso zurück[xxxix] wie die Position des Amerikaners Michael Walzer, daß eine Gemeinschaft das Recht habe, sich nach außen abzugrenzen und nur ethnisch Nahestehende das Recht hätten, aufgenommen zu werden (B 253). Diese orthodoxen Meinungen seien sehr vage und beruhten nicht auf einer argumentativen Begründung (B 255). Ein Konsequentialist würde die Flüchtlingspolitik gemäß dem Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung auf die Interessen aller Beteiligten ausrichten, weshalb die Interessen Priorität hätten, welche virulenter (more pressing) wären oder eine fundamentalere Bedeutung hätten.
Deshalb wären die Interessen der Flüchtlinge zu präferieren, wobei Singer in Parteinahme für die Flüchtlinge sehr emotiv durchsetzte Argumente verwendet.
In der Schilderung der Lage, in welcher sich Flüchtlinge befinden, rekurriert Singer auf einen Bericht eines Beobachters aus einem Flüchtlingslager an der thailändisch-kambodschanischen Grenze, dessen Impressionen die triste Situation der Flüchtlinge sehr anschaulich und für den Leser bedrückend wiedergeben. Singer folgert, daß Flüchtlinge im Einwanderungsland für einen ökonomischen Aufschwung und eine kosmopolitische Atmosphäre sorgten. Flüchtlinge seien bessere Staatsbürger, weil sie nicht wie reguläre Einwanderer in ihr Heimatland zurückkehren könnten. Durch ihr Überleben auf der Flucht hätten sie Ausdauer und Initiative bewiesen und wären eine Bereicherung für ihr neues Heimatland (B 257). Negative Auswirkungen, wie größere berufliche Konkurrenz, Verschärfung der Situation auf dem Wohnungsmarkt und das damit verbundene Ansteigen der Ausländerfeindlichkeit, negative Auswirkungen auf nationale Ökonomie und Ökologie, werden diminutiv dargestellt. Der Lebensstil der Bürger von Wohlfahrtsstaaten wird mit Verschmutzung der Umwelt durch Motorsport, Schifahren und Wegwerfen von Müll charakterisiert und wird in Gegensatz zu den Interessen der Flüchtlinge gesetzt, wodurch der Eindruck entsteht, daß diese dadurch benachteiligt würden. Singer folgert, daß ein derartiges Verhalten empörend sei und gegen das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung verstoße. Er hält die Exposition dieses Verhaltens für ausreichend, um die Haltlosigkeit einer solchen Position aufzuzeigen, sodaß er keine weitere Kritik hinzufügt (B 260). In der Entwicklung des Arguments wird auf der einen Seite der Eindruck eines Wohlstandsbürgers erzeugt, der hemmungslos dem Luxus frönt, und dadurch mit seinen unberechtigten Interessen den Flüchtlingen die Befriedigung berechtigter Interessen verwehrt. Das Argument ist rein emotiv aufgebaut und liefert keine hinreichende Begründung.
Ziel der Argumentation Singers ist es, die Verdoppelung der Flüchtlingsaufnahmequote in Australien zu begründen.
Bei der Entwicklung des Arguments gelangt Singer bei konsistenter Beweisführung zu dem Punkt, an dem als Folge eine infinite Verdoppelung eintritt. Da dies zu einer allgemeinen Verarmung führen würde, wendet er sich gegen diese Konsequenz (B 261). Der Punkt eines Aufnahmestops für Flüchtlinge wäre erreicht, wenn die ansteigende Einwanderung einen irreparablen Schaden zufügen würde oder wenn die gegenseitige Toleranz wegen ansteigender Ausländerfeindlichkeit zusammenbrechen und damit eine Gefahr für den Frieden und die Sicherheit der bereits ansässigen Bevölkerung (Flüchtlinge und Einwohner) darstellen würde.
Die Frage im Kontext mit der Singerschen Argumentation lautet nicht, ob die Wohlstandsstaaten Flüchtlingshilfe leisten sollten, sondern ob das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung zuverlässige Entscheidungen im Sinne einer ethischen Lebenseinstellung ermöglichen kann.
Die Problematik zeigt sich schon im vorhergehenden Kapitel, Rich and Poor, wo Singer den individuellen Beitrag zur Entwicklungshilfe mangels eines zuverlässigen Entscheidungskriteriums in Anlehnung an den mittelalterlichen Zehnt mit 10% ansetzt. Analog dazu kann gegen Singer argumentiert werden, daß die Verdoppelung der Flüchtlingsaufnahmequote ein willkürliches Festsetzen des Wertes ohne entsprechende, sachliche Grundlage darstellt. Bei einer konsequenten und konsistenten Anwendung des Prinzips der gleichwertigen Interessensabwägung aus Sicht eines unparteiischen Beobachters könnten Menschen bzw. Flüchtlinge aus Entwicklungsländern mit Recht den Anspruch erheben, Zugang zu den Ressourcen der Wohlfahrtsstaaten zu erhalten, und zwar so lange, bis der allgemeine Reichtum das gleiche Niveau hat. Es gibt aus dieser universalen Sicht keine logische Begründung, warum ein Teil der Weltbevölkerung wohlhabend das Leben genießen soll, während der andere Teil der Weltbevölkerung ein Leben in Armut fristet. Flüchtlinge können in Berufung auf das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung mit Recht fordern, immer von einem Land aufgenommen werden, und zwar so lange, bis der Besitz zwischen Neuankömmlingen und den Ansässigen völlig nivelliert ist. Wenn es zu Unruhen und Ausländerfeindlichkeit kommt, weil die ansässigen Einwohner nicht teilen und sich dem verschärften Konkurrenzkampf stellen wollen, so ist dieses unsoziale Verhalten auf Egoismus und Geiz zurückzuführen, was bekanntlicherweise nicht die besten menschlichen Eigenschaften sind und deshalb wohl schwerlich auf die unbestechliche Waagschale berechtigter Interessen gelegt werden können.
Vor dieser logischen Konsequenz einer konsistenten Auslegung des Prinzips der gleichwertigen Interessensabwägung schreckt Singer zurück. Durch die negativen Konsequenzen - worunter hier nicht moralisch negative Konsequenzen zu verstehen sind - schwingt aufgrund der konsequentialistischen Orientierung das Pendel zugunsten der Interessen der ansässigen Bevölkerung zurück. Durch die Verankerung dieses Grundsatzes im Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung wird moralisches Verhalten niemals genötigt, Unangenehmes auf sich zu nehmen. Man könnte deshalb das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung eher als “Prinzip der Bequemlichkeit”, denn ein ethisches Prinzip bezeichnen.
Bei dem obigen Flüchtlingsbeispiel zeigt sich eine weitere Defizienz dieses Prinzips: Es kann keine Hilfestellung bei der Selektion geben, welche Flüchtlinge aufgenommen werden. Das Interesse jedes Flüchtlings, aufgenommen zu werden, muß nach dem Gleichheitsprinzip mit der gleichen Priorität behandelt werden. Um zu einer Wertigkeit zu gelangen, müssen zusätzliche Kriterien herangezogen werden, wie Alter, Fähigkeiten, etc. Durch das Verwenden zusätzlicher Parameter wird das grundlegende Kriterium - Aufnahme in ein Land - verwässert und die zusätzlichen Kriterien unterliegen dem persönlichen, d.h. subjektiven Ermessen.
Ein weiteres, fiktives Beispiel, welches sich aber im Laufe der menschlichen Geschichte sehr oft in ähnlichen Konstellationen abgespielt haben mag, veranschauliche die Defizienz des Prinzips der gleichwertigen Interessensabwägung:
In einem Krieg wird bei Rückzugsgefechten eine Kompanie mit dem Befehl zurückgelassen, den Feind um jeden Preis aufzuhalten und bis zum letzten Mann zu kämpfen. Nehmen wir an, es handelt sich um eine notwendige, aus militärischer Sicht richtige Maßnahme, um den Rückzug einer Division zu retten, welche ansonst vielleicht völlig aufgerieben würde. Dieser Befehl bedeutet für jeden Angehörigen der eingesetzten Kompanie den sicheren Tod.
Bei einer Abwägung der Interessen liegen die individuellen Interessen (zu überleben) der Kompanieangehörigen auf der einen, das Interesse der Division (als Organisationseinheit weiterzubestehen) auf der anderen Waagschale. Während die Kompanieangehörigen konkret ihr Leben verlieren, d.h. den höchsten Preis zahlen, den ein Mensch zahlen kann und sich damit in einer existentiellen Grenzsituation befinden, steht für die Division ein quasi ideeller Wert auf dem Spiel. Die Militärs würden argumentieren, daß durch den Verlust der Division die gesamte Front zusammenbrechen würde, daß der Krieg durch diese Niederlage zugunsten des Feindes entschieden würde, etc.
Die ethisch relevante Frage bei diesem Exempel lautet, ob die Gemeinschaft von einer kleineren Gruppe den Einsatz des höchsten Gutes, das Leben, fordern kann oder nicht. Das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwertung kann hier nicht helfen, da auf der einen, kleineren Seite, der höchste Wert auf dem Spiel steht, während auf der anderen Seite, der größeren Gemeinschaft ein abstrakter Wert, wie z.B. der Fortbestand des Staates, eingesetzt wird.
Der Konflikt kollektiver Interessen mit der Unentscheidbarkeit durch das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung wird in einem tatsächlichen, sehr aktuellen Beispiel sehr anschaulich dokumentiert:
Heuersdorf ist ein kleiner Ort in Deutschland, der auf einem Braunkohlenflöz steht. Durch den Abbau dieses Flözes ist die Braunkohlenindustrie für vier Jahre ausgelastet und die Beschäftigung tausender Arbeiter gesichert. Um den Flöz abbauen zu können, ist es notwendig, Heuersdorf abzureißen. Die Einwohner wehren sich, da dies den Verlust ihrer Heimat bedeutet und die angebotenen Entschädigungen als unzureichend angesehen werden.[xl]
Die Interessen beider Parteien sind als gleichwertig anzusehen und das Problem ist deshalb nach Kriterien des Prinzips der gleichwertigen Interessensabwägung nicht lösbar.
Das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung gilt bei Singer als der Garant für eine adäquate Beurteilung diverser - auch divergierender - Interessen, wodurch das Prinzip der Gleichheit zum Zuge kommt und eine soziale Gerechtigkeit, aber auch eine Gerechtigkeit zwischen den verschiedenen Speziesformen erreicht werden soll. Singer verwendet die Metapher einer Waage, welche die Interessen unparteiisch wiegt:
“The principle of equal consideration of interests acts
like a pair of scales, weighing interests impartially. True scales favour the
side where the interest is stronger or where several interests combine to
outweigh a smaller number of similar interests; but they take no account of
whose interests they are weighing.” (B 22)
Durch die Diktion “true scales” wird die Notion hineingelegt, daß das unparteiische In-Betracht-Ziehen der verschiedenen Interessen den Stellenwert einer erkenntnistheoretischen Wahrheit besitzt. Es wird der Eindruck hervorgerufen, als ob Interessen quantifizierbar seien und deshalb ihre variablen Größen nach einer unbestechlich richtigen Methode auf ein kommensurables Niveau gebracht werden könnten. Singer wurde wegen dieser Position angegriffen[xli].
Der Ansatz Singers, Interesse zu quantifizieren, um analog der naturwissenschaftliche Methode, welche in der Zahl eine zuverlässige Basis zur Deskription und Evaluierung der verschiedenen Phänomene gefunden hat, die einzelnen Interessen miteinander vergleichen zu können, ist vom strukturellen Ansatz her richtig. Nur durch eine simplifizierende Reduktion auf quantitative Aspekte ist eine objektive Bewertung der einzelnen Interessen aus Sicht eines unparteiischen Beobachters möglich. Die Komplexität des realen Lebens läßt jedoch eine solche simplifizierende Nivellierung nicht zu.
Als Argument für das Prinzip des sinkenden Grenznutzens verwendet Singer das Beispiel, daß zusätzliche 50 Gramm Reis bei einer Tagesration von 200 Gramm einen essentiellen Zuwachs bedeutet, während dies für jemanden mit einem Kilo Reis ein nur unbedeutender Zuwachs wäre (B 24). Dies ist aus ökonomischer Sicht richtig. Nehmen wir aber an, daß jemand mit einem Kilogramm Reis Tagesration in Notzeiten Anspruch auf zusätzlich erhältliche 50 Gramm erhebt und dies damit begründet, daß er doppelt so viel wiege, wie ein anderer mit nur 200 Gramm Tagesration. Er habe aufgrund seines höheren Körpergewichts einen höheren Nahrungsbedarf als der andere. Das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung kann hier keine Hilfestellung geben, da jeder für sich einen Anspruch auf zusätzliche 50 Gramm erheben kann. Das Prinzip des sinkenden Grenznutzens orientiert sich nach dem objektiven Gewicht des Reises und kann das Kriterium eines höheren Nahrungsbedarfes aufgrund höheren Körpergewichts nicht erfassen. Medizinisch läßt sich aber ein solcherart höherer Nahrungsbedarf sicherlich begründen.
Im Beispiel des Erdbebenopfers (B 25) wird der Verlust eines Zehen (Opfer A; hat ein Bein verloren und ist in Gefahr zusätzlich einen Zehen zu verlieren) gegen den Verlust eines Beins (Opfer B; verliert nur dieses Bein) abgewogen. Jeder wird Singer aus Sicht des unbeteiligten Dritten beipflichten, daß der Verlust eines Beins schwerwiegender ist als der Verlust eines Zehen, aber der Betroffene beurteilt seine eigene Lage immer anders. So könnte A, der den Zehen verliert, diesen Verlust als existentielle Bedrohung ansehen und darüber den Verstand verlieren, was zu einer Psychose führen könnte. Ist dann der Verlust eines Beins noch immer schwerwiegender als der Verlust eines Zehen? A könnte als Argument anführen, daß er sowieso schon ein Bein verloren habe und deshalb nicht noch zusätzlich einen Zehen verlieren wolle. Es sei nur gerecht, daß B ebenfalls ein Bein verliere. Wenn sein Zehe gerettet würde, wären beide gleich benachteiligt, während der Schaden bei ihm größer wäre, wenn er auch noch einen Zehen des verbliebenen Beins verliere.
Diese Argumente zeigen, daß ökonomische Kriterien bei einer Beurteilung ethischer Sachlagen nicht die subjektive Sicht und die damit verbundene Begründung außer kraft setzen können. Subjektive Argumente haben jedoch ihre Berechtigung, da sie Indikatoren für Interessen sind. Ökonomische Axiome oder Sichtweisen führen im ethischen Bereich aber immer nur zu instrumentalen Werten und können keine absolute, d.h. intrinsische Werte vermitteln. Anhand der beiden vorigen, ursprünglich von Singer verwendeten Beispiele lassen sich bei den entsprechenden Modifikationen paradoxe Resultate erzeugen, welche die Defizienz des Prinzips der gleichwertigen Interessensabwägung auch in quantitative Hinsicht aufzeigen.
Jürgen Stenzel[xlii] übt am Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung Kritik, weil es dabei um den quantitativen Vergleich von Interessen und nicht um Gleichberechtigung von Lebewesen gehe. Es gehe Singer nicht um das Wohl des Einzelnen, sondern um die Quantität des Gesamtleids und der Gesamtlust. Stenzel[xliii] bezieht sich dabei auf das Beispiel mit den Erdbebenopfern. Aufgrund der quantitativen Orientierung der Ethik könne man, um das Leben von vier Personen zu retten, einen gesunden Menschen töten.
“Es kommt für Singer, wie aus diesem Beispiel
ersichtlich, nicht auf das Wohl des einzelnen an, sondern es ist stets wichtig,
die Quantität des Gesamtleidens und die Gesamtlust zu errechnen, unparteiisch,
d.h. unabhängig von persönlichen Einzelinteressen. Das Leiden des einzelnen
spielt gerade dann keine Rolle, wenn dadurch eine größere Summe von Leiden bei
anderen reduziert werden kann. Wir haben es demnach mit einer auf das Wohl der
größten Zahl ausgerichteten Ethik zu tun.
Wenden wir vor diesem Hintergrund das Prinzip der
gleichen Interessenerwägung auf einen anderen Fall an und denken uns folgende
Situation: Ein Arzt hat vier todkranke Patienten. Jedem von ihnen fehlt ein
lebenswichtiges Organ, jedem ein anderes, und ohne ein neues Organ müßten alle
vier in Kürze sterben. Nun wird ein Unfallopfer eingeliefert, ein Mann, der
infolge zerquetschten Gehirns beim Stande des medizinischen Wissens eigentlich
keine Überlebenschance hat; er wird, aller Erfahrung nach, in spätestens zwei
Wochen sterben. Der Arzt könnte dessen Organe jenen vier Patienten einpflanzen
und sie so am Leben erhalten. Er hätte einen Menschen geopfert, um vier am
Leben zu erhalten, statt fünf Toten also (denn dieser eine wäre ja ohnehin gestorben),
haben wir vier Überlebende. - Singers Theorie zufolge müßte diese Handlung des
Arztes ethisch unbedenklich sein, denn nach dem Prinzip der gleichen
Interessenerwägung muß das Überlebensinteresse von vier Menschen moralisch höher zu bewerten sein als das eines
Menschen, noch dazu eines hirnverletzten.
Wer in dieser Argumentation noch keine Absurdität
entdecken kann, der modifiziere das Beispiel: Wenn es moralisch vertretbar
sein soll, einen Menschen zu opfern, um vier am Leben zu erhalten, dann wäre
dies auch dann noch moralisch gutzuheißen, wenn dieser eine gar kein
hirngeschädigtes Unfallopfer ist, sondern ein x-beliebiger, gesunder Mensch.
Vier Lebendige sind immer mehr als
ein Toter, also könnte der Arzt auch irgendeinen geeigneten Menschen von der Straße aufgreifen lassen
und ihn für das Leben der vier hinschlachten!? Mit Singers Morallehre wäre
dies nicht nur vereinbar, es müßte vernünftig und also dem verantwortlich
handelnden Arzt eine Pflicht sein.
Die Absurdität liegt hier in jenem die ganze Theorie
Singers durchziehenden quantitativen Argument, das mit dem Prinzip der gleichen
Interessenerwägung aufs engste verschränkt ist und dieses zu einem ökonomistischen
Prinzip macht.”[xliv]
Stenzel folgert, daß man die praktische Ethik Singers mit dem Verdikt Pseudoethik etikettieren könne.
Stenzel kann jedoch bei seiner Schlußfolgerung, daß Singer den persönlichen Einzelinteressen bzw. dem individuellen Leid gegenüber gleichgültig sei und nur in abstrakten Summenbegriffen denke, nicht beigepflichtet werden. Singers Versuch, Interessen quantitativ zu erfassen, ist m.E. als methodischer Ansatz zu werten. Was er in der Kasuistik des Erdbebenopfers prinzipiell zu begründen versucht, wird von der Ärzteschaft in Krisenfällen laufend praktiziert. Es wäre ausgesprochen paradox, bei der Zuteilung von Medikamenten Patienten mit unerträgliche Schmerzen aus rigiden Gleichheitsprinzipien die gleiche Menge zuzuteilen wie einem Patienten mit schwachen Schmerzen.
Der Schwachpunkt der Singerschen Ethik liegt darin, daß sie eine Individualethik ist, aber das Begründungsaxiom auf einer allgemeinen Grundlage - dem Interesse - ohne definitive Grenzziehung setzt. Interesse stellt keine hinreichende Bedingung dar. Bei Zunahme der Komplexität des Geschehens oder der Sachlage kann die Singersche Ethik keine Antwort geben. Dies wird beim Beispiel Stenzels klar aufgezeigt. Aus Sicht eines unparteiischen, unbeteiligten Beobachters wiegt das Leben von vier Menschen nach quantitativen Kriterien eindeutig höher als das Leben eines - auch gesunden - Menschen. Subjektiv liegt das Leben jedes der Beteiligten am Überleben. Singer könnte jedoch argumentieren, daß der Mann mit der zerebralen Schädigung keine Person sei und deshalb bei den Interessen nicht berücksichtigt werden müsse. Der Mensch wird aber dadurch zu einem instrumentalen Wert degradiert.
Die egalisierende Forderung Singers, daß Interessen die gleiche Wertschätzung entgegenzubringen sei, gleichgültig, ob es sich um Interessen menschlicher oder nichtmenschlich-tierischer, selbstbewußter oder nichtselbstbewußter Tiere handle (B 74), wird von ihm nicht in einer Art rigidem Werteschema verstanden. Im Kontext zu Reflexionen über eine ökologische Ethik und dem intrinsischen Wert von Pflanzen, Gattungen und Ökosystemen zieht Singer die moralisch relevante Grenze zwischen empfindungsfähigen und nichtempfindungsfähigen Lebewesen. Argument sollen auf den Interessen sowohl gegenwärtiger, als auch zukünftiger empfindungsfähiger, menschlicher und nichtmenschlicher Lebewesen restringiert werden (B 284). Unbelebte Materie hat überhaupt keine Interessen (B 57). Der qualitative Sprung tritt bei selbstbewußten Lebewesen, den Personen, ein (B 73). In der zweiten Auflage nahm Singer eine Änderung im Text vor.
A 64: “The claim that self-conscious beings are
entitled to prior consideration is compatible with the principle of equal
consideration of interests if it amounts to no more than the claim that
something which happens to a self-conscious being can cause it to suffer more
(or be happier, as the case may be) than if the being were not self-conscious.”
B 73: “The claim that self-conscious beings are
entitled to prior consideration is compatible with the principle of equal
consideration of interests if it amounts to no more than the claim that
something that happens to self-conscious beings can be contrary to their interests
while similar events would not be contrary to the interests of beings who were
not self-conscious.”
Während in der ersten Auflage das Bewußtsein seiner selbst auf eine empirisch-konkrete Glücks- bzw. Leidensfähigkeit ausgerichtet ist, wird durch die Paraphrasierung der zweiten Ausgabe die allgemeinere Ausrichtung auf Interessen erreicht. Durch diese allgemeinere Aussage besteht keine Begrenzung nach unten. Es wird absolute Priorität auf die Interessen von Personen gelegt.
Eine qualitative Differenz kann aber nicht nur zwischen dem kategorialen Unterschied von personalem und nichtpersonalem Interesse angenommen werden, sondern auch innerhalb dieser Kategorien. Das primäre Interesse aller Lebewesen liegt im Lebens selbst. Da Singer den verschiedenen Lebensformen keine höhere Wertzuordnung nach evolutionären Gesichtspunkten zubilligt, müßte jede Lebensform einen absoluten Wert darstellen. In jeder Kategorie ist Leben der höchste Wert. Es dürfte kein Leben - nicht einmal das Leben einer Mikrobe - vernichtet werden. Singer greift zu einer nichtutilitaristischen Begründung, daß personales Leben einen höheren Wert besitzt, da Personen aufgrund eines besseren zeitlichen und örtlichen Orientierungsvermögens eine höhere Leidens- bzw. Freudensfähigkeit besitzen.[xlv] Die Begründung menschlicher Dominanz durch das Speziezismusargument wird mutatis mutandis auf personale Interessenspriorität abgeändert. Das Argument verlagert sich auf personale Kriterien.
Eine hermeneutische Analyse des Begriffs Interesse (welche von Singer nicht vorgenommen wurde) unter Berücksichtigung der etymologischen Wurzeln läßt auf eine duale Bedeutungsstruktur schließen:
1. Es handelt sich um eine psychisch-geistige Disposition, eine Form des Bewußtseins, mit der eine besondere Aufmerksamkeit für ein Objekt (des Interesses) ausgedrückt wird. In dieser Interpretation wird Interesse als bewußte Zielgerichtetheit der eigenen Ambitionen erlebt.
2. In der Interpretation, die den Nutzens- und Vorteilsaspekt dieses sprachlichen Ausdrucks hervorhebt. Als Fremdwort seit dem 15. Jahrhundert bezeugt, hat es seinen Ursprung im lateinischen “inter-esse”, welches sowohl die Bedeutung von “Zinsen” als auch von “Gewinn, Nutzen, Vorteil” hatte.
Bei der Beurteilung von Interessen als Basis ethischen Handelns ist diese Form der Differenzierung von Bedeutung.[xlvi] Interesse in der ersten Bedeutung kann nur von Personen entwickelt werden. Personales Interesse kann aufgrund bewußter Intelligenz von Nutzenserwägungen geleitet werden, dies stellt jedoch keine notwendige Bedingung dar. Eine Person kann auf den persönlichen Nutzen verzichten und die eigenen Interessen höheren unterordnen, d.h. altruistische Verhaltensweisen zeigen. Einem nichtpersonalen Wesen fehlt diese Freiheit und es kann nur aufgrund seiner triebhaften Natur agieren. Für nichtpersonale Wesen kann Interesse nur in der Bedeutung von Nutzen verstanden werden. Nichtpersonale Nutzenserwägungen können von Personen nur extrapolierend aus der eigenen Perspektive getroffen werden.
Aufgrund des fehlenden Bewußtseins kann bei nichtpersonalen Wesen keine intrinsische Wertigkeit angenommen werden, sehr wohl aber bei Personen aufgrund der qualitativen Differenz. Der Wert von nichtpersonalen Wesen ist auf die Empfindungsfähigkeit, d.h. auf die Empfindung von Leid und Lust restringiert. Wenn die Basis von Interessensabwägung ein Vergleich der Werte ist, muß das Interesse einer niedrigeren Lebensform, d.h. von nichtpersonalen Wesen, dem Interesse einer höheren Lebensform, d.h. von Personen immer weichen. Damit besteht auch eine entscheidende, qualitative Differenz bei einer Nivellierung auf Freudens- und Leidensfähigkeit von personalen und nichtpersonalen Wesen, welche inkommensurabel ist. Aufgrund der höheren Bewußtseinsform kann eine Person immer Priorität für ihre Interessen und eine instrumentale Wertigkeit im Sinne einer Nutzensinterpretation des Interessensbegriffs für nichtpersonale Interessen geltend machen. Damit wären sogar Tierexperimente gerechtfertigt. Die Argumentationsstruktur zur Rechtfertigung von Tierversuchen, z.B. bei der Erprobung eines Medikaments gegen Aids, basiert auf Interessen. Statt einer speziezistischen Begründung wird extensional der Personenbegriff als Privilegierung herangezogen. Das den Versuchstieren zugefügte Leid fällt aufgrund des mangelnden Selbstbewußtseins nicht ins Gewicht.
Interesse als Grundlage für eine neue Ethik ändert nichts an den derzeitigen Praktiken, lediglich der Begründungsmodus hat sich geändert.
Der Interessensbegriff hat in der englischsprachigen Philosophie Tradition und ist schon bei Locke zu finden. Als ethisches Kriterium wird er nicht nur von Singer, sondern auch von anderen Philosophen herangezogen.
So betrachtet Helga Kuhse Interessen als Bausteine der Moral; Interesse und nicht das Leben als solches sind moralisch bedeutsam.[xlvii]
Hat aber Interesse tatsächlich für eine praktikable Ethik diesen Stellenwert ?
Interesse als Kriterium moralischen Handelns ist mangels konkreter Definition bezüglich des Objekt des Handelns sehr neutral. Die Begründungsstruktur liegt tiefer als bei einer normativen Ethik, welche die moralische Handlung in konkreten Aussagen, wie “Du sollst nicht töten”, definitorisch festlegt. Interesse als ethisches Kriterium läßt sich deshalb auf alle Bereiche des Seins anwenden, durch Extrapolation sogar auf die Bereiche der Tierwelt. Die Objekte der ethischen Handlung werden nicht a priori, sondern a posteriori eingesetzt. Konkrete Normen führen bei veränderten Situationen unter Umständen in der konkreten Anwendung zu Paradoxien, Falsifizierung und Verifizierung kann aber relativ leicht durchgeführt werden. Das Interesse des anderen als Entscheidungskriterium für ethische Handlungen heranzuziehen, klingt prima facie sehr verlockend und scheint sich im Konnex mit dem Prinzip der gleichen Interessensabwägung als zuverlässiges, ethisches Prinzip anzubieten. Wie aber aus den vorangegangenen kasuistischen Fallbeispielen hervorgeht, ist es sehr leicht, durch simple, fiktive Konstruktionen Antinomien zu erzeugen und durch Beispiele aus dem realen Leben ist nachzuweisen, daß konfligierende Interessen in existentielle Aporien führen. Interessen haben eine komplexe Struktur, die Vielzahl der zu berücksichtigenden Interessen kann vom Entscheidungsträger nicht überblickt werden.
Die Verlagerung des moralischen Kriteriums auf die Interessensebene bedeutet eine Verlagerung auf die Kriterien Vorteil und Nachteil, was nach einer Hermeneutik des Interessensbegriffs eine Verlagerung auf die Nutzensinterpretation nach sich zieht. Intrinsische, absolute Werte sind dadurch nicht möglich. Die unterste gemeinsame Basis, die Leidens- und Freudfähigkeit von Lebewesen, ist deshalb ebenfalls keine feste Grenze, sondern kann bei Bedarf unterlaufen werden.
Der Gegenstand von Interesse läßt sich aber nicht auf Ethik reduzieren. Briefmarkensammeln, Lustgewinn, sexuelle Befriedigung, Geldverdienen, Bergsteigen kann genauso Gegenstand des Interesses sein, wie das Interesse des Lustmörders, durch Befriedigung sadistischer Triebe Lust zu gewinnen - auch wenn dies den Tod des Gepeinigten bedeutet, oder vielleicht auch gerade deshalb - oder das Interesse des Bankräubers, seine drückenden Schulden durch die Beraubung eines reichen Geldinstitutes loszuwerden.
Intension und Extension des Begriffs Interesse sind derart vage, daß die zusätzliche Instanz eines moralischen Telos bzw. einer moralischen Motivation erforderlich ist. Moralität muß als Objekt des Interesses postuliert werden. Man müßte quasi von einem moralischen Interesse sprechen.[xlviii] Das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung und das Prinzip des sinkenden Grenznutzens können aufgrund der ökonomischen Orientierung diese Funktion nicht übernehmen.
Durch die Verankerung ethischer Beurteilung im Interesse soll eine universale Beurteilung durch einen unparteiischen Beobachter ermöglicht werden. Auf die Unzulänglichkeit des Singerschen Universalitätsbegriffs wurde bereits im vorigen Paragraphen hingewiesen.
Bei einem Vergleich der verschiedenen Umstände konfligierender Interessen kann bei einer 100prozentigen Kompatibilität der verschiedenen Interessen nach quantitativen Kriterien auch bei einer völligen Gleichwertigkeit eine Antinomie entstehen, wodurch sich das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung als nutzlos erweist.
Bei qualitativen Differenzen der verschiedenen Interessen[xlix] entsteht ein nicht zu überbrückender Hiatus, wobei die niedrigeren Interessen immer ins Hintertreffen geraten müssen, weil keine kommensurable Vergleichsbasis gefunden werden kann.
Eine konsequentialistische Orientierung ist ebenfalls nicht hilfreich, da Folgen immer nach Nutzenskriterien beurteilt werden. So kann der Bankräuber argumentieren, daß durch den Raub von S 500.000,- seine und die Existenz seiner Familie gerettet ist, während für die Bank S 500.000,- von derart geringem Interesse sei, daß dies überhaupt nicht ins Gewicht falle.
Interesse kann deshalb als gutes Hilfsmittel im Sinne einer goldenen Regel für persönliche, moralische Entscheidungen herangezogen werden, stellt aber in keiner Weise das universale, absolut gültige Fundamentalprinzip einer praktikablen Ethik dar.
Singer weist die speziezistische Begründung zum Schutz menschlichen Lebens zurück. Die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch ist keine hinreichende Bedingung zu einem besonderen Schutz menschlichen Lebens bzw. menschlicher Werte. Menschliche Interessen haben keine Priorität. Ein besonderer Schutz steht nur Lebewesen zu, welche die Bedingungen einer Subsumtion unter den Personenbegriff erfüllen. Nicht die Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens, sondern die Zugehörigkeit zum Kreis der Personen stellt einen höheren Wert dar und gebührt eine besondere Zuwendung. Alle Gattungen und Lebensformen werden nach dem Gesichtspunkt einer Gleichbehandlung ihrer Interessen beurteilt. Durch die von Singer angewendeten Personalitätskriterien wird eine ethische Grenzziehung nicht zwischen den Gattungen vorgenommen, sondern die ethische Grenze läuft zwischen den Mitgliedern der gleichen Gattungen hindurch. Die Mitglieder einer gleichen Gattung können sowohl zum Kreis der Personen zählen, als auch ausgeschlossen sein, wie z.B. geisteskranke Menschen, Behinderte oder neugeborene Kinder.
Singer erweiterte in der 2. Ausgabe die Beispiele, womit er den Personenstatus bestimmter Tierarten argumentativ zu belegen versucht (B 110ff). Als Beweis für den Personenstatus von Affen führt er folgende Exempel an:
das Erlernen einer beschränkten Anzahl von Zeichen (350) durch den Schimpansen Washoe und 1000 Zeichen durch den Gorilla Koko,
das Erkennen eines Gorillas auf einer Photographie durch den Orang-Utan Chantek,
das Zeitempfinden von Schimpansen, welche offensichtlich das Aufstellen eines Christbaums zum richtigen Zeitpunkt erwarteten,
das Verwenden verschiedener Schlüssel durch einen Schimpansen, um zu einer Banane zu gelangen,
das Umgehen eines Hindernisses - einen elektrisch geladenen Zaun - durch gemeinschaftliche Zusammenarbeit, um zu einem Baum und damit zu den Blättern zu gelangen, etc.
Für Singer besteht keine Schwierigkeit, Tieren die Fähigkeit konzeptuellen Denkens bei fehlender verbaler Ausdrucksfähigkeit zuzuschreiben (B 114). In die Liste eventueller Personen nimmt er auch Katzen, Hunde und Schweine auf. In seiner Begründung für eine eventuelle Personenhaftigkeit von Tieren verwendet er Konditionalsätze und konzediert, daß alle seine Reflexionen zu diesem Thema rein spekulativ sind (B 119). Im Zweifelsfall seien diese Tierarten aber dem Kreis der Personen zuzuordnen und besonders zu schützen, d.h. Singer bezieht eine sehr vorsichtige Position und bleibt eine definitive Aussage schuldig.
Gegen die Argumente Singers läßt sich anführen, daß wenn andere Speziesformen die Kriterien des Personenstatus erfüllen könnten, und zwar in einer strengen Auslegung der Kriterien, müßten sie eigentlich aufgrund dieser Fähigkeiten - welche ein gewisses minimales Intelligenzniveau beinhalten - mit der menschlichen Rasse kommunizieren können, und zwar auf personalem Niveau. Daß keine andere Speziesformen auf der Erde diese Fähigkeit hat, läßt sich nicht bestreiten. Aufgrund von DNA-Analysen läßt sich feststellen, daß der letzte gemeinsame Vorfahr des Menschen und der verschiedenen Menschenaffen, Schimpansen und Bonobos, vor ca. 8 Millionen Jahren gelebt hat. Die Erbsubstanz bei diesen drei Arten stimmt zu mehr als 98 Prozent überein[l]. Wenn tatsächlich Personalität bei den Menschenaffen vorläge, müßte eine Verständigung zwischen diesen drei Arten auf einem weit höheren Niveau erfolgen können als dies de facto der Fall ist. Eine scheinbare Verständigung mit einer Restriktion auf ein paar hundert Zeichen stellt keine hinreichende Bedingung zum Nachweis von Personalität dar, da es sich aufgrund des doch relativ hohen Intelligenzniveaus von Menschenaffen durchaus um ein konditioniertes Erlernen bestimmter Reaktionen handeln kann, wodurch der Anschein eines Verstehens erweckt wird. Bei allen Beispielen, welche Singer anführt, ist primitives Triebverhalten die Ursache und auf Nahrungsaufnahme bzw. Sexualität gerichtet.
Gehlen setzt mit Herder die Differenz des Menschen zum Tier auf eine völlig andere Weise an:
“Man kann über das Verhältnis des Menschen zum Tier
nichts Treffenderes sagen, als daß der Unterschied nicht ‘in Stufen, oder
Zugabe von Kräften‘ liege, so daß also der Verstand des Menschen nicht seiner
tierischen Organisation aufliegt, sondern: ‘Es ist die ganze Einrichtung aller
menschlichen Kräfte; die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden,
seiner erkennenden und wollenden Natur, …die bei den Menschen so Vernunft
heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird: die bei ihm Freiheit heißt,
und bei den Tieren Instinkt wird‘. Die ‘ganze Haushaltung der Natur‘ schlägt
also beim Menschen eine neue Richtung ein.” [li]
Auch eine graduelle Vermehrung der Intelligenz von Primaten würde ohne Änderung der Gesamtkonstitution keineswegs einen Übergang zum Menschen bedeuten.[lii] Mit Bezug auf die “Sachlichkeit” des Verhaltens, d.h. das Sicheinlassen auf die im Umgang entwickelten Eigenschaften der Dinge selbst, was ein wesentliches Konstituens der menschlichen Natur ist, verweist Gehlen darauf, daß Schimpansen ablösbare “Inseln” sachlichen Verhaltens nur unter künstlichen Laboratoriumsbedingungen unter dem Druck anschaulicher Triebziele vorübergehend zeigen, was aber keine Anfänge, sondern die obersten Leistungsgrenzen seien.[liii] Der Mensch als unspezialisiertes und organisch mittelloses Kulturwesen kann durch planende und vorausschauende Veränderung der vorgefundenen Umstände seine Kultursphäre schaffen, während Tiere aufgrund ihrer Spezialisierung auf ökologische Nischen und geographische Örtlichkeiten festgelegt sind.[liv] Der Mensch deutet seine Welt aus, nimmt sie in sich hinein, d.h. er vermittelt selbst die inhaltlichen und konkreten Bestimmungen seiner Antriebe, er wird sich selbst notwendig zum Problem.[lv]
“Das bloße Herumexperimentieren und Entlanggleiten am Gegenwärtigen ist nicht die Aufgabe des Menschen, sondern das Umschaffen der Welt von der Zukunft her.”[lvi]
Nach Hegel wird der Mensch durch sein Wissen um sein Tiersein vom Tier zum Menschen.
Fichte schreibt: “Ich will frei sein auf die angegebene Weise, heißt: ‘Ich will mich machen zu dem, was ich sein werde.‘”[lvii]
Bei allen Verdrängungsmechanismen, die beim Menschen wirken, um ihm die Endlichkeit seiner Existenz zu verschleiern, weiß der Mensch um seinen Tod, und Philosophen haben immer wieder auf dieses Wissen hingewiesen.
Alle diese Argumente zeigen eine höhere Form des Bewußtseins, welche als Konstituenten von Personalität betrachtet werden können und stellen notwendige Bedingungen des Selbstbewußtseins - des Bewußtseins seines Selbst in einer sachlichen Umwelt - dar, welche auch von den dem Menschen genetisch nächsten “Verwandten”, den Primaten, nicht erfüllt werden können, geschweige denn von anderen Speziesformen. Die Differenzierung des Tiers zu seiner Umwelt, sein zeitliches Orientierungsvermögen, etc., sind Teile seiner Überlebensmechanismen und basieren auf instinktbestimmtem Verhalten. Mit der Spezies Homo sapiens als animal rationale trat in der Evolution ein qualitativer Sprung auf, der Vergleiche mit anderen Speziesformen höchst problematisch erscheinen läßt. Das Bewußtsein des Menschen hat ein - in der Singerschen Diktion das personale - Niveau, welches aufgrund der qualitativen Differenz keine Vergleiche mit animalischen Lebensformen zuläßt.[lviii]
Der “Begriff Person hat für unsere Zivilisation zentrale Bedeutung, und dessen Konsequenz, der Gedanke der Menschenrechte, ist von der Art, daß kein Mensch auf der Erde sich seiner Evidenz entziehen zu können scheint.” Mit diesen Worten charakterisiert Robert Spaemann die Bedeutsamkeit dieses Begriffs für die Menschheit.[lix]
Die vorchristliche Antike verstand unter persona die Rolle im Theater oder in der Gesellschaft. Der Apostel Paulus hat noch diesen antiken Begriff der Person im Auge. In der theologischen Trinitätslehre wurde dieser maßgebliche Personenbegriff ausgebildet und auf die Person Jesu als Träger zweier Naturen, der göttlichen und der menschlichen, in der Folge auf den Menschen übertragen. Boëthius gibt die für die nächsten tausend Jahre maßgebliche Definition: “persona est individua rationalis naturae substantia.”[lx] John Locke unterschied als erster zwischen Personen und Menschen.[lxi] Im englischen Empirismus wurde diese Differenzierung tradiert.
Die Kritik Tooleys und Singers am Speziesargument, daß die Zugehörigkeit zu einer Spezies, unabhängig von den tatsächlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des individuellen Exemplars, keine moralische Relevanz hat, wird - nach Anton Leist[lxii] - heute unter den Philosophen allgemein akzeptiert.
Singer begründet die moralische Relevanz des Personalitätskriteriums mit folgenden Worten:
“The biological facts upon which the boundary of our
species is drawn do not have moral significance. To give preference to the life
of a being simply because that being is a member of our species would put us in
the same position as racists who give preference to those who are members of
their race.” (B 88)
Er rekurriert auf die antike Praxis, mißgebildete Kinder zu töten und führt die Positionen Platons und Aristoteles‘ an, um den Anspruch einer Heiligkeit des Lebens für Angehörige der Spezies Mensch zurückzuweisen. Der tief eingewurzelte Glaube im westlichen Denken, daß die menschliche Rasse einzigartig und deshalb zu privilegieren sei, gehe auf zwei christliche Lehren zurück:
1. auf den Glauben an ein ewiges Leben und
2. daß der Mensch als Geschöpf Gottes dessen Eigentum sei und deshalb nicht getötet werden dürfe. (B 88f)
Durch das Herstellen eines Bezugs auf die Gleichheit in den verschiedensten Bereichen des menschlichen Lebens, wie Unterschiede zwischen Rassen, den Geschlechtern und den damit verbundenen Prinzipien (B 88) wird die Notion nahegelegt, daß eine unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Speziesformen gegen die Prinzipien der Gleichheit verstoße und das Speziesargument wird endgültig verworfen (B 89).
Die herausragende Stellung personalen Lebens - komparativ zu den anderen Lebensformen - wird mit den Eigenschaften des Bewußtseins-seiner-selbst als Individuum mit temporalem Orientierungsvermögen in Vergangenheit und Zukunft angegeben.[lxiii] Nur Personen sind aufgrund dieser Eigenschaften in der Lage, Präferenzen zu entwickeln. Ein Lebewesen, welches keine antizipatorische Disposition zu seiner zukünftigen Existenz hat, kann keine Präferenzen in Hinblick auf diese Zukunft entwickeln (B 95).[lxiv] Aufgrund dieser Eigenschaften ist das Töten von Personen gravierender als das Töten anderer Lebewesen, da Personen in ihren Präferenzen zukunftorientiert und damit leidensfähiger sind. Das Töten einer Person verstößt gegen die zentralsten und bedeutendsten Präferenzen, die ein Lebewesen haben kann (B 95). Die Präferenzen anderer Lebensformen können sich lediglich auf Empfindungsfähigkeit beschränken.[lxv]
Für Roland Wittmann ist die Differenzierung zwischen den Seinskategorien Mensch und Sein eine implausible ontologische Voraussetzung.[lxvi]
Der evangelische Theologe Joseph Fletcher veröffentlichte 1972 in seinem Werk Indicators to humanhood: a tentative profile of man fünfzehn positive und fünf negative Kriterien, welche die Bedingungen für das Menschsein darstellen:
Positive Kriterien des Menschseins:
1. Minimale Intelligenz: Bei einem IQ unter 20 gelten Mitglieder der Spezies Homo sapiens nicht mehr als Personen.
2. Selbstbewußtsein: hat eine zentrale Rolle für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Bei Primaten und anderen höherentwickelten Tieren ist es im angenommenen Sinn wohl nicht vorhanden.
3. Selbstkontrolle: Bei Fehlen eines unkorrigierbaren zielgerichteten und kontrollierten Verhaltens fehlt das Personalitätskriterium.
4. Zeitempfinden: Hier ist lediglich die Dimension der Uhrzeit gemeint.
5. Zukunftsorientiertheit: Nicht-menschliche Lebewesen leben vermutlich nur “nach dem Magen”.
6. Gefühl von Vergangenheit: Diese Eigenschaft macht den Menschen zu einem kulturellen Wesen im Unterschied zum instinktgebundenen Tier.
7. Die Fähigkeit, Beziehungen zu anderen aufzunehmen: Politische, freundschaftliche, berufliche, wirtschaftliche, romantisch-erotische Beziehungen des Menschen gehen über das instinktgetragene soziale Verhalten des Tieres hinaus.
8. Verantwortung für andere, Nächstenliebe: Dieser Zug dürfte gattungsspezifisch sein.
9. Kommunikation: Völlige und unkorrigierbare Entfremdung und Kontaktlosigkeit sind als Zustand der Dehumanisierung aufzufassen. Solche Individuen sind subpersonal.
10. Existenzielles Wissen: Der Mensch hat ein nur begrenztes Wissen von der Natur, ist ihr aber nicht ohnmächtig ausgeliefert. Gänzliche Unwissenheit und Hilflosigkeit sind gewissermaßen “Antithesen des Menschseins”.
11. Wissensdrang: Anomie, Gleichgültigkeit, Indifferenz sind inhuman. Der Mensch ist ein Lernender, ein Wissender, ein Werkzeugerfinder und -benutzer.
12. Veränderung und Veränderbarkeit: Individuelle Unveränderbarkeit bzw. sich einer Veränderung dauerhaft widersetzen verneint menschliche Kreativität.
13. Gleichgewicht zwischen Rationalität und Gefühl: ist notwendig für das “Humanum”.
14. Einmaligkeit: Eine Person sein bedeutet, eine Identität besitzen, erkennbar und mit Namen ansprechbar sein. Eine Person hat das Recht auf genotypische Einmaligkeit.
15. Neo-kortikale Funktion: Ohne Synthetisierungsfunktion des zerebralen Kortex gibt es keine Person, sondern nur organisches Leben.
Negative Kriterien für das Menschsein:
1. Der Mensch ist keineswegs nicht- bzw. antikünstlich (Man is not non- or anti-artificial). Ein außerhalb des Mutterleibes entwickeltes Individuum hat menschlichen Wert.
2. Das Wesentliche des Menschseins liegt nicht in seiner Reproduktion. Der Mensch ist eine Person, auch wenn er sich nicht fortpflanzt.
3. Menschsein hängt nicht von der Sexualität ab.
4. Der Mensch ist kein Bündel von Rechten. Rechte sind nicht vorgegeben wie biologische oder soziale Kontexte.
5. Der Mensch ist kein gläubiges Wesen. Glaube ist bedeutend, aber nicht unverzichtbar.[lxvii]
Nach Selbsteinschätzung Fletchers handelt es sich hier um eine vorläufige Auflistung von Indikatoren, welche ohne ausführliche Besprechung und Begründung keine argumentative Valenz besitzen. Vermutlich aufgrund erheblicher Kritik schwächte Fletcher seine Kriterien später ab und reduzierte sie auf vier wesentliche Bedingungen: auf die neokortikale Funktion; das Selbstbewußtsein; die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen und Glück zu empfinden.[lxviii] Singer bezieht sich expressis verbis auf Fletcher, als er seinen Personenbegriff aus der Differenz des Menschen in seiner biologischen Zugehörigkeit zur Spezies Mensch und seiner Zugehörigkeit zum Personenkreis entwickelt.
Der Philosph Murphy lieferte auf
einem Symposium in Greenville, North Carolina, 1981, einen Beitrag mit dem
provokanten Titel Do the Retarded Have a Right Not to Be Eaten? A rejoinder
to Joseph Margolis.
Er greift die Position der Margolis‘schen Liberalismus-Idee an, welche darauf hinausläuft, daß es einer liberalen Gesellschaft aufgetragen ist, jene Bedingungen zu sichern und zu verbessern, unter denen die Behinderten - leicht oder schwer geschädigt - ein gutes Leben führen können. Murphy wendet ein, daß dasselbe Prinzip auch für nichtmenschliche Lebewesen gelten könnte, die mit uns in enger Gesellschaft leben. Die mangelnde Trennschärfe zwischen Angehörigen der Spezies Mensch und Angehörigen anderer Spezies zeige die Schwäche des Margolis‘schen Liberalitätsprinzips auf. Die moralische Besonderheit des Menschen ist auf diesem Weg zwar zu behaupten, aber nicht zu begründen.
Murphy weist darauf hin, daß er die Idee, einen Behinderten zu verzehren, genauso abstoßend finde wie einen charmanten und intelligenten Gorilla, wie z.B. Koko, zu essen. Er wollte nur nachweisen, daß eine derart schockierende Vorstellung mit rationalen Mitteln zu verteidigen ist. Gattungszugehörigkeit hat keine moralische Relevanz.[lxix]
Die logische Konsequenz antispeziezistischer Argumentationsformen führt in eine Teilung der menschlichen Gemeinschaft: die einen sind drinnen und genießen die Privilegien und die anderen haben draußen zu bleiben. Sie erfüllen zwar die gleichen biologischen Voraussetzungen, erfüllen jedoch nicht die Anforderungen des Personalitätskriteriums.
In Verbindung mit einer Argumentation, welche Potentialität als Rechtsanspruch zurückweist, führt eine auf Personalität fundierte Ethik zum Ausschluß biologischer Menschen in vier möglichen Fällen:
1. alle Menschen bis kurz nach der Geburt
2. viele alte (senile) Menschen
3. Menschen, welche ihre Personenhaftigkeit aufgrund von Unfällen oder aufgrund von Erkrankungen verloren haben
4. alle schlafenden oder bewußtlose, d.h. temporär nicht bei Bewußtsein befindlichen Menschen.
Die Berücksichtigung von Potentialität weist Singer in der ersten Ausgabe mit den Worten zurück wie folgt:
“In general, a potential X does not have the rights of
an X. Prince Charles is a potential King of England, but he does not have the
rights of a king. Why should a potential person have the rights of a person?”
(A 120)
In der zweiten Ausgabe wird das Argument wie folgt abgeändert:
“Prince Charles is a potential King of England, but he
does not now have the rights of a king. In the absence of any general inference
from ‘A is a potential X‘ to ‘A has the rights of an X‘, we should not accept
that a potential person should have the rights of a person, unless we can give
some specific reason why this should hold in this particular case.” (B 153)
Die Änderung in der Formulierung hat weitreichende Konsequenzen. Während in der ersten Ausgabe die Rechte einer potentiellen Person hinterfragt werden, wird in der zweiten eine Begründung gefordert, daß ein Personenstatus vorliegt. Außergewöhnliche Gründe müssen angeführt werden, was de facto bedeutet, das ein Individuum in der Lage sein muß, seine Personenhaftigkeit rational zu vertreten.
Die Diskussion, ob Potentialität als ethisches Kriterium personaler Rechte und Interessen anerkannt werden soll, hat ihren Ursprung in der technologischen Entwicklung der Medizin, welche zuerst die Abtreibung und später die In-Vitro-Fertilisation ermöglichte. Singer und Karin Dawson[lxx] weisen darauf hin, daß eine große Differenz zwischen einem Embryo in der Uterus und einem Embryo in einer angelegten Kultur in einem Laboratorium besteht. Der Potentialitätsbegriff wird als logische und physische (reale) Möglichkeit[lxxi] differenziert. Um eine potentielle Person zu werden, muß eine reale und nicht bloß logische Möglichkeit vorhanden sein. Zwei Blastozysten, welche beide in ihrem Aussehen und inhärenten Eigenschaften identisch sind, können verschiedene Potentiale haben. Während ein Embryo in der weiblichen Uterus als Ergebnis eines Koitus eine potentielle Person ist, kann der andere keine Person werden, weil er in einer Laboratoriumskultur liegt, es sei denn, er wird in eine Uterus eingepflanzt.
Die Proponenten von Abtreibung wiesen die Begründung der Gegner, daß bei der Abtreibung potentielle Menschen getötet würden, damit zurück, daß Potentialität keine Rechte begründe. 1971 veröffentlichte Judith Thomson den Aufsatz Eine Verteidigung der Abtreibung[lxxii], in dem sie in Frage stellte, was gewöhnlich als nicht begründungsbedürftig angesehen wurde: daß Abtreibung in der Regel moralisch verboten sein soll, wenn dem Fötus ein vergleichbares Lebensrecht zukommt wie einem Erwachsenen. Sie hinterfragte die Prämisse, daß ein Fötus vom Augenblick der Konzeption an eine Person sei[lxxiii] und kam zum Schluß, daß ein Fötus wahrscheinlich schon eine geraume Zeit vor der Geburt eine Person geworden ist, vom Zeitpunkt der Konzeption aber nur ein menschliches Wesen (d.h. nur Spezieszugehörigkeit besitzt) und deshalb eine frühe Abtreibung kein Töten einer Person ist.[lxxiv]
1972 veröffentlichte Michael Tooley den Essay Abtreibung und Kindstötung, worin er gegen das Potentialitätsprinzip argumentiert.[lxxv] In einem fiktiven Beispiel nimmt er an, daß in der Zukunft eine Chemikalie entdeckt werden würde, welche bei einem Kätzchen, in das Gehirn injiziert, die Entwicklung eines menschlichen Gehirns nach sich ziehen und das Kätzchen die Fähigkeiten eines erwachsenen Menschen entwickeln würde. Er folgert, daß es moralisch dann nicht gerechtfertigt wäre, Angehörigen der Spezies Homo sapiens ein Lebensrecht zuzuschreiben, ohne es auch den Katzen zuzubilligen. Zweitens wäre es nicht ernsthaft moralisch falsch, ein neugeborenes Kätzchen zu töten, anstatt die besondere Chemikalie zu injizieren. Drittens sei es nicht ernsthaft moralisch falsch, nach dem Prinzip der moralischen Symmetrie[lxxvi] einen solchen Prozeß zu unterbrechen, solange das Kätzchen noch nicht diejenigen Eigenschaften entwickelt hat, welche ein Lebensrecht begründen. In Analogie zu diesem Beispiel folgert er, daß es auch nicht moralisch falsch ist, einen Angehörigen der Spezies Homo sapiens zu vernichten, solange diese Eigenschaften fehlen. Als Folge dieser Argumentation ist nicht nur Abtreibung, sondern auch Infantizid erlaubt, wobei Tooley einen legalen Zeitraum von einer Woche vorschlägt.[lxxvii]
Die Reflexionen Humes in den Essays on Suicide and the Immortality of the Soul lassen auf einen langen Diskurs um den Wert von Kleinkindern schließen.[lxxviii]
Singer zitiert Bentham, welcher Infantizid als unbedeutend bezeichnet.[lxxix]
Nach Anstötz ist die vielleicht einzige Stelle in der deutschsprachigen, einschlägigen Literatur, wo das Töten schwerstbehinderter Neugeborener erwogen wird, bei Musschenga (1987) zu finden, eine aus dem Holländischen übersetzte und von der deutschen Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. herausgegebenen Schrift.[lxxx]
Ernst Haeckel vertrat allerdings schon 1904 in seinem Werk Die Lebenswunder die Position, daß die Tötung neugeborener, verkrüppelter Kinder nicht unter den Begriff des Mordes fallen. Infantizid sei sowohl für die Beteiligten, als auch für die Gesellschaft eine nützliche Maßregel. Er pries die Spartaner, welche durch diese künstlichen Maßnahmen eine Steigerung der körperlichen Vollkommenheit erreichten.[lxxxi]
Daß aktuale Personalität und nicht potentielle einen Rechtsanspruch begründet, wird von verschieden Autoren, wie Hare, Warnock, Lockwood geteilt.[lxxxii] Die Verknüpfung eines aktualen Personenstatus mit dem Recht auf Leben bzw. personalen Rechten führt bei konsistenter Argumentation in die Crux, daß Menschen diesen Status wieder verlieren können.[lxxxiii]
Tooley schreibt im Aufsatz Abtreibung und Kindstötung einem Organismus ein gewichtiges Lebensrecht nur dann zu, wenn dieser über einen Begriff des Selbst als fortdauerndes Subjekt von Erfahrungen und anderen mentalen Zuständen verfügt und auch glaubt, daß er selbst eine solche fortdauernde Entität darstellt.[lxxxiv] In einem Nachtrag von 1989 wird bei einer Begründung des Lebensrechts die Emphase auf tatsächliche psychische Eigenschaft gelegt und nicht bloß potentielle.[lxxxv] In seinem Buch mit dem Titel Abortion and Infanticide wird die Begründung eines Rechtes auf Leben um das Kriterium erweitert, daß das Bewußtsein einer fortdauernden Existenz tatsächlich (aktual) vorhanden sein muß oder zumindest irgendwann früher vorgelegen haben muß. (B 98)
Nach Singer wird durch diese extensionale Erweiterung die Problematik einer argumentativen Begründung des Lebensrechts bei aktual schlafenden oder bewußtlosen Menschen beseitigt und findet seine Zustimmung. Singer setzt den Wert personalen Lebens über den eines lediglich empfindungsfähigen Lebewesens und begründet dies mit der Fähigkeit, Präferenzen für die eigene Zukunft entwickeln zu können.[lxxxvi]
Der kontemporäre Personendiskurs versucht die Kriterien einer ethischen Disponibilität so zu adaptieren, daß das moralisch Schützenswerte in einer sich durch technologische Entwicklung ständig verändernden, menschlichen Welt erhalten bleibt. Singer glaubt Personalität in anderen Gattungen vorgefunden zu haben und räumt diesen nichtmenschlichen Personen nach dem Prinzip der Gleichheit die Rechte von Personen ein.
Bei Kants Personenbegriff liegt die Priorität auf Moralität und Vernunft. Vernunftlosen Wesen schreibt er einen nur relativen Wert als Mittel, den vernünftigen Wesen als Personen einen Zweck an sich selbst zu.[lxxxvii] Die vernünftige Natur setzt sich[lxxxviii] ihren Zweck selbst. “Eine Person ist” nach seiner Rechtslehre “dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind.” Die Person ist nur Gesetzen unterworfen, die sie sich selbst gibt.[lxxxix]
In der Anthropologie charakterisiert er die Person als mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein der Freiheit seiner Willkür ausgestattet. Selbst in den dunkelsten Vorstellungen eines Pflichtgesetzes ist eine Person mit dem Gefühl ausgestattet, daß ihr oder durch sie anderen recht oder unrecht geschieht.[xc] Als moralische Persönlichkeit hat der Mensch die Freiheit eines vernünftigen Wesens und der moralischen Gesetze, als psychologische Persönlichkeit das Vermögen, sich der Identität seines Daseins bewußt zu sein.[xci]
“Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben;…” Die Menschheit in seiner Person ist von jedem Menschen einforderbar.[xcii]
Er führt Differenzierungen im Personenbegriff nicht auf biologisch-faktische Unterschiede zurück, sondern die Differenz konstituiert sich aus dem Verlust des moralischen Wertes wie z.B. durch sittlich-falsche Kriecherei, Heuchelei, Schmeichelei.
Sein Personenbegriff geht über den eines individuellen hinaus, wenn im ehelichen Leben das vereinigte Paar gleichsam eine einzige, moralische Person ausmachen soll, welche durch den Verstand des Mannes und den Geschmack der Frauen belebt und regiert wird.[xciii]
Dieser - nach heutigem Geschmack - antiquierte Personenbegriff beinhaltet noch nicht die komplexe Struktur unseres auf naturwissenschaftlichem Wissen basierenden Personenverständnisses, er wurde jedoch aus einem systematischen Denken heraus formuliert, welches die absolute Gültigkeit von Moral und Ethik - infinit in Raum und Zeit - im Sinn hatte. Der Mensch war als Person nicht ersetzbar. Ob die utilitaristische Annäherung an die ethische Problematik, durch ständige Adaption den wechselnden Bedingungen existentiellen Seins Genüge zu tun und damit eine praktikable, allgemeingültige Ethik hervorzubringen vermag, wird sich erst im Verlaufe der weiteren Geschichte zeigen.
Die Vertreter einer auf dem Personenbegriff fundierten Ethik versuchen - offensichtlich in dem Bestreben eine gerechte Lösung zu finden - die Restriktion einer human-speziezistisch orientierten Ethik zu transzendieren, was bei den traditionell Denkenden zu einer Gegenreaktion geführt hat.[xciv]
Die Begründungen entstanden aus einer technologischen Entwicklung in der Medizin und verlaufen sehr problemspezifisch, wie sich aus der Zurückweisung des Potentialitätsarguments zum Zwecke der Rechtfertigung von Experimenten an Embryonen zeigt. Argumente mit einem restringierten Geltungsbereich tragen zur Lösung partikulärer Problembereiche bei, in der Formulierung ethischer Normen tritt der defiziente Charakter einer solchen Argumentationsbasis zutage: Eine Ethik, welche per definitionem nur in örtlichen, sachlichen, temporalen, etc., Grenzen Gültigkeit besitzt, kann kaum als praktikable Ethik bezeichnet werden und stellt in keiner Weise eine hinreichende Bedingung für Gerechtigkeit dar. Singer versuchte mit den Variablen Interesse, Empfindungsfähigkeit und Personalität eine Ethik zu schaffen, welche unter Anwendung der verschiedenen Gleichheitsprinzipien, insbesondere des Prinzips der gleichwertigen Interessensabwägung bei aller Variabilität ein konstantes und sicheres Resultat, d.h. ein zuverlässiges Ergebnis, bei der Lösung moralischer und ethischer Probleme zu liefern vermag. Bei diesem philosophischen Lösungsansatz drängt sich der Gedanke an die Analogie zu einem Rechenmodell auf. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist eine Ethik, welche zwar nach allgemeingültigen Gesetzen formuliert ist, das “ethische Produkt” leidet jedoch an einer Entscheidungsunsicherheit, welche subjektiven Interpretationen unterworfen ist.
Aufgrund eines Postulats, daß ethischen Normen Allgemeingültigkeit zukommen muß, ist eine Extrapolation der Kriterien von Personalität auf andere Bereiche als Embroyexperimentierung und IVF notwendig und hier zeigen sich die negativen Auswirkungen dieses Ansatzes:
Es kann kein Argument gegen jegliche Form des Infantizids gefunden werden. Nach Linda Richter, Professorin für Politikwissenschaften der Kansas State University, 1995, sollen in China, Pakistan und Indien 77 Millionen Mädchen durch Abtreibung oder nach der Geburt getötet worden sein. Das Töten neugeborener Mädchen wird in Kulturen praktiziert, welche Frauen als Belastung ansehen.[xcv]
Potentielle Gefahren liegen in der zukünftigen technologischen Entwicklung der Medizin, welche bereits in der Vergangenheit eingesetzt hat. Die vollständige Kenntnis des menschlichen Genoms wird die Menschheit in die Lage versetzen, nicht nur genetisch bedingte Krankheiten zu heilen, sondern zu verändern und durch Rekombinant-DNA-Verfahren völlig neue Organismen zu schaffen, welche es vorher in der Natur nicht gegeben hat.[xcvi] Individuelle Menschen können in Hinblick auf ein qualitatives Sosein “geschaffen” werden. Homunkuli mit besonderen Fähigkeiten für bestimmte Aufgaben können produziert werden. Die Gesellschaft der Zukunft wäre ein durch den Menschen per se determiniertes soziales Gefüge, welches die sich entwickelnden Anforderungen und Probleme durch die “Ausgabe” genetisch modifizierter Individuen bewältigt. Es würde sich um Eugenik auf dem allerhöchsten, sozial-technokratischen Niveau handeln, wozu sich die bisher bekannten Praktiken primitiv anmuten. Die Konstitution der Menschen, das äußere Erscheinungsbild, etc., könnte Anforderungen angepaßt werden, welche durch die natürlichen Dispositionen nicht bewältigt werden könnten. So könnten z.B. für die Raumfahrt Menschen mit mehreren Gliedern und erhöhtem physischen und psychischen Resistenzvermögen geschaffen werden, um den Strapazen standhalten zu können. Um solche Wesen hominiden Ursprungs optimal einsetzen zu können, müßte man sie mit Bewußtsein, Intelligenz, etc., d.h. mit personalen Eigenschaften i.S. der modernen Personalisten versehen.
Einwände aus konsequentialistischen und utilitaristischen Gründe können gegen eine solche Vorgangsweise nicht angeführt werden: Die Menschheit profitiert, indem durch die Schöpfung spezialisierter Wesen die diversen Probleme leichter oder überhaupt erst dadurch gelöst werden können, die geschaffenen Wesen können bei der Erfüllung ihres Zwecks ein befriedigendes und erfülltes Dasein führen. Sie könnten u.U. dazu noch besser in der Lage sein als die “natürlichen” Menschen, welche mit den von der Natur verliehenen Defekten fertig werden müssen.
Eine auf aktualer Personalität basierende Ethik kann gegen die Schaffung solcher Wesen - oder gegen monströse Schöpfungen - kein stichhaltiges Argument liefern, da die Eingriffen zu einem Zeitpunkt vorgenommen werden, als das Gewebe ein amoralischer (Forschungs-) Gegenstand war und deshalb keine Rechte hatte bzw. keinen moralischen Wert darstellt.
Ein weiteres - dzt. noch hypothetisches Problem - ergibt sich aus der Entwicklung einer genuin künstlichen Intelligenz. Singer definiert eine Person als selbstbewußtes Wesen mit zeitlichem und örtlichem Orientierungsvermögen.[xcvii] Diese Definition kann durchaus auf eine in der Zukunft noch zu entwickelnde Maschine zutreffen. Das Argument der größeren Leidensfähigkeit aufgrund personaler Eigenschaften hat nur sekundäre Bedeutung und stellt nur die Folge der Bedingung einer auf Personalität fundierten Ethik dar. Als Konsequenz dürfte ein intelligenter Computer eigentlich nicht mehr vernichtet werden.
Das Argument Tooleys verläuft etwas anders, da er sein Recht auf Leben mit dem Wunsch nach fortlaufender Existenz verknüpft.[xcviii] Sollte jedoch ein intelligenter Computer das Verlangen äußern, nicht vernichtet zu werden, wäre es sehr schwer, dies mit der Begründung abzulehnen, daß eine Maschine keinen psychischen Wunsch besitzen kann und deshalb keine personalen Rechte hat.
Lediglich die Personalitätskriterien Fletchers sind aufgrund ihres komplexen Aufbaus in der Lage, eine Differenz zwischen maschinelle Intelligenz und biologische Personalität zu setzen und damit (biologische) Personen durch eine ethische Argumentation in ihren moralischen Ansprüchen zu schützen.
Diese utopisch anmutende Perspektive zeigt die Gefahren auf, denen die Spezies Homo sapiens durch eine auf aktualer Personalität fundierten Ethik ausgesetzt ist. Die Menschheit steht an der Schwelle einer essentiellen Verfremdung, welche das Menschenbild in der uns bekannten Form und Beschaffenheit aussterben läßt. Den kontemporären Ethikern, welche biologisch fundierte Personenhaftigkeit als Grundlage einer Ethik heranziehen, ist vorzuwerfen, daß sie u.U. aus ihrer Rolle als Beobachter, Interpretatoren und Kommentatoren[xcix] herausgetreten sind und als argumentative Causa efficiens den Untergang der Menschheit initiieren.
Daß die Personenhaftigkeit das Schützenswerte im Menschen konstituiert, wird nicht bestritten. Es darf aber nicht übersehen werden, daß der Mensch in seiner natürlichen, biologischen Funktionalität lediglich das notwendige Apriori für Personalität darstellt.
Die Personenethik reduziert den Schutz außer- oder vorpersonalen, menschlichen Lebens auf Empfindungsfähigkeit. Sie kann weder ein Argument gegen exzessiven, rein subjektiv motivierten Infantizid, noch gegen die Veränderung des menschlichen Genoms, was eine qualitative Veränderung des Menschseins nach sich zieht, vorbringen und wobei zu befürchten ist, daß diese Modifikationen ins Negative umschlagen. Eine Ethik, die keinen Schutz der eigenen Gattung in ihren positiven Qualitäten zu liefern vermag, ist nicht nur fragwürdig, sondern schlichtweg abzulehnen.
Aufgrund dieser Reflexionen läßt sich folgendes, ethisches Axiom postulieren:
Der Mensch ist sowohl als Individuum als auch als Spezies in seiner qualitativen, biologischen Beschaffenheit unantastbar. Eingriffe in die menschliche Natur - auch auf molekularer bzw. genetischer Ebene - dürfen nur vorgenommen werden, um das Gelingen individueller Existenz auf der Basis natürlicher Entwicklung zu gewährleisten.
Mit diesem Postulat soll nicht die Grundlage für eine neue Ethik gelegt werden und moralische Werte sollen nicht auf eine Humanethik restringert werden. Es sollen jedoch die negativen Auswirkungen einer personenorientierten Ethik, welche im dzt. philosophischen Diskurs angelegt sind, vermieden werden. Die Gefahr, daß die existierenden Generationen das Sosein der nächsten Generationen festlegen und dadurch eine individuelle Determiniertheit herbeiführen, ist eminent. Diesem Denken muß mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden, da eine fehlerhafte, philosophische Begründung kausal für das Ende der menschlichen Freiheit in der uns bekannten Form sein kann.
Der Personenbegriff Kants hat als stillschweigende Prämisse den Menschen als Voraussetzung, läßt sich jedoch nicht auf eine rein speziezistische Interpretation reduzieren, was durch die Diktion “vernunftbegabtes Wesen” vermieden wird. Eventuell existierende extraterrestrische, intelligente, personale Lebensformen werden dadurch ebenfalls erfaßt. Die Problematik eines aktualen Personenstatus, welche auch bei einem temporären Verlust zu einem moralfreien Status führt, fehlt.[c] Bei Kant hat eine Person Würde. Dieser Begriff fehlt in einer utilitaristischen Ethik. Die Kritiker der Singerschen Ethik haben immer wieder auf den Verlust der Menschenwürde in diesem Denken hingewiesen.
Zweifelhaft ist jedoch, ob ein Würdebegriff aus einer Zugehörigkeit zur Spezies Mensch abgeleitet werden kann, wie dies von Spaemann gefordert wird.[ci] Durch eine auf Geburt gegründete Zugehörigkeit erhält der Begriff Menschenwürde Leerformelcharakter. Ein speziezistischer Würdebegriff kann sich nur auf einen prophylaktischen Schutz individueller Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten erstrecken.
Die Würde der Kantschen Person findet sich in der Moralität und der sittlichen Tat. Würdelos ist derjenige, der unmoralisch denkt und handelt. Eine speziezistische Würde kann man nicht verlieren, da die Zugehörigkeit zur Spezies durch die Geburt festgelegt wird.[cii] Die individuelle Menschenwürde ist eine im Rahmen der existentiellen Möglichkeiten erarbeitete, die verloren gehen kann oder die nie erlangt wurde. Das Individuum trägt selbst die Verantwortung für das Erlangen und die Schuld am Fehlen dieser Würde. Nicht der Verlust personaler Fähigkeiten[ciii] degradiert den Menschen, sondern der Mangel oder der Verlust dieser Art von individueller Würde, welche sich im Denken und Handeln gegenüber seinen Mitmenschen und anderen Lebensformen äußert.
In diesem Sinne ist der Kantsche Personenbegriff als fundamentum ethicae weit geeigneter als der utilitaristische.
Mit eÈyanas€a beschrieben die alten Griechen den schönen und leichten, einen guten, glücklichen Tod. Es handelte sich um einen philosophischen und nicht um einen medizinischen Begriff. Die Römer verstanden darunter einen guten, ehrenvollen, zumindest nicht schändlichen Tod; einen Tod in Erfüllung des Lebens, der schnell und ohne Schmerzen eintritt.
Das Mittelalter lehnt jeden Gedanken einer wie auch immer gearteten Lebensverkürzung ab. Thomas Morus war der erste Vertreter der Neuzeit, welcher den Gnadentod verteidigte. Roger Bacon sah die Aufgabe des Arztes nicht nur in der Erhaltung der Gesundheit und Heilung der Krankheiten, sondern auch in einer Verkürzung des Lebens, wenn eine Verlängerung sinnlos war. Erasmus von Rotterdam wollte die Luetiker im Interesse des Staatswohles dem Flammentod überantworten, Martin Luther meinte beim Anblick eines blödsinnigen Kindes, es sei besser, diesen Wechselbalg zu ersäufen.
Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wird Euthanasie in der ärztlichen Diskussion thematisiert. Eine Verkürzung des Lebens wird kategorisch abgelehnt. Euthanasie bedeutete Sterbebegleitung, dem Sterbenden seinen Tod leicht zu machen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird die Verfügbarkeit menschlichen Sterbens unter dem Einfluß darwinistischer Ideen in aller Öffentlichkeit diskutiert. Es entwickelten sich zwei Richtungen:
1. Juristen, Mediziner und Theologen vertraten eine erweiterte Tötungserlaubnis unter dem Aspekt des Fortschritts und der echten Humanität. Unheilbar Kranke sollen nicht herzlos gequält werden. Ins Kalkül gezogen wird allerdings auch der Schaden und die Lasten, welche der Allgemeinheit aufgebürdet werden.
2. Rassenfanatiker erhoben einen spezifischen Menschentypus zum Ideal.
1895 erschien die soziale Studie Das Recht auf den Tod von Adolf Jost. Als Grundlage diente die Philosophie Schopenhauers, mit Mitgefühl als Quelle von Moral und Sittlichkeit. Jost ordnete dem Leben per se keinen absoluten Wert zu. Der Wert eines Menschenlebens bilanziert aus dem Wert des Lebens für den Betroffenen selbst und aus dem Nutzen und Schaden, den das Individuum für seine Mitmenschen darstellt. Die Faktoren des Lebenswertes können nicht nur Null sein, sie können auch negativ werden. Wenn der Wert eines Lebens unter Null sinkt, hat der Mensch selbst, aber auch die Gesellschaft das Recht, dieses Leben zu beenden. Der Begriff des lebensunwerten Lebens wird zwar nicht expressis verbis, aber intensional geprägt. Jost verwirft die egoistische Orientierung Nietzsches, da diese einer sachlichen Erwägung im Wege steht, als auch religiöse Einwände und die Gefahren, die aus dem potentiellen Töten aus Irrtum entstehen: Selbst wenn ein Irrtum vorliegt, wiege dieser eine Fall leicht gegen das Elend der Tausenden und den Vorteil der Gesellschaft.[cv] Vor der letzten Konsequenz schrickt Jost zurück: Die Frage der Geisteskranken, deren Wert für das Gemeinwohl negativ ist, wird ausgeklammert.
Alexander Tille forderte 1895, die Herdenmoral der Humanität in bezug auf Fortpflanzung abzuschaffen. Minderwertige müßten von diesem Geschäft ausgeschlossen werden. Die sich entwickelnde Diskussion spielte sich im Spannungsfeld Humanität (Otto Ammon, Alfred Ploetz, Ernst Haeckel), eugenischen Orientierungen (Wilhelm Schallmeyer) und sozialökonomischer Erwägungen (Ernst Haeckel) ab.
Durch einen Beitrag Roland Gerkans in der Zeitschrift Das monistische Jahrhundert wurde 1913/1914 eine heftige Diskussion um Euthanasie ausgelöst. Gerkan forderte, selbst schwerkrank, ein Gesetz zur Freigabe des Gnadentodes, der jedem unheilbar Kranken als Recht zustehen sollte.
Zu Beginn der 20er Jahre erreicht die Diskussion um Euthanasie durch die Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche eine neue Dimension. Binding vertrat die These, daß der Mensch als geborener Souverän über sein eigenes Leben nach eigenem Gutdünken darüber entscheiden könne. Dies sei das erste aller Menschenrechte. Binding bedauert in diesem Zusammenhang den sozialen Schaden, welcher durch Freigabe der Selbsttötung der Gemeinschaft aus dem Verlust noch durchaus nutzkräftiger Mitglieder entstünde! In bezug auf die Begrenzung von Euthanasie vertrat Binding die Überzeugung, daß die Verabreichung von Medikamenten an qualvoll Leidende durch den Arzt, um dessen Marter vorzeitig zu beenden, vom Gesetz nicht expressis verbis verboten sei, sondern lediglich nicht ausdrücklich erlaubt werde. Es würde lediglich eine wirkende Todesursache durch eine andere ersetzt. Er verknüpft das Schlagwort vom Recht auf den Tod mit der Frage nach dem Wert des Menschenlebens. Ein endgültiges Urteil konnte seines Erachtens erst gefällt werden, wenn geklärt worden ist, ob das Menschenleben die Eigenschaft als Rechtsgut eingebüßt hat, daß die Fortdauer des Lebens für den Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat. Beklagt wird die nutzlos vergeudete Arbeitskraft, Geduld und Vermögensaufwand in den Irrenanstalten. Binding sieht weder aus sozialer, noch sittlicher oder religiöser Perspektive ein Hindernis für das Töten in folgenden Fällen: “‘Die zufolge Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen, die im vollen Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben‘, die unheilbar Blödsinnigen, die weder den Willen zu leben, noch zu sterben ihr eigen nennen, die das furchtbare Gegenbild echter Menschen verkörpern, die ‘geistig gesunden Persönlichkeiten, die durch irgendein Ereignis bewußtlos geworden sind und die, wenn sie aus ihrer Bewußtlosigkeit noch einmal erwachen sollten, zu einem namenlosen Elend erwachen würden’”.[cvi]
Um Mißbrauch auszuschalten soll die Entscheidung über die Euthanasie einer Staatsbehörde zugesprochen werden, deren Funktion jedoch auf das passive Moment beschränkt wird, d.h. die eigentliche Initiative bleibt dem antragsberechtigten Privatmann vorbehalten. Ein Ausschuß, zusammengesetzt aus einem Arzt, einem Psychiater und einem Juristen, urteilen, ob dem Ansinnen stattgegeben werden kann. Entscheidungen dürfen nur einstimmig gefaßt werden. Unsicherheit der Diagnose oder das Gespenst der Fehlerhaftigkeit: ‘Das Gute und das Vernünftige müsse geschehen, trotz allen Irrtumsrisikos; nimmt man aber auch den Irrtum einmal als bewiesen an, so zählt die Menschheit ein Leben weniger. Aber die Menschheit verliert infolge Irrtums so viele Angehörige, daß einer mehr oder weniger wirklich kaum in die Waagschale fällt.’
An diesen ersten, bereits 1913 konzipierten Teil knüpft Hoche in einem zweiten Teil an:
Hoche weist die offenkundige Relativität eines ärztlichen Wertekanons nach. Er entleiht wörtlich von Binding: ‘Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaften des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?’ Dies sei zu bejahen. Er differenziert den mehrdeutigen Begriff des Lebenswertes: Bei unrettbar Kranken und Verwundeten kann zwischen subjektiver und objektiver Gewichtsbemessung eine mehr oder minder große Lücke klaffen, die unheilbar Blödsinnigen vermögen weder selbst ihrer Existenz Bedeutung abzugewinnen, noch können dies Außenstehende. Als Klassifikationsmerkmal geistig toter Kreaturen kann gelten: Der Zeitpunkt des Eintritts der Umnachtung, der Grad geistiger Öde, die Beziehungen zur Umwelt und die wirtschaftliche und moralische Bürde für die Umgebung. Den komplexen Gesamtbereich schlüsselte er weiter auf in die Fälle, bei denen der Verstand erst im Laufe der Jahre dahinwelkte, dazu rechnen Greisenveränderungen des Gehirns, Dementia praecox und diejenigen, welche von Geburt an Dunkelheit umfing, was durch Mißbildung des Gehirns, Hemmung der Entwicklung im Mutterleib oder Krankheitsvorgänge im Säuglingsalter verursacht werden kann.[cvii]
Solche, welche nie Bewußtsein erlangt haben, hätten sowieso keine Beziehung zur Umwelt, dagegen hätten die erst später vom Schwachsinn Heimgesuchten einen besonderen Affektionswert für Angehörige und Freunde, was man bei Überlegungen einer eventuellen Vernichtung berücksichtigen müsse. Die geringste Belastung gehe von Paralytikern aus, welche der Ausbruch des Gebrechens nur wenige Jahre von ihrem Ende trenne. Die nächsten mit lediglich minimal vermehrter Lebensspanne hätten die von Greisenblödsinn Betroffenen, die durch jugendliche Prozesse verödeten aber vegetierten noch zwei bis drei Jahrzehnte dahin. Die Allgemeinheit am schwersten treffen die Vollidioten, welche das Pflegepersonal von zwei Menschenaltern verschleißen können.
Alle Zeiten konfrontierten die Völker mit dem Problem, einen möglichen Konflikt zwischen subjektivem Recht auf Existenz und objektiver Zweckmäßigkeit, nach denen Lebensberechtigung abgewogen werden kann, zum Ausgleich zu bringen. Wie sie es bewältigen, ihn aufzulösen, das reflektiert den Grad der jeweils erreichten Humanität.[cviii]
Hoche zieht als Kriterien den finanziellen Aufwand an Anstaltsbediensteten und die nationale Lage heran, ob sich ein Mitschleppen dieser ‘Defektmenschen‘ lohne.
Er veranlaßte eine Umfrage bei einschlägigen deutschen Instituten, um über die pekuniären Verhältnisse Aufschluß zu erhalten und beklagt sich nicht nur über den finanziellen Aufwand, sondern auch, daß die für den Betrieb benötigten Personen für weit nützlicher Aufgaben versperrt werden. ‘Es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen Menschenhüllen dahinaltern.’
Die durch Blödsinn Verödeten vermögen gar keinen subjektiven Anspruch auf Existenz zu erheben, weil ihnen alle Qualitäten des Subjekts abgehen. “Tilgung solcher Geschöpfe hat mit einer mit Strafe bedrohten Tötung nichts gemein, da sie nicht, wie etwa Mord, einen Gegenwillen überwinden muß.”
“Selbst Mitleid wird zu sinnlos leerem Akt entfremdet, denn wo es kein Leiden gibt, gibt es auch kein Mitleiden.”[cix]
Hoche hat die Hoffnung, wir möchten ‘eines Tages zu der Auffassung heranreifen, daß die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Roheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt. Eine neue Zeit wird kommen, die von dem Standpunkt einer höheren Sittlichkeit aus aufhören wird, die Forderung eines überspannten Humanitätsbegriffes und einer Überschätzung des Wertes der Existenz schlechthin mit schweren Opfern dauernd in die Tat umzusetzen.‘
Weder bei Binding, noch bei Hoche taucht der Begriff Euthanasie auf, aber viele der Schriften, die im Anschluß erschienen, trugen ihn als Titel. “Der Begriff Euthanasie hat eine neue Qualität erreicht. Er bezeichnet nicht mehr die Bemühungen des Arztes um ein würdevolles Sterben, Euthanasie ist auch nicht mehr die Tötung auf Verlangen, sondern sie ist, wie der Titel schon sagt, die Vernichtung lebensunwerten Lebens.”[cx]
1933 verabschiedete das Reichskabinett das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses.[cxi] Beamtete Ärzte und Anstaltsleiter waren antragsberechtigt.
Es bestand Anzeigepflicht für:
1. angeborenen Schwachsinn
2. Schizophrenie
3. manisch-depressives Irresein
4. erbliche Fallsucht
5. Huntingtonsche Chorea
6. erbliche Blindheit
7. erbliche Taubheit
8. schwere, körperliche Mißbildung
1935 wurde durch eine Erweiterung des Gesetzes Abtreibung bei Schwangeren erlaubt, bei denen eine Sterilisation durchgeführt wurde. Während der NS-Zeit sind zwischen 200.000 und 350.000 Menschen zwangssterilisiert worden.[cxii] In der geballten Propagandaflut findet sich nie ein Hinweis auf die Tötung des sogenannten lebensunwerten Lebens. Neben wirtschaftlichen Gesichtspunkten wurden immer mehr die Aspekte einer zu steigernden Wehrhaftigkeit angeführt, um einer drohenden Entartung gezielt entgegenzutreten. Eine neue, ärztliche Ethik wurde propagiert: weg vom lebensunwerten Leben, hin zum behandelbaren und heilbaren Volksgenossen; weg vom biologisch Minderwertigen, hin zur biologischen Hochwertigkeit. Die Sterilisationsgesetzgebung der Nationalsozialisten kann als Vorstufe zur Euthanasie - im Sinne der NS - aufgefaßt werden. Ab Frühjahr 1939 wurden Kinder mit Idiotie, Mongolismus, Hydrozephalus und anders mißgebildete Kinder getötet. Das Alter der Kinder wurde von 3 auf 16 Jahre hochgesetzt, letztlich reichte in der Spalte Krankheit die Angabe “Jude” oder “Zigeuner”. Ca. 5.000 Kinder wurden bis Kriegsende getötet.
Ende 1939 wurde mit der Euthanasie Erwachsener begonnen. Eine gesetzliche Grundlage gab es nicht, man konnte sich nur auf einen auf privatem Briefbogen geschriebenen Befehl Hitlers berufen. Euthanasie wurde als Vernichtungsstrategie auf sozialdarwinistisch-rassistischer Grundlage zur Ausmerzung lebensunwerten und artfremden Lebens durchgeführt.
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde keine öffentliche Euthanasiedebatte geführt. “Euthanasie” und “Gnadentod” wurden in der Bedeutung von “lebensunwertem Leben” verstanden, waren aber nur für den internen, nicht öffenlichen Gebrauch bestimmt. Während des gesamten Ablaufs der Euthanasieaktionen wurde eine strikte Publikationssperre verhängt. Im Film Ich klage an von 1941 wurde durch eine geheime Presseanweisung das Eingehen auf das Thema Euthanasie untersagt. Der Begriff “Euthanasie” wird bewußt vermieden. Es wird lediglich die Frage aufgeworfen, ob einem Arzt das Recht zusteht, auf Wunsch einem unheilbaren Kranken die Qual abzukürzen.
In der bundesdeutschen Nachkriegsdiskussion wurde es aufgrund dieser Sprachregelung nötig, einen von der Vergangenheit unbelasteten Begriff einzuführen. Der Gerichtspsychiater Helmut Ehrhardt schlug 1965 die Differenzierung des Begriffs Euthanasie im Sinne der Vernichtung lebensunwerten Lebens und im Sinne von Sterbehilfe vor. Damit wurde gewissermaßen ein terminologischer Befreiungsschlag geführt, der geeignet war, die an Binding und Hoche anknüpfenden Diskussionen aus dem Bereich des überhaupt Diskutierbaren auszuschließen. Die Präferenz für Sterbehilfe geht häufig mit zwei inhaltlichen Annahmen einher: Einerseits werden die NS-Aktionen als Beleg dafür genommen, daß jede Bewertung von Leben als lebenswert oder -unwert moralisch verwerflich ist, andererseits wird mit dem Begriff Sterbehilfe unterstellt, daß nur Fälle der Hilfe beim Sterben, d.h. bei Menschen, welche sich im Sterbensprozeß befinden, moralisch erwägenswert sind. Leist hält diese beiden Annahmen nicht für sinnvoll, sondern sieht darin nur eine verursachende Verwirrung im traditionellen Themenbereich.[cxiii]
Die heutige, öffentliche Diskussion zur Euthanasie zeigt sich aus einer völlig anderen Perspektive. Aufgrund der Meldungen internationaler Presseagenturen[cxiv] kann gefolgert werden, daß Euthanasie sich zu einem weltweiten Problem entwickelt hat. Die Motivation liegt allerdings nicht in eugenischen oder sozialdarwinistischen Intentionen. Die moderne Medizin scheint nicht in der Lage zu sein, Moribunde ausreichend zu versorgen und unheilbar Kranke fordern Euthanasie im antiken Sinne, um von ihrem Leiden erlöst werden zu können.
Durch das Parlament des Nordterritoriums Australiens - als einzige Legislative in der Welt - wurde die gesetzliche Grundlage für eine legale, aktive Euthanasie geschaffen, welche mit 1. Juli 1996 in Kraft trat. Initiiert wurde dieses Gesetz durch den ehemaligen Chief Minister des Nordterritoriums, Marshall Perron. Er wurde durch das Miterleben des langsamen und qualvollen Todes eines Ministerkollegen dazu veranlaßt. Die Verabschiedung dieses Gesetzes löste heftigen Protest bei den Pro-Life-Organisationen aus. Es wurde mit 27.3.1997 durch den australischen Senat außer Kraft zu gesetzt, obwohl ca. 80% der australischen Bevölkerung Euthanasie befürworten. Aborigines opponieren aus stammesgeschichtlichen Moralvorstellungen und aus Angst vor dem Zauber des weißen Mannes. Sie fürchten, daß sie bei stationären Behandlungen zwangseuthanisiert werden.
In den Niederlanden wird als einzigem Staat der Welt Euthanasie und ärztlich unterstützter Suizid seit 23 Jahren praktiziert. Euthanasie ist formell illegal, den Ärzten wird aber praktisch Immunität gewährt, wenn bestimmte formale Prozeduren eingehalten werden.
In Oregon, USA, wurde aufgrund eines Referendums ein Gesetz inauguriert, welches ärztlich unterstützten Suizid - nicht Euthanasie - legalisiert. Es ist aufgrund einer gerichtlichen Verfügung noch nicht rechtskräftig und unterliegt einem judikativen Verfahren.
Bemühungen in Japan, Neuseeland, den Philippinen, Hong Kong und China, ähnliche Gesetze zu schaffen, schlugen fehl. In Japan wurden jedoch durch Gerichtsbeschluß Bedingungen festgelegt, unter denen Euthanasie erlaubt ist und in Taiwan dürfen lebenserhaltende Systeme abgeschaltet werden. In Schottland wurde es Angehörigen durch Gerichtsbeschluß ermöglicht, lebenserhaltende Systeme einer 52jährigen abzuschalten, welche sich in einem ständig vegetativen Zustand befand. Der ungarische Präsident begnadigte eine Mutter, welche ihre unheilbare Tochter tötete.
Die Ärzteschaft ist zerrissen. Einerseits wird unter Berufung auf den hippokratischen Eid mit Erhaltung des Lebens und Heilen als Aufgabe des Arztes argumentiert, andererseits konzedieren weltweit immer mehr Ärzte, daß sie bereits aktive Euthanasie geleistet haben. Die Motive sind immer integer und von dem Bestreben geleitet, aussichtloses Leiden zu beenden.
Der Suizid kann von einem Diskurs über Euthanasie nicht getrennt werden. Die der suizidalen Dynamik inhärente Problematik läßt sich konsistent auf freiwillige Euthanasie übertragen. Die Motive, die einen Menschen in den Selbstmord treiben, wären dieselben für ein legales Euthanasieverfahren.
Die Bezeichnung “Selbstmord” entstand erst im 17. Jahrhundert im deutschen Sprachraum[cxv], während vorher - noch im deutschen Strafgesetzbuch des 16. Jahrhunderts - von “eigener Tötung” die Sprache ist.[cxvi]
Die Befugnis des freiwilligen Todes zählte in der Antike zur Freiheit im Leben der Philosophen. Sokrates trank den Schierlingsbecher, obwohl er Gelegenheit zur Flucht aus dem Kerker gehabt hätte. Der fast hundertjährige Demokrit faßte den Vorsatz, des Hungers zu sterben. Epikur starb nach zweiwöchentlicher, als unheilbar erkannter Krankheit, ungemischten Wein schlürfend, in einer Wanne heißen Wassers. Zenon, der Stifter der Stoa, erdrosselte sich, als er in hohen Jahren wund gefallen war. Die Philosophen vollzogen den letzten Schritt überhaupt fast nur bei sehr hohem, der Hilflosigkeit nahen Alter oder in unheilbarer Krankheit.[cxvii]
Der Tod wurde vom antiken Menschen nicht als Desaster betrachtet, wie aus den Fabeln Herodots hervorgeht. Auf die Frage des Kroisos nach dem glückseligsten Menschen führte Solon Tellos an, weil dieser seine Vaterstadt in Wohlfahrt sah, edle und brave Söhne besaß und es erlebte, daß alle seine Kinder erwachsen wurden und gediehen. Er war ein begüterter Mann und beschloß sein Leben mit einem rühmlichen Tod: Er fiel in der Schlacht zwischen Athenern und ihren Nachbarn in Eleusis und fand so einen schönen Tod. Das athenische Volk bestattete ihn, wo er gefallen war und erwies ihm große Ehre. An zweiter Stelle nannte er Kleobis und Biton: Ihre Mutter erflehte für sie wegen einer großen Tat, die sie vollbracht hatten, von der Göttin Hera das Schönste, was ein Mensch erlangen kann. Die Jünglinge fanden beim Schlaf im Heiligtum als Lohn den Tod.[cxviii] Die Ansichten von einem jenseitigen Leben divergierten in der Antike stark. Der Einzelne war frei, davon zu halten was er wollte.[cxix] Selbstmord hatte seinen Platz im Denken der Menschen. Er wurde zwar geächtet, aber in der Volksmeinung nicht als Sünde gegen die Götter betrachtet - man hatte das Leben ja nicht von den Göttern. Die Polis verhängte über Selbstmörder Atimie, Versagung des Begräbnisses, Abtrennung der rechten Hand von der Leiche und dgl. mehr. Sie erzürnte sich in derselben Manier, als wenn z.B. jemand sein Vermögen durchbrachte, anstatt es sich von ihr stückweise oder durch Konfiskation abringen zu lassen.
Es gab aber auch legale Formen des Freitods.
Auf der Insel Keos starben alte Menschen gemeinschaftlich. Das Leben auf der Insel galt als sittenstreng, die Leute blieben gesund und wurden beim natürlichen Lauf der Dinge sehr alt. Die Alten tranken aus freiem Entschluß gemeinsam den Schierling oder Mohnsaft, wenn sie fühlten, daß sie zu einem der Heimat nützlichen Tun nicht mehr tauglich und dem Kindischwerden nahe waren. Der Hergang selbst wurde zu einer Art Fest. Trauer um Tote bedeutete auf Keos wenig. Begründet wurde diese Sitte mit Nahrungsmangel auf der Insel.
In der Stadt Massalia gab es bei Todesfällen weder Trauer noch laute Klage. Diejenigen, welche das Leben zu verlassen wünschten, mußten dem Rat der Sechshundert Gründe für ihren Tod angeben - er wurde ihnen nicht leichthin gestattet - und dann verabreichte ihnen die Stadt selber den Schierling.
Von jeher war aber für die Griechen klar, daß die wahre Größe darin lag, selbst in den schrecklichsten Lagen auszuhalten. Bei den späten Griechen genügten aber geringe Anlässe zum Verlassen des Lebens. Vermögensverlust, Liebeskummer genügten. Selbstmorde entwickelten sich zu Epidemien wie in Milet, wo sich die jungen Mädchen nach dem Tode sehnten und sich viele gegen Worte und Tränen der Eltern, sowie Mahnungen der Freunde erdrosselten. Die Epidemie wurde erst bezwungen, als auf öffentlichen Beschluß die Erdrosselten nackt über die Agora getragen wurden.
Selbstmord wegen unheilbarer Krankheiten wurde sowohl bei den Griechen, als auch Römern widerspruchslos akzeptiert. Für stoische und epikureische Philosophen waren Selbstmord und Euthanasie zulässige Handlungsmöglichkeiten, wenn das Leben nicht mehr wertvoll war. So schreibt Seneca in seinem 58. Brief an Lucilius (§ 34f), daß es eine größere Gefahr sei, ein verfehltes Leben zu führen als bei Zeiten zu sterben und daß derjenige ein Tor sei, der nicht um den geringen Preis eines Augenblicks einer schweren Schicksalswendung zuvorkomme.
“Ich
werde auf das Greisenalter nicht verzichten, wenn es mich mir ganz bewahrt,
ganz nämlich im Sinne meines besseren (geistigen Teiles). Aber wenn es Miene
macht, an meinem Geiste zu rütteln und in das Gefüge desselben störend einzugreifen,
wenn es mir nicht das Leben, sondern nur das leibliche Dasein übrig läßt, dann
werde ich den Sprung nicht scheuen, um herauszukommen aus dieser morschen und
zusammensinkenden Behausung. Einer Krankheit werde ich mich nicht durch den
Tod entziehen, vorausgesetzt, daß sie heilbar ist und dem Geiste nicht
schädlich. Schmerz soll niemals Veranlassung für mich werden, Hand an mich zu
legen: so zu sterben ist nichts anderes als sich besiegen lassen. Gewinne ich
aber die Überzeugung, daß ich ihn nicht wieder loswerde, dann werde ich mich
davonmachen, nicht wegen des Schmerzes selbst, sondern weil er mir ein Hemmnis
sein wird für alles, um deswillen man lebt. Schwach und feig ist, wer um des
Schmerzes willen stirbt, aber ein Tor, wer lebt, um dem Schmerz seinen Willen
zu lassen.”[cxx]
Der letzte Stoiker, Marc Aurel, zeugt von einer freisinnigen Betrachtung des Werts von Leben:
“Wie
du am Ende deines Lebens wünschest gelebt zu haben, so kannst du jetzt schon
leben. Wenn dir aber das deine Umgebung nicht gestattet, dann gehe ruhig aus
dem Leben, so, wie wenn dir kein Übel widerfahren wäre. Es raucht irgendwo,
gut, so gehe ich eben weg. Was scheint dir das Großes zu sein? Solange mich
aber nichts derart hinaustreibt, bleibe ich freiwillig, und niemand soll mein
Tun hemmen.”[cxxi]
Wenn das Leben wertlos sei, könne man es verlassen, freundlich, wie wenn man es vollbracht hätte.[cxxii] Diese Freisinnigkeit des Denkens gegenüber dem Tod ging mit dem Christentum verloren. Augustinus vertrat in seinem Gottesstaat[cxxiii] die These, daß nicht nur Fremdtötung, sondern auch Selbsttötung von Gott verboten sei.[cxxiv] Wahrscheinlich wollte er damit der Selbstmordmanie der frühen Christen Einhalt gebieten[cxxv] und erreichte dies durch den Trick, das lateinische Wort homicidium auch auf Selbsttötung anzuwenden.[cxxvi] Die Heiligkeit des menschlichen Lebens trat in den Vordergrund. Die Unverfügbarkeit des eigenen Lebens wurde in zwei Varianten postuliert:
1) Thomas von Aquin argumentierte, daß das Leben ein Geschenk Gottes und eine Entscheidung über Leben und Tod eine Anmaßung des göttlichen Prärogatives sei.
2) Nach Kant handle der suizidale Mensch sträflich, weil er unter der Vorsorge eines gütigen Herrn stehe und sich (durch den Selbstmord) den Absichten desselben widersetze.[cxxvii]
Aufgrund der kirchlichen Ächtung entwickelten sich im Laufe der Jahrhunderte unmenschliche Verfahrensweisen, welche sich nicht nur gegen die Leichen der Suizidanten, sondern auch gegen die Überlebenden eines Suizidversuchs richteten. Adelige verloren ihre Titel, die Schlösser wurden geschliffen, das Vermögen der Suizidanten konfisziert. Die Leichen wurden gehenkt und gepfählt. Die Konfiskation von Eigentum und die Ächtung des Gedächtnisses eines Suizidanten verschwand in Frankreich erst mit der französischen Revolution. Selbstmord wird im neuen Strafgesetzbuch 1791 nicht mehr erwähnt. In England konnte das Vermögen bis 1870 konfisziert, der Selbstmörder noch bis 1961 inhaftiert werden.
Eine Begebenheit besonderer Art aus dem London von 1860 wurde von Nicholas Ogarev an seine Geliebte Mary Sutherland berichtet:
A
man was hanged who had cut his throat, but who had been brought back to life.
They hanged him for suicide. The doctor had warned them that it was impossible
to hang him as the throat would burst open and he would breathe through the
aperture. They did not listen to his advice and hanged their man. The wound in
the neck immediately opened and the man came back to life again although he was
hanged. It took time to convoke the alderman to decide the question of what
was to be done. At length alderman assembled and bound up the neck below the
wound until he died. Oh my Mary, what a crazy society and what stupid
civilization.[cxxviii]
Neben der christlichen Tradition bestanden jedoch auch Rechtfertigungen des Selbstmordes wie durch Holbach, der den Selbstmord als natürlichen Akt der Geburt gleichsetzte.[cxxix]
Schopenhauer lehrte, daß der Selbstmörder das Leben will, aber lediglich Bedingungen, Verflechtungen der Umstände da seien, die ihn veranlaßten, sein Leben (als einzelne Erscheinung zu zerstören.[cxxx] Selbstmord sei zwischen dem Hungertod als Extrem der Askese in religiöser Schwärmerei und dem aus Verzweiflung entspringenden freiwilligen Tod anzusiedeln.[cxxxi] Schopenhauer war ein Gegner des Selbstmords, weil das Metaphysische oder Ding an sich keine Gewalt brechen könne, wenn der Wille zum Leben da sei.
“Daher
ist der einzige Weg des Heils dieser, daß der Wille ungehindert erscheine, um
in dieser Erscheinung sein eigenes Wesen ERKENNEN zu können. Nur in Folge
dieser Erkenntniß kann der Wille sich selbst aufheben und damit auch das
Leiden, welches von seiner Erscheinung unzertrennlich ist, endigen: nicht aber
ist dies durch physische Gewalt, wie Zerstörung des Keims, oder Tödtung des
Neugeborenen, oder Selbstmord möglich.”[cxxxii]
Außer diesem Grund gäbe es keinen anderen haltbaren moralischen Grund, den Selbstmord zu verdammen.[cxxxiii]
In unserem Jahrhundert des mechanisierten Megatods hat sich die Einstellung zum Selbstmord grundlegend geändert. Der Suizid entwickelte sich zu einer Krankheit.
Die Analyse der psychothanatologischen Thematik umfaßt auch marginal die suizidale Dynamik. Nach psychologischen Untersuchungen erfolgt Selbstmord meist in der Adoleszenz, im Alter und bei Medikamenten- bzw. Suchtgiftmißbrauch[cxxxv]. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Geisteskrankheiten und Akten der Selbstzerstörung[cxxxvi].
Zu Beginn unseres Jahrhunderts wurde von Elie Metchinkoff (1903) und von Sigmund Freud (1933) die Konzeption eines Todestriebes vorgestellt. Für Metchinkoff war es natürlich, daß ein alter Mensch den Tod genauso wie den Schlaf wünschte. Die Aufgabe von Wissenschaft sei, die Lebensspanne von Menschen zu verlängern, sodaß sie viele Jahre in Gesundheit verbringen konnten und dann die Erfüllung des Todestriebs erwarteten, der in ihnen gereift ist. Freud begründete seine Theorie des Todestriebs damit, daß alle Instinkte konservativ seien und versuchten, ein früheres Stadium zu wiederholen oder wiederherzustellen. Da die organische Materie aus anorganischer entstanden war, mußte ein Instinkt entstanden sein, welcher das Leben in das anorganische Stadium zurückzuwandeln suchte. Die Gegenkraft zum Todestrieb, Thanatos, war für Freud Eros, das Lustprinzip. Der Dualismus Thanatos-Eros bestimme das Leben antagonistisch. Wir seien nie ganz auf Überleben und Entwicklung orientiert. Nur in extremen Situationen, wenn überhaupt, regiere der Todestrieb ohne Antagonismus. Tod sei eines der fundamentalen Ziele des Lebens. Wir lebten in der Intention zu sterben. Aber Leben sei auch ein Ziel des Lebens. Beide Ziele seien in der Natur lebender Organismen eingebunden. Die Prinzipien seien in jeder Zelle unseres Körpers zu finden, durchdrängten jedoch in kraftvollen Tendenzen unsere mentalen Operationen.
Die Fachwelt hat sich von dieser Theorie distanziert.[cxxxvii]
Viele Suizidanten lassen sich einen “Fluchtweg” offen, der eine Intervention, d.h. Rettung noch möglich macht. Dies kann an zwei Fallbeispielen dokumentiert werden, welche von Kastenbaum als Form der prophylaktischen Medizin angeführt werden.
“L.
V. was an unmarried nurse in her 30s. Her life had centered around her work and
several close friendships. She had more than the usual knowledge of terminal
illness and care. The idea of becoming a hospice nurse or director appealed to
her, but she was very much involved in her current position in a hospital.
This, however, is the way things had been. Now, incredibly, she was dying. With
the help of friends she had been able to remain at home. By saving up her
energies she could write letters, read, converse, and even continue working a
little on a project she had started before her illness.
One
day she asks her two best friends if they would do a couple of errands for her.
These errands happen to be in different directions, and each will take at least
an hour and a half. They return to find L. V. dead. She has somehow managed the
very difficult feat of (a) acquiring a lethal supply of morphine and (b)
rigging up the intravenous line to deliver the drug into her own veins. There
was a note asking their forgiveness for this little trick. She wanted to quit
before life became unbearable.
The
friends experienced a very strong and very mixed response: surprise, sorrow,
relief, anger. The anger was still there months later. ‘It was as if she didn‘t
trust us.‘ They had no difficulty in understanding why this strong-minded
person would want to control her own destiny, especially because she knew
better than most people about the probable future course of her illness and
debility. They felt, however, that a bond of mutual trust had been broken when
L. V. had not informed them of her plans. One did observe, though, that the
‘suicide machine‘ had been rigged with the outside possibility of rescue: She
had used a hemalock device that would have made it possible to quickly shut off
the flow of morphine had either friend returned earlier and noticed the setup.
Many suicide attempts include an ‘escape hatch‘, enabling the individual to
share little of responsibility with friends, family, or fate.
By
contrast, J. J. did not conceal his suicidal intent. He told the visiting
hospice nurse that he had his own way of treating his condition - and then
produced a large handgun from beneath a pillow. Life was hardly worth living
any more. They had already told him to stop smoking and drinking. What would
they want to take away next? He was not going to keep lying around until he
rusts out, and the doctors could keep their knives and pills for some other
sucker. The nurse secured his agreement to speak with the hospice social worker
about his suicidal intention, and, in the meantime, would he not like to feel a
little better? The social worker responded promptly to her call. The nurse put
the intervening time to good use and even persuaded J. J. to shave for the
first time in weeks. He was looking more comfortable and relaxed by the time
the social worker showed up.
After
a brief conference with J. J. and his wife, the social worker left their home
with the gun inside a plastic bag. The weapon would be held for him in a locked
security box. J. J. had the receipt. Hospice had his promise that he would
give them a chance to support the quality of life remaining to him. J. J.‘s
wife, who had hardly spoken during the whole visit, nodded approvingly to the
social worker: ‘You‘re all right.‘
The
next morning‘s hospice team meeting devoted considerable attention to J. J. And
his wife. A little later they learned that he had killed himself with his other
gun (most probably brought to him by his wife).
In
both examples, the two people chose to select the exact time of death that
would likely have occurred within a few weeks. Neither person was experiencing
much pain at the time, and both had intimate companions for support; however,
they thought to spare themselves from increasing dependency and helplessness.”[cxxxviii]
Nach Kastenbaum haben Suizidologen schon lange erkannt, daß einige Leute glauben, ihren eigenen Tod überleben zu können. Dies sei an einem Fallbeispiel ersichtlich, das Kastenbaum als Beleg für die letzten Gedanken eines Suizidanten anführt.
“My
love for you has always been the deepest and hopefully I‘ll see you again. You
are my miracle. I have accepted the Lord Jesus as my saviour but I know that he
wouldn‘t condone this. I accept the just dues and pray that maybe you won‘t
hurt anymore. Make our kids something! you and Jesus I pray can forgive me for
copping out…If I see mom I‘ll see that Joe is taken care of + I will try to be
with him too!…Eternity is the best way of saying how long I (?) love you…May
the Lord bless + keep you + forgive me for something I have no earthly rights
to do.”[cxxxix]
Kant spricht von einem Naturinstinkt, der einen Moribunden von seinem vernunftbegründeten Wunsch zu sterben abhält[cxl] und daß allen Menschen eine natürliche Furcht vor dem Tod zu eigen ist.[cxli]
Selbstmord ist ein Verstoß gegen die Pflicht gegen sich selbst. Zu differenzieren ist zwischen Pflichten gegen sich selbst in Hinblick auf die tierische und auf die moralische Natur des Menschen.
Der erste Grundsatz fordert die Erhaltung der Vollkommenheit, soweit sie von der Natur verliehen wurde und die Weiterentwicklung dieser Vollkommenheit, der zweite die subjektive Einteilung der Pflichten des Menschen gegen sich selbst, wonach sich das Subjekt der Pflicht als animalisches und zugleich moralisches oder bloß als moralisches Wesen betrachtet. Die Motivation des Menschen in Hinblick auf seine animalische Natur besteht in
1. Selbsterhaltung
2. Arterhaltung
3. die Erhaltung seiner animalischen Genußfähigkeit.
Die entsprechenden Laster sind: Selbstmord, sexuelle Perversion und Völlerei.
Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst als bloß moralisches Wesen besteht rein formal in der Übereinstimmung der Maximen seines Willens mit der Würde der Menschheit in seiner Person, d.h. er darf sich nicht seiner inneren Freiheit begeben und damit zum Spielball seiner Neigungen werden.
Die entsprechenden Laster sind: Lüge, Geiz und falsche Demut.[cxlii]
Selbsterhaltung sei die erste, wenn auch nicht vornehmste Pflicht des Menschen gegen sich selbst - in seiner animalischen Natur. Kant verwendet den Ausdruck “Entleibung” für den willkürlichen physischen Tod, welcher total (suicidium) oder nur partial (Entgliederung/Verstümmelung) sein kann.[cxliii] Als Selbstmord könne die willkürliche Entleibung nur dann bezeichnet werden, wenn der Nachweis eines Verbrechens gegen sich selbst oder an anderen erbracht würde. Als Beispiel führt er den Suizid einer schwangeren Person an.
Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen, und zwar als Übertretung seiner Pflicht gegen andere Menschen (Eheleute, Eltern gegen Kinder, des Untertans gegen seine Obrigkeit, seine Mitbürger, oder auch gegen Gott). Kant fokussiert aber seine Reflexionen auf Pflichten gegen sich selbst.
Er übt an den Stoikern Kritik, da sie sich die Freiheit nahmen, beliebig aus dem Leben zu gehen. Sie hätten den Mut, den Tod nicht zu fürchten, eher zum Fortbestand ihres Lebens - als
Wesen mit Verfügungsgewalt über ihre eigenen Triebe[cxliv] - einsetzen sollen.
So wie der Mensch sich nicht seiner Persönlichkeit entäußern kann, so kann er sich nicht von seinen Pflichten entbinden und es wäre ein Widerspruch, sich aller Verbindlichkeit entziehen zu können.
Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person vernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm auf einen beliebigen Zweck zu disponieren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertraut war.[cxlv]
Organtransplantationen subsumiert er dem partialen Selbstmord zu, außer wenn es sich um ein Organ handelt, welches für die Fortdauer des Lebens negative Auswirkungen hätte.[cxlvi]
In der Anthropologie[cxlvii] differenziert er zwischen dem Selbstmord aus Mut und aus Feigheit. Dies sei jedoch nicht eine moralische, sondern eine psychologische Frage. Bei Selbstmord aus Zorn mit dem Motiv, seine (verletzte) Ehre nicht zu überleben, scheine er Mut zu sein; bei Erschöpfen der Geduld durch Traurigkeit, Verzagen. Wenn der Mensch aber die Qualen des Lebens nicht ertragen kann und trotz Furcht vor dem Tod in einer Gemütsverwirrung der Angst zum Selbstmord schreitet, sei es Feigheit.
Die Art der Ausführung gebe den Unterschied in der Gemütsstimmung zu erkennen. Wenn das gewählte Mittel keine Rettung ermöglicht, so könne man dem Selbstmörder einen gewissen Mut nicht abstreiten, wenn aber noch Rettung möglich sei und der Selbstmörder noch froh ist und keine Wiederholung versucht - “so ist es feige Verzweiflung aus Schwäche, nicht rüstige, welche noch Stärke der Gemütsfassung zu einer solchen Tat erfordert.”[cxlviii]
Kant konzediert, daß nicht immer nichtswürdige Seelen einen Selbstmord begingen, aber gerade von solchen, welche für Ehre kein Gefühl hätten, wäre eine solche Tat zu befürchten.
An anderer Stelle[cxlix] wird das harte Urteil Kants abgeschwächt: Die Menschen wünschen am sehnsüchtigsten, lange zu leben und gesund zu sein. Dem Hospitalkranken, der Jahre auf seinem Lager darbt und wünscht, durch den Tod von seinem Leiden erlöst zu werden, darf man nicht glauben. Seine Vernunft sage es ihm zwar vor, sein Naturinstinkt wolle es aber anders. Er verlange vom Tod immer noch eine Vertagung dieses peremtorischen Dekrets. “Der in wilder Entrüstung gefaßte Entschluß des Selbstmörders, seinem Leben ein Ende zu machen, macht hievon keine Ausnahme: denn er ist die Wirkung eines bis zum Wahnsinn exaltierten Affekts.” D.h. Kant deutet hier die Aussichtslosigkeit einer Situation in deren dialektisch widersprüchlichen Rationalität und die damit verbundene Zurechnungsunfähigkeit an.
Aus der Position Kants spricht eine bedingungs- und voraussetzungslose Bejahung des menschlichen Lebens, welche in bezug auf den Suizid kompromißlos ist, was ihn in seiner Strafrechtslehre nicht davon abhalten kann, für Mörder unter der Idee der Gerechtigkeit nach dem Wiedervergeltungsrecht den Tod für den Mörder zu fordern. Er fordert im Fall einer Auflösung einer bürgerlichen Gesellschaft die Hinrichtung der letzten im Gefängnis verbliebenen Mörder, “damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.”[cl]
Bei zwei todeswürdigen Verbrechen aus verletzter Ehre sei es zweifelhaft, ob die Gesetzgebung die Befugnis hat, sie mit der Todesstrafe zu belegen:
Das eine Verbrechen ist der mütterliche Kindesmord (infanticidium maternale) an einem unehelichen Kind aus verletzter Geschlechtsehre, da das Kind außerhalb des Gesetzes, d.h. der Ehe, geboren wurde.[cli]
Das andere Verbrechen ist der Kriegsgesellenmord (commilitonicidium), das Duell, aus verletzter Kriegsehre. Wenn einem als Unter-Befehlshaber eingesetzter Kriegsmann Feigheit vorgeworfen wird und dieser Schimpf in der öffentlichen Meinung der Mitgenossen seines Standes nicht durch das Gesetz vor einem Gerichtshof, sondern nur durch ein Duell, wobei er sich selbst der Lebensgefahr aussetzt, um seinen Kriegsmut zu beweisen, beseitigt werden kann, so kann man hier eigentlich nicht von Mord (homicidium dolosum) sprechen, auch wenn bei diesem Kampf der Gegner getötet wird.[clii]
Menschen befänden sich in diesen Fällen im Naturzustand und müßten zwar bestraft werden, jedoch nicht mit dem Tode.[cliii]
Aus diesen Argumenten geht hervor, daß Kant eigenartigerweise die Selbsttötung als unmoralisch verwirft, sich aber bei der Begründung nicht auf die Heiligkeit, d.h. Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens beruft.
Die Selbsttötung ist in der japanischen Tradition nicht nur eine nicht verachtenswerte Tat, sondern ist für einen Helden in äußerster Bedrängnis die einzig ehrenvolle Lösung. Es ist nicht der “Ausweg eines Feiglings, kein impulsiver Akt aus Verzweiflung, sondern eine stolze Tat, die sorgfältig bedacht und vorbereitet war”. Für den japanischen Helden hat der Tod eine besondere psychologische Bedeutung, da er den ganzen Sinn seines Lebens in einem Augenblick verkörpert. Von allen schrecklichen Todesarten ist dem Krieger keine verhaßter als die Gefangennahme und Hinrichtung durch den Feind. Dies bedeutet nicht nur eine unerträgliche Erniedrigung seiner selbst, sondern, weit schlimmer, die Vernichtung des Rufes seiner Familie für die Vergangenheit und die Zukunft. Schon die kürzeste Gefangenschaft stellt eine nicht wiedergutzumachende Katastrophe dar. Der Soldat, der sich gefangen gab, verlor automatisch seine Ehre als Krieger und konnte nur die brutalste Behandlung erwarten: grausame Folter, eine demütigende Art der Hinrichtung, die Verstümmelung des Leichnams und, was das allerschlimmste war, den Beinamen toriko (Gefangener). Seit frühester historischer Zeit galt die Selbstauslöschung eines Kriegers als Rettung von Schande und als Beweis höchster Integrität. Vor dem 12. Jahrhundert begingen besiegte Krieger Selbstmord, um der Gefangennahme zu entgehen, seit den Brügerkriegen des 12. Jahrhunderts wurde in der Samurai-Tradition das Harakiri[clv] als schlüssiger Beweis angesehen, daß es sich hier um einen Mann handelte, der zwar sein Ziel verfehlt hatte, aber dennoch von seinen Freunden und Feinden ob seiner Entschlossenheit und Aufrichtigkeit geachtet werden konnte.
Den ersten dokumentierten Fall von Harakiri beging 1170 Minamoto no Tametomo bei einer Niederlage, als alle seine Männer getötet worden waren.
Diese spezifische Form der Selbsthingabe etablierte sich nicht nur als Mittel, Schmach zu entgehen, oder nach einer Verfehlung seine Ehre wiederherzustellen, sondern auch als offizielle Form der Bestrafung, als Treuebeweis eines Gefolgsmannes beim Tode seines Herrn und als letzter Ausdruck des Protests gegen einen Mächtigen, der im Unrecht war. Harakiri wurde als besonders schmerzhafte Form der Selbstverstümmelung zweifellos in Zusammenhang mit den Prinzipien der Selbstkasteiung im Zen gewählt, um die einzigartige Tapferkeit und Entschlossenheit der Angehörigen einer elitären Kriegerklasse unter Beweis zu stellen und welche ein gewöhnlicher Bürger auf keinen Fall ertragen konnte. Hara (der Bauch) galt als physisches Zentrum des Körpers, traditionell aber auch als Heimstätte des Innersten des Menschen, als Ort, an dem Wille, Seele, Großmut, Empörung, Tapferkeit und andere wichtige Werte ihr Zentrum hatten. Harakiri stellte eine Form der Selbsttötung dar, bei der sich der Samurai sein Schwert, das Symbol seiner Seele in den Kern seiner edelsten Gefühle stieß.[clvi]
Ab dem 17. Jahrhundert wurde es Sitte, daß der Sekundant dem Todgeweihten den Kopf abschlug, bevor sich dieser den Bauch aufschlitzen konnte. Dies geschah in der Hauptsache bei Hinrichtungen.
Im 20. Jahrhundert gipfelte diese Form des Denkens im 2. Weltkrieg in der Bildung organisierter Selbstmordeinheiten, als sich das Kriegsglück zu ungunsten Japans wendete. Vizeadmiral Onishi übernahm am 17.10.1944 als neuer Kommandant die 1. Marineluftflotte in Manila. Zwei Tage später fand in Mabalacat eine Konferenz statt, bei welcher er die scheinbar unlösbaren Probleme darstellte und die Idee schilderte, die er in den letzten Monaten entwickelt hatte: Angriffseinheiten von Zero-Maschinen mit 250 Kilogramm Bombenlast zu bilden, welche im Sturzflug auf gegnerische Flugzeugträger zerschellten. Eine Entscheidung, ob diese Idee realisiert werden sollte, mußte aufgrund der prekären Situation sofort getroffen werden. Kapitän Tamai, der Erste Offizier der 201. Luftgruppe, bei dem die Verantwortung lag, zog sich mit seinem Adjudanten zurück, um die Reaktionen der Piloten zu erkunden, und als er zurückkam, teilte er die Zustimmung der 201. Luftgruppe mit, diesen Vorschlag auszuführen. Die Entscheidung für die organisierte Selbstmordtaktik wurde innerhalb weniger Minuten getroffen und wäre ohne die japanische Tradition des Suizids nicht denkbar gewesen. Jeder einzelne Angehörige der 201. Luftgruppe meldete sich freiwillig zu den Kamikaze-Einheiten. Onishi, der Hauptverantwortliche für die Einführung der Selbstmordstrategie, hatte selbst zwiespältige Empfindungen, die Führer der konventionellen Streitkräfte hatten ihre Zweifel. Mit Zunahme der Niederlagen übernahm aber fast jede Einheit im Pazifik die Kamikaze-Taktik.
Die Selbstmordstrategie wurde in drei Formen durchgeführt:
1. Die Kamikaze-Angriffe, bei denen Zero-Maschinen mit Sprengstoff beladen wurden.
2. Angriffe mit Okas (Kirschblüte), eigens konstruierte, primitive, mit Sprengstoff beladene Flugzeuge, die von einem Trägerflugzeug in das Angriffsgebiet gebracht und dort ausgeklinkt wurden.
3. Angriffe mit Kaiten, sprengstoffbeladenen Torpedos, welche von Mutter-U-Booten in das Zielgebiet gebracht und ausgesetzt wurden. Jeder Angriff endete mit dem Tod des Piloten.
In den letzten Monaten des Krieges wurden die Flugzeuge so rar, daß man die wackeligste Maschine zusammenflickte und auf Selbstmordmission schickte. Die Ausbildung der Selbstmordpiloten wurde auf 10 Tage reduziert, trainiert wurden ausschließlich Start- und Sturzflugmanöver. Gegen Ende des Krieges starteten die Maschinen ohne Fahrgestell, welches für die nächste Maschine wiederverwendet wurde.
Bei den Kaiten war eine Vorrichtung eingebaut, die dem Piloten in einer Entfernung von 45 Metern zum Ziel den Ausstieg ermöglichte, von dieser Möglichkeit wurde aber nie Gebrauch gemacht. Nur der sichere Tod garantierte einen sicheren Treffer, da das Verlassen des Kaiten ein Abweichen vom Kurs hätte bewirken können.
An Kandidaten für Selbstmordmissionen herrschte zu keiner Zeit Mangel. Die Kaiserlichen Streitkräfte hatten nie Schwierigkeiten bei der Rekrutierung. Es mag zögernde junge Männer gegeben haben, es wurde aber mit Sicherheit niemals Zwang von einer Musterungskommission oder Vorgesetzten ausgeübt. Bei Kriegsende waren doppelt so viele Freiwillige als Flugzeuge vorhanden. Sie wurden als lebende Götter angesehen. Es kam vor, daß junge Männer fürchteten, nicht in Selbstmordeinheiten Dienst tun zu dürfen und deshalb ihre dringliche Eingabe, einer alten Tradition folgend, mit ihrem eigenen Blut unterschrieben, wodurch die Ernsthaftigkeit unterstrichen wurde und welche nun kaum abzulehnen war. Scheinbar gab es keine Diskriminierung derjenigen, welche die Ehre ausschlugen, an einem Selbstmordkommando teilzunehmen.
Der typische Kamikaze-Kämpfer war ein Universitätsstudent, dessen Ausbildung durch den Militärdienst unterbrochen wurde. Unter ihnen waren weit mehr Studenten der Geisteswissenschaften und des Rechts als etwa Ingenieure und Naturwissenschaftler oder Angehörige “praktischer” Studiengänge. Bei Berufssoldaten stießen Kamikaze-Kandidaten oft auf Ablehnung wegen ihres Bücherwissens und ihres freien, relativ unmilitärischen Auftretens, besonders bei den Unteroffizieren, welche wußten, daß diese jungen, unerfahrenen Exstudenten bald Offiziere und göttergleiche Helden sein würden, während sie selbst im Mannschaftsgrad versauerten.
Während das System mit formlosen, spontanen Freiwilligenmeldungen begonnen hatten, wurden seit der Schlacht um Okinawa Männer zunehmend “gebeten”, einer Selbstmordeinheit beizutreten. In der Armee, in der die Spezialeinheiten viel später eingeführt wurden, war eine größere Dringlichkeit und man übte vielleicht auch mehr offenen Druck auf widerstrebende Kandidaten aus.
Haß auf den Feind oder um den Tod der Kameraden zu rächen, scheint nicht die Psyche der Kamikaze-Kämpfer dominiert zu haben. Sie sprechen oft von ihrer Pflicht, Japans heiligen Boden vor der Verunreinigung durch Fremde zu schützen und ihr Leben für die Verteidigung ihrer Familien zu opfern. In ihren Worten drückt sich eher ein starkes Gefühl der Verpflichtung aus, die seit der Geburt empfangenen Wohltaten zu vergelten. Das Anerkennen einer Dankesschuld und die Entschlossenheit, sie zu vergelten, welches Opfer dazu auch immer nötig war, ist für das japanische Moralempfinden grundlegend und war durch viele Jahrhunderte in Krieg und Frieden eine mächtige Triebkraft. Dankbarkeit gegenüber Japan, dem Land ihrer Geburt und gegenüber dem Kaiser standen im Vordergrund. Ein weiteres, immer wiederkehrendes Motiv ist die Aufrichtigkeit. Die Kamikaze-Kämpfer wußten um die Sinnlosigkeit der Selbstmordkommandos - pragmatisch gesehen waren die Selbstmordkommandos völlig sinnlos und für den Kriegsverlauf unerheblich -, die Aufrichtigkeit war wichtiger als die Frage nach Sieg oder Niederlage. Der Freiwillige betrachtete seine Anstrengung nicht als völlig sinnlos, da sie zwar nicht die Niederlage verhindern konnte, aber vielleicht eine Art geistige Wiedergeburt herbeiführen konnte: der Akt der Selbstaufopferung ohne praktischen Nutzen für die Kriegsführung als wertvolle, spirituelle Auswirkung.
Die meisten der jungen Männer scheinen selbst im Angesicht des Todes keinen Trost im Glauben an eine mögliches Weiterleben gefunden haben. Der Tod kam für diese jungen Freiwilligen nicht von außen, durch einen Zufall oder unglückliche Umstände, sondern von innen, als vorsätzliche Tat aus eigenem Antrieb. Die tatsächlich vorherrschende Stimmung unter ihnen scheint eine Art unbekümmerter Skeptizismus gewesen zu sein. Trotz ihrer angespannten und schwierigen Lage gestatteten sich die Selbstmordpiloten nie hysterische oder theatralische Ausbrüche und es war allgemein bekannt, daß die Kamikaze-Einheiten seit ihrer Einführung 1944 die beste Moral der ganzen japanischen Streitkräfte hatten. Wenn sie zu ihren Flügen ohne Wiederkehr starteten, waren sie voll Begeisterung. Am Tag des Aufbruchs war ihre Stimmung von Ungeduld und Erregung geprägt. In den Abschiedsbriefen versuchten die Kamikaze-Piloten häufig, etwas von ihrer gelassenen Heiterkeit zu vermitteln, um ihre Eltern zu trösten.
Von den tausenden Freiwilligen, die sich für Selbstmordkommandos gemeldet hatten, überlebte nur eine Handvoll den Krieg. Sie verfielen in einen Zustand der quälenden Frustration, eine Mischung aus überwältigter Enttäuschung und dem Verlust ihrer Selbstachtung. Es dauerte oft Jahre, bis sie darüber hinwegkamen. Als ein Pilot, Watanabe Sei, zwei Tage vor seinem Feindflug die Nachricht erhielt, daß der Krieg beendet sei und er nach Hause zurückkehren könne, weinte er und war tief gekränkt, weil man ihn um seinen Tod gebracht hatte. Ein anderer, der einen Selbstmordangriff überlebt hatte, versteckte sich und mußte zum Büro des Kommandanten gebracht werden. Für solche Piloten war es alles andere als ein Vergnügen, noch am Leben zu sein und viele versuchten Selbstmord zu begehen. Ein Pilot, der sich den Abschiedszeremonien unterzogen hatte und gezwungen war, zu Basis zurückzukehren, weil er kein Ziel gefunden hatte, litt unter den schlimmsten Formen seelischer Frustration. Es war eine Schande, so zurückzukehren. Sie verfielen in einen Zustand der Apathie, der für Kamikaze-Überlebende charakteristisch war. Abgesehen von Selbstvorwürfen, folgten öffentliche Demütigungen. Sie wurden nicht nur verbal, sondern auch physisch malträtiert. Während Selbsttötungsakte, um der Gefangennahme zu entgehen, in der japanischen Geschichte auch für Feinde niedriger Stände, wie Bauern, Bewunderung und Achtung hervorriefen, gab es keine Nachsicht für einen Überlebenden, auch wenn widrige Umstände und nicht ein schuldhaftes Verhalten, wie etwa Feigheit, vorlagen. Es ist deshalb kein Wunder, daß Kamikaze-Kämpfer, welche ihren Aufprallangriff wider Erwarten wie durch ein Wunder überlebten, die Soldaten, welche sie gefangennahmen, baten, sie zu töten oder ihnen Gelegenheit zum Selbstmord zu geben.
ein historisches Exposé
Ariès basiert seine Analysen der diversen Erscheinungsformen des Todes auf historische Grundlagen wie Ausgrabungen, Grabepitaphe, Ikonographie, Testamente, Literatur, Filme, etc., wobei er vorwiegend französische Quellen heranzieht, jedoch die Entwicklung in ganz Europa und Amerika berücksichtigt.
Aus seiner Darstellung ergibt sich die gleiche globale Einstellung zum Tod in Europa von Homer bis Tolstoi, wenn auch dieser strukturellen Permanenz historische Veränderungen im eigentlichen Sinn nicht fremd gewesen wären. Für nahezu zwei Jahrtausende bietet diese traditionelle Einstellung zum Tod im Gegensatz zu unserer von Veränderung geprägten Welt den Eindruck eines Walls von Trägheit und Kontinuität. Die alte Einstellung, welche den Tod nah und vertraut in abgeschwächter und kaum fühlbarer Form dem Menschen akzeptabel machte, steht in schroffem Gegensatz zu unserer Todeskonzeption, welche so angsteinflößend ist, daß wir den Tod kaum beim Namen zu nennen wagen.
Während unsere technizistische Zivilisation den Tod verbannt hat, ist er in traditionellen Gesellschaften ein naher und vertrauter Bestandteil des Alltagslebens. Ariès nennt dieses Todesmodell den gezähmten Tod. Der Übergang vom Leben zum Tod wurde nicht als radikaler Umschlag (Jankélévitch) oder als gewaltsame Überschreitung (Georges Bataille) empfunden, ebensowenig empfand man Schwindel und existentielle Angst. Man glaubte aber auch nicht an ein Nachleben, welches lediglich die Fortsetzung des Lebens auf Erden gewesen wäre. Der Tod war ein Über-Gang, inter-itus. Man glaubte, die Toten schliefen. Dieser Glaube ist alt und beständig und schon bei Homer und den Römern anzutreffen. Im Chanson de Roland, dem Ausgangspunkt der Untersuchungen Ariès‘, verlassen Olivier und Roland einander als ob sie einen langen, endlosen Schlaf vor sich hätten.
Die Toten konnten aufwachen und die Lebenden stören. In der heidnischen Tradition brachte man den Toten Opfergaben dar, um sie zu besänftigen und daran zu hindern, die Lebenden heimzusuchen. Dieser Eingriff der Lebenden hatte keineswegs das Ziel, den Toten den Aufenthalt in ihrer dämmrigen Unterwelt zu versüßen. In der jüdischen Tradition kannte man nicht einmal diese kargen Praktiken.
Das Bild des Schlafes für den Tod war bei den Urchristen, welche die hypnotische Fühllosigkeit der Toten eher übertrieben, vorhanden und erhielt sich über die Jahrhunderte. Bis heute werden Gebete für die Toten und die Ruhe ihrer Seele gesprochen. Die Ruhe ist zugleich das älteste, volkstümlichste und dauerhafteste Bild des Jenseits. Im gezähmten Tod des Mittelalters traf der Sterbende, der sein Ende nahen fühlte, seine Verfügungen. Der Tod war eine einfache Sache. Zweifellos wurde der Sterbende vom Rückblick auf das Leben, die besessenen Güter und die geliebten Wesen berührt, seine schmerzliche Abschiedsklage überschreitet aber nie eine bestimmte Intensität, die im Vergleich zur üblichen Pathetik der Epoche sehr gering ist. Die Anklammerung an ein erbärmliches Leben steht der Vertrautheit mit dem immer nahen Tod nicht im Weg. Auch am Tod des mittelalterlichen Ritters, der tapfer als Held kämpft, haftet nichts Heroisches und Außergewöhnliches: er hat die Banalität des Todes von jedermann.
Vertraute Einfachheit ist eine der beiden unabdingbaren Wesenszüge des rituellen Todes, der andere ist die Öffentlichkeit. Der Sterbende bildet den Mittelpunkt einer Versammlung, der Tod wird durch Brauch und Herkommen geregelt. Der gewöhnliche, normale Tod fällt den Einzelnen nicht aus dem Hinterhalt an.
Der Tod als mors repentina war jedoch ein angsteinflößendes, fremdartiges und schreckliches Phänomen, häßlich und gemein. Wenn er sich nicht ankündigte, setzte er nach allgemeinem Glauben die Ordnung der Welt außer Kraft und wurde als Folge des Zornes Gottes interpretiert.
Nicht nur der plötzliche, auch der heimliche Tod ohne Zeugen oder Zeremonien war häßlich und gemein. Der Tod des Reisenden unterwegs, der des im Fluß Ertrunkenen, der des vom Blitz zufällig getroffenen Nachbarn, war mit einem Fluch belastet. Dieser alte Glaube wurde vom Christentum mit Zurückhaltung und Kleinmut bekämpft. Im 13. Jahrhundert meinte Gulielmus Durandus, Bischof von Mende, daß ein plötzlicher Tod nicht bedeute, aus einer offenkundigen Ursache gestorben zu sein, sondern einzig, daß der Tod nach dem unergründlichen Ratschluß Gottes erfolgte. Kein Zweifel bestand an der Schuld, wenn ein Mensch durch Hexerei starb. Das Opfer konnte nicht von Schuld freigesprochen werden, da es zwangsläufig durch die “Niedrigkeit” des Todes entweiht wurde.
Ermordeten wurde zwar nicht die christliche Bestattung verweigert, sie wurden aber volkstümlich verdammt und man erlegte ihnen als Buße eine Zahlung auf.
Der Argwohn, den der plötzliche Tod erweckte, erstreckte sich nicht auf die heldenmütigen Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen.
A fortiori war der Tod der Verurteilten schambesetzt: Bis zum 14. Jahrhundert verweigerte man ihnen sogar die Wiederaufnahme in den Schoß der Kirche. Die Leichen der Hingerichteten blieben oft monate-, ja sogar jahrelang aufgehängt am Galgen und so zur Schau gestellt. Verdammte und Verurteilte wurden auf freiem Felde oder - nach einer späteren Bezeichnung - auf dem Schindanger beigesetzt, obwohl die Leichen krimineller Straftäter durchaus in geweihter Erde bestattet werden hätten können, da es die Kirche im Prinzip erlaubte. Dies änderte sich erst in der Epoche der Bettelmönche. Der Mensch des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit ließ nicht zu, daß der Lauf der Gerechtigkeit vor dem Tod haltmachte. Der Tod ließ den Rachedurst ebensowenig erlöschen wie die Justiz.
Die Einstellung zum Tod brachte eine spontane Fügung ins Schicksal und in den Willen der Natur zum Ausdruck. Dieser Einstellung zum Tod entspricht eine symmetrische Einstellung zu den Toten, dieselbe indifferente Vertrautheit in Hinsicht auf die Modalitäten der Grablegung und der Grabstätten für die Periode vom 5. bis zum 18. Jahrhundert.
Trotz ihrer Vertrautheit mit dem Tod scheuten die Alten die Nachbarschaft mit den Toten und hielten sie abseits. Die bestatteten und eingeäscherten Toten waren unrein. Die Friedhöfe des Altertums lagen außerhalb der Städte. Die Christen paßten sich anfangs an die Bräuche ihrer Zeit an. Zuerst bestatteten sie ihre Toten in den selben Nekropolen wie die Heiden, später jedoch abseits in getrennten, immer außerhalb gelegenen Friedhöfen. Dieses Widerstreben gegen die Nähe der Toten versiegte bei den alten Christen jedoch bald, zunächst in Afrika, dann in Rom. Dieser bemerkenswerte Wandel bringt eine beträchtliche Differenz zwischen heidnischer und christlicher Einstellung zu den Toten zum Ausdruck, trotz der gemeinsamen Anerkennung des gezähmten Todes. Bis ins 18. Jahrhundert flößten die Toten den Lebenden keine Angst mehr ein.
Im volkstümlichen Glauben gefährdete die Schändung und Beraubung eines Grabes die Erweckung am Jüngsten Tag, weshalb man versuchte, die Toten nahe den Gräbern der Märtyrer zu bestatten. Die Märtyrer, die einzigen Heiligen, welche ihres Platzes im Himmel sofort sicher waren, wachten über die Leiber und bannten Grabschänder. Die Angst vor Grabschändern legte sich seit dem Hochmittelalter, da aufgrund mangelnder Grabbeigaben kein ökonomisches Motiv mehr für Grabschändung vorlag. Das Hauptmotiv der Bestattung ad sanctos lag deshalb primär in der Vergewisserung des Schutzes des Heiligen für den Tag der Auferstehung und des Gerichts.
Ab dem 7. Jahrhundert wurden die Friedhöfe auf dem Land aufgegeben und in die Städte verlegt. Der mittelalterliche Friedhof war neben seiner Funktion als Bestattungsort Brennpunkt des sozialen Lebens. Die Reichweite der weltlichen Macht endete bei der Kirche und ihrem atrium. Der Friedhof hatte Asylfunktion, welche unter Umständen Übergewicht über die Bestattungsfunktion erlangte. Er wurde dauernder Wohnsitz. Flüchtlinge richteten sich dauerhaft ein und weigerten sich, ihn zu verlassen. Der Friedhof diente als Forum, als Hauptplatz, Stätte des Vergnügens und des Spiels, die ihrerseits mit der Atmosphäre von Markt und Messe verquickt blieben. Dieses Nebeneinander von Lebenden und Toten sorgte allerdings auch für Konflikte, wie aus einem gefundenden Text des 17. Jahrhunderts hervorgeht.
Im Hochmittelalter wurde die Bestattung ad sanctos durch die Beisetzung apud ecclesiam ersetzt. Die Kirche setzte sich an Stelle der Heiligen, was die Einstellung zum Tod kaum veränderte.
Die Sorge um das ewige Leben der Verstorbenen und das Bedürfnis, die Heilsgewißheit durch religiöse Rituale zu stärken, war in den Heilsreligionen heimisch, wie in den dionysischen Mysterien, im Pythagoräismus und den hellenistischen Mithras- und Isis-Kulturen.
Der Glaube an eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tode bildete den gemeinsamen Fundus mit dem Christentum. Die Vorstellungen der Christen von Tod und Unsterblichkeit waren im Laufe der Zeit großen Veränderungen unterworfen.
Die erste bildliche Darstellung vom Ende der Zeiten war keine Vorstellung des Gerichts. Der Christ des frühen Mittelalters hatte in der Stunde des Todes den triumphierenden Eingriff Gottes vor Augen, der den Prüfungen der Heiligen ein Ende setzte. Die commendatio animae schürte keine Gewissensbisse angesichts begangener Sünden, sie flehte nicht einmal um Vergebung für den Sünder, so als ob er bereits Verzeihung erhalten hätte.
In der Ikonographie des 12. Jahrhunderts überlagern sich zwei Darstellungen des Jüngsten Gerichts: die ältere zeigt den Christus der Apokalypse in seiner Glorie, in der neueren tritt das Gericht des Jüngsten Tages und die Scheidung der Gerechten und der Verfluchten hervor. So überlagert das Matthäus-Evangelium, welches in Verbindung mit heidnischen, besonders ägyptischen Traditionen bereits die gesamte mittelalterliche Konzeption des Jenseits, des Jüngsten Gerichts und der Hölle enthielt, die Offenbarung Johannis, verklammert beide und verbindet damit die zweite Thronbesteigung mit dem Jüngsten Gericht. Im 13. Jahrhundert schwächte sich der Einfluß der Apokalypse ab und die Vorstellung des Gerichts setzte sich durch.
Das Symbol des Buches, welches in der Heiligen Schrift schon beim Propheten Daniel und in der Offenbarung Johannis auftaucht, spielte eine Rolle: Im liber vitae sind die Erwählten aufgezeichnet. Im 13. Jahrhundert wird im Französischen aus dem Buch ein Register. Es ist die Geschichte eines Menschen, ein Buch der Rechnungslegung, welches in zwei Spalten die guten und bösen Taten verzeichnet. Auf einer Waage wird jedes Leben gewogen. Die Handlungen jedes Menschen verlieren sich nicht mehr im grenzenlosen Raum des Transzendenten oder im kollektiven Geschick der Gattung, sondern werden jetzt individualisiert. Ein Jahrhundert später wird das Buch im dies irae franziskanischer Autoren zu einem Buch der Verdammten.
Am Ende des Mittelalters trat die erste Veränderung in der Todeskonzeption des christlichen Abendlandes ein. Seit dem 12. Jahrhundert bildete sich bei den Reichen, den Gebildeten und Mächtigen die Vorstellung, daß jedermann eine persönliche Biographie habe. Zuerst bestand sie aus guten und bösen Taten, die vor dem Weltgericht zu verantworten waren: aus dem Sein. Später kamen auch Dinge dazu, leidenschaftlich geliebte Tiere und Menschen, ebenso das gesellschaftliche Ansehen: das Haben. Das Bewußtsein des eigenen Selbst und der eigenen Biographie verband sich mit der Liebe zum Leben. Der Tod war nicht mehr einfach nur der Abschluß des Seins, sondern auch Trennung von Hab und Gut. Ariès nennt dieses Modell das des eigenen Todes. Die Auferstehung des Fleisches wurde aus dem kosmischen Zusammenhang herausgelöst und in das persönliche Geschick des Einzelmenschen verlagert. Entscheidend war die Gewißheit der eigenen Auferstehung. Diese Bekräftigung der eigenen Individualität ließ die Einstellung des 14. und 15. Jahrhunderts noch mehr als die des 12. und 13. Jahrhunderts zur traditionellen Mentalität in Gegensatz treten. An Stelle des Jüngsten Gerichts trat die Auferstehung im Jenseits.
Die Trennung von Auferstehung und Gericht hatte die Konsequenz, daß die Zwischenphase zwischen Gericht und physischem Tod, in welcher der Tote noch die Möglichkeit zur “Wiederkehr” hatte, verschwand. Von nun an wurde über das Schicksal der unsterblichen Seele im Augenblick des physischen Todes selbst entschieden. Der Raum für “Wiederkehrende” und ihre bedrohlichen Äußerungen nahm ab. Der ursprünglich auf die Gebildeten, auf Theologen und Poeten beschränkte Glaube an ein Purgatorium als Ort des Harrens wurde volkstümlich und setzte sich bis Mitte des 17. Jahrhunderts an die Stelle der alten Bilder der Ruhe und des Schlafes.
Die Ikonographie des Jüngsten Gerichts wird im 15. Jahrhundert durch die mittels Buchdruck verbreiteten Holzschnitte ersetzt: einzelne, bildliche Darstellungen, in die man sich zu Hause versenken konnte und die als Abhandlungen über die rechte Art und Weise eines heilsamen Sterbens dienten: artes moriendi. Diese Ikonographie führte zum archaischen Urbild des krank auf dem Sterbebett Ruhenden zurück, das die Szenen des Jüngsten Gerichts überlagert hatten. Man starb immer im Bett, entweder eines natürlichen Todes, d.h. eines Todes ohne Krankheit und Leiden, oder eines unnatürlichen, welcher mit Fieber, Eiterfluß oder einer langen und schmerzhaften, schweren Krankheit verbunden war. Gefürchtet war der plötzliche Tod, die mors improvisa. Selbst schwere Verletzungen und gewaltsame Unfälle ließen im allgemeinen Zeit für den rituellen Kampf auf dem Sterbebett. Das Sterbebett erhielt in der makabren Ikonographie eine neue Bedeutungsdimension: Aus dem Ort eines beinahe banalen Ereignisses, welches lediglich feierlicher als andere war, wurde die Bühne eines Dramas. Der Kranke sieht den Tod vor Augen. Das Zimmer ist von Besuchern überfüllt, denn man starb immer öffentlich. Die Umstehenden nehmen von den Vorgängen nichts wahr. Die Aufmerksamkeit des Sterbenden ist auf überirdische Wesen gerichtet, die sich ihm zu Häupten drängen. Auf der einen Seite befand sich die Heilige Dreifaltigkeit, die Jungfrau Maria, sein Schutzengel und der himmlische Hofstaat, auf der anderen der Satan und seine gräßlichen Heerscharen. Die große Versammlung am Ende der Zeiten fand also im Sterbezimmer des Kranken statt. In den artes moriendi ist der Tod ein barmherziger Stachel, welcher die physischen Leiden und geistlichen Prüfungen abkürzt. Gott fungiert nicht als Richter. Er wird zu einem Schiedsrichter des Kampfes zwischen den Mächten des Guten und des Bösen, der Einsatz ist die Seele des Sterbenden. Über das Heil des Menschen wird in dessen Todesstunde entschieden. Seine Biographie ist noch nicht abgeschlossen und muß sich rückwirkende Veränderungen gefallen lassen. Entscheidend ist der Ausgang der letzten Prüfung, die der Sterbende in hora mortis ablegen muß und welche anstelle des Jüngsten Gerichts getreten ist. So spricht Savonarola in Begriffen von Spiel und Spieleinsatz und die Angst vor dem Jenseits erfaßte damals ganze Bevölkerungsschichten, die noch keine Furcht vor dem Tod gekannt hatten. Während im 12. Jahrhundert der Verstorbene noch als homo totus, mit Leib und Seele, in den Himmel auffährt, ist aus der Ikonographie des 13. Jahrhunderts ersichtlich, daß man den Tod als Trennung von Seele und Körper zu empfinden begann. Aus der Idee einer Trennung von Seele und Körper entwickelte sich die des 18., bis ins 20. Jahrhundert reichende Vorstellung, daß Leib und Seele beim Tod ein unterschiedliches Geschick zustieß: das Nichts für den Leib; für die Seele ein Überleben im wohlorganisierten Jenseits, im Andenken, oder sie fiel ebenfalls dem Nichts anheim.
In der Romantik des 18. und 19. Jahrhunderts machten sich Zeichen gänzlich neuer Einstellungen bemerkbar, welche drei Hauptentwicklungslinien aufzeigten:
1. Die Entwicklung des Individuums, die im Denken oder in der Stunde des Todes gemachte Entdeckung der eigenen Identität, der eigenen Geschichte - in dieser Welt wie in jener.
2. Der dauerhafte Glaube an einen neutralen Zustand der Ruhe als Zwischenstadium zwischen irdischer Ratlosigkeit und himmlischer Kontemplation.
3. Die physische Annäherung dieser beiden Kategorien in Zusammenhang mit den Kapellen, in denen die lebenden und toten Mitglieder einer Familie in ein und demselben Raum versammelt werden.
Das ganze Mittelalter hindurch hatte der reale Tod immer mehr an Bedeutung und Intensität zugenommen, kam in den erschreckenden Bildern der makabren Künste zum Ausdruck und führte zu einer gedanklichen und sinnlichen Konzentration auf den unmittelbaren Augenblick des physischen Todes. Seit dem 16. Jahrhundert begann der unmittelbare Augenblick des Todes zu Hause auf dem Sterbebett seine relative Bedeutung einzubüßen. Der entscheidende Aspekt der Vorankündigung des Todes ging vollends verloren. Der Sterbende verschied, dennoch ging nichts Außerordentliches vor sich, was den großen Dramen ähnelte, die das Sterbezimmer der artes moriendi des 15. Jahrhunderts erschüttert hatten. Sogar die Leiden des Todeskampfes selbst wurden beargwöhnt. Der Tod war nicht mehr der auf dem Sterbebett Ruhende, der Schwitzende, Leidende und Betende, er wurde zu etwas Metaphysischem, das in einer Metapher zum Ausdruck kam: der Metapher der Trennung von Seele und Leib, die wie die Trennung zweier Ehegatten oder zweier lieber und alter Freunde empfunden wurde. Der Schmerz des Todes wurde nicht zu den realen Leiden der Agonie, sondern zur Trauer über eine zerbrochene Freundschaft in Beziehung gesetzt. Nicht nur im Augenblick des Sterbens oder in drohender Todesnähe durfte seiner gedachte werden, sondern während des gesamten Lebens. Die ars moriendi wurde durch eine Kunst des Lebens ersetzt. Die geistlichen Traktate des 16. und 17. Jahrhunderts bereiteten nicht die Sterbenden auf den Tod vor, sondern riefen die Lebenden auf, sich beizeiten des Todes zu bedenken, wofür regelrechte Übungstechniken entwickelt wurden. Der Tod war nicht mehr als ein Mittel zu einem besseren Leben. Nicht der Augenblick des Todes verlieh dem vergangenen Leben seinen gerechten Preis und entschied über das Geschick des Betroffenen in der anderen Welt. Dafür war es dann bereits zu spät. Der Tod blieb ein dramatisches Ereignis, die Kirche war aber vom 16. bis zum 18. Jahrhundert bemüht, dies nicht gelten zu lassen und versuchte im Gegenteil seine Intensität abzuschwächen.
Der Tod wurde desekralisiert, was einige Folgen nach sich zog:
1. Der Tod büßte seine gleichsam magischen, irrationalen, von primitiver Wildheit bestimmten Kräfte ein. Dies galt auch für den plötzlichen und gewaltsamen Tod. Beide wurden banalisiert. Die Einstellung der Reformatoren zu den Hingerichteten änderte sich. Der Schuldige war nicht mehr die Personifizierung des Bösen, er wurde durch sein Leiden und seine Buße rehabilitiert; sein Tod wurde zu einem guten Tod.
2. Der genaue Tod, die hora mortis, wurde entwertet. Während im Hochmittelalter die Einstellung zur Welt, zum Mammon, entweder nur verdammenswürdige Liebe, avaritia, oder nur endgültiger Bruch und totaler Verzicht, Verteilung der Güter an die Armen und die Weltabkehr in einem Kloster ist, tritt in der Renaissance die Einstellung auf, daß der Mensch in der Welt leben muß, auch wenn er nicht von dieser Welt ist. Die Zuflucht zum Kloster gilt nicht mehr als vollkommene, christliche Haltung. Dem Menschen wird anempfohlen, von seinen Gütern Gebrauch zu machen und zu beherzigen, daß er die Güter nicht selbst besitzt, sondern nur deren Nutznießer ist. Dieser Begriff der Nutznießung führte zu einer neuen Tugend, der Enthaltsamkeit und Mäßigkeit. Fortan wurde die avaritia als maßlose, überschwengliche Liebe zur Welt angesehen, welche auch die Liebe zu menschlichen Wesen einschloß und zur verabscheuungswürdigen Sünde wurde. Eine Welt der Mäßigkeit trat langsam an die Stelle einer Welt des Exzesses, in welcher auch der Tod dem gemeinsamen Gesetz des Maßes unterworfen wurde.
Die letzte Auswirkung dieses Phänomens ist ein Modell des guten Todes, der schöne und erbauliche Tod, welcher zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert auftrat, der Tod des Gerechten. Der Gerechte bedenkt seinen Tod nicht, wenn er nahe ist, sondern hat ihn sein Leben lang bedacht. Die Betonung des guten Todes liegt auf der unaussprechlichen Schönheit, welche nach den Schrecknissen des Todeskampfes in Erscheinung trat. Dieser hier noch außergewöhnliche Aspekt des Todes wurde im 19. Jahrhundert zum banalen, aber tröstlichen Grundzug des Todes eines geliebten Wesens.
Der Mensch der Neuzeit begann dem Zeitpunkt seines eigenen Todes mit Zurückhaltung entgegenzusehen und ersetzte ihn durch die Sterblichkeit im allgemeinen. Der Tod wurde in diesem Leben in vorsichtige Distanz abgedrängt und Ariès führt dies auf weniger überschwengliche Liebe zu den Dingen und zu Menschen zurück, welche in einer Zeit vorhanden war, als der Tod den Mittelpunkt des Lebens darstellte.
Im 16. und 17. Jahrhundert wurden die Friedhöfe in die Städte verlegt. Am Ende des 17., zu Beginn des 18. Jahrhunderts trat ein Bruch in der Einheit von Kirche und Friedhof auf: Der Friedhof wurde ein auf Beisetzung spezialisierter Raum. Man entwickelte Toten gegenüber eine Indifferenz, welche keine Ähnlichkeit mit dem früheren, vertrauten Verhältnis hatte. Es entwickelte sich ein Bedürfnis nach Schlichtheit in allen Aspekten des Todes. Dieses Bedürfnis läßt nach Ariès trotz aufrechterhaltenen und bekräftigten Jenseitshoffnungen ein Nichtigkeitsgefühl erkennen.
Dieser Tendenz zur Schlichtheit entsprach eine gewisse Nüchternheit in der Äußerung von Trauer. Traueräußerungen hatten eine Tendenz zu Ritualisierung, welche im Hochmittelalter begann. Sie hatten einen sozialen und obligatorischen Charakter. Gegen Ende des Mittelalters erreichte diese Tendenz ihren Höhepunkt, schwächte sich im 16. Jahrhundert etwas ab und steigerte sich noch einmal im 17. Jahrhundert. Die Aufwendungen für die Trauer wurden als soziales Erfordernis und nicht als Ausdruck persönlichen Schmerzes aufgefaßt. Die echt Trauernden des 17. Jahrhundert durften ihren Kummer nur in den Grenzen eines Rituals zu erkennen geben, dessen Rahmen nicht gesprengt werden durfte. Der Ausdruck des Schmerzes war am Totenbett nicht gestattet. Er wurde, jedenfalls in den nördlichen Regionen, in der vornehmen Gesellschaft und unter wirklichen Christen mit Stillschweigen übergangen. Wer seine Frau oder seinen Mann verlor, suchte auf dem schnellsten Weg Ersatz.
Umgekehrt gab man sich seit dem 16. Jahrhundert dem Trauerschmerz innerhalb der vorgeschriebenen Trauerzeit haltlos hin, eine Tendenz, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts anhielt. Nach der vorgeschriebenen Trauerzeit duldeten Brauch und Herkommen keine persönliche Trauer mehr. Ritualisiert und sozialisiert spielte die Trauer nicht mehr die Rolle der Affektentlastung, die ihr früher zu eigen war. Die Trauer übernahm die Rolle der Trennwand zwischen dem Tod und den Menschen.
In den Vanitasdarstellungen (15. bis 18. Jahrhundert) wurde das Verfliegen der Zeit und die Trugbilder der Welt bis zum taedium vitae festgehalten. Sie brachten schließlich das permanente Gefühl der beständigen und diffusen Präsenz des Todes im Herzen der Dinge zum Ausdruck. Während der Tod im Mittelalter von außen zugriff, ist er jetzt ins hinfällige und nichtige Wesen der Dinge selbst eingelassen. Tod und Leben haben die Rollen getauscht. Nicht die Vorstellung des Todes, sondern die des sterblichen Lebens wird erfaßt. Diese Vorstellung wurde Allgemeingut. Sie leitete im 17. Jahrhundert das Ende der avaritia ein und ersetzte sie durch eine asketische Beziehung zum Leben und zu den irdischen Dingen, was für die Entwicklung des Kapitalismus unabdingbar erforderlich war. Ariès sieht darin ein merkwürdiges und vielleicht sogar paradoxes Phänomen, da das Leben genau zu dem Zeitpunkt aufhörte, begehrenswert zu sein, als der Tod aufhörte, sich punktuell und derart beeindrukkend in Szene zu setzen.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts vollzog sich der Übergang von der Vergänglichkeit zum Nichts. Die Memoirenschreiber waren auf der Suche nach der verlorenen Zeit, die sich schließlich als Schwerpunkt der Vergänglichkeit, als Leere, als Nichts, manifestierte. Ariès führt dies auf die fortschreitende Entwicklung des Glaubens an den Dualismus des Seins zurück. Der Glaube an die Auferstehung des Fleisches wurde zwar in den Epitaphien beschworen, der Verstorbene harrte ihrer, aber sie stand nicht mehr im Zentrum der spirituellen Grundhaltung. Der Gegensatz von Körper und Seele führte zu einer Vernichtung des Leibes. Die Bereiche des Nichts und der Unsterblichkeit entfernten sich voneinander und brachen alle Verbindungen zueinander ab. Ariès führt dies weniger auf eine Schwächung des Glaubens, als auf die eschatologische Unruhe im inneren Glaubenskern zurück. Das Nichts wurde damals noch nicht in der Nacktheit des 20. Jahrhunderts wahrgenommen, sondern es war mit der Natur verquickt, von ihr abgewandelt und gebrochen.
Am Ende des 17. Jahrhunderts ersetzten die Ärzte den Geistlichen als beste Medien der allgemeinen Glaubensvorstellungen. Der Tod und der tote Körper waren selbst Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung, unabhängig von den Ursachen des Todes; d.h. daß man den Tod studierte, bevor man die Ursachen kannte und nicht nur, um diese zu entdecken. Man sah den Toten an, wie man später den Kranken ansah. Diese Haltung ist der heutigen Medizin fremd. Der Tod ist nicht mehr von Krankheit zu trennen. Garmann, ein deutscher Arzt des 17. Jahrhunderts, staunte über die Ähnlichkeit von Schlaf und Tod. Seiner Lehre nach gäbe der Schlaf dem Menschen ein Wissen und eine Verbindung zu Gott, über die er im Wachzustand nicht verfügte. Im Schlaf und im Tod konzentriere sich die Seele außerhalb des Körpers, anstatt über den ganzen Körper verteilt zu sein. Eine solche Ähnlichkeit führe zur Frage nach den Kräften des Todes und dem Grad der Trennung zwischen Seele und Körper. Diese Frage war als Zentrum des medizinischen Nachdenkens über den Tod eine der Hauptsorgen dieser Epoche.
Im populären Aberglauben dieser Zeit konnten Leichen hören und sehen. Die Verwesung des Körpers wurde gewünscht, eine Mumifizierung von Leichen wurde als Fluch angesehen. Ariès sah darin eine Folge der Idee des Nichts, der Verachtung des Körpers. Die Ärzte des 17. Jahrhunderts gestanden den Toten noch eine Art Persönlichkeit zu. Sie suggerierten, daß er noch ein Sein in sich habe, welches sich bei Gelegenheit manifestiere.
Im 19. Jahrhundert gab die Medizin diesen Glauben auf und schloß sich der These an, daß der Tod an sich existierte und Trennung der Seele vom Körper, Deformation und Nicht-Leben war. Der Tod wurde reine Negativität.
Um 1600 entstand eine Annäherung von Eros und Thanatos. Während die makabren Tänze des 14. und 15. Jahrhunderts keusch waren, wurden sie im 16. Jahrhundert gewaltsam und erotisch. Im Werk des Bischofs Camus, Die Greuelbeispiele, 1630, starben alle mit Ausnahme von drei Personen eines unnatürlichen Todes. Der Tod war kein friedliches Ereignis mehr.
Die große, makabre Epoche des 15. Jahrhunderts hatte vom Tod nur die Zersetzung festgehalten, die Zerstörung der Gewebe und das unterirdische Gewimmel der Würmer, Schlangen und Kröten. Im 17. Jahrhundert pflegte man die Illusion, daß der Tod ein Augenblick des Triumphes sei: Die Liebe besteht fort, aber es ist nicht die Schönheit des lebenden Körpers, die man zu lieben fortfährt, sondern es ist die Schönheit des Todes. Tod und Wollust wurden verwechselt, der tote Körper war Gegenstand der Begierde. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die Annäherung von Eros und Thanatos noch verdeckt, sie spielte sich noch im Unbewußten und Uneingestandenen ab. Die Zeitgenossen ahnten noch nicht die sexuelle Grundlage ihrer Neigung zum Entsetzen. Dies änderte sich im 18. Jahrhundert, die Maske fiel überall ab. Die Texte dieser Zeit sind voll von Liebesgeschichten mit Toten. In den Erzählungen tauchen Geschichten über Paarungen mit Toten auf. Die Paarung mit Toten ist ein Motiv, das häufig im Werk von Sade auftauchte. Nach Sade war der Tod nur ein menschlicher Begriff und verschwand im Plan der Natur. Der Tod sei nur Einbildung, symbolisch und ohne jegliche Realität.
Bis zum Ende des Mittelalters waren sich Tod und Sexualität fremd. Dies war nicht ein christliches Phänomen, da sexuelle Anspielungen auch in der griechisch-lateinischen Grabkunst, mit Ausnahme bei den Etruskern, sehr selten waren. Seit dem 16. Jahrhundert näherten sie sich, bis sie am Ende des 18. Jahrhunderts einen wirklichen Korpus makabrer Erotik bildeten. Während das Übrige, was mit dem Tod zusammenhing, kaum änderte, spielte sich im 17. und 18. Jahrhunderts etwas Verwirrendes ab: Tod und Liebe näherten sich im Imaginären, bis sich ihre äußere Erscheinung verwischte.
Nach Ariès ist Fortschritt dem Widerstand des homo sapiens gegen die feindliche und fremde Natur zu verdanken. Der Mensch setzt sich als Gesellschaft der Natur entgegen. Die Gewalt der Natur muß aus den für die Gesellschaft reservierten Gebieten ferngehalten werden. Das Verteidigungssystem gegen die Natur, Moral, Religion, die Errichtung der Stadt, Recht, Ökonomie, die Organisation von Arbeit, kollektive Disziplin, Technologie, hatte jedoch zwei schwache Punkte: die Liebe und den Tod, wo immer ein wenig Gewalt durchsickerte.
Die Gesellschaft bemühte sich, die Heftigkeit der Liebe und die Aggressivität des Todes abzuschwächen. Im 19. Jahrhundert, als der Mensch sich rüstete, die Natur zu besiedeln und die Grenzen der technischen Besitzergreifung und die rationale Organisation immer weiter trieb, als man die Natur für besiegt halten konnte, brach die natürliche Wildheit durch diese beiden Pforten in die geordnete Welt des Menschen ein. Etwas Unwiderrufliches trat in die tausendjährige, unveränderte Beziehung des Menschen zum Tode ein: Der Tod wurde wieder zum Wilden. Die Männer der Wissenschaft und Aufklärung entwickelten Angst vor Sexualität und Tod. Nach Ariès war für den Menschen von einst der Tod zwar eine ernste Angelegenheit, man hatte jedoch nie wirklich Angst vor ihm gehabt. Die Geistlichen hatten jedoch keine Skrupel gehabt, die Angst auszunützen und den Tod aufzublähen. Sie taten alles, um Angst zu machen und so ihre Ziele zu erreichen. Als man begann, ernstlich Angst vor dem Tod zu haben, schwiegen zuerst die Geistlichen und dann die Ärzte. Als Kennzeichen dieser Angst sei die Angst vor dem Scheintod zu interpretieren. Ariès findet es sonderbar, daß diese Angst in einer Epoche entstand, als sich alle Vertrautheit des Menschen zum Tode änderte. Zunächst blieb diese Angst in der Welt des Imaginären eingeschlossen: in der Welt der Dichter, der Romanschriftsteller und der Künstler. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts trat die närrische Angst über die Ufer des Imaginären und drang in die Welt der gelebten Wirklichkeit ein.
Das 19. Jahrhundert war die Epoche des schönen Todes. Der Tod enthüllte einen neuen Aspekt: den der Unendlichkeit. Der Tod war das Glück, betont wurde die Schönheit des Toten. Der Illustrator des schönen Todes füllte das Zimmer des Sterbenden mit Verwandten und Desinkarnierten, Freunden, die aus der anderen Welt gekommen waren, um ihm zu helfen und ihn bei seiner ersten Wanderung zu führen.
Während die Fürbitte am Ende des Mittelalters dem eigenen Tod galt, um sich durch Kapitalisierung der Gebete und Gedanken Sündenablässe zu sichern, ging es später mehr um den Tod des Anderen. Im Laufe des 18., vor allem im romantischen 19. Jahrhundert wurde daraus die Gelegenheit, die Fürsorge und die Zuneigung irdischen Lebens über den Tod hinaus zu verlängern. In der Romantik errang das Gefühl für den anderen den Vorrang: “Ein einziges Wesen fehlt Euch und alles ist entvölkert.”
Nach Ariès sind die verschiedenen Arten des Glaubens an ein künftiges Leben oder an das Leben in der Erinnerung Antworten auf die Unmöglichkeit, den Tod des geliebten Menschen zu akzeptieren. Da der Tod nicht das Ende des geliebten Wesens darstellt, ist er weder häßlich noch furchterregend. Er ist schön und der Tote ist auch schön.
Die Anwesenheit am Sterbebett des 19. Jahrhunderts ist nicht die übliche Teilnahme an einer rituellen, gesellschaftlichen Zeremonie. Sie ist Anwesenheit bei einem tröstlichen und erhebenden Schauspiel. Der Tod ist mit der Schönheit eins geworden, die letzte Etappe einer Entwicklung, welche mit dem schönen “Ruhenden” in der Renaissance begonnen und sich im barocken Ästhetizismus fortgesetzt hatte. Dieser Tod war nicht mehr der Tod, sondern eine Illusion der Kunst. Der Tod hatte begonnen, sich unter der Schönheit der Kunst zu verbergen. Hier trifft nach Ariès die Geschichte des Todes auf die des Bösen. Der Tod wurde in den christlichen Zeugnissen und im gewöhnlichen Leben als Manifestation des Bösen angesehen. Bei den Christen war er der Augenblick einer tragischen Orientierungssuche zwischen Himmel und Hölle, die ihrerseits der banalste Ausdruck des Bösen war. Im 19. Jahrhundert glaubte man kaum noch an die Hölle. Sie war nur noch ein Lippenbekenntnis. Da es im Jenseits kein Böses mehr gab, wurde der Tod so wünschenswert.
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bis etwa zum 1. Weltkrieg, wurde die soziale Gruppe vom Tod angerührt und reagierte kollektiv. Der Tod war ein öffentliches Ereignis. Trotz aller Veränderungen im Laufe eines Jahrtausends in den Einstellungen zum Tod, war er stets etwas Soziales und Öffentliches. Dieses traditionelle Modell hat sich bis heute in weiten Kreisen des lateinischen Abendlandes erhalten, es hat jedoch seine Allgemeingültigkeit eingebüßt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts trat in der am stärksten industrialisierten, technisierten und am weitest urbanisierten, westlichen Welt eine völlig neue Art des Sterbens auf, welche folgende Merkmale aufwies:
1. Die Gesellschaft hatte den Tod ausgebürgert. Diese Form steht dem früheren Bild des Todes gleichsam als umgewendetes Abziehbild oder Negativ entgegen. Ausgenommen ist nur der Tod der großen Staatsmänner. Nichts zeigt ansonst in unseren modernen Städten an, daß etwas passiert ist. Die Gesellschaft legt keine Pause ein, das Verschwinden eines einzelnen unterbricht nicht mehr ihren kontinuierlichen Gang.
2. Die Modifikationen des Todes erfolgten im Laufe eines Jahrtausends sehr langsam im Zeitraum von einigen Generationen, sodaß die Zeitgenossen sie gar nicht wahrnahmen. Heute hat sich in einer einzigen Generation eine vollständige Umwälzung der Alltagswirklichkeit vollzogen.
Ariès nennt dieses Modell den ins Gegenteil verkehrten Tod.
Der entscheidende Wandel zwischen Sterbendem und seiner Umgebung begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Tod wurde vor dem Sterbenden verheimlicht. Die Angehörigen verweigerten sich der traurigen Pflicht, ihm sein nahes Ende selbst mitzuteilen. Der Ursprung dieser neuen Hemmung mag wohl in der Liebe zum anderen gelegen haben, in der Angst, ihm weh zu tun und ihn in Verzweiflung zu stürzen. Diese Aufgabe wurde in Frankreich zum Priester delegiert, denn die Ankündigung des Todes fiel mit seiner geistlichen Vorbereitung auf die letzte Stunde zusammen. Der Moribunde seinerseits hatte kein Bedürfnis, auf den Tod hingewiesen zu werden, da er sowieso im Bilde war. Er schwieg jedoch, um nicht die Illusion zu zerstören. Der Kranke und seine Umgebung spielten Komödie. Die erste Etappe dieses Prozesses hatte am Ende des 18. Jahrhunderts begonnen, als der Sterbende darauf verzichtete, seinen letzten Willen durch einen Rechtsakt verbindlich zu machen und ihn seinen Erben direkt zu übermitteln.
Selbst in den religiösesten Familien aufrichtig praktizierender Katholiken begann sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Angewohnheit zu verbreiten, den Priester erst zu rufen, wenn sein Erscheinen den Sterbenden nicht mehr beeindrucken konnte, weil er entweder das Bewußtsein verloren hatte oder bereits tot war. Damit wurde die letzte Ölung nicht mehr zu einem Sakrament für den Sterbenden, sondern für den Toten. Die Stunde des letzten Lebewohls, der letzten Empfehlung, wich der Verpflichtung, den Moribunden über seinen Zustand im unklaren zu lassen und die Sterbenden gingen dahin, ohne noch ein Wort gesagt zu haben. Der Tod wird als Tod geleugnet und als Krankheit maskiert. Sowohl die Sterbenden als auch ihre Umgebung lügen über den wahren Zustand.
Das andere neue Phänomen im Umkreis des Sterbenden ist der schmutzige und ungehörige Tod. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hörte der Tod auf, immer nur als schön wahrgenommen zu werden. Die scheußlichen Bilder der makabren Epoche, die seit dem 17. Jahrhundert verdrängt worden waren, kamen erneut zur Geltung, jedoch mit dem Unterschied, daß was im Mittelalter mit der Verwesung nach dem Tod in Verbindung gebracht wurde, nun auf die Vorboten des Todes, die Agonie, bezogen wurde. Der Tod flößte nicht nur wegen seiner absoluten Negativität Angst ein, sondern verursachte geradezu Übelkeit, wie irgendein ekelerregendes Schauspiel. Er wurde unschicklich wie die biologischen Vorgänge im Menschen, wie die Ausscheidungen seines Körpers. Es wurde unanständig, ihn vor der Öffentlichkeit auszubreiten. Er wurde zum heimlichen und gemeinen Tod.
Die zweite Entwicklungslinie führte zum heimlichen Tod im Krankenhaus, welche in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts einsetzte und seit den 50er Jahren zur Regel geworden ist.
Je weiter das 20. Jahrhundert vorrückte, desto lästiger wurde die Anwesenheit des Kranken im Haus. Das rasche Wachstum in Sachen Komfort, Intimität und Hygiene, hat unsere Gesellschaft empfindlich gemacht. Wir ertragen nicht mehr den Anblick und die Gerüche des Leidens und der Krankheit, welche noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts Bestandteil der Alltagswirklichkeit waren. Die physiologischen Begleiterscheinungen des menschlichen Lebens sind aus der Alltagswirklichkeit ausgebürgert und in die aseptische Welt der Hygiene, der Medizin und der Sittlichkeit verwiesen worden: ins Krankenhaus. Während früher die Last der Fürsorge und des Widerwillens von einer kleinen Gesellschaft von Freunden und Nachbarn mitgetragen wurde, schrumpfte die teilnehmende Gruppe auf die nächsten Angehörigen, wobei sogar noch die Kinder ausgeschlossen wurden. Die technischen Entwicklung in der Medizin machte außerdem eine stationäre Behandlung notwendig, sodaß die Klinik das Asyl wurde, wo die Familien, die ihre lästigen Kranken nicht ertragen konnten, hintransportierten und versteckten. Das Krankenhaus wurde zum Ort des einsamen Todes, einer Todesform, die von den Pionieren Amerikas, welche nach dem Westen zogen, gefürchtet wurde. Bei ihnen war es eine Erleichterung, von Menschen umgeben zu sterben, und es war ein Privileg, einem Sterbenden im Tode beizustehen. Es war Aufgabe eines dieser Privilegierten, als nuntius mortis zu fungieren und wenn der Sterbende seine Ankündigung akzeptierte, war er sensible oder er benahm sich wie ein Dummkopf, very stupid.
Die dritte Entwicklungslinie führt zum verschämten und zurückhaltenden, aber nicht schamhaften Tod: Der Tod wurde unschicklich und ungebührlich.
Der Tod wurde aus der Gesellschaft ausgeklammert, seines öffentlich-zeremoniellen Charakters entkleidet und in erster Linie zu einem Privatakt für die Nahestehenden gemacht, von dem mit der Zeit sogar die Familie ausgeschlossen wurde, als die Krankenhauseinweisung für den Todkranken allgemein üblich wurde.
Es sind zwei Phasen einer Kommunikation zwischen Sterbendem und Gesellschaft zu unterscheiden:
1. Die letzten Augenblicke, in denen der Sterbende wieder die Initiative ergreift, die ihm aber aus der Hand genommen worden war, und
2. die Zeit der Trauer.
Das zweite, große Ereignis der zeitgenössischen Geschichte des Todes ist die Verweigerung und Abschaffung der Trauer. Zum ersten Mal von Geoffrey Gorer analysiert, zeigte er in seinem Aufsatz The Pornography of Death, 1955, daß der Tod schambesetzt und ähnlich tabuisiert worden war wie in der viktorianischen Epoche die Sexualität. Gorer führte 1963 eine soziologische Erhebung zum Trauerproblem durch, welches folgende Ergebnisse zeitigte:
- Der Tod ist in weite Ferne gerückt. Man ist nicht am Sterbebett zugegen, selten bei Beisetzungen.
- Kinder bleiben abseits und werden nicht informiert. Jesus wurde zu einer Art Nikolaus, um mit Kindern über den Tod zu sprechen, ohne an ihn zu glauben.
- Der Glaube an ein künftiges Leben lag zwischen 30 und 40%. Bei jüngeren Menschen nimmt der Glaube an ein Leben nach dem Tode ab, während er bei Schwerkranken ansteigt.
- Manche der Befragten pflegten lebhaften Umgang mit den Toten und sprachen mit ihnen, was der anthropomorphen Eschatologie des 19. Jahrhunderts entsprach.
- Die Hölle war total verschwunden. Selbst diejenigen, die an den Teufel glaubten, beschränkten seinen Aktionsradius auf die hiesige Welt und glaubten nicht an die ewige Verdammnis. Dies war allerdings schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Fall.
- Der Klerus verzichtete auf seine alte Rolle.
- Die traditionellen Trauerbräuche und die Begräbnisfeierlichkeiten waren verfallen.
- Feuerbestattungen werden vorgezogen, dem Grab wird Abneigung entgegengebracht.
- Bei den Eingeäscherten ist an Stelle des Grabkultes ein Gedenkkult getreten, der zu Hause gepflegt wird.
- Der Friedhof dagegen bleibt ein Ort des Gedenkens und des Besuchs.
Nahezu im gesamten Abendland ist es zur Regel geworden, daß Trauer nie öffentlich gezeigt werden darf.
Gorer unterscheidet drei Kategorien von Leidtragenden:
- solche, welche ihren Kummer vollständig verdrängen,
- solche, welche ihn vor anderen verbergen und
- solche, welche ihm freien Lauf lassen.
Nach Ariès sind die früher für alle Gelegenheiten vorhandenen Verhaltenskodes verschwunden. Die Abschaffung der Trauer ist nicht der Frivolität der Hinterbliebenen, sondern dem unbarmherzigen Zwang der Gesellschaft zuzuschreiben, welche die Präsenz des Todes negiert. Trauer wurde zur Krankheit. Sie zu zeigen, wird als Charakterschwäche ausgelegt. Der Leidtragende wird in einer Art Quarantäne isoliert.
Psychologen haben diese neue Einstellung sofort als gefährlich und abnorm eingestuft. Die Denkanstöße der Psychologen und Psychoanalytiker auf dem Gebiet der Sexualität und der Entwicklung des Kindes wurden von der Gesellschaft rasch assimiliert, ihre Aussagen über die Trauer wurden ignoriert. Die These der Psychologen lautet, daß der Tod eines geliebten Menschen eine tiefe Wunde hinterläßt, die sich jedoch auf natürliche Weise allmählich wieder schließt, wenn der Heilungsprozeß nicht gestört wird. Was die Psychologen als Naturgegebenheit beschreiben, geht historisch auf das Modell des schönen, romantischen Todes im 18. Jahrhundert zurück.
Im traditionellen Modell wurde der erste Schock beim Tod eines geliebten Wesens durch die traditionelle Geschäftigkeit der Gruppe abgefangen und häufig rasch überwunden, sodaß ein Witwer nicht selten nur wenige Monate später erneut heiratete. Das Leben hielt inne, verlangsamte sich. Man nahm sich für anscheinend nutzlose und unproduktive Dinge Zeit. Die Trauerbesuche unterstrichen die Einheit der Gruppe und stellten menschliche Wärme her. Wenn es dem Leidtragenden nicht gelang, seines Kummers Herr zu werden, waren dies Ausnahmefälle. Im 19. Jahrhundert behielt die Trauer noch für einige Zeit ihre soziale Rolle, wurde dann aber zum Ausdruckmittel eines unendlichen Schmerzes, zu einer von der Umwelt bereitwillig ergriffenen Möglichkeit diesen Schmerz zu teilen und die Hinterbliebenen zu trösten. In der großen, romantischen Gefühlsrevolution entwickelten sich individuelle, zwischenmenschliche Bindungen, deren Bruch uns undenkbar und unerträglich erschien. Die frühromantische Generation war die erste, die den Tod verneinte. Sie verherrlichte, hypostasierte ihn. Nicht jedes beliebige, aber das geliebte Wesen wurde zum unverlierbaren Unsterblichen gemacht. Diese Bindung hat auch heute noch, trotz einer scheinbaren Lockerung, welche mit einer zurückhaltenderen Sprache und mit einer größeren Scham zusammenhängt, Gültigkeit. Gleichzeitig erträgt unsere Gesellschaft den Anblick alles dessen nicht mehr, was mit Tod verbunden ist - den Leichnam, die weinenden Angehörigen. So werden die Hinterbliebenen zwischen dem Gewicht des Schmerzes und dem des gesellschaftlichen Tabus zermalmt.
Modifikationen bezüglich der ersten Phase des Sterbens traten gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf: Der Moribunde wurde über seinen Zustand in Unkenntnis gehalten. Seit dem Ersten Weltkrieg wurde Trauer und alles, was an den Tod mahnte, zum Verbot. Der eigentliche Augenblick des Todes, der Rückblick auf das Leben, die Öffentlichkeit und die Abschiedsszene behielt noch lange traditionellen Charakter. Um 1945 verschwand dieses letzte Überbleibsel als Folge der Medikalisierung des Todes. Der normal Sterbende wurde dem Schwerkranken nach einer Operation gleichgestellt, das Krankenhaus wurde der Ort des normalen Todes. Im Leitbild des medikalisierten Todes hörte der Tod auf, als natürliches und notwendiges Phänomen zu gelten. Er wurde zum Fehlschlag. Ein allzu auffälliger, spektakulärer Tod stürzte die Umgebung in eine emotionale Erregung, welche mit der Arbeits- und Alltagsroutine des Einzelnen und des Krankenhauspersonals nicht vereinbar war. Er wurde deshalb zurechtgestutzt, um ihn mit der Arbeitsmoral des Krankenhauses zu versöhnen. Das Krankenhauspersonal hat einen acceptable style of facing death (Glaser und Strauss) definiert: einen Tod, bei dem der Sterbende bis zuletzt so tut, als müsse er gar nicht sterben. Er wird das umso besser können, je weniger er selbst Bescheid weiß. Der gute, schöne Tod ist derjenige, der einstmals verabscheut wurde: der mors repentina et improvisa.
Dem akzeptablen Tod entgegengesetzt ist das embarrassingly graceless dying; der widrige, gemeine Tod ohne Eleganz und Feingefühl, der verstörte Tod. Dies ist immer zugleich der Tod eines Kranken, der Bescheid weiß. Der Tod gehört nicht dem Sterbenden, nicht der Familie, die von ihrer Unfähigkeit überzeugt worden ist, sondern wird von einer Bürokratie reguliert und organisiert. Die Ärzte halten den Sterbenden von seiner Lage in Unkenntnis und verschanzen sich hinter ihrer Autorität, um den Kranken nicht mit der Wahrheit konfrontieren zu müssen. Ihr Schweigen stellt eine Form der Bequemlichkeitslüge dar. Diese Situation gegen Ende der 50er Jahren hat sich geändert. Der Wandel ging nicht auf eine Initiative der Ärzte zurück, sondern wurde ihnen von paramedizinischen Kreisen aufgedrängt: von Psychologen, Soziologen und später von Psychiatern, die sich der erbärmlichen Situation der Sterbenden bewußt geworden sind. Die Krankenhausbehörden opponierten, als Feifel 1959, wahrscheinlich zum ersten Mal, und Kübler-Ross 1965 Sterbende zu interviewen begannen. Diese neue Strömung sprach sich für eine Verbesserung der Bedingungen der Sterbenden aus, die im Mitgefühl mit dem sich selbst entfremdeten Sterbenden wurzelte. Die neueren Untersuchungen bemühten sich, dem seit Ende des 19. Jahrhunderts aus der Medizin verdrängten und als lediglich philosophisches Problem angesehenen Tod wieder Realität zu verleihen. Die Frage zentriert sich um die Würde des Todes. Die Einsamkeit zu überwinden und die Heimlichkeit des Todes bekanntzumachen, offen und natürlich darüber zu reden, anstatt ihn zu verbergen, entspricht einem allgemeinen Bedürfnis. Um den Tod erträglich zu machen, kann man ihn entweder seiner natürlichen Würde zurückgewinnen oder ihn durch eine Art Vorbereitung, welche sich wie eine Kunst erlernen läßt und was von Kübler-Ross gelehrt wird, bannen.
Das Problem der Euthanasie und die Macht, Leben zu verlängern oder zu verkürzen, bricht eine Bresche in das dichtgeschlossene, medikalisierte Gehege, durch welches Leben und Tod sorgsam getrennt worden sind. Nach Ariès fühlt sich heute niemand von seinem eigenen Tod betroffen, aber das Schreckensbild des mit Schläuchen und Röhrchen gespickten und künstlich beatmeten Sterbenden beginnt den Schutzpanzer der Verbote zu durchdringen. Er hält es für möglich, daß sich die Öffentlichkeit dieser Problematik mit der gleichen Leidenschaft annehmen wird wie in anderen lebenswichtigen Fragen, wie z.B. die der Abtreibung. Er zitiert Claude Herzlich, der die Feststellung traf, daß im Krankenhaus die Entscheidung über Leben und Tod getroffen wird und die Frage aufwarf, ob es dazu kommen würde, daß Menschen ihren Tod fordern, wenn sie es wirklich wollten. Die Macht der Technik, welche mit der Medikalisierung des Todes auf das engste verknüpft ist und zuerst als Elimination des physisch Bösen, des Leidens und der Krankheit, auf das freudigste begrüßt wurde, wird zum ersten Mal in Zweifel gezogen.
“Que
philosopher, c‘est apprendre à mourir.”
Montaigne
ein philosophiehistorischer Abriß
Nach Scherer bewegt sich das philosophische Denken hinsichtlich des Todes methodologisch um vier grundsätzliche Fragenkomplexe:
1. Was ist der Tod?
2. Gibt es für Menschen eine Hoffnung über die Todesgrenze hinaus?
3. Wie sollen wir uns im Tod verhalten?
4. Woher und wie wissen wir um den Tod?
Unser Leben wird fundamental von unserem Todesverständnis bestimmt. Die Frage nach dem Tod ist eine Frage der praktischen Philosophie, obwohl sie theoretische Fragen grundlegender Art einschließt. Die vier obigen Frageaspekte lassen sich unter eine einzige Grundfrage subsumieren: die Frage nach dem Sinn des Todes. Sie macht den Kern des philosophischen Fragens nach dem Tode aus. Die genannten Fragestellungen sind philosophisch nur möglich im Horizont der ontologischen Frage nach dem Sinn des Ganzen der Wirklichkeit und der damit verbundenen Grundfrage der philosophischen Anthropologie “Was ist der Mensch?”. Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, welches nicht nur nach Selbsterhaltung strebt und biologisch bedingte Mechanismen der Abwehr des Todes betätigt, sondern um seinen Tod als das unvermeidlich eintretende Ende seines Daseins in dieser Welt weiß.
Die europäische Philosophie entfaltete sich an ihrem Anfang in Zusammenhang und im Widerspruch zum Mythos. Im Mythos ist die Differenz zwischen Diesseits und Jenseits, dem weltlichen und dem göttlichen Bereich noch unbekannt. Die Toten kehren in die Welt der Lebenden zurück. Im philosophischen Denken distanzierte sich der Einzelne vom kollektiven Gefüge, weil er als Individuum einen allgemeingültigen Anspruch der Vernunft vorbrachte. Daß die frühe Philosophie sich in der Auseinandersetzung mit dem Mythos nicht nur von ihm abstößt, sondern sich zugleich auch von ihm her denkt, wird im Verständnis des Todes bei den ionischen Naturphilosophen und dem Dionysosmythos deutlich. Dionysos ist ein Gott, der alle Grenzen der normalen Ordnung aufhebt. Zu den Antestherien bringt er die toten Seelen zu den Lebenden. Er selbst wird von einem Stier und von blutrünstigen Frauen zerrissen, er kehrt aber immer wieder. In seiner Gestalt umschlingen sich Tod und Leben. Die von Heraklit überlieferte Version des Dionysosmythos bezeugt, daß Dionysos mit dem Gott der Totenwelt identisch ist. In seiner Gestalt stellt sich der Kreislauf zwischen Leben und Tod, der Hervorgang des Lebens aus dem Tod und des Todes aus dem Leben dar. Dionysos ist das Urbild des unzerstörbaren Lebens im Sinne der zvÆ. Aus den vorhandenen Fragmenten geht die Gegensatzeinheit zwischen Leben und Tod hervor. Damit besteht eine Analogie zu der von der vorsokratischen Denkern gesuchten érxÆ, welche von den ionischen Denkern verschieden aufgefaßt wurde, aber immer den gleichen Grundzug aufwies: Die érxÆ ist der immer anwesende Anfang und das, gleichsam auf dem Wege, schon anwesende Ziel. Die érxÆ ist das Eine, welches alles ist und in dem alles ist.
Die érxÆ Anaximanders, das êpeiron, war todlos, ohne Verderben und Alter.
Im Fragment 76 wird die érxÆ Heraklits, das Feuer, zum Ausdruck des ständigen Fließens: “Feuer lebt der Erde Tod und Luft lebt des Feuers Tod. Wasser lebt der Luft Tod und Erde den des Wassers”.
Im Gegensatz dazu leugnet Parmenides jegliche Veränderung und damit Werden und Vergehen. Seine grundlegende Einsicht lautet: Sein ist und Nichtsein ist nicht. Sein kann nicht in das Nichtsein umschlagen und aus dem Nichts kann kein Sein entstehen. Werden ist bloßer Schein und damit auch der Tod, da völliges Vergehen unmöglich ist.
Die Pythagoreer waren der Überzeugung, daß die Seele das wahre Wesen des Menschen ausmacht. Durch ihre Verbindung mit dem Körper wird sie verunreinigt. Unser jetziges Leben ist ein Leben unter dem Schatten einer weniger wirklichen Welt. Die Seele ist mit Gott verwandt, selbst göttlicher Natur und unsterblich. Um zum eigentlichen Leben zu kommen, muß man sich vom Leiblich-Materiellen lösen. Wesentlich war die Lehre von der Seelenwanderung. Die Seele verläßt beim Tod das Gefängnis des Körpers und verkörpert sich gemäß ihrer Lebensführung in einem anderen menschlichen Leib oder auch in einem Tier. Das Streben des Menschen muß darauf gerichtet sein, aus diesem Kreislauf der Wiedergeburten herauszukommen und zu seiner wahren Heimat zurückzukehren. Die Befreiung beginnt dort, wo sich der Mensch der reinen Schau, der Kontemplation, hingibt.
Metempsychose und die Möglichkeit eines Aufstiegs der menschlichen Seele zum Göttlichen kehren im Denken Empedokles‘ wieder. Er lehrte eine asketische Lebensweise und ein absolutes Tötungsverbot, da wir u.U. beim Töten und Verzehren eines Tieres einen verstorbenen Freund oder Verwandten zu uns nehmen. Gleiches kann nur durch Gleiches erkannt werden. Durch die Kraft des Denkens muß die Seele gottähnlich sein. Mit dieser These gehört Empedokles zu den Wegbereitern der klassischen Metaphysik.
Die philosophische Auseinandersetzung um das Problem des Todes erreichte mit Platon jene Gestalt, die das abendländische Denken bis in die Gegenwart grundlegend bestimmt hat. Daß die Seele unsterblich und der Tod Trennung von Leib und Seele ist, stellt den innersten Kern der Platonischen Lehre dar. Der Tod spielt bei Platon deswegen eine so überragende Rolle, weil er die Bewegung des Lebens und Denkens in Frage stellt, die mit dem Staunen anhebt und welche für Platon Philosophie heißt. Diese Bewegung zielt auf das, was den Menschen wahrhaft zum Menschen macht, auf das Gute, das Glück, das Schöne, das wahrhaft Seiende. Das Streben des Eros nach Glück und dem Besitz des Guten, die Kraft dieser Bewegung, zielt auf Dauer und Unvergänglichkeit. Eros ist wesentlich Streben, unsterblich zu sein. Nur wenn Eros die Schranke des Todes zu übersteigen vermag, kann er wahrhaft und selber sein: Streben nach immerwährendem Glück. Die Präexistenz der Seele begründet Platon mit dem Argument, daß eine Natur, in der es keine Rückkehr aus der Unterwelt gäbe, d.h. wenn es keine Geburt aus dem Tode gäbe, als vorherrschenden Anblick den des Schwindens und Erlahmens zeigen würde. Nicht Hervorgang ins Erscheinen, sondern Sterben wäre der Grundzug der Natur. Da dies nicht der Fall ist, steht fest, daß die Seele nach dem Tod noch ist und wieder aufleben kann. Aus der énãmnhesiw wird der Beweis geliefert. Da das griechische Denken keinen schöpferischen Neuzuwachs kennt, kann Erkenntnis nur auf Wiedererinnerung früheren Wissens zurückgeführt werden. Die Fortexistenz der Seele nach dem Tode wird nur aus der Beziehung zwischen Seele und Idee gesichert. Aus der vorgeburtlichen Erkenntnis der Ideen hat die Seele apriorisches Wissen. Die Ideen sind unauflöslich, erleiden keine Veränderung, sind das Beständige, immer Seiende, nicht der Zeit und ihren Wechselfällen Unterworfene. Die Ideen sind das eigentlich Wißbare, das sich aber nur dem Denken, der geistigen Einsicht, der Vernunft zeigt, nicht aber der sinnlichen Wahrnehmung. Das wahrhaft Seiende kann nur durch die Seele erkannt werden. Der Tod ist Trennung von Leib und Seele, Befreiung der Seele vom Leibe und Teilnahme am Unwandelbaren. Platon hat die pythagoreische und empedokleische Lehre der Seelenwanderung und der Wiedergeburt fortgeführt. Der Zustand der Seelen hängt ebenfalls von der diesseitigen Lebensführung ab.
In der Stoa fand sich ursprünglich eine materialistische Vorstellung von der menschlichen Seele, welche mit dem Leib entsteht und vergeht. Dieser Materialismus war mit einem gewissen Pantheismus verbunden. Die prÒnoia herrschte über die Welt nach dem Prinzip der Wiederkehr des Gleichen. In periodischer Wiederkehr vergeht die Welt in einem Weltenbrand und entsteht wieder in einer neuen Weltperiode. Da der Gesamtbestand des Seienden im lÒgow immer derselbe bleibt, kann weder Tod noch Weltenbrand die Seele ganz vernichten, die neue Seele ist mit der vorigen identisch. In der mittleren Stoa bedeutet der Tod die Rückkehr in das als göttlich angenommene All. Nicht mehr das Phänomen des Todes ist bedeutsam, sondern allein das Verhältnis zum Tod, welches wir in unserem Leben erreichen können. Das Ideal des naturgemäßen, d.h. vernunftgemäßen Lebens tritt in den Vordergrund. Der Tod ist etwas Bedeutungsloses, weil der einzelne angesichts des göttlichen Ganzen des Alls unwichtig ist. Die Spätstoiker kehrten zur Lehre von der Unsterblichkeit der Seele zurück.
In der Antike galt die epikureische Sicht des Todes lange Zeit als Alternative zur platonischen Unsterblichkeitslehre. Den physikalisch-metaphysischen Hintergrund bildete der Atomismus Demokrits, welcher lehrte, daß beim Tod die Atome auseinanderfallen, was auch für die feineren Atome der Seele gilt. Epikur geht von der Voraussetzung aus, daß es für uns Gutes wie Übel nur aufgrund der Wahrnehmung gibt. Der Tod ist jedoch Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen. Warum also den Tod fürchten? Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.
Nach Aristoteles ist keine eindeutige Antwort auf die Frage nach Tod und Unsterblichkeit möglich. Es ist nicht klar, ob es eine Unsterblichkeit gibt oder nur einen einzigen tätigen Verstand, an dem alle Menschen teilhaben. In diesem Fall gäbe es keine persönliche Unsterblichkeit, sondern höchstens ein Aufgehobensein im Ganzen des einen, allumfassenden Geistes.
Die Platonische Lehre entfaltete durch ihre Verbindung mit dem Christentum einen weltgeschichtlich bedeutsamen Einfluß. Das Verständnis des Geistes als höhere Weise des Seins gegenüber der Materie, die Auffassung des Todes als Trennung von Leib und Seele, der Vollzug geistigen Lebens als Aufstiegsbewegung über die Stufen des Materiellen zum Geist, die Unsterblichkeit der Seele, waren prägende Faktoren für die christliche Anthropologie und Eschatologie. Es hat immer wieder Versuche gegeben, die Verbindung von christlichem Glauben und platonischer Philosophie aufzusprengen. So hat Origenes, der wohl größte Bibeltheologe der Antike auf die Irrtümer der griechischen Philosophie, die sittlichen Unzulänglichkeiten der Philosophen, den Zwiespalt zwischen ihrer Lehre und ihrem Leben, die tiefen Unterschiede zwischen dem biblischen Glauben und der antiken Philosophie hingewiesen. Aber auch seine Lehre ist ohne die platonische Lehre von Seele und Körper, Tod und Unsterblichkeit nicht denkbar. Die Proteste gegen die Rezeption des Platonismus durch die führenden Theologen der frühen Kirche sind jedoch sachlich begründbar und besonders in Zusammenhang mit Tod und Unsterblichkeit deutlich ersichtlich. In den früheren Schichten des Alten Testaments ist eine die Todesgrenze überschreitende Hoffnung wahrscheinlich unbekannt. Die Toten fahren in die Scheol hinab, der sonst weit verbreitete Glaube an Totengeister und die Möglichkeit eines Verkehrs mit Lebenden fehlt im Alten Testament fast völlig. Die Berührung mit allem, was mit Tod zusammenhängt, verunreinigt, weil Gott der Lebendige ist und der Tod die äußerste Entfernung von ihm bedeutet. Während sich in einigen Psalmen die Hoffnung durchsetzte, daß Gott auch in der Unterwelt ist und aus der Gewalt der Unterwelt rettet, setzte sich in den Texten der Apokalyptik der Glaube an eine künftige Auferweckung der Toten voll durch. Im Zentrum der neutestamentlichen Schriften steht die Verkündigung Jesu als Gekreuzigter und Auferweckter, von dem her alle anderen Aussagen bewertet werden müssen. Auferweckung meint die rettende Tat Gottes, der seinen Gerechten im Tode nicht verläßt, sondern für ihn eintritt. Das bedeutet ein Entrücktsein aus der Raumzeitlichkeit und eröffnet dem Auferweckten eine universale Präsenz für alle Zeiten und Räume. Der entscheidende Unterschied zur metaphysischen Unsterblichkeitslehre besteht darin, daß es in dieser etwas ungewordenes Unsterbliches im Menschen gibt, was durch den Tod befreit wird, während diese Prädikate im biblischen Denken nur Gott vorbehalten sind und der Mensch ein schöpferisches Novum darstellt. Damit hängt zusammen, daß die Bibel den Menschen ganzheitlich, d.h. in seiner Einheit als leiblich-geistiges Wesen sieht, der dem platonischen Leib-Seele-Dualismus fremd ist.
Nach der Lehre Thomas von Aquins ist die Seele die unica forma corporis: Es ist der Seele nicht äußerlich, im Leib zu sein, Leib zu formieren und zu gestalten, sondern dies macht ihr Wesen aus. Es gibt nur eine einzige Seele mit verschiedenen Vermögen, sinnlichen und geistigen, Vernunft und Wille. Der Mensch ist nicht aus Leib und Seele zusammengesetzt, sondern die Wirklichkeit des Menschen ist die leibliche Selbstdarstellung in der Materialität und das Ergriffensein der Materie vom Geist. Thomas gelangte dadurch zu einem anderen Verständnis des Todes als es der platonischen Tradition entsprach. Er blieb bei der traditionellen Bestimmung des Todes als Trennung von Leib und Seele. Dies Trennung ist jedoch nicht Befreiung, sondern der Mensch stirbt. An der Unvergänglichkeit und Unzerstörbarkeit der Seele hält Thomas allerdings fest. Sie bildet gleichsam die Brücke zwischen dem Tod und der Auferweckung am Ende der Tage und sichert die Identität zwischen dem Gestorbenen und dem Auferweckten.
In der Neuzeit kommt es durch die Entwicklung der Spätscholastik zu einem neuen Dualismus. Descartes differenziert zwischen zwei Substanzen, welche verschiedene Regionen des Seins repräsentieren: die res cogitans und die res extensa. Substanz ist ein Ding, welches zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf. Der Mensch gehört beiden Bereichen an. Der Tod ist ein rein körperliches Geschehen. Er kann der unkörperlich-unräumlichen Seele nichts anhaben. Der Körper unterscheidet sich vom Leichnam eines Menschen wie eine Uhr oder eine andere selbstbewegliche Maschine, die aufgezogen ist und alles zu ihrer Tätigkeit Nötige hat, von einer Uhr oder Maschine, die zerbrochen ist und in der das Prinzip der Bewegung nicht mehr wirkt.
Spinoza versteht unter Substanz das, was in sich ist und durch sich begriffen wird, d.h. das, dessen Begriff nicht des Begriffs eines anderen Dinges bedarf, von dem her er gebildet werden müßte. Substanz ist die causa sui. Dies trifft nur auf eine Substanz zu, auf die göttliche als einzige Wirklichkeit. Die Descartes‘schen Substanzen, welche sich von der göttlichen noch unterscheiden, werden von Spinoza in diese zurückverlegt und zu Attributen degradiert. Die einzelnen, endlichen Dinge werden ihres Selbstbestandes völlig beraubt und gelten nur noch als Modi der einen Weltsubstanz. Unter diesen metaphysischen Voraussetzungen kann von einer Unsterblichkeit der Seele im strengen Sinne nicht geredet werden, da keine subsistierende Individualität existiert. Spinoza geht es um ein intellektuelles Entwerden des einzelnen Ich, welches sich in das eine Ganze hinein überwindet. Unter solchen Aspekten stellt der Tod keine Katastrophe mehr dar. Der individuelle Mensch geht zwar im Tode unter, währt aber als Gedanke, als Idee des unendlichen Denkens, fort.
Kant wirft der spekulativen Vernunft, welche über Gott, die Welt, die Seele und ihre Unsterblichkeit, sowie von Dingen an sich spricht, Anmaßung vor, da wir darüber nichts wissen können. Nicht aus der theoretischen, sondern aus der praktischen Vernunft ergibt sich das Postulat eines künftigen Lebens jenseits der Todesgrenze. Theoretische Erkenntnis kann sich nicht auf Dinge an sich erstrecken, sondern nur auf Erscheinungen. Aus dem Postulat der praktischen Vernunft der Bewirkung des höchsten Gutes als vollständige Identifizierung des menschlichen Willens mit dem moralischen Gesetz in angemessener Proportionierung zwischen Glückseligkeit und Moralität folgt das Postulat eines künftigen Lebens jenseits der Todesgrenze, da die Zeit unseres Lebens zu kurz ist, um den Widerspruch zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung zu überwinden. Einer Auferstehung des Leibes im christlichen Sinne mißt Kant keine Bedeutung zu.
Im Fichteschen Denken wird der Tod entzaubert, zum Schein erklärt. Nach seiner Wissenschaftslehre kann über die Unsterblichkeit der Seele nichts statuiert werden, da es nach ihr keine Seele, kein Sterben oder Sterblichkeit, mithin auch keine Unsterblichkeit, sondern nur Leben gibt. Nach Fichte ist das Leben der Natur nur ein “bloßes Bilderleben” und nicht das ursprüngliche und wahre Leben. In der Vergänglichkeit des Scheinlebens der Natur müssen wir immerfort sterben, während mit dem Tod am Ende unseres Lebens gerade dieses Sterben aufhört und in die Unendlichkeit hineinstirbt, in der unsere wahres Leben beginnt. Tod ist Eingang des Endlichen in das Unendliche. Leben ist Selbstbewußtsein, Subjektivität, d.h. sich wissen und sich wollen, Setzung des Ich, das sich, indem es um sich selbst weiß und sich selbst will, von allen anderen unterscheidet. Im Verlaufe der Geschichte des Fichteschen Denkens verschoben sich die Akzente und das Ich versteht sich immer stärker als Bild des absoluten Seins und als die Form der Erscheinung dieses Seins. Vom Absoluten könne man nichts aussagen, als daß es das Absolute sei. Das Absolute ist ein in sich geschlossenes Singulum des Lebens und des Seins, das nie aus sich heraus kann. Weil dieses göttliche Leben rein in sich selbst schwingt und nicht in den Unterschied von Subjekt und Objekt zerfällt, ist es das reine Leben. Zum Leben gehört aber Tätigkeit als Äußerung und Zum-Vorschein-Kommen. Nur das Tote ist unwirksam und ohne Äußerung. Dieses göttliche Sein ist aber nicht das des Menschen und auch nicht das der Welt. Fichte bildet den Kantschen Begriff der Erscheinung um. Erscheinung ist das Wissen selbst, in dem das absolute Sein und Leben dem Menschen erscheint, so daß es auch als das Bild Gottes bezeichnet werden kann. Sich selbst als Bild zu verstehen und dieses Verständnis selber hervorzubringen, macht das Wesen des Ich, des Wissens, der Erscheinung aus. In Fichtes Konzeption im Wesen der Endlichkeit, die sich im Wissen, im Ich, in der Erscheinung des Absoluten begreift, ist immer eine Todesrichtung eingezeichnet, weil sie sich im Absoluten aufheben muß, indem sie sich nur noch als Bild versteht, als Bild des Absoluten. Weigert sich das Ich, sich als solches Bild zu verstehen, erscheint es sich selbst als das Tote und legt die Wirklichkeit im Horizont des Todes aus. Der Tod in seiner mächtigsten und verbreitetsten Erscheinung liegt im toten Blick geistlosen Denkens und nicht im Sein an und für sich. Das Tote, das Objekt, entsteht, indem wir es in seinem An-Sich anerkennen und gleichzeitig die spontane Leistung unserer Vernunft, kraft welcher wir dieses von uns unabhängige Seiende setzen. Die tote Substanz ist das Produkt der Selbstvergessenheit, in welche das setzende Subjekt durch die Differenzierung von Subjekt und Objekt verfällt. Der Tod ist bloßer Schein, der dadurch entsteht, daß wir eine von uns unabhängige Natur voraussetzen.
Leben, Bewegung heißt für Hegel Geist, Subjektivität, Vernunft, Denken. Es geht um die Selbstbewegung der absoluten Idee, um den Prozeß, in welchem der Geist zum vollständigen Begriff seiner selbst kommt, das Absolute sich aus sich herausgehend selbst auslegt und in dieser Entäußerung zugleich, sich selbst reflektierend, in sich zurückkehrt. In der Gesellschaft und im Staat, vor allem in der Religion, der Kunst und abschließend in der Philosophie kommt der ganze Prozeß der Geschichte zu seiner sich wissenden Durchsichtigkeit und das absolute Wissen wird als Sich-selbst-Wissen Gottes im Menschen erreicht. Dieser Welt- und Geschichtsprozeß muß dialektisch verstanden werden. Dialektik im Sinne Hegels hängt aber aufs engste mit dem Tod zusammen. Im dialektischen Prozeß hebt sich das Ganze in seinen Bestimmungen im Ganzen und die Bestimmungen untereinander in sich ständig auf, scheiden sich, stellen einander in Frage, treten gegeneinander auf, vereinen und versöhnen sich schließlich. In all dem bleibt aber das Ganze es selbst, kommt gerade erst zu sich selbst, was durch Negation geschieht. In ihr wird das jeweils Bestehende zerrissen und genichtet. Diesem Negativen schreibt Hegel eine ungeheure Macht zu. Sie ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs. Die Macht des Negativen, diese Energie des Denkens bezeichnet Hegel auch als den Tod. Sein und Leben müssen sich, um selbst sein zu können, der Negativität, dem Tod aussetzen. Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Dieser gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht gewinnt er nicht, indem er nur das Positive ist, welches vom Negativen wegsieht, sondern indem er dem Negativen ins Auge schaut, bei ihm verweilt. Die Liebe ist Aufhebung aller Trennung und es ist zu vermuten, daß in der Liebe der Tod überwunden wird, womit Hegel in die Nähe der Reflexion auf interpersonale Erfahrung wie es im Denken Marcels und in ähnlicher Weise bei anderen Vertretern des sogenannten dialogischen Denkens auftritt.
Innerhalb der Hegelschen Dialektik erscheint das Thema des Todes ausdrücklich in Zusammenhang von Herrschaft und Knechtschaft. Für Hegel erscheint der Mensch in seiner Freiheit gerade darin, daß er sterben kann; nicht wie ein Tier verendet, sondern sich zu seinem Tode verhält. Im Kampf will das Bewußtsein zum Selbstbewußtsein werden, zu seiner Selbständigkeit vordringen, sich als Für-sich-Sein konstituieren, was es nur erreicht, wenn es sich vom bloßen An-sich der toten Substanz unterscheidet. Das Für-sich-Sein ist nur durch die Auseinandersetzung mit dem Tod möglich. Im Kampf geht es in der Wechselseitigkeit der Kämpfenden um das Tun des anderen und das Tun durch sich selbst. Insofern es Tun des anderen ist, geht jeder jeweils auf den Tod des anderen. Das Selbstbewußtsein der beiden Kämpfenden muß sich durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. Darin erlangen sie die Gewißheit ihrer selbst, für sich zu sein. Aus diesem Kampf erheben sich zwei entgegengesetzte Gestalten des Bewußtseins, die von Herrn und Knecht. Der Herr gewinnt Macht über das Sein, der Knecht bleibt unselbständig. Der Herr erhob sich im Kampf über die Unmittelbarkeit des bloßen Daseins, indem er das Leben aufs Spiel setzte und sich darin in seiner selbstbewußten Freiheit zeigte, dem Knecht ist die Angst als Beziehung zum Tod eigen. Aus Furcht vor dem Tod unterwirft sich der Knecht dem Herrn und begibt sich in die Zucht von Dienst und Gehorsam. Der eigentliche Motor der Dialektik liegt in der Negation, deren starker Ausdruck der Tod ist. In der Negation der Negation heben sich die einzelnen Stufen der Entwicklung des Geistes auf, wie auch im Ganzen des Systems. Von daher könnte man meinen, daß auch der einzelne Mensch für immer von der lebendigen Totalität des Ganzen umgriffen und nicht schlechthin durch den Tod vernichtet wird. Hegel schweigt jedoch über eine mögliche Zukunft des Menschen jenseits der Todesgrenze. Der Einzelne ist nur Funktion des umgreifenden Prozesses, an dessen persönlicher Unsterblichkeit nichts liegt.
Für Schopenhauer ist der Tod der eigentlich inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie. Ohne Tod würde nach seiner Überzeugung nicht philosophiert. Religion und philosophische Systeme sind für ihn das von der reflektierenden Vernunft aus eigenen Mitteln hervorgebrachte Gegengift der Gewißheit des Todes. Schopenhauer bewegt sich auf der traditionellen Linie der Metaphysik, wonach die philosophische Lebensführung ein ständiges Sterbenlernen ist. Der Wille ist das grenzenlose und unendliche Ding an sich, das in allem gegenwärtig ist. Der Wille ist Wille zum Leben und als solcher blind, ein Streben ohne Ziel und Ende. Er verspannt den Menschen in den ausweglosen Widerstreit zwischen Wunsch und Befriedigung. Bleibt die Befriedigung aus, entsteht Leiden. Wird unser Begehren erfüllt, müssen uns sofort neue Wünsche antreiben, da wir ansonst in Leere und Langeweile versinken. Glück und Wohlsein bestehen nur in der raschen Abfolge von Wunsch, Befriedigung und neuem Wunsch. Daher ist für den Menschen eine dauernde Befriedigung unmöglich und alles Glück ist im Grunde negativ. Wir ertragen ein solches Dasein nur aus Furcht vor dem Tode. Die Todesfurcht trifft den Menschen härter als das Tier, da das Tier nur von seiner angeborenen Abwehr seiner Vernichtung geleitet wird, während der Mensch seines Todes in der Vernunft bewußt und gewiß ist. Schopenhauer geht von einem ungewordenen und unzerstörbaren Anfangslosen aus, von einem Ewigen, das außerhalb der Zeit steht. Eine wirkliche Hilfe wird uns nur zuteil, wenn wir erkennen, daß es in uns etwas gibt, was nicht aus dem Nichts stammt und darum der absoluten Vernichtung entzogen ist. Alle Gegenstände erscheinen uns in der Zeit, sie selbst ist aber nicht wieder einer dieser Gegenstände, weshalb im Tod nur eine Erscheinung in der Zeit zu Ende geht, ohne daß dadurch das Ding an sich in irgendeiner Weise angefochten würde. Wir sind in die Absurdität des Lebens zwischen Geburt und Tod verstrickt, weil wir in der Welt der Vorstellung leben, die unser Bewußtsein zeitigt. Das Wesen, jenseits der Zeit, ist dasselbe Eine in allen Individuen. Im Tode zerfällt unsere Individualität und wir sinken wieder in den Urgrund zurück, in dem es weder Zeit noch Raum, weder Vielheit noch Individualität gibt. Der Wille ist das unsterbliche Leben der Natur selbst. Nicht Metempsychose, sondern Palingenesie führt zum Eingehen in den allein unzerstörbaren Willen. Der Wille als Ding an sich ist frei, d.h. er vermag sich selber bejahen oder verneinen und der Tod ist die große Befreiung, die die Verirrung der Individualität beseitigt.
Für Wolfgang Cramer ist die Transzendenz über alles Physische hinaus darin gegeben, daß wir Menschen um unseren Tod wissen. Dieser nicht zu leugnende Sachverhalt wird zur Einbruchstelle für den Gedanken an eine Seinsweise des Menschen, welche dem Physisch-Biologischen entrückt ist. Der Widersinn des Todes verschwindet, indem wir uns zum Tod wissend verhalten. Damit bekommt der Tod einen guten Sinn, wenn er eine Eröffnung einer anderen Dimension von Leben ist, wie immer man diese auch zu denken hat. Metaphysische Theorien von Unsterblichkeit sind nicht ohne weiters als irrational zu verwerfen. Vielleicht haben wir in ihnen den Versuch der Vernunft vor uns, auch in Fragen nach dem Tod Vernünftiges zu denken, um Vernunft nicht in einer blinden Naturkausalität untergehen zu lassen.
Der Idealismus wurde nach Hegel einer tiefgreifenden Kritik unterzogen, wobei aus der resultierenden Krise des Idealismus die Metaphysik im ganzen in eine Krise geriet, welche bis heute nicht überwunden ist. Scherer bezeichnet dieses Denken, welches einsetzte, als neues Denken.
Feuerbach übte eine fundamentale Kritik an den bisherigen Auffassungen von Tod und Unsterblichkeit. Der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit sei identisch mit dem Glauben an den persönlichen Gott. Gott ist nur ein anderer Name für die eigene Vollkommenheit des Menschen. Religion mit ihrem Unsterblichkeitsglauben entsteht aus dem Zusammenstoß des unendlichen Verlangen des Menschen und seiner Fähigkeit, mit den endlichen und begrenzten Daseinsbedingungen in Natur und Gesellschaft, deren Symptom vor allem der Tod ist, auf Unendliches zu reflektieren. Das Sein für andere fällt mit dem Leben für die Gattung, das Allgemeine, der Gemeinnützigkeit des Menschen zusammen. Der Tod stellt ein unaufhebbares natürliches Geschehen dar, das der Einzelne als Tatsache hinzunehmen hat, wird aber in der Geschichte der Menschheit zur Bedingung des Fortschritts. Die Menschheit vermag nur aufgrund des Todes der Menschen von einer niedrigeren Stufe der Entfaltung zu einer immer höheren Gestaltung des Lebens voranzuschreiten. Allein die geschichtliche Bestimmung, die kollektive Entwicklung der Menschheit, gibt dem Menschen seinen Wert und kann den Einzelnen mit seinem Todesschicksal versöhnen.
Nach Marx muß der Mensch aus dem Ganzen des Gesellschaftlichen, d.h. der Produktionsverhältnisse, begriffen werden. Religion ist das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Religion ist das Opium des Volkes. In ihrem Charakter als Jenseitsglaube ist sie Ideologie, nicht Realität, der Spiegel einer verkehrten Welt. Das Engagement für die im Diesseits zu gewinnende Zukunft erfüllt Marx und die meisten Marxisten so sehr, daß das Problem des Todes nicht weiter bedacht wird. Der Tod ist ein Sieg der Gattung über das bestimmte Individuum. Marx vermischt einen naturalistischen und einen idealistischen Aspekt: Die Berufung auf die Gattung, welche im Tod über den Einzelnen siegt, ist offenbar der Biologie entnommen, die Aufforderung, daß der Einzelne sich am Allgemeinen orientieren soll, entspricht dem Hegelschen Idealismus. Die Menschheit muß sich als großes soziales Unternehmen verstehen. Der Einzelne soll sich an der geschichtlichen Tat der Befreiung der Menschheit mitwirken und sich so in den zukunftsorientierten Zug der Menschheitsgeschichte hineinstellen. Von da aus gesehen, stellt der Tod für den klassischen Marxismus kein wichtiges, philosophisches Problem dar. Wo der überzeugte Marxist mit dem Tod konfrontiert wird, vermag er alle Todesangst überwinden, wenn er in der Überzeugung sterben kann, durch seinen Tod der großen, gemeinsamen Sache der Befreiung der Menschheit gedient zu haben.
Der Wille zur Macht gilt für Nietzsche als das innerste Wesen aller Dinge. Der Übermensch ist das letzte Ziel der Sehnsucht Nietzsches und muß derjenige sein, der sich vom Willen zur Macht, der zugleich Kraft des Befehlens wie höchste Lebendigkeit bedeutet, bestimmen läßt. Der Gedanke von der ewigen Wiederkehr und der vom Willen zur Macht macht ein einheitliches Gefüge aus. Nach Heideggers Interpretation stellt Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen die Spitze seines Denkens dar, auf welche dieses Denken zielt und in dem es sich zusammenfaßt. Zeigt sich im Willen zur Macht, was das Seiende seinem Wesen nach ist, so ist in der ewigen Wiederkunft des Gleichen “wie das Ganze des Einen anwest”.
Die zentrale Stellung der Lehre von der Wiederkehr bedeutet die Ablösung der von Nietzsche aufs schärfste zurückgewiesenen metaphysisch-christlichen Auffassung von der Unsterblichkeit des Menschen in einem Jenseits. Nietzsche verkündigte den Tod Gottes, des Gottes, der durch die Synthese von Metaphysik und Christentum zur Herrschaft gelangte. Gott ist der Name Nietzsches für die Unfreiheit des Menschen, da er den Menschen einer vorgegebenen Bedingung unterwirft. Der Tod Gottes ist die Bedingung menschlicher Freiheit. Der auf den Tod Gottes folgende Nihilismus als Zwischenzustand fordert den Menschen heraus, über sich selbst hinaus auf den Übermenschen zuzugehen. Beim Gedanken der Wiederkehr handelt es sich um den Versuch, eine Antwort auf die Frage nach Vergänglichkeit und damit nach dem Tode zu finden. Für Nietzsche gibt es Ewigkeit nur als die Zeit selbst. Im Ring der Wiederkehr fallen Zeit und Ewigkeit zusammen. Nietzsche versucht eine Welt zu denken, die sich immer in der Bewegung des Werdens und Vergehens befindet, darin aber ziellos ist. Der Wille muß immer auf ein Ziel gerichtet sein, weil sich sonst die innerste Struktur des Willens selbst auflösen würde. Nietzsche versucht, den Willen, der die Grundbewegung der Welt darstellt, als ein Kreislaufgeschehen zu interpretieren. Er zielt auf das in sich Verschlungene des Willens, der sich selbst und zugleich den Sieg über den Tod will. Dies ist jedoch nur möglich, wenn sich in diesem Gedanken die höchste Lebensbejahung daran entfaltet, daß auch das Kleine und Niedrige am Menschen endgültig bejaht wird. In der höchsten Lebensbejahung enthüllt sich der tragische Charakter. Wenn nämlich alles wiederkommt, dann auch das Verächtliche im Menschen. Der Weg der zukünftigen Geschichte endet nicht ein für allemal im Übermenschen, sondern muß immer wieder aufs neue gegangen werden. Leben und Tod sind in einem übergreifenden Ring verschlungen. Der Tod soll nicht in einen ein für allemal anbrechenden Sieg hineinverschlungen werden, sondern immer wieder gestorben werden. Nietzsche geht es darum, daß der erfüllte Augenblick des Einklangs von Mensch und Welt, die Erfahrung der Totalität, des Einssein in allem, nicht für immer vorbei sei und dem endgültigen Tod anheim falle. Da er Ewigkeit als jenseitige Unweltlichkeit ablehnt, muß er den Augenblick verewigen, indem er ihn immer wiederkehren läßt.
Trotz aller Erklärungsmodelle liegt über dem Tod eine unaufhebbare Verhülltheit, da wir nicht wissen, was im Tod mit uns geschieht, bevor wir ihn nicht selbst hinter uns gebracht haben.
Nach Adorno spottet die Idee des absoluten Todes dem Denken kaum weniger als die der Unsterblichkeit. Der Tod entzieht sich uns in der Verhülltheit. Unter diesem Vorzeichen einer durchgängigen und alles bestimmenden Verhülltheit können keine positiven Aussagen über ein Leben des Menschen jenseits der Todesgrenze möglich sein. Dennoch ist der Gedanke, der Tod sei das schlechthin Letzte, unausdenkbar. Versuche der Sprache, den Tod auszudrücken, sind vergebens bis in die Logik hinein: Wer wäre das Subjekt, von dem da prädiziert wird, es sei jetzt, hier, tot?
Sartre wendet sich gegen alle Auffassungen, die dem Tod eine das Leben des Menschen abschließende und ganz-machende Funktion zuschreiben wollen. Der Tod bricht völlig von außen in die Freiheit des Menschen ein. Der Tod verhilft uns nicht zu unserer Ganzheit, wenn wir angstbereit in ihn vorlaufen, sondern wir bleiben für immer eine “offene Ganzheit”, eine unabgeschlossene Ganzheit, wenn wir gestorben sind. Unser Leben ist gleichsam stehengeblieben. Im Tod erlangen wir zwar eine Endgültigkeit, aber eine absurde, weil wir von all unseren realisierten Möglichkeiten, von der sturen Faktizität des An-sich-Seins als der äußersten Nichtung unserer Freiheit überholt werden. Die Unbestimmtheit des Todes, die Ungewißheit des Zeitpunktes seines Eintretens ist ein Ausdruck dieser Zufälligkeit. Auf den Tod kann man nicht warten wie auf einen Zug. Es ist absurd zu meinen, man könnte sich zu ihm verhalten und gerade durch seine Unbestimmtheit das Heute, die Gegenwart als Möglichkeit des Selbstseins ergreifen.
Für Camus gehört die Gewißheit des Todes zentral in die Erfahrungen der Absurdität, von denen unsere Existenz bestimmt ist. Unser von Absurdität bestimmtes Dasein zwingt uns, die Frage nach dem Sinn zur leitenden Grundfrage allen Denkens überhaupt zu machen. Die Anerkennung einer solchen Sinnbasis unserer Existenz verschärft die Frage nach dem Tod. Gibt es nämlich Sinn, dann muß gerade der Tod als diejenige Macht erscheinen, die jeden Sinn nichtet. Die Betonung der radikalen Endlichkeit des Menschen wie auch der Vorrang der Gegenwart lassen für Camus jede Aussicht auf ein Jenseits als indiskutabel erscheinen. Die Zustimmung zur Endlichkeit und zum Tod setzt aber den Menschen in die Freiheit der Möglichkeiten, das Endliche zu erfahren und zu gestalten.
Nach Jaspers läßt sich der Mensch auf verschiedenen Ebenen betrachten:
- Als Dasein untersteht er biologischen Gesetzmäßigkeiten, steht in Furcht und Sorge und kämpft um sein Überleben.
- Als Bewußtsein vollzieht er logische Gültigkeit auf der Ebene des Verstandes im Sinne von Kant.
- Als Geist versucht er sein Dasein sinnhaften Ideen zu unterstellen, die dem Getriebe des Daseins und den Ergebnissen des Bewußtseins Gehalt und Richtung geben sollen.
Innerhalb dieser drei Stufen unseres Seins stehen wir in Bezogenheit auf eine der beiden Weisen des Seins, auf die Welt.
Als Existenz beziehen wir uns über alle Welt hinaus auf das Sein, das niemals Welt wird, aber durch sein Sein in der Welt gleichsam spricht. Das ist die Transzendenz. Während der Mensch im Dasein, im Bewußtsein und im Geist auf die Welt bezogen ist, verhält er sich als Existenz zur Transzendenz. Nur wenn das Weltimmanente überstiegen wird, erwacht Existenz. Der Sprung über alles Welthafte hinaus geschieht im Durchgang durch die Grenzsituationen. Zu ihnen zählen die endliche Begrenztheit des Menschen, Leiden, Schuld, Kampf und Tod. Allen Grenzsituationen ist gemeinsam, daß ich sie als von mir in der unvertretbaren Einsamkeit meines je eigenen Seins auszustehend erfahre und daß alle die Wirklichkeit verschleiernden Harmonisierungsversuche zerbrechen. Die Welt im ganzen und ohne Rest beginnt zu versinken. Alles Weltimmanente wird fraglich und es gibt keinen Halt mehr für den Menschen. Eine Grenzsituation ist nur dann durchgestanden, wenn kein Grund der Rechtfertigung für das Leben in der Welt aus dem Welthaften selbst mehr genommen werden kann. Das Nichts, die Leere, in welcher sich der Mensch dann befindet, ist nicht das leere Nichts, sondern der überweltliche Urgrund allen welthaften Seins. Im Abgrund des Nichts trifft den Menschen das Sein selbst, die absolute Transzendenz, für die der religiöse Glaube die Chiffre Gott hat.
Die Grenzsituation des Todes vermag die existentielle Wahrheit von Transzendenz eröffnen. Durch das Festhalten am Dasein wird Existenz verwirkt. Der Mensch verfängt sich im Wechsel von Angst vor dem Tod und Vergessen des Todes. Der Angst vor dem vitalen Nichtdasein, d.h. dem Ende des vitalen Daseins, steht die existentielle Angst vor dem existentiellen Nichtsein gegenüber, d.h. vor dem Verlust der existentiellen Wirklichkeit, welche darin besteht, daß der Mensch im Durchgang durch die Grenzsituation sein Selbst begreift.
Dieser zweifachen Angst entspricht der zweifache Tod. Ein Dasein, welches endlos dauern würde, wäre dennoch in sich tot, würde zur Qual des Nichtsterbenkönnens, wenn in ihm die Möglichkeit eigentlicher Existenz verspielt wird. Der andere Tod ist die nicht verwirklichte Existenz. Der Schrecken vor dem Tode hält uns solange in Atem, als wir uns noch nicht verwirklicht haben und um das Nichtsein als die auf uns zukommende Unmöglichkeit existentieller Verwirklichung erfahren müssen. Menschliches Leben bleibt immer durch die Doppelheit der Todesangst und Lebenslust einerseits und der stets neu sich erwerbenden Seinsgewißheit andererseits bestimmt. In dem Gefaßtsein auf den Tod müssen beide Momente ständig anwesend sein, damit der Mensch sich aus dieser Spannung immer neu zum Erwerben der existentiellen Gewißheit aufgerufen fühlt. Aus diesem Grund lehnt Jaspers den Versuch der Stoiker und der Epikureer ab, sich gegenüber dem Tod unempfindlich zu machen. In solchen Vorstellungen werde der Fremdheitscharakter des Todes dadurch festgehalten, daß man ihn nur vom bloßen Dasein versteht, dadurch in der Welt der Erscheinungen befangen bleibt und nicht zum Entscheidenden vordringt. Das Entscheidende besteht darin, daß man auf den Tod zugehen kann als je eigenem Grund und daß in ihm Vollendung von unbegreiflicher Art sei. Tod sei weniger als Leben und fordere Tapferkeit. Tod sei mehr als Leben und gebe Geborgenheit. Für Jaspers gibt es keine ein für allemal festgelegte Stellungnahme zum Tod. Diese wandelt sich in Sprüngen neuen Erwerbens durch das Leben und geschieht dadurch, daß die zweifache Angst und der zweifache Tod immer neu aufeinanderstoßen. Nur als Faktum objektivierbaren Wissens ist der Tod eine immer gleiche Tatsache. Trotz der Lehre von der Transzendenz lehnt Jaspers alle Vorstellungen von einer Unsterblichkeit ab und hält Sterblichkeit für beweisbar, weshalb Scherer die Aussagen Jaspers‘ über Tod und Unsterblichkeit für undeutbar hält.
Der Begriff des natürlichen Todes stellt den zentralen Punkt der heutigen, philosophischen Auseinandersetzungen dar. Die Auffassung des Todes als natürliches, biologisches Geschehen ist als Gegenposition zur traditionellen, metaphysischen Unsterblichkeitslehre bzw. des Auferweckungsglaubens zu betrachten. Das Verständnis des Todes als “natürlich” ist für eine immer größere Zahl von Menschen zum Inbegriff eines naturwissenschaftlich orientierten Verhältnisses zum Tod geworden.
Der “natürliche” Tod wird heute zunächst als Alterstod bestimmt, der sich aus der Entwicklung des alternden menschlichen Leibes heraus mit Selbstverständlichkeit als Ende einstellt. Dieser biologische Alterstod erklärt sich endogen, nicht pathogen und läßt sich vom vorzeitigen, durch Unfall, Krankheit, Krieg, Mord und durch gesellschaftliche Mißstände verursachten Tod abgrenzen. Der “unnatürliche” Tod wird den Medizinern als auch der Gesellschaft als Ganzes angelastet, weil sie den Menschen noch nicht in jedem Fall bis an sein natürliches Ende ans Leben erhalten können.
Der Gedanke vom natürlichen Tod hat auch seine philosophische Wurzeln. Feuerbach hat auf dem Hintergrund seiner Anthropologie, welche den Menschen von seinen sinnlichen Bedürfnissen her zu verstehen sucht, den Begriff des “naturgemäßen” und “gesunden” Todes gebildet. Das ist für ihn der Tod, der in hohem Alter erfolgt, wenn der Mensch des Lebens satt ist. Dieser Tod könne zum letzten Willen und Wunsch des Menschen werden, solange dieser in seinen Wünschen und Vorstellungen der menschlichen Natur treu bleibt. Schrecklich ist nur der unnatürliche, gewaltsame, grausame Tod.
Es ergibt sich hinsichtlich des Todes in den heute erörterten Fragen ein Widerspruch. Um den Tod solange hinauszuschieben, bis er durch den biologischen Alterungsprozeß bedingt eintritt, sind umfangreiche Maßnahmen notwendig.
Johannes Schwartländer erklärt daher, daß der heute geforderte “natürliche Tod” der in Wahrheit künstlichste Tod ist, da er die Frucht der kunstvollen Selbstmanipulation des Menschen und seiner Lebensumstände ist.
Nach Scherer ist es des Menschen Natur, auf nichtnatürliche, nämlich kulturell-geschichtliche Weise zu existieren, da der Mensch, um im biologischen Sinne des Wortes weiterleben zu können, das Biologische mit Wissenschaft, Technik, politische Maßnahmen, usw., übersteigen muß. Es ist unmöglich, das Natürliche des natürlichen Todes ausschließlich von biologischen Fakten her zu bestimmen. “Was der für den Menschen der natürliche Tod ist, kann nur gefunden werden, wenn man nicht nur auf die biologischen Strukturen des Menschen, sondern z.B. auf seine Freiheit, seine Verwiesenheit auf Sinn, seine Vernunft und auf die ethische Dimension seiner Existenz blickt.” Die heutige Gesellschaft untersteht einer charakteristischen Tendenz zur totalen Operationalisierung und Funktionalisierung der Wirklichkeit. Dieser Funktionalismus wird vom nur selten ausgesprochenen “Ideal” einer durchgängigen und in allen Bereichen bestimmenden Verfügung des Menschen über sich selbst definiert. Diese Tendenz schließt eine positive Stellungnahme zu “Widerfahrnissen” aus. Was nicht bewältigt werden kann, soll nicht sein. Im Tod kulminiert das für uns Menschen Uneinholbare. Wir versuchen den Tod zu bewältigen, was am radikalsten in der Gestalt des Freitodes geschieht. Aber auch der natürliche Tod zielt bewußt oder unbewußt auf die Bewältigung des Todes, da seine Voraussetzung darin besteht, daß der Mensch die naturale Basis seines Lebens in den Griff bekommt, um den Tod soweit wie möglich hinauszuschieben. Wo sich die Intention auf Bewältigung des Todes richtet, konzentriert sich das Interesse der Lebensverlängerung häufig nur noch auf die medizinische Erhaltung der Lebensprozesse. Tritt der Tod dann trotzdem ein, wissen wir mit dem Sterbenden nichts mehr anzufangen. Wir überlassen ihn dem Verfallsprozeß und erklären ihn rational als unvermeidliches Naturgeschehen. Wir verstehen nicht, daß sich Freiheit und Selbstbestimmung nicht nur in der Selbstverfügung ereignen, sondern gerade auch in dem Verhalten zu dem, was uns widerfährt.
Nach Walter Schulz ist das Thema Unsterblichkeit für die gegenwärtige Philosophie nicht aktuell. Der Tod ist ein absolutes Ende des Lebens. Die Epoche der Metaphysik ist durch die Wissenschaft abgelöst worden. Zu ihr gehört die biologisch orientierte Vorstellung vom natürlichen Tod. Der Mensch ist allerdings nicht nur ein naturhaftes Exemplar seiner Gattung, sondern ein Wesen, das sich zu sich selbst verhalten kann.
Für Kamlah ist der Tod eine Katastrophe. Diese Katastrophe vernichtet irgendwann jedes Lebewesen, den Menschen nicht ausgenommen. Das katastrophische Todesverständnis hat dasjenige abgelöst, welches den Tod des Menschen im Unterschied von dem der Pflanzen und Tiere als Durchgang zu einem neuen, leidlosen, ewigen Leben ansieht.
Auch Weischedel als Vertreter des Skeptizismus vertritt die These vom Ende der Metaphysik. Im Unterschied zu Kamlah, bei dem der Begriff des natürlichen Todes deutlich im Hintergrund des katastrophischen Todesverständnisses steht, spricht Weischedel ohne Bezugnahme zu naturwissenschaftlichen Aussagen über den Tod als unwiderrufliches und schlechthinniges Ende des Menschen. Der Tod erscheint jedoch als Befreier. Der Mensch gewinnt sich als Selbst, wenn er sich im Blick auf den Tod von allem löst, woran dieses Selbst hängt. Dieser Selbstverlust ist paradoxerweise Selbstgewinn. Damit erscheint der Tod nicht mehr als Widersinn, sondern wird in eine Möglichkeit der Freiheit verwandelt und dient zuletzt der Autonomie des Menschen.
Die neue Diskussion um Euthanasie wurde nach Scherer notwendig, weil der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft und Technik die Verlängerung des Lebens von Schwerkranken unter Bedingungen ermöglicht, die uns nach dem Sinn solcher Maßnahmen fragen lassen. Oft wird der Vorgang des Sterbens durch den Einsatz moderner, medizinischer Mittel künstlich verlängert und damit menschliches Leiden, vielleicht unnötigerweise, vermehrt. In manchen Fällen besteht die Möglichkeit, Kranke, die man früher für tot erklärt hatte, mittels fortgeschrittener Medizin wieder ins Leben zurückzurufen.
Daraus resultieren Fragen, welche für eine medizinische Ethik eine unüberschlagbare Bedeutung besitzen:
Wann dürfen und müssen wir alles tun, um menschliches Leben zu verlängern?
Wann dürfen wir, wann sind wir vielleicht verpflichtet, solche Hilfeleistungen zu unterlassen, d.h. passive Sterbehilfe leisten?
Ist es erlaubt, aktive Maßnahmen zu ergreifen, um einen Kranken mit schwerem, unheilbaren Leiden zu töten?
Darf der Mensch selbstmächtig über seinen Tod und damit über sein Leben verfügen?
Dürfen wir unser eigenes oder das Leben anderer beenden, weil uns angebliche oder wirkliche Absurditätserfahrungen so bedrängen, daß wir meinen, keinerlei Grund für eine uns weitertragende Hoffnung mehr vorweisen zu können? Eine die Neuzeit bestimmende Emanzipationsbewegung will den Menschen durch Überwindung naturwüchsiger Abhängigkeiten und gesellschaftlicher Zwänge zur vollständigen Autonomie vorstoßen lassen. Der Mensch soll die Vollmacht haben, seinem Leben ein Ende zu setzen, wenn er es von seinem Sinnhorizont her für richtig hält. So erklärt Herbert Marcuse, daß der Tod zum Wahrzeichen der Freiheit werden können. Die Unvermeidlichkeit des Todes widerlege nicht die Möglichkeit einer schließlichen Befreiung. Diese Befreiung besteht darin, daß der Tod gleich den anderen Notwendigkeiten vernünftig gestaltet werden kann, d.h. schmerzlos.
Nach Scherer geht es bei der Frage nach dem Freitod und der aktiven Sterbehilfe um den Sinn menschlicher Freiheit. Es geht darum, ob nicht die Widerfahrnisse, die wir hinnehmen müssen, wie den Tod, ihren Ort in unserem Dasein haben und ob nicht auch sie in ihrer Weise gerade unsere Freiheit beanspruchen. Es geht um die Frage, ob nicht jede Sinnerfahrung den Charakter des Widerfahrnisses besitzt und ob es von daher so ausgeschlossen ist, daß sich uns im Widerfahrnis des Todes Sinn zuspielt, allerdings in einer Weise, die uns unbekannt bleibt bevor wir gestorben sind. Der zweite Punkt ist, ob bei Sterbehilfe in der Form von Sterbebegleitung bis zum natürlichen Verscheiden Tod und Sterben begreiflich gemacht werden kann, also um ein Sinnverstehen.
In diesem Zusammenhang stehen sofort Fragen zur Rede, welche die Philosophie immer wieder gestellt hat:
wie der Mensch zu seinem Leben steht, das nun zu Ende geht;
was dem Menschen im Tod widerfährt und was aus dem Menschen und all dem, was bisher sein Leben ausgemacht hat, wird.
Scherer wirft die Frage auf, ob wir nicht gerade mitten im Leben das memento mori immer wieder vollziehen müssen, nicht nur um sterben, sondern auch, um menschenwürdig leben zu können. Er sieht ein solches memento mori als mögliche Leistung der philosophischen Bestimmung.
“I believe that no man ever threw away
life, while it was worth keeping.”
David Hume, Essays on Suicide and the Immortality of the Soul, S. 21
Die heute stattfindende, weltweite Diskussion um Euthanasie zeigt ein großes, menschliches Bedürfnis auf, den Zeitpunkt des Todes frei wählen zu dürfen. Den Argumenten der Gegner von Euthanasie, welche eine suffiziente, medizinische Versorgung der Bedürfnisse Moribunder als gegeben betrachten[clix], ist mit gewisser Skepsis zu begegnen, da in diesem Fall der Drang zur Euthanasie nicht derartige Ausmaße erreicht hätten. Euthanasie wird illegal in vielen Ländern praktiziert. Die weltweiten Versuche, Euthanasie zu legalisieren und damit Sterbewilligen den Tod zu gestatten und gleichzeitig Mißbrauch zu vermeiden, haben zu starken Gegenreaktionen geführt. Bestrebungen, den nordaustralischen Rights of the Terminally Ill Act zu Fall zu bringen, haben zu einem Zustrom von Kranken nach Nordaustralien geführt, welche befürchten, daß die Gegner des Acts Erfolg haben könnten und ihnen damit die Möglichkeit verwehrt wäre, davon Gebrauch zu machen. Bezeichnend ist eine Aussage Bob Dents, dem ersten Australier, welcher nach dem Terminally Ill Act euthanasiert wurde, in einem offenen Brief an australische Parlamentarier. Darin bezeichnet er dieses Gesetz als “the most compassionate piece of legislation in the world”. Im Kontext mit der Schilderung seiner Leiden zeichnet sich die Situation eines Kranken ab, welcher durch den Akt der Euthanasie aus einer aussichtslosen Lage erlöst wurde. Das Ziel der heutigen Euthanasie ist das Beenden von hoffnungslosem Leiden und Parallelen zur sogenannten “Euthanasie” der nationalsozialistischen Ära treffen - wie aus nachfolgendem Augenzeugenbericht einer Vergasung hervorgeht - auf keinen Fall zu:
“Ich…blickte durch das in
der Seitenwand eingelassene Guckfenster. Durch dieses sah ich etwa 40 bis 45
Männer, die dichtgedrängt im Nebenraum waren und nun langsam starben. Einige
lagen auf der Erde, andere waren zusammengesunken, viele hatten den Mund auf,
als wenn sie keine Luft mehr bekamen. Die Todesart war so qualvoll, daß man von
einer humanen Tötung nicht sprechen konnte, zumal viele der Getöteten ja auch
klare Augenblicke gehabt haben mögen. Ich sah dem Vorgang etwa 2-3 Minuten zu
und entfernte mich dann, weil ich den Anblick nicht länger ertragen konnte und
mir schlecht wurde.”[clx]
Bei den NS-Termini “Euthanasie” und “Endlösung” handelte es sich offensichtlich um Euphemisierungen, um den Tätern die Selbsterkenntnis zu ersparen, daß sie Mörder waren. Getötet wurden gesunde, lebenswillige Menschen. Während in jener Zeit sozialdarwinistische und -ökonomische Erwägungen die treibende Kraft waren, sind die heutigen Motive personaler oder humanitärer Natur. Die “Täter” setzen sich über allgemein anerkannte Normen hinweg, um dem Leidenden zu helfen. Nicht einem Unbekannten, für den man nichts empfindet, sondern einem geliebten Menschen hilft man zum erlösenden Tod.
Wiplinger thematisierte als erster das Problem des personalen Todes in der Philosophie.[clxi] Für ihn wird die Erfahrung des eigenen Todes im Tod des geliebten Menschen gemacht. “Eine Weile, vielleicht nur für den Blitzesaugenblick jenes ersten Eintreffens der Nachricht, werde ich mit hinein- und hinabgerissen in seinen Tod, erfahre den Verlust jeglichen Halts am Leben, am Sein, absolute Halt-losigkeit, das Nichten des Nichts.”[clxii] Durch die Erfahrung des Todes des geliebten Menschen geht die Gewißheit des eigenen Todes auf, die Erfahrung des Menschentodes, des “allgemeinen Todes”, überhaupt und zwar “in einer Gewißheit, an die keine noch so tiefsinnige Argumentation und spekulative Begründung desselben heranreicht, die aber auch die selbstsichersten Prognosen der Wissenschaft und Technik in ihrer Zuversicht, doch noch einmal den Tod zu besiegen, nicht mehr erschüttern können. Denn ich habe erfahren: Tod ist Trennung von dem, den wir lieben.”[clxiii]
Liebende Personen, welche einen Akt von eÈyanas€a in der genuinen Bedeutung des Wortes setzen, werden vor den Widersinn ihres eigenen Todes und damit in die Unwiederholbarkeit der eigenen Existenz geworfen. Solches Tun dem moralisch Bösen zu subsumieren ist bei Berücksichtigung der enormen Selbstüberwindung und den unwiderruflichen Folgen rational-logisch nicht begründbar.
Der zweite, Euthanasie praktizierende Personenkreis ist die Ärzteschaft. Das Motiv liegt in der Einsicht, daß ihre ärztliche Kunst und Wissenschaft an ihre Grenzen gelangt ist und den behandelten Patienten nicht geholfen werden kann; das verbleibende Leben der Patienten würde nur Qual bedeuten. Ärzte erfahren nicht den Tod eines geliebten Menschen und werden damit nicht mit dem Tod in der Weise konfrontiert wie Wiplinger darlegt. Um die psychischen Sperren des Tötungstabus zu überwinden, muß der Wille rational reflektiert und stärker ausgeprägt sein als bei einem liebenden Menschen. Eine solche Handlung widerspricht dem Berufsethos. Das Hilfe rufende Du des Patienten muß den Arzt ansprechen, ihn zwingend drängen, da eine Risikobereitschaft für Fremde geringer oder überhaupt nicht vorhanden ist. Es ist schwierig, Euthanasie, welche in der Gesinnung zu helfen praktiziert wird, als ethisch nicht vertretbare Position zu betrachten.
Bei den kontemporären Versuchen, Euthanasie zu legalisieren, wird den Ärzten aufgrund ihrer fachlichen Qualifikationen ein besonderer Stellenwert eingeräumt.
Jede Gesellschaft akzeptiert ein oder mehrere Prinzipien der Achtung vor dem menschlichen Leben. Die Ablehnung von Mord ist die wahrscheinlich universellste von allen moralischen Einstellungen[clxiv]. Die meisten Historiker der westlichen Moral stimmen darin überein, daß die Verbreitung der jüdischen, und noch mehr die Verbreitung der christlichen Religion wesentlich zum Gefühl beitrug, daß menschliches Leben generell wertvoll und achtenswert sei[clxv]. Allgemein wird angenommen, daß einige philosophische und religiöse Schulen unabhängig vom jüdisch-christlichen Einfluß starke Achtung vor menschlichem Leben äußerten. So wird schon im hippokratischen Eid Abtreibung und Euthanasie mißbilligt. Nach Ludwig Edelstein repräsentiert dieser Eid nur einen schmalen Ausschnitt aus der verbreiteten, griechischen Meinung und ist auf die Pythagoreer zurückzuführen, die Selbstmord aufgrund der Überzeugung verurteilten, daß wir als Soldaten Gottes an einem bestimmten Ort der Pflicht aufgestellt seien, den zu verlassen eine Rebellion gegen unseren Schöpfer wäre.[clxvi]
In der modernen Strafrechtsdogmatik wird dem Rechtsgut Leben absoluter Höchstwert zugeordnet und einer Interessensabwägung entzogen.[clxvii] Dieses Tötungsverbot zieht stets, außer bei Notwehr, Krieg und Todesstrafe, das Verdikt der rechtswidrigen Tötung nach sich.[clxviii]
Das Tötungstabu wurde zum Schutz der einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft entwickelt. Es ist selbstevident, daß das Töten eines anderen aus Motiven wie Haß, Habgier, Eifersucht, etc., ethisch keine argumentative Rechtfertigung finden kann. Zu hinterfragen ist allerdings, ob menschliches Leben als bonum absolutum betrachtet werden kann.
Proponenten von Euthanasie weisen die Berufung auf religiöse Autoritäten zurück.
Ursula Wolff kann in einer nicht-religiösen Moral keine Grundlage für ein Tötungsverbot erkennen.[clxix]
Helga Kuhse weist Argumente der Heiligkeit oder unendlichen Werthaftigkeit des menschlichen Lebens als prima facie plausibel klingend, aber als tautologische Begründung zurück. Diese Argumente gingen lediglich auf die Behauptung eines besonderen Werts zurück.[clxx]
Philippa Foot akzeptiert, daß Leben normalerweise ein Gut darstellt, dies aber nicht immer der Fall sein muß. Leben zu retten oder zu verlängern darf nicht immer positiv bewertet werden, da es u.U. für jemanden besser sein kann, früher als später zu sterben.[clxxi] Leben kann allerdings mit mehr an Schlechtem als Gutem noch immer selbst ein Gut sein.[clxxii] Das Töten eines Menschen zu seinem eigenen Wohl - d.h. aus der Binnenperspektive betrachtet - gegen seinen Willen oder ohne seine Zustimmung als unfreiwillige Euthanasie kann aber niemals gerechtfertigt werden. Die Rechte eines Menschen werden durch eine solche Handlung verletzt und sie verstößt deshalb gegen die Gerechtigkeit. Jedoch seien alle anderen Kombinationen, wie nichtfreiwillige passive Euthanasie, freiwillige passive Euthanasie und freiwillige aktive Euthanasie manchmal sowohl mit Gerechtigkeit wie mit Nächstenliebe vereinbar. Gerechtigkeit und Nächstenliebe sind zwei Tugenden, die normativ gesehen solchen Handlungen generell entgegenstehen, wobei Foot Gerechtigkeit als eine Form von Nichteinmischung und Schulden positiver Hilfe, Nächstenliebe als die Tugend versteht, die uns das Wohl anderer angelegt sein läßt. Sie spricht sich lediglich wegen der Gefahr des Mißbrauchs gegen eine Legalisierung aktiver Euthanasie aus. Die psychologischen Barrieren gegen das Töten sollen aufrechterhalten bleiben. Verfahren zu entwickeln, welche den Menschen einen Schutz davor gäben, ihrem eigenen Tod zuzustimmen, wäre sehr schwierig. Die Verfügbarkeit aktiver, freiwilliger Euthanasie würde - nach Foot - das soziale Leben in äußerst negativer Weise verändern.
Auf die verschiedenen Kohärenzprobleme des moralischen Verbots des Tötens von Personen, sc. Menschen, haben Hegselmann und Merkel hingewiesen:
"In diesem Gesamtzusammenhang entstehen nun verschiedene Kohärenzprobleme, zu denen jedenfalls die folgenden drei gehören:
1. Es ist inkohärenzverdächtig, den Suizid jedenfalls unter bestimmten Bedingungen für moralisch erlaubt, die Tötung auf Verlangen jedoch für prinzipiell unvertretbar zu halten.
2. Es ist inkohärenzverdächtig, einerseits weitreichende Abtreibungserlaubnisse für moralisch vertretbar zu halten, andererseits jedoch die Früheuthanasie prinzipiell abzulehnen.
3. Es ist inkohärenzverdächtig, die passive Sterbehilfe für moralisch zulässig, die aktive Sterbehilfe hingegen für unter allen Umständen moralisch verwerflich zu erklären.
»Inkohärenzverdächtig« heißt dabei: Es ist schwierig zu sehen, wie plausibel und konsistent für die jeweils erste Position argumentiert werden können soll, ohne dabei zugleich die möglichen Gründe gegen die jeweils zurückgewiesene zweite Auffassung zu unterminieren."[clxxiii]
Bob Dent attackierte als Betroffener die Euthanasiegegner in sehr scharfer Art und Weise:
“What right has anyone, because of their own religious faith (to which I don't subscribe), to demand that I behave according to their rules ... until some omniscient doctor decides that I must have had enough and goes ahead and increases my morphine until I die? If you disagree with voluntary euthanasia, then don't use it, but don't deny me the right to use it if and when I want to.”
In Konnex mit seinem Leiden sind diese Worte ein Zeugnis des Willens zum Tod, um weiteres Leiden zu vermeiden.
Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Gesinnung Senecas, dessen Zwecksetzung jedoch eine andere war. Dent hatte den Willen zum Tod, weil seine Lebensumstände unerträglich waren. Diese menschlich akzeptablen Argumente wären für Seneca eine feige Niederlage. Schmerz ist für ihn nicht ein Grund, sich “davonzumachen”, sondern - in einer modernen Diktion - weil das Leben keine lebenswerte Qualität aufweist. Die nicht terminierbare Dauer des Schmerzes ist nur dann Grund, aus dem Leben zu gehen, wenn er wegen seiner Unerträglichkeit einen zufriedenstellenden Lebensablauf - die Bewältigung der Lebensprobleme - unmöglich macht. Im geistigen Umfeld sowohl Dents, als auch Senecas bestanden Ähnlichkeiten: Dent war gläubiger Buddhist, für Seneca war der stoische Pantheismus eine Möglichkeit, den endgültigen Tod zu vermeiden. Der Tod war nicht das Nichts - eine weitere Ähnlichkeit im Brückenschlag zwischen antiker, philosophischer Freizügigkeit im Umgang mit dem Tod und einem modernen Menschen des 20. Jahrhunderts. Ein antiker Philosoph legte jedoch in einer einsamen Entscheidung Hand an sich und schied nach rationaler Erwägung aus dem Leben. Dieser Schritt aus vernunftbetonter Entscheidung läßt auf ein hohes Ausmaß an persönlicher Freiheit in der Bewältigung der eigenen Sterblichkeit schließen. Dieser Freiheit in der Willensentscheidung zum Tod mag jedoch mit gewisser Skepsis begegnet werden, da in jedem “Freitod” existentielle Nöte den Anlaß bieten. Aus dem psychothanatologischen Beitrag ist ersichtlich, daß sich Suizidanten einen letzten Fluchtweg offenlassen, d.h. im Innersten wünschen, gerettet zu werden. Ihr Sinn ist auf Leben und nicht auf den Tod gerichtet. Im pathologischen Suizid ist die Freiheit in der Willensentscheidung mit Sicherheit nicht gegeben, aber auch der Freitod des Philosophen, dem eine lange Tradition der Todesbewältigung in der philosophischen Reflexion zugrundeliegt, wodurch er in die Lage versetzt wird, die biologischen Überlebensmechanismen aus einer Entscheidung der Vernunft heraus zu überwinden und in den Tod zu gehen, basiert auf einer existentiellen Aussichtslosigkeit.
Bei einem genuinen Freitod wäre nicht nur eine Wahlfreiheit zwischen Leben und Tod gegeben, sondern eine absolut freie Willensentscheidung, in der sich der Suizidant für den Tod entscheidet.[clxxiv] In diesem Fall könnte man nicht einmal den von Freud postulierten Todestrieb präsumieren. Eine solche Lebenseinstellung läuft aber den naturbedingten, biologischen Überlebensmechanismen zuwider und diese Form der existentiellen Freiheit und hätte den Untergang der Gattung Mensch aufgrund mangelnder Lebensbejahung schon lange nach sich gezogen.
Seneca hätte sich mit Sicherheit nicht für die mors voluntaria entschieden, wenn er nicht von Nero zum Tode verurteilt worden wäre, d.h. Seneca wählte das kleinere Übel.
Er[clxxv] läßt sich nicht durch den Schmerz besiegen,[clxxvi] er wird nicht vor einer Krankheit fliehen,[clxxvii] wenn aber nur die leibliche Existenz übrig bleibt und die geistige Gesundheit verfällt, geht er aus dem Leben.[clxxviii] Aus “dumtaxat” geht das Element der sachlichen Erwägung zu diesem Schritt hervor; durch die Verwendung von “animus” statt “anima” die Priorität geistigen, menschlichen Seins. Die rein körperliche Präsenz hat nicht die geringste Bedeutung.
Seneca kann nicht Lebensverachtung vorgeworfen werden. Seine Reflexionen in Über die Vorsehung sind rationale Bewältigungsstrategien, um widerfahrenes Unglück und das Böse ertragen zu können. Die virtus boni viri erträgt alles. Der Tod stellt lediglich einen potentiellen Fluchtweg aus einer unerträglichen und unlösbar problematischen Situation dar.
In einer modernen Diktion könnte man sagen, daß Seneca durch den Verlust der Würde - die virtus aus stoischer Perspektive - zum Tod bewegt wird.
“Würde” im Kontext der modernen Euthanasiediskussion als Argument für und gegen Euthanasie leitet sich als rechtliches Element von den Menschenrechten ab. Gegner von Euthanasie sehen in der Menschenwürde den Grund, einem Menschen paternalistisch ein Recht auf den Tod zu verweigern, die Proponenten von Euthanasie sehen Menschenwürde als Recht, sich des Lebenrechtes zu entschlagen.
Entwürdigende Zustände veranlaßten neben körperlichem Ungemach Bob Dent, den Tod zu suchen:
"…, often resulting in loss of bowel control in the middle of the night. I have to have a rubber sheet on my bed, like a child who is not yet toilet trained. Other drugs given to enhance the pain-relieving effects of the morphine have caused me to feel suicidal to the point that I would have blown my head off if I had had a gun."
(Offener Brief an die Mitglieder des Parlaments)
Die Argumentation Bob Dents erfolgte aus einem bestimmten Lebenskontext heraus, dagegen erörtert Kamlah die mors voluntaria aus philosophischer Sicht.[clxxix] Die von ihm vertretene goldene Regel lautet: “Beachte in jeder Situation, daß der andere Mensch bedürftig ist ebenso wie du selbst, und handle demgemäß”. Nicht die Erfüllung beliebiger Wünsche, sondern die Befriedigung wahrer Bedürfnisse erfordere diese Grundnorm. Der Wunsch eines unheilbar Kranken zu sterben, entspreche seinem wahren Bedürfnis und er habe ein Recht auf den eigenen Tod.
Ein generelles Verbot von Selbsttötung lasse sich nicht begründen durch:
1. den Augustinischen Trick, das Wort homicidium auf die Selbsttötung anzuwenden. Der freiwillige Abschied vom Leben sei eine Handlung sui generis, für welche Termini wie “Mord”, “Totschlag”, “fahrlässige Tötung” oder “Selbstmord” unzulässig seien.
2. Ein generelles Verbot der Selbsttötung läßt sich auch nicht dadurch begründen, daß der Mensch Geburt und Tod als Widerfahrnisses hinzunehmen habe und daher über sein Leben “nicht verfügen” könne. Im Unterschied zur Geburt stehe der Tod als Widerfahrnis dem mitwirkenden Zugriff des eigenen Handelns gerade offen.
Für das Recht auf den eigenen Tod gelte: in dubio pro libertate. In der Regel seien krankhafte Verursachungen für gelungene und versuchte Selbsttötungen kausal. Die Zahl der moralisch erlaubten Selbsttötungen sei verschwindend klein, aber de principio moralisch zulässig und für unser bedrängtes, menschliches Leben bedeutsam. Kamlah handelt Euthanasie nicht expressis verbis ab, seine Reflexionen in bezug auf Lebenswert in Konnex mit ärztlicher Berufsethik haben jedoch euthanasierelevanten Charakter:
"Ob das Leben eines Menschen erfülltes, lebenswertes Leben ist oder nicht, das bemißt sich an diesem Leben selbst und wahrhaftig nicht an Beurteilungen durch die Gesellschaft oder durch den Staat oder gar durch die Partei. Die Einmischung dieser unzuständigen Instanzen hat die Problematik des lebenswerten Lebens lange unheilvoll belastet, darf aber heute dem Arzt nicht mehr als Alibi dafür dienen, daß er sich auf seine Pflicht zurückzieht, unterscheidungslos ‘Leben zu erhalten‘. Vielmehr untersteht auch der Arzt, sofern er nicht allein Organismus-Ingenieur ist, der moralischen Grundnorm und kann daher in die Lage kommen, daß es ihm moralisch geboten ist, einem Mitmenschen bei der Selbsttötung zumindest durch seinen Rat zu helfen."
Die Differenz von bloß biologischem Leben und lebenswertem, d.h. menschenwürdigem Leben werde dem Arzt in der Zukunft nicht mehr genügen, sich unter Berufung auf den hippokratischen Eid dieser fundamentalen Unterscheidung zu entziehen.
"Unsere Welt mit ihrer gedankenlosen Gesellschaft und ihrer inhumanen Ärzte- und Juristenmoral ist so eingerichtet, daß der freiwillig Sterbende, wenn er überhaupt ans Ziel gelangt, nicht nur den althergebrachten moralischen Makel auf sich nehmen, sondern der befremdeten Mitwelt auch noch ein abstoßendes Schauspiel darbieten muß. Das Recht auf den eigenen Tod wird nur noch selten radikal bestritten. Aber wer von diesem Recht Gebrauch macht, weil er ein menschenwürdiges Leben nicht mehr führen kann, wird jedenfalls zu einem menschenunwürdigen Sterben gezwungen. Und zuvor, solange er seinen Entschluß noch erwägt, wird er hoffnungslos im Stich gelassen."
Der Tod per se könne nicht verstanden werden, die gerechtfertigte Selbsttötung als menschliche Handlung müsse aber verstehbar sein.
Während bei Seneca der animus als wesentliches Kriterium für den Fortbestand des Lebens steht, wird bei Kamlah ein menschenwürdiges Leben im Sinne von Lebensqualität verstanden. Der Stoiker erwägt nur seine unversehrte virtus, der moderne Philosoph zieht bereits die Lebensumstände, welche nicht immer vom Individuum als Subjekt beeinflußt werden können in Betracht.
Obwohl die christliche Tradition eine solche Betrachtungsweise nicht zuläßt, kann auch bei Kant, als Vertreter der christlichen Philosophie, keine bedingungslose Bejahung menschlichen Lebens gefunden werden. Er klassifiziert Selbstmord als Verbrechen und spricht damit dem Menschen ein Selbstverfügungsrecht über sein Leben ab, die Todesstrafe aber findet als Sühne seine Zustimmung.[clxxx] Wie aus der historischen Entwicklung der Einstellung zum Suizid (III. Kapitel, § 4) ersichtlich ist, wird sowohl im allgemeinen als auch im philosophischen Verständnis das Töten eines anderen Menschen als moralisch verwerflicher angesehen als die Selbsttötung. Die Kantsche Position stellt damit in gewisser Weise ein Paradoxon dar, welches ihren Ursprung im religiösen Glauben Kants hatte.
Zweck des allgemeinen Tötungsverbotes ist der Schutz der einzelnen Mitglieder einer Sozietät. Die zunehmende Effizienz der modernen Medizin führt immer mehr zu einem inversen Resultat: Die Verlängerung des Lebens dient nicht mehr dem Wohl des Menschen, sondern artet in eine sinnlose Verlängerung des Leidens aus. Das sich im Laufe der Menschheitsgeschichte gebildetet Tötungsverbot entwickelte sich zu einem unreflektierten Tabu. Der Verstoß gegen dieses Tabu zieht eine ambivalente und kontradiktorische Reaktion des eigenen Gewissens auch in dem Fall nach sich, daß Euthanasie mit der Überzeugung praktiziert wird, etwas Gutes zu tun.[clxxxi] Die negativen Konsequenzen einer Lebensverlängerung werden kategorisch negiert und die Moribunden werden ihrem Elend überlassen. Das ius vitae pervertiert zu einem officium vitae. Verschiedene Philosophen, wie z.B. Hume, Löwith, Kamlah, haben sich mit der Begründung gegen eine Lebenspflicht gewandt, daß eine solche nur aus einem religiösen Kontext aufrechterhalten werden kann und im Fall des Christentums nicht einmal durch eine entsprechende Textstelle aus der Heiligen Schrift belegt werden kann.
Birnbacher spricht dem Leben den Stellenwert eines Höchstwerts, welcher von Lebensqualität und den mit der Aufrechterhaltung des Lebens verknüpften subjektiven Kosten unabhängig ist, ab:
"Wer das Leben als Höchstwert auffaßt, vertritt kein Prinzip, das auf universale Anerkennung Anspruch erheben kann, sondern ein persönliches Ideal. Er ist nicht befugt, dieses Ideal anderen gegen ihren Willen aufzunötigen."[clxxxii]
Die technologisch hochstehende, moderne Medizin führte in die höchst virulente Problematik, daß Menschen am Leben erhalten werden können, welche bei einem natürlichen Verlauf der Dinge schon lange gestorben und von einem sinnlosen Leiden erlöst worden wären. Die Ärzteschaft beruft sich auf den hippokratischen Eid als Auftrag, Leben zu erhalten. Die entsprechende Textstelle des hippokratischen Eids lautet:
“Ich werde niemandem, nicht einmal auf ausdrückliches Verlangen, ein tödliches Medikament geben, und ich werde auch keinen entsprechenden Rat erteilen; ebenso werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel aushändigen.”[clxxxiii]
Bauer interpretiert diesen Passus als Risikominimierung. Angesichts der beschränkten therapeutischen Möglichkeiten wäre es in vielen Fällen klüger gewesen, zusätzliche Schäden durch Nichtstun zu vermeiden, als die Krankheit durch eine falsche Behandlung womöglich zu verschlimmern. Dem Ansehen des Arztes wäre die Beihilfe zur Selbsttötung oder die Tötung eines Menschen äußerst abträglich gewesen, weshalb sie im Eid genauso abgelehnt wurde wie die Abtreibung. Die eigentliche, historisch bemerkenswerte Leistung des hippokratischen Eides läge in der gelungenen Balance zwischen den ethischen Maximen und den praktischen Erfordernissen, die der Arzt im wohlverstandenen Eigeninteresse berücksichtigen mußte. Als normative Richtschnur für das konkrete Handeln des heutigen Arztes vor dem gewandelten wissenschaftlichen und sozialen Kontext der Gegenwart sei er - nach Bauer - obsolet.
Damit kann der hippokratische Eid nicht als Argument gegen Euthanasie verwendet werden, vor allem, da zwei Textstellen den Nutzen des Kranken hervorheben.
1. “Die diätetischen Maßnahmen werde ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil zum Nutzen des Kranken einsetzen, Schädigung und Unrecht aber ausschließen.”
2. “In wieviele Häuser ich auch kommen werde, zum Nutzen der Kranken will ich eintreten und mich von jeder anderen Sittenlosigkeit fernhalten, auch…”
Indem die Emphase auf den Nutzen für den Kranken gelegt wird, darf die ärztliche Kunst nicht zur Verlängerung aussichtslosen Leidens und irreduzibler Qual verwendet werden, da die Verwendung ärztlichen Wissens auf Heilung ausgerichtet sein soll. Die Verwendung dieses Wissens zur Prolongierung eines Lebens, um einen pathologischen Zustand ohne Heilungschancen bis zum “natürlichen”, nicht länger retardierbaren Exitus aufrechtzuhalten, kann nicht aus der Intension des Textes abgeleitet werden.
Präsumptiv kann die allgemeine Ablehnung der Euthanasie - neben dem Tötungsverbot - auf die in den Naturinstinkten basierenden Angst vor dem eigenen Tod zurückgeführt werden. Das Jahrtausende währende Todesverständnis des gezähmten Todes, welches den Tod als stetes Bild der Ruhe empfunden hat, ist verlorengegangen. Diese Form der Todesbewältigung läßt sich nicht aus der christlich-theologischen Auffassung ableiten, da dieses Bild des Todes auch in der Antike Gültigkeit hatte. Die legalisierten Euthanasieverfahren in Massalia und auf Keos lassen auf einen freieren Zugang zum Tod schließen. Der Verlust dieser Einstellung läßt sich auch nicht auf die Entwicklung einer individualistischen Gesellschaftsform in Europa, welche mit dem Auftreten einer persönlichen Biographie im Hochmittelalter begann, reduzieren.
Die Entdeckung der eigenen Identität, d.h. des eigenen Todes im Tod des geliebten Menschen, welcher einen unersetzbaren Verlust darstellte, in der Romantik des 18. und 19. Jahrhunderts und der Verlust der eigenen Identität im Übergang von der Vergänglichkeit des Lebens zum Nichts, ließ die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens und dem Sinn von Sein generell aufbrechen. Solange eine kollektive Reaktion auf den Tod bestand, war Sterben sowohl für den Sterbenden, als auch für die Angehörigen und Nahestehenden leichter. Die gemeinschaftliche Bewältigung erlaubte eine optimierte Trauerarbeit. Als man begann, den Tod vor dem Sterbenden zu verheimlichen - was immer auch das gutgemeinte Motiv war - wurde ein zwischenmenschlicher Hiatus introduziert und der Tod wurde zu einem unaussprechlichen und nicht zu bewältigenden Übel. Die Abschiebung der Sterbenden in das Krankenhaus, um das Sterben nicht mitansehen zu müssen, kann als Symptom für die Verleugnung des eigenen, zukünftigen Todes betrachtet werden. Die Ärzteschaft reagierte “auftragsgemäß”, ohne die Unmöglichkeit zu bedenken, daß der Tod nicht “weggeheilt” werden kann. Als die Medizin im 17. Jahrhundert gegen den Tod zu kämpfen begann, wiesen die medizinisch-technologischen Möglichkeiten noch nicht die Effizienz unseres Jahrhunderts auf. Zu Beginn dieses Kampfes stand das Ziel, den unzeitgemäß frühen Tod zu eliminieren: Heute wird das Sterben immer als unzeitgemäß betrachtet und unreflektiert verlängert, negierend, daß der Tod nicht eliminierbar ist und dadurch nicht ein Leben gerettet, sondern Leiden sinnlos ohne positive Zukunftsperspektive verlängert wird. Stimmen, die diese Entwicklung und den damit verbundenen Ruf nach Euthanasie voraussahen[clxxxiv], wurden nicht gehört. “Euthanasie” entwickelte sich zum Begriff der Rettung vor einer unmenschlichen Medizin: Die Angst vor dem Tod wurde in unserem Jahrhundert unüberwindbar, wild, unkontrollierbar: Der Kampf der unheilbar Kranken um das Recht auf den eigenen Tod als letzten Ausweg aus unerträglichen Lebensumständen wurde zu einem Kampf gegen die Angst der Gesunden vor ihrem eigenen Tod.
Bemerkenswert ist das Faktum, daß die Euthanasiebewegung bzw. der Ruf nach einem würdevollen Tod in christlichen Ländern entstand und nicht in einer Kultur wie derjenigen Japans, ein welcher sich eine für westliche Denkweise eigenartig freie Beziehung zum Tod bis in unser Jahrhundert erhalten hat. In der westlichen Einstellung wären Selbstmordaktionen wie die japanischen Kamikaze-Taktiken des 2. Weltkriegs undenkbar gewesen. Die westliche, militärische Tapferkeit war bei allen todesmutigen Aktionen, welche Todesgefahr in sich bargen, auf Überleben ausgerichtet, während der japanische Kamikaze-Kämpfer, welcher wider Erwarten überlebte, den Freitod suchte. Auch wenn das Ziel erfolgreich getroffen worden war, stellte das Überleben per se ein Versagen dar. Daß diese Einstellung auch im heutigen Japan noch lebendig sein dürfte, läßt sich aufgrund des Harakiri von Mishima Yukio vermuten. Trotz dieser Einstellung wurden die Bedingungen für Euthanasie erst im März 1995 von einem japanischen Gericht - d.h. judikativ und nicht legislativ - festgelegt, und 1991 wurde ein Arzt, der Euthanasie praktizierte, wegen Mordes verurteilt. 70% der japanischen Ärzte sprachen sich trotz festgelegter, juristischer Definition von erlaubter Euthanasie gegen Euthanasie aus. Im Juni 1996 wurde ein polizeiliches Verfahren gegen einen Arzt eingeleitet, welcher einen Freund wegen unerträglicher Schmerzen euthanasierte.
Diese Praxis weist darauf hin, daß die Opposition gegen Euthanasie nicht auf kulturelle oder christlich-religiöse Charakteristiken zurückgeführt werden kann.
Die ambivalente Haltung in bezug auf eine Verletzung des Tötungsverbots geht aus der Position Jürgen Stenzels hervor. So sah er die konkrete Anwendung der Singerschen Prinzipien als mörderische und menschenverachtende Tat[clxxxv]; die Praktische Ethik als Pseudophilosophie[clxxxvi], welche mit Philosophie nichts zu tun habe, das Interesse Singers als fixe Idee[clxxxvii], wofür der einzelne Mensch geopfert werden sollte[clxxxviii]; die quantitative Methode Singers sehe nicht das Leid des Einzelnen[clxxxix]; der Anti-Speziezismus Singers sei ausgemachter Anti-Humanismus[cxc]. Trotz der scharfen Kritik dieser theoretischen Position verurteilt er einen anderen Menschen nicht kategorisch, wenn derjenige einen anderen in einer Notstandssituation tötet:
"Löchrig wird die Maxime ‘Menschliches Leben um jeden Preis‘ auch schon durch andere Fälle, in denen die bewußte und aktive Tötung eines Menschen als ein Akt der Humanität erscheinen könnte. Ich denke da an einen von Reinhard Merkel geschilderten Vorfall: ‘Vor Jahren wurde in einem schwedischen Strafprozeß der folgende Fall verhandelt: Ein LKW-Fahrer geriet mit seinem Beifahrer auf einsamer Strecke in einen schweren Unfall und wurde zwischen massiven Stahlblechteilen ausweglos eingeklemmt. Der Wagen fing Feuer. Als der Eingeklemmte am ganzen Leib zu brennen begann, flehte er seinen Begleiter an, ihn mit der Axt zu erschlagen. In höchster Gewissensnot schlug der Beifahrer zu und bewahrte den Eingeklemmten durch diesen schnellen vor einem qualvollen anderen Tod.’[cxci] Was ist hier human? Was inhuman? Grausam ist beides: das Erschlagen eines Menschen ebenso wie sein allmähliches Verbrennen.
Wir sollten gewiß nicht die Augen schließen vor der Tatsache, daß es viele solcher Handlungen gibt, in denen wir nur Übles tun können. Es gibt kein glattes, ‘gutes’ Leben. Wir müssen oft anderen und uns selber schaden, wie das Beispiel des Lastwagenfahrers zeigt, das extrem sein mag, aber vom Prinzip her und in abgeschwächter Form vielen öfter begegnet sein wird. Es gibt Situationen, in denen sowohl eine mögliche Tat wie ihr Unterlassen grausam ist.
Das Ergebnis solchen Denkens wird freilich sein, wie - wenn Leid schon nicht zu vermeiden ist - das geringste Leid zugefügt werden kann durch unser Tun bzw. Unterlassen. Man kann dies als quantitative Methode des Denkens bezeichnen, aber sie unterscheidet sich von der Singers durch die Einsicht, daß hier der Begriff des Leidens ein anderer ist, daß in solchen Fällen jede mögliche Handlung unethisch und damit uns nicht lieb ist, daß jedes Verhalten uns unangenehme Gefühle bereiten wird und wir aus solchen Handlungen also keine Ethik des guten Gewissens machen wollen."[cxcii]
Stenzel flüchtet in die außerethische Prädikation, daß diese Tat grausam wäre. Die definitive Verurteilung der Tat fehlt, weil er sich offensichtlich nicht dem Zwang der Situation verschließen kann und das Nichthandeln noch grausamere Qualen verursacht hätte. Trotzdem klassifiziert er die Handlung mit dem Hinweis als moralisch verwerflich, daß in gewissen Fällen jede mögliche Handlung unethisch sein könne. Diese Position ist fragwürdig.
Kant begründete den Satz “…: daß die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgte Freund sich nicht in unserem Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde”[cxciii] damit, daß es ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot ist, in allen Erklärungen wahrhaftig (ehrlich) zu sein[cxciv], daß alle rechtlich-praktischen Grundsätze strenge Wahrheit enthalten müssen und niemals Ausnahmen enthalten dürfen, weil diese die Allgemeinheit vernichten, derentwegen allein sie den Namen der Grundsätze führen.[cxcv] Kant wurde zu seiner Zeit deshalb heftig kritisiert und heute würde kaum jemand diese Position aufrechthalten. Wenn aber das Prinzip der Allgemeingültigkeit schon bei einem Verstoß gegen eine derart minimale Norm wie der des Nicht-Lügens verlorengeht und Kant deshalb bewogen wird, rigoros jede Form des Lügens abzulehnen, so trifft dies in weit höherem Ausmaß auf das Tötungsverbot zu. Nach dem Satz vom Widerspruch kann eine Aussage nicht gleichzeitig wahr und falsch sein, woraus folgt, daß im Kontext mit einer ethischen Handlung diese nicht gleichzeitig moralisch richtig und moralisch falsch sein kann. Das Verwerfen des Satzes vom Widerspruch würde die gesamte der europäischen Tradition verpflichteten Logik als obsolet erklären und damit die darauf basierenden Regeln unseres Denkens verwerfen. Das Prinzip der Verantwortung für das eigene Tun und damit das der Schuld für unmoralisches Handeln gerät aufgrund mangelnder Subsumierbarkeit der Handlung unter eine ethische Regel ins Wanken.
Beim dem obigen, kasuistischen Beispiel wird der Antagonismus einer deontologischen Betrachtungsweise virulent: Handelt der Beifahrer nach den gültigen Rechtsnormen, geht der Fahrer elend und mit sinnlosen Schmerzen zugrunde, orientiert sich der Beifahrer konsequentialistisch, macht er sich aufgrund des geltenden Rechts schuldig. Die Aussage, daß jede mögliche Handlung unethisch sein kann, läßt aufgrund mangelnder logischer Stringenz nur die Konklusion zu, daß in diesem Fall der Ethikbegriff falsch ist. Wenn im obigen Beispiel jede Handlung unethisch war, hätte der Beifahrer in jedem der beiden möglichen Fälle verurteilt werden müssen oder in keinem. Moralisches Handeln kann nur in der Kongruenz der Handlung mit der ethischen Norm nach dem Satz vom Widerspruch aufgefunden werden, da ansonst Moral und Ethik undefinierbar und kein schuldhaftes Verhalten herausgefunden werden könnte, m.a.W.: Ethik und Moral wären inhaltslose Hirngespinste. Jede von nur zwei möglichen Handlungen als unethisch zu klassifizieren, weist auf ein irrationales Zuordnungsprinzip: Man weiß nicht, was moralisch richtig oder falsch ist. Vorsichtshalber - sicher ist sicher - wird deshalb jede Handlungsweise als unmoralisch erklärt.
Den Proponenten des absoluten Tötungsverbots ist deshalb mangelnde Konsistenz in ihrer Argumentation vorzuwerfen. Halten sie an einer Lebenspflicht unter allen Umständen fest, kann ihnen Unmenschlichkeit vorgeworfen werden. Weichen sie ihre Position auf und lassen partiell Tötungen zu, verstoßen sie gegen die Absolutheit ihres Verbots. Das Denken Kants ist stringenter.
Beim obigen Beispiel zeigt sich die Stärke des Utilitarismus: Sowohl für den Präferenzutilitaristen, als auch für den Vertreter des klassischen Utilitarismus stellt die Kasuistik des Fallbeispiels kein Problem dar. Der Beifahrer handelte nach diesen ethischen Begründungsmodellen absolut moralisch. Der Paralogismus des absoluten Tötungstabus tritt nur bei deontologischen Argumentationsschemata auf.
Wie aus der Kritik des Universalitäts-, Interessens- und Personalitätsbegriffs der Singerschen Ethik ersichtlich war, ist der Versuch Singers, eine neue Ethik auf präferenzutilitaristischer Basis zu introduzieren, als gescheitert zu betrachten. Fragwürdig ist jedoch, ob die Argumente Singers in euthanasierelevanter Hinsicht ebenfalls zurückgewiesen werden müssen oder ob Teilaspekte seiner Argumentation als ethisch vertretbar akzeptiert werden können.
Für Singer ist mit dem Zusammenbruch der Argumente für die Heiligkeit des Lebens die Verweigerung von Euthanasie - wenigstens in einigen Fällen - entsetzlich.[cxcvi]
Die Differenzierung Singers in freiwillige, unfreiwillige und nichtfreiwillige Euthanasie findet sich auch in der allgemeinen Diktion euthanasierelevanter Diskurse, so z.B. im Report des kanadischen Senats zur Euthanasie aus dem Jahre 1994. Diese Differenzierung geht im philosophischen Bereich auf Aristoteles zurück:
"Unfreiwillig scheint zu sein, was aus Zwang oder Unwissenheit geschieht. Erzwungen oder gewaltsam ist dasjenige, dessen Prinzip außen liegt, und wo der handelnde oder der Gewalt Leidende nichts dazutut, z.B. wenn ihn der Wind oder Menschen, in deren Gewalt er ist, irgendwohin führen. Wenn aber etwas aus Furcht vor größeren Übeln oder wegen etwas Gutem getan wird - z.B. wenn ein Tyrann, der unsere Eltern und Kinder in seiner Gewalt hat, eine schimpfliche Handlung von uns verlangte und jene geschont würden, wenn wir die Handlung verrichteten, dagegen sterben müßten, wenn wir uns weigerten -, so kann man zweifeln, ob solche Handlungen freiwillig oder unfreiwillig sind. Die gleiche Bewandtnis hat es mit den Gütern, die man bei einem Seesturm über Bord wirft. Schlechthin freiwillig tut das niemand, dagegen um sich und die anderen zu retten, tut es jeder, der Vernunft besitzt. Derartige Handlungen sind also gemischter Natur, indessen neigen sie sich mehr auf die Seite des Freiwilligen. Denn im Augenblick ihrer Ausübung sind sie frei gewählte,…"[cxcvii]
und
"Da unfreiwillig ist, was aus Zwang oder Unwissenheit geschieht, so möchte freiwillig sein, dessen Prinzip in dem Handelnden ist und zwar so, daß er auch die einzelnen Umstände der Handlung kennt."[cxcviii]
Das Nicht-freiwillige-Handeln verbindet er mit dem Begriff der Reue:
"Was aus Unwissenheit geschieht, ist zwar nicht alles freiwillig getan, aber für unfreiwillig können doch nur diejenigen Handlungen gelten, denen Schmerz und Reue folgt. Wer etwas aus Unwissenheit getan hat, aber über die Handlung kein Mißfallen empfindet, hat zwar nicht freiwillig in dem gehandelt, was er ja nicht wußte, aber auch nicht unfreiwillig, da er keine Betrübnis darüber fühlt. Wer also das aus Unwissenheit Getane bereut, erscheint als jemand, der unfreiwillig gehandelt hat, wer es aber nicht bereut - dies soll nämlich ein anderes sein -, als jemand, der nicht freiwillig gehandelt hat. Denn da er sich von jenem unterscheidet, so erhält er besser eine besondere Bezeichnung."[cxcix]
Freiwilliger Euthanasie käme in dieser Begrifflichkeit der Stellenwert eines Grenzwerts zu, da Furcht vor Schmerzen und Leid im Sterbensprozeß einen Menschen veranlassen, sich euthanasieren zu lassen. Wäre er nicht in dieser Lage, würde er genauso wie ein Suizidant, der sich in einer eingebildeten - d.h. rational nicht begründbaren - oder tatsächlich aussichtslosen Lage befindet, weiterleben wollen.
Als Grund für freiwillige Euthanasie werden von Singer nur Exempel geliefert, die eine Indikation von Lebensunwert aus der Binnenperspektive aufzeigen. Als Basis seiner Begründungsstruktur fungieren unerträgliche und nichtterminierbare Lebensumstände. Wegen dieser Position wurde Singer kaum angegriffen. Freiwillige Euthanasie wird auch von nichtphilosophischer Seite vertreten, wie z.B. von Jens und Küng. Argumente gegen freiwillige Euthanasie können nur aus einem religiösen Horizont heraus unter Berufung auf zuwiderlaufende Intentionen metaphysischer Entitäten geliefert werden. Bei Wegfallen einer metaphysischen Begründungsbasis kann kein positives Argument für eine Aufrechterhaltung qualvoller und unerträglicher Lebensumstände im Sinne einer absoluten Lebenspflicht vorgebracht werden. Die von Singer angeführten Gründe aus Sicht der klassischen und präferenzutilitaristischen Philosophie sind stichhaltig.
Wie Birnbacher ausführt[cc], reichen die folgenden, starken Gründe des (klassischen) Utilitarismus aus, um ein Tötungsverbot in zentralen Fällen eines intuitiv bestehenden Tötungsverbots zu begründen:
1) Einen anderen töten bedeutet in der Regel, das Leben eines bewußtseinsfähigen Wesens zu verkürzen, das sein Leben nicht dauerhaft als unerträglich empfindet.
2) Der Verlust, den Nahestehende, Abhängige und andere durch den Tod des Getöteten erleiden.
3) Die Angst und Unsicherheit, die eine Tötung (und besonders eine Praxis des Tötens) bei Dritten bewirkt.
4) Jede Ausnahme vom Tötungsverbot, die sich utilitaristisch rechtfertigen läßt, beinhaltet das Risiko, als Freibrief für weitere, unberechtigte Ausnahmen mißverstanden zu werden.
5) Die Auswirkungen von Tötungshandlungen auf das Selbstverständnis indirekt betroffener Individuen.
Birnbacher sieht keinen Grund, welcher einen Übergang vom klassischen zum Präferenzutilitarismus erforderlich macht, um das Tötungsverbot in seinen zentralen Anwendungen utilitaristisch zu begründen. Ein weiterer Einwand, welcher gegen die utilitaristische Argumente gegen das Tötungsverbot geltend gemacht wird, sc. daß durch das Fragen nach Gründen für das Tötungsverbot bereits eine Relativierung dieses Verbots nach sich zieht und seine Geltung unterminiert, wird von Birnbacher als moralstrategisches Argument, aber nicht als ethisches Argument eingestuft. Unter den Bedingungen einer demokratisch-kritischen Öffentlichkeit scheint es weder möglich noch wünschenswert, ein bestehendes Tabu als bloßes Tabu aufrecht zu halten. Von mündigen Menschen müsse man erwarten, daß sie die gesellschaftlichen Moralnormen hinterfragen, daß sie wissen wollen, warum sie gelten und warum sie zu diesen Normen erzogen worden sind. Außerdem sei es fraglich, ob das Zurückgehen auf eine tiefere Begründungsebene die faktisch geltenden Normen immer nur unterminiert.
Jörg Fengler führt als Argument gegen Euthanasie an[cci], daß Leiden zwar nicht wünschenswert ist, aber leidvolle und belastete Zeiten des Lebens zur Stärkung, Läuterung, Entwicklung und Reifung führen. Er ordnet ihnen eine ähnliche Funktion wie den Kinderkrankheiten zu. Der utilitaristischen Position wirft er vor, daß sie in ihren Visionen von dauerhaftem Glück nicht das Unglück als Realität der menschlichen Existenz begreift.
Klaus Dörner[ccii] stellt einen Bezug zwischen der Singerschen Orientierung und der Mehrheitsfähigkeit unseres Wirtschaftssystems her und kritisiert das leistungs- und erfolgsorientierte Modell unserer Gesellschaft. Er fordert, von der Norm der Unverfügbarkeit des Lebens kein Jota abzuweichen, weil jede andere Grenzziehung willkürlich wäre und dadurch eine Lawine ins Rollen gebracht werden würde.
Mitleid wird von beiden - und von vielen anderen Autoren - als Scheinargument zurückgewiesen.
Diese Kritiken verfehlen die Intentionen der Singers völlig und liefern keine hinreichende Argumente gegen Euthanasie.
Bei Fengler ist nicht einsichtig, welche “Läuterung” ein an unerträglichen Schmerzen leidender Moribunder noch erfahren und deshalb das Leben fortsetzen soll und aus dem Argument Dörners spricht in seiner Rigidität die Resignation, welche vor einem schwierigen, ethischen Problem kapituliert und deshalb im status quo verharrt. Diese Kritiken haben ihren Ursprung in der Opposition zur nichtfreiwilligen Euthanasie, müssen jedoch aufgrund ihrer allgemeinen Argumentationsstruktur auch im Kontext mit der freiwilligen Euthanasie gesehen werden.
Für Küng, einem Theologen und Proponenten von Euthanasie, ist es nicht verwunderlich, daß viele Menschen nicht nur vor Schmerz und Leiden Angst haben, “sondern auch vor dem Gefangensein in einem hochtechnisierten medizinischen System, vor der totalen Abhängigkeit und dem Verlust der Kontrolle über das eigene Ich, vor lauter Schmerzmitteln nur noch dösig, schläfrig, nicht mehr denkend, nicht mehr trinkend, nichts mehr erlebend.”[cciii]
Verfahrenstechnisch wird die Last der Verantwortung von Singer auf die Ärzteschaft übertragen. Diese betrachtet jedoch Heilen und nicht Töten als gesellschaftlichen Auftrag.[cciv] Dem Arzt werden aufgrund seiner fachlichen Qualifikationen Entscheidungen über Leben und Tod anderer - fremder - Menschen aufgebürdet. Bei den Versuchen, Euthanasie bzw. assistierten Suizid in den Niederlanden, dem australischen Nordterritorium und Oregon zu legalisieren, wird der Ärzteschaft eine herausragende Stellung sowohl in der Entscheidungsgewalt als auch in der Durchführung der technischen Realisierung eingeräumt.
Ein praktikables Verfahrensmodell wäre m.E. ein gemeinschaftliches Entscheidungsverfahren, welches analog zur kollektiven Reaktion im gezähmten Tod den Willen eines Menschen zum Tod und seine Situation prüft. So könnte eine Art Kommission gebildet werden, in der mehrere Ärzte als medizinische Fachberater[ccv] fungieren, ein Jurist als Vertreter des Staates, um die freie Willensentscheidung des Antragstellers zu garantieren, vielleicht auch ein Philosoph oder Psychotherapeut, um weltanschauliche bzw. psychische Aspekte zu verarbeiten, und Personen aus dem persönlichen Umfeld des Moribunden, die aufgrund ihres Näheverhältnisses in seinem Sinn agieren. Eine Entscheidung über Leben und Tod muß nicht unbedingt nur ausschließlich vom Arzt getroffen werden. Bei Schilderung der Umstände ist auch ein medizinischer Laie durchaus in der Lage festzustellen, ob er unter den betreffenden Umständen dem Leben oder dem Tod den Vorzug gäbe. Durch die Aufteilung der Entscheidung auf mehrere Personen wäre die Möglichkeit des Mißbrauchs auf ein Minimum reduziert und durch die Kollektivität der Entscheidung wäre auch eine leichtere, psychische Bewältigung durch die agierenden Personen gegeben. Durch das Aufteilen der Verantwortung - Entscheidungen müßten aus persönlicher Überzeugung getroffen werden - würden irrationale Gewissenskonflikte vermieden werden. Irrational ist ein Gewissenskonflikt, wenn ein Mitglied dieses Personenkreises in derselben Lage wie der Moribunde aufgrund von rationalen Überlegungen - keine Zukunftsperspektive im Leben - den Tod dem Leben vorziehen würde, jedoch Gewissensnöten ausgesetzt ist, nur weil er für eine andere Person die Entscheidung für den Tod trifft. Durch ein gemeinschaftliches Entscheidungsverfahren könnte u.U. eine allgemeine soziale Akzeptanz erreicht und die “Anrüchigkeit” des Freitods für alle beteiligten und betroffenen Personen zu Fall gebracht werden. Eine gemeinschaftliche Entscheidung hätte wahrscheinlich noch andere existentiell positive Folgen. Aus dem Beispiel Kastenbaums, in welchem die unverheiratete Krankenschwester Suizid beging, geht hervor, daß ihre Betreuer Angst über diesen Freitod empfanden. Ihr Selbstmord wurde zwar verstanden, gebilligt, aber trotzdem als Vertrauensbruch empfunden. Selbstmord wird nicht nur in der Bevölkerung allgemein als moralisch zweifelhaft angesehen. So hat Wittgenstein den Suizid als unsittliche Handlung schlechthin betrachtet, weil sich der Mensch in ihr auf den Status des Triebgegenstandes reduziere.[ccvi] Angehörige eines Suizidanten haben noch heute mit dem Ruf der “Anrüchigkeit” eines Selbstmordes in der Familie zu kämpfen und das Beispiel Kastenbaums läßt den Schluß zu, daß sie auch mit der Bewältigung der Trauerarbeit in einer schwierigeren Situation sind als solche, in deren Familie ein natürlicher Todesfall stattfand. Der Suizid eines terminal Kranken stellt immer einen Akt der Verzweiflung dar, in dem der Moribunde in seiner existentiellen Vereinzelung einsam stirbt. Diese Form des Sterbens, der einsame Tod, welcher zwar im modernen Krankenhaus praktiziert wird, wurde schon bei den Pionieren Amerikas gefürchtet und ist abzulehnen. Die Berichte Kübler-Ross‘ weisen darauf hin, daß der Sterbende das Unerledigte seines Lebens aufarbeiten muß, um sterben zu können. Unerledigtes zurücklassen zu müssen, bedeutet den Sterbeprozeß zu erschweren, was für die Sterbenden in Leid resultiert. Sterbende, die die Möglichkeit haben, in Ordnung zu bringen, was sie quält, lernen nach Kübler-Ross oft zum ersten Mal in ihrem Leben, was erfülltes Leben heißt.[ccvii] Der andere sinnvolle Aspekt einer Sterbebegleitung betrifft die Lebenden. Nach Kübler-Ross können die Lebenden aus dem Prozeß des Sterbens lernen, so zu leben, daß sie keine unerledigten, belastende Dinge in ihrem Leben mitschleppen.[ccviii] Für Kastenbaum besteht in der Sterbebegleitung die Funktion des Trostspendens:
"Through this person‘s experiences and through this person‘s final exit we may undergo a vicarious death - and one that is either reassuring or threatening. By comforting the actual dying person in his or her actual deathbed scene, we are also comforting the potential dying person within ourselves. In a sense, the dying person is a medium through which the vibrant life forces of hope, fear, faith, and doubt reach toward the unknown."[ccix]
Kastenbaum liefert verschiedene Beispiele von fiktiven und tatsächlichen Totenbettszenen, in welchen das Sterben dargestellt wird. Daraus geht hervor, daß die gemeinschaftliche Bewältigung des Sterbeprozesses nicht nur für den Sterbenden, sondern auch für die Hinterbliebenen positive Folgen, wie die Bewältigung der Trauerarbeit, zeitigt.[ccx] Wenn die gemeinsame Bewältigung bereits den Prozeß des natürlichen Sterbens erleichtert, scheint es plausibel, daß eine gemeinsame Bewältigung des Freitodes - was Euthanasie ist -, nicht nur dem Sterbewilligen, sondern auch dem sozialen Umfeld eine effizientere, mentale Verarbeitung verschafft.
Bemerkenswert sind in diesem Kontext die Erfahrungswerte der niederländischen Euthanasiepraxis. Kimsma berichtet[ccxi], daß sich in Familien, welche der Verpflichtung, eine durchgeführte Euthanasie den Behörden zu berichten, nicht nachkamen, sich die Trauerarbeit wesentlich schwieriger gestaltet als in Familien, welche dieser Verpflichtung nachkamen. Kimsma führt dies auf den Öffentlichkeitscharakter der berichteten Fälle zurück, da hier keine Verschleierungsmaßnahmen getroffen werden müssen und die Sorgen in aller Öffentlichkeit diskutiert werden können.
Den affirmativen Singerschen Argumenten einer legalen Euthanasie kann kein stichhaltiges Argument auf ethischer Basis entgegengehalten werden. Die Begründungen für eine freiwillige Euthanasie - unerträgliche und nichtterminierbare Schmerzen bzw. Leiden - können von der utilitaristischen Begründungsbasis losgelöst werden. Gegenargumente können nur aus einem metaphysischen bzw. religiösen Horizont vorgebracht werden.
Die christlichen Argumente gegen die mors voluntaria haben kein Gehalt. So vertritt Hans Küng als Christ und Theologe nach langwierigen Güterabwägungen den Weg der Mitte zwischen einem antireligiösen Libertinismus ohne Verantwortung und einem reaktionären Rigorismus ohne Mitleid.
"Der allbarmherzige Gott,
der dem Menschen Freiheit geschenkt und
Verantwortung für sein Leben zugemutet hat, hat gerade auch dem
sterbenden Menschen die Verantwortung und Gewissensentscheidung für Art und
Zeitpunkt seines Todes überlassen. Eine
Verantwortung, die weder der Staat noch die Kirche, weder ein Theologe noch
ein Arzt dem Menschen abnehmen kann."[ccxii]
Gerade seine Überzeugung, daß der Tod nicht das absolute Ende ist, läßt ihn nicht an einer endlosen Verlängerung des Lebens festhalten. Die Frage nach einem menschenwürdigen Sterben dürfe nicht auf die Frage der aktiven Sterbehilfe reduziert werden, aber sie dürfe auch nicht davon losgekoppelt bleiben, da zu einem menschenwürdigen Sterben auch eine menschenwürdige Verantwortung für das Sterben gehöre.[ccxiii]
Aber auch Gegenargumente aufgrund einer deontologischen Basis sind nicht stichhaltig.
So kann z.E. der kategorische Imperativ - bei aller Opposition Kants gegen den Selbstmord - nicht als Argument gegen freiwillige Euthanasie angeführt werden, wenn unerträgliches, irreduzibles und nichtterminierbares Leiden bei Fehlen einer Lebenspflicht - wie etwa gegen einen Schöpfer - als Euthanasiekriterium herangezogen werden. In der ersten Fassung des kategorischen Imperativs wird das Wollenkönnen der Handlungsmaxime für die Möglichkeit der Realisierung als allgemeines Gesetz postuliert. Die Realisierung von eigenem und fremden Leid zur moralischen Maxime des Handelns zu erheben wäre widersinnig und ausgesprochen absurd; Leiden zum Telos des Lebens zu postulieren, wäre eine inversio ordinis evolutionärer Entwicklung, welche auf das Lustprinzip bzw. auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet ist. Leid und Not als Sinn existentieller Freiheit zu sehen - und nicht als bedauerlicherweise notwendigen und unvermeidlichen Bestandteil menschlichen Seins - wäre ein Hang zu unnatürlicher Pathophilie, welche sich für die biologischen - sowohl onto- als auch phylogenetischen - Überlebensstrategien als kontraproduktiv erweisen würde. Schon die religiösen Lehren weisen auf Lebensstrategien hin, welche die Unbillen des Lebens erleichtern und erträglich machen sollen; für eine philosophische, rationale Begründung kann keine hinreichende Bedingung für eine Leidorientierung gefunden werden. Daß das böswillige Zufügen von Leid - als subjektive Prämisse des Arguments - gegen jegliche ethische Weltsicht verstößt, ist selbstevident. Leidvermeidung, sowohl passiv als auch aktiv, geht auch als objektives Prinzip im kategorischen Imperativ mit dem Sittengesetz konform, weshalb Leidvermeidung nicht nur ein biologisches in der Evolution wurzelndes Verhalten, sondern auch ein ethisches Kriterium darstellt.
Der Singersche Interessensbegriff hat sich als defizientes, moralisches Kriterium erwiesen, als existentielles Qualitätskriterium zur Beurteilung der Situation des Leidenden ist er jedoch von herausragender Bedeutung. Niemand kann besser beurteilen als der Betroffene, ob er sich in einer unerträglichen Lage befindet. Seine Forderung nach dem Tod, d.h. sein Ansinnen an die Gemeinschaft, ihm beim Sterben “zur Hand zu gehen”, liegt in seinem Interesse und muß deshalb aus dem moralischen Kontext herausgelöst auch nach existentiellen Kriterien evaluiert werden. Ethische Aspekte kommen erst durch die Handlung oder das Sein eines anderen zum Zug. Das gesellschaftliche Verharren im Nichtstun nach dem Prinzip, “der Natur ihren Lauf zu lassen”[ccxiv], ist weder ein Kriterium für eine moralische Gesinnung, noch für eine ethisch fundierte Handlung. Das passive Zusehen beim Fortgang des Leidens eines terminal Kranken, das tatlose Beobachten der Qualen eines anderen, wirft eher die Frage auf, ob es nicht eine ethische Pflicht ist, dem Leidenden zum Tod zu verhelfen.
Angesichts der technologischen Möglichkeiten der modernen Medizin, kann sich die Ärzteschaft nicht der Notwendigkeit entziehen, u.U. eine Entscheidung treffen zu müssen, die den Tod eines Patienten bedeutet, da die Verlängerung des Lebens mit den technologischen zur Verfügung stehenden Mitteln bei einem nichttherapierbaren Leiden nur Qualen bedeutet, wie z.B. die Reanimation einer bereits klinisch toten, 86jährigen Patientin, nur damit sie noch zwölf Stunden länger leben kann. Solche Handlungsweisen drücken weit mehr Menschenverachtung aus, als die Position Singers, sich über das Tötungsverbot hinwegzusetzen und den Zeitpunkt des Todes volitional zu bestimmen. Die Argumente Singers für Euthanasie scheitern nicht am Verstoß gegen das Tötungsverbot, sondern am Interessenskriterium, welches eine defiziente Beurteilungsgrundlage bietet.
Das einzige, ausschließlich ethisch akzeptable Kriterium, welches für Euthanasie spricht, ist nichtterminierbares, irreduzibles und unerträgliches Leid[ccxv], wobei die temporale Koinzidenz aller drei Komponenten die notwendige Bedingung darstellt. Nur unter diesen Voraussetzungen wird das an und für sich ethisch richtige Tötungsverbot seiner Funktion enthoben, da sich im Lebenskontext eines nichtterminierbaren Leidens das rigorose Tötungstabu als moralisch inverse Norm erweist. Bei Akzeptanz dieser existentiellen Voraussetzung als Euthanasiekriterium fällt die Defizienz eines rein formal aufgebauten Interessensarguments aufgrund klarer definitorischer Bestimmung weg.
Für eine Legalisierung von Euthanasie spricht, daß der Moribunde vielleicht in einer aussichtslosen Lage nicht in sozialer Isolation die einsame Entscheidung des eigenen Todes treffen muß und daß das Schockerlebnis des Verlusts eines geliebten Menschen von den Hinterbliebenen leichter verarbeitet werden kann. Das untätige Zusehen beim qualvollen Tod eines geliebten Menschen ist auch für die Lebenden Leid. Die freie, autonome Gesinnung eines Philosophen in bezug auf den Tod und die damit verbundene Freiheit einer auf Vernunft begründeten Entscheidung ist diesbezüglich wegweisend.
Die Freiheit, ja Verpflichtung den Tod zu suchen, die aus der japanischen Mentalität des Samurai-Kodex hervorgeht und die den Tod auch sucht, auch wenn kein Zweck gegeben ist, wirkt auf das europäische Denken befremdlich. Tapferkeit bis in den Tod ist eine kriegerische bzw. soldatische Tugend, die auch in der europäischen Tradition verwurzelt ist; ebenso der Suizid zur Herstellung der Offiziersehre, um einen Verstoß gegen den Offizierskodex zu sühnen. Der Selbstmord aber, um der Schande einer Gefangennahme per se zu entgehen oder als Treuebeweis beim Tod des Herrn entspringt nur dem japanischen Denken, welches einen Bezug zwischen dem Wesen des Harakiri und dem Prinzip des makoto herstellt. Diese Form des Suizids ist für den europäischen Geist ohne Sinn. Der Freitod des europäischen Philosophen wird durch existentielle Zwänge verursacht, welchen er sich zu entziehen sucht. Seine Freisinnigkeit gegenüber dem Tod ist eine andere als die japanische Einstellung und ist auf die europäische Tradition des Philosophierens zurückzuführen. Dem Tod wird in der europäischen Philosophie eine eminente Bedeutung zugewiesen. Bei einigen Philosophen, wie Franz Rosenzweig, Schopenhauer oder Oswald Spengler, wird dem Tod ein besonderer Stellenwert zugewiesen. Die freisinnige Einstellung gegenüber dem Tod wurde nur in der von der christlichen Theologie geprägten Periode des Mittelalters apodiktisch abgelehnt. Die antike Toleranz wurde in der Neuzeit wieder aufgenommen, aber auch Philosophen, welche den Suizid ablehnten, wie Schopenhauer oder Kant, vertraten eine nachsichtige Haltung gegen Suizidanten, während im allgemeinen Verständnis der Selbstmord bis in unser Jahrhundert verteufelt wurden. Die Studien Ariès stellen anschaulich dar, wie der Umgang mit dem Tod verwilderte. Dies kann nicht von der Entwicklung in der philosophischen Todesrezeption gesagt werden. Die Philosophen des 20. Jahrhunderts zeigen die gleiche Freisinnigkeit gegenüber dem Tod wie die antiken. Während die volitionale, absolute Freiheit im “Freitod” sich als Schein bzw. auf Wahlfreiheit reduziert erweist, da immer - auch bei einem Philosophen - existentielle Nöte den impetus zum mors “voluntaria” als Handlungsnotwendigkeit virulent werden lassen, stellt der Akt des Entschlusses für den Suizid und seine Durchführung eine Überwindung der biologischen Überlebensmechanismen dar, die durchaus als Form von Freiheit bezeichnet werden kann.[ccxvi]
Kamlah bezeichnet in seinen Reflexionen zum Tod die ars vitae, die mit Hilfe philosophischer Besinnung gelingende Kunst des Lebens, nicht als Handeln-Können, sondern als Loslassen-Können.[ccxvii] Kamlah beging Selbstmord.
Jaspers war bereit, mit seiner jüdischen Frau in der nationalsozialistischen Zeit in den Tod zu gehen.[ccxviii]
Philosophische Modi der Todesbewältigung waren aber auch Strategien, welche eine Form des Weiterlebens als Aufgehen in einem Weltganzen postulierten, wenn auch die persönliche Unsterblichkeit bezweifelt wurde.
Verschiedene Beispiele weisen darauf hin, daß der Tod als Bedürfnis empfunden wird. So traf Pater F. de Dainville, als er mit Schläuchen und Röhren gespickt auf einer Intensivstation starb, die Aussage, daß er um seinen Tod gebracht würde.[ccxix] Der Kamikaze-Überlebende Watanabe Sei war tief gekränkt, weil er zwei Tage vor seinem Feindflug die Nachricht erhielt, daß der Krieg beendet war und er auf diese Weise um seinen Tod gebracht wurde. Die 93jährige Großtante Brillat-Savarins bezeichnete den Tod als ein Bedürfnis wie den Schlaf, trank noch ein Glas besten Weins und verschied eine halbe Stunde später.[ccxx] Aus diesen Beispielen ist ersichtlich, daß der Tod als adäquate Art und Weise des Sterbens auch ohne existentielle Not ein Bedürfnis ist, wenn er erwartet und akzeptiert worden ist.
In Hinblick auf diese Fakten scheint es fragwürdig, jemandem bei einem qualvollen Sterbeprozeß den Wunsch der mors voluntaria qua Euthanasie zu versagen, da der Tod sicher und unausweichlich ist.
Stenzel interpretiert den Singerschen Begriff der unfreiwilligen Euthanasie als Rechtfertigung des Tötens einer Person in gewissen Grenzsituationen, auch wenn sie ihre eigene Tötung ablehnen.[ccxxi]
"Der Gipfel des
ethisch Fragwürdigen dürfte in jenem Satz formuliert sein, den Singer in
Zusammenhang mit der ‘unfreiwilligen’ Euthanasie aufstellt: Wenn eine Person
nicht erkennt, ‘welche Agonie ihr in der Zukunft bevorsteht und daß sie diese,
falls sie jetzt nicht getötet wird, bis zum bitteren Ende wird durchstehen müssen‘
dann soll diese Person gegen ihren
Willen getötet werden (P.E., S.200). Singer denkt an Fälle, in denen zum
Beispiel ein Mensch, ohne es zu wissen, ‘in die Hände von mörderischen Sadisten
gefallen ist, die sie zu Tode foltern werden’ (ebd.). Aber was sollte das für
ein ethisches Gesetz sein, das
uns erlaubt, eine solche Person sozusagen prophylaktisch zu töten? Hier wird
ein - für sich schon unplausibler - Satz zur Forderung erhoben, zu einer
ethischen Regel, zu einem Prinzip womöglich: die einen Menschen wollen andere
vor Leiden bewahren und bringen sie kurzerhand um? und nennen dieses Töten
auch noch ‘moralisches’ Handeln? - Nicht nur hier, öfter unterläuft Singer der
Fehler, ein sehr spezielles Beispiel zu generalisieren, was dann zu Unsinnigkeiten
führt, die er allerdings geflissentlich verschweigt."[ccxxii]
Diese Interpretation trifft nicht die Singersche Position. Singer konzediert, daß genuine Fälle von unfreiwilliger Euthanasie in praxi kaum vorstellbar und sehr selten aufzutreten scheinen.[ccxxiii] In der Diskussion des Problems[ccxxiv] führt er als Argument gegen unfreiwillige Euthanasie an, daß es kaum einen besseren Beweis für den Wert eines Lebens - aus der Binnenperspektive - gäbe als den Wunsch weiterzuleben.
Die Anführung der unfreiwilligen Euthanasie ist also nur unter dem Gesichtspunkt der vollständigen Komplementarität einer theoretischen Erörterung des Problems zu betrachten, wozu Singer selbst unter Bezug auf die Haresche Differenzierung einer kritischen und intuitiven Ebene der moralischen Begründungsstrukturen hinweist.[ccxxv]
Die Zielgruppe für nichtfreiwilligen Euthanasie sind nach Singer solche Menschen, welche das Personalitätskriterium nicht erfüllen. Solche Menschen haben kein Selbstbewußtsein und ihr Leben ist nur nach den Kriterien der Lust- und Schmerzempfindung zu beurteilen. Es sind deshalb aus präferenzutilitaristischer Sicht keine Gründe gegen das Töten solcher Menschen anzuführen, außer solche, welche außerhalb der Betroffenen liegen, wie z.B. Lust und Schmerz der Angehörigen eines Komatösen oder der Eltern eines behinderten Kindes. Singer überträgt deshalb die Entscheidungspriorität diesem Personenkreis. Er verknüpft aber die Behandlung solcher Menschen auch mit der Kostenfrage[ccxxvi], wodurch eine ökonomische Komponente in die Argumentation einfließt, die stark an Jost und Binding erinnert und einen instrumentalen Charakter in die zwischenmenschlichen Beziehungen bringt. Humanität kann deshalb von ihm nicht als ausschließliches Begründungsmotiv für Euthanasie vorgebracht werden, wenn sie auch das primäre Kriterium für Euthanasie darstellt.
Durch die Verknüpfung ökonomischer Aspekte mit Euthanasie wurde ein Element in den Diskurs gebracht, der Behinderte und chronisch Kranke veranlaßte, ihr Recht auf Leben hinterfragt zu sehen.
Aus den Ausführungen Thomas Malenkes[ccxxvii], welcher an Mukoviszidose leidet und deshalb von einer konsequent durchgeführten, lebenslangen Dauerbehandlung in Form von regelmäßiger Einnahme von Enzympräperaten abhängig ist, geht die Angst des Kranken hervor, für sein Sosein aus der Gesellschaft ausgegliedert zu werden. Für ihn ist die Abtreibungspraxis der an Mukoviszidose erkrankten Föten “…eine allgemein sanktionierte Methode zur vorsorglichen Tötung lebensunwerten Lebens…”. Indirekt werde durch diese Praxis auf diese Weise den lebenden Mukoviszidose-Patienten das grundgesetzlich garantierte Recht auf Leben abgesprochen. Er stellt einen Bezug zu den medizinischen Kosten für die Gesellschaft her und wirft die Frage auf, welchen Menschengruppen morgen von der Wissenschaft bescheinigt würde, mit einem auszurottenden Makel behaftet zu sein. In seinem Engagement für die in Deutschland bundesweite CF-Selbsthilfe e.V. endet sein Appell als “…Forderung nach einer verstärkten Orientierung der Anwendung von Forschungsergebnissen am Wohle der jetzt lebenden Patienten…Erkenntnisse sollten genutzt werden, um Betroffenen zu helfen, nicht um sie zu verhindern”.
Aus dieser Argumentation eines Kranken, welcher nach eigenen Angaben seine Probleme recht gut in den Griff bekommen hat und sich in seiner Existenz, wenn auch mit verkürzter Lebensdauer, anscheinend recht gut verwirklichen kann, geht hervor, daß er selbst seine Krankheit als Makel empfindet, d.h. seine Einstellung ist - vielleicht durch die verminderte Konkurrenzfähigkeit in einer marktwirtschaftlich orientierten Leistungsgesellschaft - negativ besetzt. Die logische Konsequenz seiner Forderung wäre das endlose Gebären Mukoviszidose- Leidender, nur damit sich die jetzt lebenden Kranken nicht ausgestoßen fühlen. Die logische Fortsetzung dieses Arguments würde in der Aussage münden: Kranksein ist gut.[ccxxviii] Da Krankheit und Leid nicht als Télos des menschlichen Lebens definiert werden können, ist diese Form der Logik abzulehnen. Die Struktur dieses Arguments würde darauf hinauslaufen, Krankheit generell ad infinitum zuzulassen. Auch die dzt. praktizierte und allgemein akzeptierte Form der passiven Euthanasie dürfte nicht durchgeführt werden. Singer bezeichnet die bedingungslose Verlängerung des Lebens ohne Berücksichtigung der Hoffnungslosigkeit und Schmerzhaftigkeit der Zukunftsperspektive im Kontext mit Früheuthanasie als “…surely to cruel for any humane person to support”.[ccxxix]
Stenzel schlägt in seiner Diskussion der Singerschen Lust- und Leidlehre folgende “Therapie” vor: “Wer dem Schmerz nicht krampfhaft wehrt, wer sich auf ihn einläßt, der leidet weniger darunter.”[ccxxx] - So kann nur jemand argumentieren, der noch nie in seinem Leben unerträglichen Schmerzen ausgeliefert war.
Generell wird argumentiert, daß Leid ein Bestandteil menschlicher Existenz ist.
So Roland Wittmann: “Geht man von der Vorstellung einer fundamentalen Gebrochenheit und Defizienz der menschlichen Existenz aus, dann gehört das Leiden zu conditio humana.”[ccxxxi]
Leidvolle und belastete Zeiten des Lebens werden als Notwendigkeit und Helfer der Entwicklung bezeichnet.[ccxxxii]
Dörner sieht in der leidensfreien Gesellschaft eine verführerische Version, welche mit gewachsener technischer Machbarkeit Auftrieb bekommen hat und in welcher Leiden grundsätzlich (fälschlicherweise) vom Menschen abgetrennt werden könne.[ccxxxiii]
Elisabeth Beck-Gernsheim zitiert Novalis mit “Wer den Schmerz flieht, will nicht mehr lieben.” und Nietzsche mit “Und was die Krankheit angehen: Würden wir nicht fast zu fragen versucht sein, ob sie uns überhaupt entbehrlich ist? Erst der Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes.”[ccxxxiv]
Für Jantzen erfordert sinnvolles Sein “nicht Entsorgung des Leidens, sondern Teilnahme am Leiden, damit die Wünsche und Träume der Leidenden nicht der menschlichen Realität geopfert werden. … Die Auseinandersetzung mit der Welt, wie sie ist, muß zum Leiden führen … Je mehr sich Menschen abhängig machen von der erwarteten Abschaffung des Leidens, desto geringer wird ihr Kraft, sich ihm tatsächlich zu stellen, und um so weniger Vernunft, Humanität und Glückseligkeit können sie realisieren.”[ccxxxv]
Den Proponenten einer leidorientieren, existentiellen Lebensausrichtung entgeht, daß Leid in seiner Unerträglichkeit Existenz nicht nur zur Reife bringen, sondern auch zerbrechen kann.
Fredi Saal, ein Behinderter, schreibt in seinen Reflexionen über Mitleid und Aussonderung, daß Leid eng mit dem Schicksal des Humanen verknüpft sei.
"Nur an Widerständen läßt sich reifen. Dies bedeutet keine Glorifizierung des Leidens. Mit Recht sucht ihm jeder zu entkommen. Doch jeder erfährt auch, daß dies nicht möglich ist. Erst im nachhinein sehen wir in einer Leiderfahrung oft einen wichtigen Markstein in unserem Leben."
Aus diesen Worten eines direkt Betroffenen spricht die Erfahrung eines Menschen, der sich Leid nicht in einer theoretisierenden Reflexion genähert hat, sondern der gelitten und erfolgreich alle damit verbunden Schwierigkeiten bewältigt hat.
Die Opponenten von Euthanasie erwägen nicht im entferntesten, daß Leid unerträglich sein und der Tod der einzige Ausweg sein könnte. Sie betrachten Mitleid immer als vorgeschobenen Vorwand, um Soziallasten loswerden zu können.[ccxxxvi] Offensichtlich ist aber bei den heutigen Euthanasiefällen genuines Mitleid - d.h. Mitleiden - der Impetus des Handelns.
Bei einer allgemeinen Akzeptanz von unerträglichem, irreduziblem und nichtterminierbarem Leid als Kriterium für freiwillige Euthanasie muß aber bei logischer Konsistenz das gleiche Argument für nichtfreiwillige Euthanasie Gültigkeit besitzen, und zwar auch für Früheuthanasie, wenn das zukünftige Leben des Säuglings dieses Kriterium aufweist. Die durch die Argumentationsstruktur der Singerschen Ethik introduzierte Diskussion um den menschlichen Lebenswert wird dadurch obsolet. Durch die Ausschließlichkeit des Leidkriteriums als hinreichende Bedingung für Euthanasie wird eine inhaltliche Definition geliefert, welche nicht das Sosein eines Menschen als Lebenswert in qualitativer Hinsicht bestimmt oder wodurch eine bestimmte Qualität postuliert werden könnte. Es kann nicht die Frage auftauchen, was das Interesse des Betroffenen sein könnte oder worin es liegen könnte. Fremdes Interesse kann nicht zum Zug kommen oder als Kriterium euthanatischer Erwägungen dienen. Leidvermeidung ist ein ausgezeichnetes Kriterium, da es ein universales Streben jeglichen biologischen, sowohl bewußten als auch selbstbewußten Lebens ist.
Ein Gegner von Euthanasie könnte bei diesem Kriterium seine Opposition nur in der Form aufrecht halten, daß der Leidende um des Leidens willen leiden muß, d.h. Leiden zum Selbstzweck erheben.
Der Singersche Begriff des Lebenswertes bzw. Lebensunwertes basiert auf der Binnenperspektive:
"A life of physical
suffering, unredeemed by any form of pleasure or by a minimal level of
self-consciousness, is not worth living."[ccxxxvii]
Im Appendix der zweiten Ausgabe explizierte er seine Intentionen in bezug auf Früheuthanasie:
"If the parents and
their medical adviser are in agreement that the infant‘s life will be so
miserable or so devoid of minimal satisfactions that it would be inhumane or
futile to prolong life, then they should be allowed to ensure that death comes
about speedily and without suffering."[ccxxxviii]
D.h. bei Singer liegt die Emphase auf Leidvermeidung. Aus seinen Ausführungen folgt eindeutig, daß die Festlegung eines Lebenswertes aus der Fremdperspektive als Sosein etwa im Sinne der Nationalsozialisten moralisch nicht vertretbar ist. So führt er das Prinzip der gleichwertigen Interessensabwägung als Kriterium zur Falsifizierbarkeit rassistischer Differenzierungen i.S. nationalsozialistischer Lebensunwertbegriffen an.[ccxxxix]
Beim Vergleich der verschiedenen Argumentationen drängt sich die Frage auf, wer sich mehr von einem Humantitätsideal leiten läßt: die Gegner von Euthanasie, welche vom Moribunden das Ertragen eines unerträglichen Loses fordern, oder Singer, welcher sich über das Tötungsverbot hinwegsetzt und einem in aussichtsloser Lage Befindlichen die ethische Begründung für eine Flucht in den Tod liefert.
Die Crux der Singerschen Argumentation liegt im Personalitätsargument. Die logische Konsistenz des Arguments führt zu einer Exklusion einzelner Menschen aus der Gemeinschaft des Homo sapiens als selbstbewußte Wesen. Diese Konsistenz führt allerdings Singer als Konsequenz logischen Argumentierens auch zum Ausschluß gesunder Neugeborener. Seine Restriktion des Infantizids nur auf die Fälle, in denen das Leben des Säuglings miserabel verlaufen würde, ist willkürlich und entspringt einer persönlichen, aber seiner philosophischen Begründungsstruktur nicht standhaltenden Einstellung. Auf die Konsequenzen dieser nichtfreiwilligen Euthanasieform wurde bereits an anderer Stelle verwiesen. In der Rezeption der Singerschen Ethik wurde sein Begriff des Lebenswertes häufig in Richtung Fremdperspektive interpretiert und Singer damit die Einstellung unterschoben, Neugeborene nach Kriterien des sozialen Wertes selektieren zu wollen. Die Opponenten von Euthanasie versuchen die Problematik eines negativen Lebenswerts in einer unerträglichen Situation generell als Problem der menschlichen Würde darzustellen. In der Negation der existentiellen Tatsachen - d.h. der unerträglichen Situation - wird auf einer theoretischen Ebene diskutiert, ohne die Realität in ihrer Faktizität zu berücksichtigen. Daß einem Mensch in seiner existentiellen Geworfenheit u.U. eine untragbare Bürde aufgebürdet ist, wird ganz einfach nicht zur Kenntnis genommen und die Unzulässigkeit eines Verstosses gegen das Tötungsverbot stereotyp mit Hinweis auf die Würde des Menschen zurückgewiesen:
"Menschen haben
keinen Wert, sondern eine Würde."[ccxl]
"Die Würde des Menschen als Wertträger ist jene Eigenschaft des Menschen, aufgrund derer er
aus jeder abwägenden Berechnung ausscheidet, weil er selbst Subjekt und Maßstab
der Berechnung ist."[ccxli]
"Die
Unterscheidung zwischen Wert und Würde läßt sich näher bestimmen in Verbot der
Instrumentalisierung des Menschen;…"[ccxlii]
"Die in der
Diskussion eingeführten Begriffe wie ‘Lebensqualität‘ und ‘freiwillige,
wohltätige Euthanasie‘ werfen mehr die Frage nach dem Menschenrecht auf Leben
und die Frage nach der Garantie der Menschenwürde auf, als daß sie diese
Fragen beantworten."[ccxliii]
"Was aus
unserem Wörterbuch wirklich zu streichen ist, ist die Frage, was ‘lebenswert‘
und ‘lebensunwert’ ist."[ccxliv]
"Jedoch:
Menschen haben grundsätzlich Würde, nur Sachen sprechen wir Wert zu - eine
Kategorie, die ihre Herkunft aus der Ökonomie nicht verleugnen kann -, zumal
nur Werte und damit nur Sachen positiv oder negativ sein können. Nur unter dem
grundsätzlichen Schutz der Würde des Menschen ist es unschädlich, Menschen
beispielsweise unter dem ausgestanzten Leistungsaspekt auch einen Wert
beizumessen."[ccxlv]
"Jedem einzelnen Menschen kommt Würde zu. Er wird nicht nach «Wert» bemessen, denn sonst könnte er unter Umständen über Wertungen antastbar sein. Der Begriff der Würde soll zum Ausdruck bringen, daß jeder Mensch außerhalb des Systems von Bewertungen zu respektieren ist. Ihm kommt Würde zu, auch wenn er wie eine Gestalt aus einem Beckettschen Schauspiel verstümmelt in der Mülltonne vegetiert.
Dieser Gedanke der Würde
ist ein großartiger Gedanke, obwohl man immer mehr beobachten kann, daß er im
alltäglichen Sprachgebrauch in sein Gegenteil verkehrt wird. So kann man hören,
daß das Eingekerkertsein in eine Krankheit, daß ein bestimmter qualvoller
Sterbeprozeß nicht menschenwürdig sei
und daß solch einem Leiden und Sterben ein Ende zu bereiten sei. Der
Würdebegriff, der grundsätzlich ein Schutzbegriff ist, wird häufig auch als
Handlungsaufforderung verstanden in dem Sinne, daß einem Menschen aus schwierigen
Situationen geholfen werden soll. Dieser handlungsauffordernde Charakter im
umgangssprachlichen Gebrauch des Würdebegriffs läuft dem Schutzaspekt des
Würdebegriffs zuwider, wenn die Handlungsaufforderung bei «menschenunwürdigen»
Situationen so aussieht, als ob die Tötung des betreffenden Menschen etwas die
Würde Erhaltendes sei."[ccxlvi]
Birnbacher hat auf die Problematik hingewiesen, welche eine Tabuisierung von Menschenwürde mit sich bringt:
"»Menschenwürde«, »Achtung vor der menschlichen Würde« - das sind Begriffe, deren Pathos nicht von ungefähr in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer semantischen Bestimmtheit und Eindeutigkeit steht. Als absolute Grenzen des Zumutbaren nehmen diese Begriffe in unserer säkularisierten Kultur Funktionen ehemals religiös verankerter Tabuierungen wahr. Lückenlose Präzision jedoch, so scheint es, ist mit dem Wesen eines Tabus, und sei es auch eines so aufgeklärten, >modernen< wie dem der Menschenwürde, kaum vereinbar. Es liegt, wie Leszek Kolakowski jüngst hervorgehoben hat (Kolakowski 1986, S. 12), etwas zutiefst Paradoxes darin, Tabus rational begründen zu wollen. Wesentlich für ein Tabu ist seine Absolutheit und Sakrosanktheit, und die scheint durch >Vernünfteln< - durch Differenzierung, Präzisierung, Interpretation - eher Schaden zu nehmen."[ccxlvii]
Der kategorische Imperativ Kants wird in diesem Kontext immer als Argument bemüht. Aus der Formulierung des Imperativs ist jedoch der Bezug nicht ersichtlich.
"Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde."[ccxlviii]
Kant betont die Übereinstimmung von Subjektivität in der Allgemeingültigkeit:
"…, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte."[ccxlix]
In der Humanitasformel wird der Imperativ um den Menschen zentriert:
"Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest."[ccl]
Dem Selbstzweck des Menschen wird Priorität zugewiesen:
"Der Grund dieses Prinzips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst."[ccli]
Kant definiert Mittel als relativen Wert[cclii] und ordnet diesem Sachen und vernunftlosen Wesen zu:
"…: der Mensch, und
überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert
als Zweck an sich selbst, nicht bloß
als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen,…"[ccliii]
In Konnex zu einer Explikation des Philosophiebegriffs wird Würde als absoluter Wert definiert. Philosophie hat allein inneren Wert und konstituiert Wert für alle anderen Erkenntnisse.[ccliv] Die Eigenschaft der Personenhaftigkeit hat bei Kant nicht den Stellenwert des Menschseins.
Der Mensch ist “eine Person, die Pflichten auf sich hat, die ihm seine eigene Vernunft auferlegt,…”[cclv]
Die “Geringfähigkeit als Tiermensch” kann dem Menschen in seinem “Bewußtsein seiner Würde als Vernunftmensch nicht Abbruch tun, und er soll die moralische Selbstschätzung in Betracht der letzteren nicht verleugnen, d.i. er soll sich um seinen Zweck, der an sich selbst Pflicht ist, nicht kriechend, nicht knechtisch (animo servili), gleich als sich um Gunst bewerbend, bewerben, nicht seine Würde verleugnen, sondern immer mit dem Bewußtsein der Erhabenheit seiner moralischen Anlage (welches im Begriff der Tugend schon enthalten ist); und diese Selbstschätzung ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.”[cclvi]
"Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde." Was einen Preis hat, ist ersetzbar, “was dagegen über allen Preis erhaben ist, … , das hat eine Würde."[cclvii]
"Nun ist Moralität
die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst
sein kann;… Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben
fähig ist, dasjenige, was allein
Würde hat."[cclviii]
"…; denn ihr Wert
besteht nicht in den Wirkungen, die daraus entspringen, im Vorteil und Nutzen,
den sie schaffen, sondern in den Gesinnungen, d.i. den Maximen des Willens, die
sich auf diese Art in Handlungen zu offenbaren bereit sind, obgleich auch der
Erfolg sie nicht begünstigte."[cclix]
Aus diesen Zitaten geht hervor, daß die Berufung auf Kant in der kontemporären Diskussion um Wert oder Würde des Menschen ein argumentum vitiosum darstellt, da Moralität als conditio sine qua non individueller Würde ein denkfähiges Individuum voraussetzt. Geistig schwer Behinderte können den strengen, moralischen Ansprüche Kants genausowenig Genüge tun, wie senile oder komatöse Personen. Versuche, einen speziezistischen, absoluten Wert als Würde nachzuweisen, halten deshalb einer Verifizierungsanalyse nicht stand. Das Heranziehen des Kantschen Würdebegriffs, um einen speziezistischen Sonderstatus des Menschen zu rechtfertigen, scheitert schon an der Kantschen Formulierung des “vernünftigen Wesens”.[cclx] Derartige Argumentationsmethoden stellen eine Verzerrung des ursprünglichen Denken Kants dar, welches die essentia des Würdebegriffs verflachen läßt und banalisiert.
Der Verlust der Menschenwürde in unserer Zeit läßt sich als Verlust des Selbstwertgefühls definieren. Psychothanatologische Untersuchungen zur Angst vor Tod und Sterben zeigen u.a. eine Angst vor dem Verlust der persönlichen Würde, der sich aus der Pflegesituation im Krankenhaus ergeben kann.[cclxi] Eine Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls ergibt sich letztlich für Sterbende aus dem Verlust an Autonomie und Selbstbestimmung. Wittkowski betrachtet die Stärkung des Selbstwertgefühl als hervorragendes psycho-soziales Bedürfnis Sterbender, da damit ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Respektierung der persönlichen Würde und Werthaftigkeit besteht. [cclxii] Für ein Konzept des Sterbebeistands, d.h. Sterbebegleitung, hat die Linderung von Schmerzen herausragende Bedeutung, weil Schmerzfreiheit eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß der Sterbende seine letzten Wochen und Tage in Würde und - den Umständen entsprechend - in freier Selbstbestimmung verbringt.[cclxiii]
Aus den Ausführungen Fredi Saals läßt sich ein Verlust des Selbstwertgefühls und damit der Verlust der persönlichen Würde im Konnex einer Zuwendung von Mitleid einem Behinderten gegenüber herauslesen.
"Denn Mitleid
sondert meistens aus und zielt meistens am Menschen vorbei."[cclxiv]
"Mitleid schafft Distanz."[cclxv]
"Wer Mitleid
verdient, steht nicht mit mir auf der gleichen Stufe."[cclxvi]
Saal entwickelt deshalb ein ausgeprägtes Identitätsbewußtsein:
"Als ‘so geborener’
Behinderter kann ich gar nicht anders sein als behindert. Ich bin so ‘richtig‘
in meiner Behinderung. Das hat nichts mit einer Leidensverliebtheit zu tun,
sondern nur mit unverwechselbarer Identität."[cclxvii]
Für Jean Améry erhebt sich der Mensch nach seinem échec - der Irreversibilität des totalen existentiellen Scheiterns - im Freitod in nomine seines Menschentums und reißt den Tod an sich heran. Auf diese Weise stehen Humanität und Dignität des Menschen dem échec entgegen.[cclxviii]
Bei Leidvermeidung als ausschließliches Euthanasiekriterium kann Menschenwürde weder gegen freiwillige, noch gegen nichtfreiwillige Euthanasie als kontraindikatives Argument vorgeschoben werden. Nichtterminierbares Leid als teleologischer Zweck ist sinn–los. Sinn ergibt sich erst aus einem Kampf mit bewältigungspotentieller Strategie gegen Leid. Der Singerschen Kritik an der derzeit geübten Praxis, lebensunfähige Neugeborene aus Gründen einer Heiligkeit des Lebens unter Qualen sterben zu lassen, obwohl kranke und verletzte Tiere getötet werden, wenn sie Schmerzen haben[cclxix], kann kein stichhaltiges Argument entgegengehalten werden.
Seneca zeichnet das Töten schwächlicher und mißgestalteter Kinder als Handlungen der Vernunft und spricht sich gegen das Töten aus emotionalen Gründen aus.
"…; portentosos fetus
exstinguimus, liberos quoque, si debiles monstrosique edite sunt, mergimus; nec
ira sed ratio est a sanis inutilia secernere."[cclxx]
Nichtterminierbares, irreduzibles und unerträgliches Leid kann nicht als relevantes Euthanasiekriterium bei Menschen in einem irreversiblen Koma herangezogen werden, da aus medizinischer Sicht ein lediglich vegetativer Zustand vorliegt und Schmerzen daher nicht bewußt empfunden werden können. Die Aufrechterhaltung rein physiologischer Funktionen mit technologischen Mitteln bis zum nicht länger retardierbaren biologischen Tod des Körpers ist jedoch aus dem existenzialen Sinnhorizont heraus abzulehnen, da dem Menschen in diesem Sosein sein Wesen verlorengegangen ist.
Singer argumentiert, daß die Möglichkeiten, welche skrupellose Regierungen durch praktizierte, aktive Euthanasie erhalten würden, zwar nicht vernachlässigt, aber auch nicht übertrieben werden dürften.[cclxxi] In der Geschichte gäbe es kein Beispiel, daß eine tolerante Haltung gegenüber dem Töten einer bestimmten Kategorie von Menschen zu einem allgemeinen Verlust der Tötungshemmungen geführt habe. Bei einer Abwägung des begrenzten Risikos einer legalen Freigabe aktiver Euthanasie gegen den definitiven, nicht abstrakten Schaden derjeniger, deren Misere durch die Axiomatik einer traditionellen Ethik unnötig verlängert wird, spricht sich Singer für eine bessere (sounder) Ethik aus, welche zwar in ihrer definitorisch Bestimmung nicht so exakt ist, aber auf lange Sicht eine sicherere Begründungsbasis gegen nicht zu rechtfertigendes Töten biete.[cclxxii] Singer sieht diese Basis natürlich im Präferenzutilitarismus.
Es wäre jedoch unzulässig, den großangelegten Genozid als Abgleiten auf die schiefe Bahn im Dritten Reich zu negieren. Hans-Walter Schmuhl hat auf die Schlüsselstelle der Ärzteschaft in dieser Zeit und die historische Entwicklung hingewiesen.[cclxxiii] Er kommt zu dem Schluß, daß die neue Lebens(un)wert-Diskussion zwar nicht an die alte anschließt, aber die Gefahr besteht, sich in eine ähnliche Bahn zu entwickeln wie in den zwanziger und dreißiger Jahren.
Die von Binding und Hoche entfachte Diskussion war sehr wohl von sozialökonomischen und eugenischen Gesichtspunkten geprägt, in der kontemporären Diskussion sind solche Kriterien bisher noch nie aufgetaucht. Bei den Legalisierungsversuchen im Oregon Death with Dignity Act[cclxxiv] und im Northern Territory of Australia Rights of the Terminally Ill Act[cclxxv] wurden Bestimmungen geschaffen, welche finanzielle Erwägungen zur Durchführung als Motivation verhindern. Die Entwicklung der nationalsozialistischen “Euthanasie” war nur in einer Diktatur und auch da nur mit absoluter Geheimhaltung möglich. Nichteinhalten der Schweigeverpflichtung hatte schwerwiegendste Strafsanktionen zur Folge.[cclxxvi]
Legalisierung von Euthanasie ist in einer demokratischen Regierungsform offensichtlich politisch nicht oder nur sehr schwer umzusetzen, obwohl derartige Bestrebungen auf den Beginn unseres Jahrhunderts zurückgehen.
Der erste Versuch, Euthanasie zu legalisieren, wurde in den Vereinigten Staaten, in Ohio, 1906 unternommen und mit einer Majorität von 78 zu 22 abgelehnt. Erhebungen in der vergangenen Jahren in verschiedenen Ländern haben eine starke Befürwortung durch die Bevölkerung[cclxxvii] ergeben, trotzdem sind sämtliche Legalisierungsversuche bis jetzt gescheitert.[cclxxviii] In den Niederlanden wurde die Gesellschaft für freiwillige Euthanasie 1973 gegründet[cclxxix]. Nach Kimsma ist Euthanasie in den Niederlanden keineswegs allgemein akzeptiert: Nach dem Ordinarius für Rechtssoziologie Griffith stellt Euthanasie für sich betrachtet kein großes gesellschaftliches Problem dar, weder im Umfang noch in dem Maße wie die formalen Erfordernisse der Sorgfaltspflicht beachtet werden.[cclxxx] Offene Debatten über Euthanasie werden in einer demokratischen Gesellschaft wie der niederländischen als beste Garantie gegen tödlichen Mißbrauch angesehen.[cclxxxi]
Die bisherigen Erfahrungen bestätigen damit das Argument Singers, daß legalisierte Euthanasie in einer demokratischen Gesellschaftsform keine negativen Tendenzen entwickeln würde.
Folgende negative Entwicklungen wären aber denkbar:
1. Das Leben wird auch bei geringfügigen Belastungen leichtfertig weggeworfen, weil durch ein legalisiertes Euthanasieverfahren der Zugang zum Tod zu leicht gemacht wird.
2. Eine Änderung des allgemeinen Zeitgeists mit Tendenz auf sozialdarwinistische oder sonstigen utilitaristische, den Menschen instrumentalisierende Erwägungen, welche im “Ausstoß unnützen Menschenmaterials” die Lösung der gesellschaftlichen Probleme sehen. Befürchtungen einer Ökonomisierung euthanasierelevanter Kriterien sind bereits derzeit weit verbreitet.[cclxxxii] So könnte als “Lösung” des Problems einer defizienten medizinischen Versorgung das Argument so lauten, daß ein leichter und schneller Tod besser sei als ein miserables Leben.
3. Im Laufe der Geschichte traten immer wieder Massenselbstmorde auf, wie z.E. im antiken Griechenland, im Urchristentum, das Wertherfieber; die Massenselbsttötungen, welche in der japanischen Geschichte aufgetreten sind. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Phänomen eines Wunsches nach Masseneuthanasierungen auftritt.
4. Euthanasie aus eugenischen Gründen könnte sich als Korrektur gentechnologischer Fehlschläge auch in einer demokratischen Gesellschaft etablieren. Unter Bezug auf die historischen Wurzeln im ausgehenden 19. Jahrhundert verweist Hans Walter Schmuhl in Anbetracht der Fortschritte auf dem Gebiet der Humangenetik auf die Gefahr einer wechselseitigen Verstärkung der Diskussionen um Euthanasie und Eugenik.[cclxxxiii]
5. Die Selektion behinderter Kinder könnte nicht nach Kriterien der Binnenperspektive, sondern nach “Effizienzkriterien” einer Leistungsgesellschaft, also nach Kriterien aus der Fremdperspektive erfolgen.[cclxxxiv]
Diese durch Euthanasie verursachten Problematikbereiche sollen mit dieser Aufzählung keineswegs als ausschließlich mögliche dargestellt werden.
Der Solidaritätsgedanke in Hinblick auf das Schwache und Kranke in Form von Behinderung wirft die Frage der Grenzziehung auf. Bei allgemeiner Akzeptanz des Leidkriteriums stellt sich die Frage, welches Ausmaß Leid haben muß, um Euthanasie zu rechtfertigen.
Kann von Kranken und Schwachen mit Berufung auf Solidarität gefordert werden, daß z.B. von einem Staat in extremis sämtliche Ressourcen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse aufgebracht werden müssen?[cclxxxv] Abgesehen von der Unmöglichkeit der Realisierung einer solchen Forderung wirft sie die Frage der Zumutbarkeit für individuelle Belastung auf. Kann z.B. aus moralischen Gründen gefordert werden, daß die Eltern eines behinderten Kindes ihre gesamte Existenz opfern? Bei Anstötz[cclxxxvi] wird ein Fallbeispiel dargestellt, in welchem ein bei der Geburt an Myelomeningozele leidendes Kind nicht behandelt wurde, da die Ärzte erwarteten, daß es sterben würde. Das Kind wurde deshalb nur routinemäßig versorgt. Das Kind entwickelte sich trotz seiner schweren Behinderung und starb trotz anfänglicher Prognosen nicht. Mit 8 Jahren besuchte es wegen einer Sehschädigung eine Schule für Blinde und hatte einen Intelligenzquotienten von IQ = 80. Es verbrachte das Wochenende mit seiner Familie. Diese hatte allerdings so große Probleme mit ihm, daß sie psychiatrische Unterstützung erhalten mußte, um mit der Situation fertig zu werden.[cclxxxvii]
In einer Pressemeldung vom November 1996 wird von einer Mutter berichtet, welche ihr 8jähriges, körperlich und geistig behindertes Kind in einer Verzweiflungstat tötete.
Diese Exempel weisen auf eine unerträgliche Belastung der Betroffenen hin, welche eine ausschließliche Begründung von Früheuthanasie aus rein binnenperspektivischen Kriterien fraglich erscheinen lassen. Wunder fordert, daß eine Ethik die Verpflichtung beinhalten soll, Sorge für die menschenwürdigen Lebensbedingungen aller zu tragen und den behinderten und schwerstbehinderten Menschen ein Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Dieser Forderung kann beigepflichtet werden. Schwer nachzuvollziehen ist jedoch seine Aussage, daß die Geburt eines behinderten Menschen kein Schicksalsschlag sei, “noch ein vermeidbarer Defekt der Natur, sondern ein Gewinn, ohne den unsere Gesellschaft ärmer würde.”[cclxxxviii] Diesem unverständlichen Argument liegt die Struktur einer Verherrlichung des Krankseins und einer Einschränkung der potentiellen Entwicklungsfähigkeiten des Menschseins zugrunde. Die logische Konsequenz dieser Argumentation wäre in einer Generalisierung der Auftrag an die Medizin Krankheiten nicht zu heilen, was absurd wäre.
Singer verwies in seiner Befürwortung von Früheuthanasie Behinderter neben dem Leidenskriterium auf die Belastung der Eltern[cclxxxix] und aus den Beispielen Repouilles und Lineares‘[ccxc] manifestierte sich eine derartige Belastung für die Eltern, daß sie im Töten des Behinderten bzw. Komatösen mündete. Dies veranlaßte Singer, die Entscheidungsgewalt vom Staat auf die Eltern zu verlagern.[ccxci]
Singer führt das Beispiel Baby Andrews an, welches als Frühgeburt zur Welt kam und das nur begrenzt lebensfähig war und das von den Ärzten gegen den Willen der Eltern mit allen Möglichkeiten der modernen Medizin beinahe 6 Monate am Leben erhalten wurde, obwohl das Neugeborene fürchterliche Schmerzen gelitten haben mußte und sicher war, daß Andrew, falls er überlebte, nur schwer behindert überleben würde. Der behandelnde Arzt teilte den Eltern gelegentlich mit “that it must ‘hurt like hell‘ every time Andrew drew a breath.”[ccxcii] In diesem Kontext verwendete Singer das Argument der unnütz aufgewendeten Kosten.
In der Entscheidung, ob das individuelle Wohl oder das der Gemeinschaft den Vorrang hat, bietet das Prinzip der Interessensabwägung Singers eine Entscheidungshilfe, aber in Hinblick auf die ethische Defizienz dieses Prinzips darf man nicht mehr erwarten. Auch der strenge Pflichtbegriff Kants kann hier keine Auskunft geben: Sein Leben zu erhalten ist Pflicht[ccxciii], aber auch seine eigene Glückseligkeit zu fördern, da der Mangel an Zufriedenheit und unbefriedigte Bedürfnisse eine große Versuchung zur Übertretung der Pflichten werden.[ccxciv]
Die Problematik weist eine aporetische Struktur auf, welche nicht durch univoke Aussagekriterien sondern nur durch quantitative Bedingungen aufgelöst werden kann. Nicht die Art, sondern das Ausmaß der relevanten Kriterien gibt den Ausschlag. Die Forderung der Gesellschaft, Leben um jeden Preis zu erhalten, und zwar auch gegen den Willen der unmittelbar Betroffenen wie im Baby-Doe-Fall[ccxcv], scheint eher ein Sedativ für das öffentliche bzw. kollektive Gewissen als eine ethisch fundierte Entscheidung zu sein. Die positive Pflicht der Pflege des Kranken und Schwachen kann keine hinreichend ethische Bedingung zum échec anderer Individuen oder des Kollektivs sein.
Dem Dasein, d.h. dem Menschen, geht es um das verstehende Seinkönnen seiner selbst. Daseinsmäßig aber ist der Tod nur in einem existenziellen Sein. Das Dasein kann den Übergang zum Nicht-mehr-dasein nicht erfahren und als erfahrenen verstehen. Das Dasein kann eine Erfahrung vom Tode im Mit-sein mit anderen bei deren Tod gewinnen, jedoch kann keiner dem anderen sein Sterben abnehmen. Das Aus-der-Welt-gehen des Daseins wird terminologisch als Sterben, das des Lebendigen als Verenden erfaßt.
Am Dasein ist eine ständige »Unganzheit«, die mit dem Tode ihr Ende findet. Was am Dasein die »Unganzheit« ausmacht, das ständige Sich-vorweg, ist ein Nochnicht, das je ein Dasein als das Seiende, das es ist, zu sein hat. Enden besagt nicht notwendig sich vollenden. Das mit dem Tode gemeinte Enden bedeutet kein zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden. Der Tod im weitesten Sinne ist ein Phänomen des Lebens. Leben muß als eine Seinsart verstanden werden, zu der ein In-der-Welt-sein gehört. Das Zwischenphänomen, die Seinsart, daß das Dasein auch enden kann, ohne daß es eigentlich stirbt, andererseits qua Dasein nicht einfach verendet, wird von Heidegger als Ableben bezeichnet. Sterben aber gilt als Titel für die Seinsweise, in der das Dasein zu seinem Tode ist.
Am Tode läßt sich der Möglichkeitscharakter des Daseins am schärfsten enthüllen. Als Grundverfassung des Daseins wird die Sorge sichtbar gemacht: Das Sich-vorweg-schon-sein-in (auf der Welt) als Sein-bei (innerweltlich) begegnendem Seienden. Das Noch-nicht des Daseinsendes im Sinne eines Ausstandes wird zurückgewiesen, das äußerste Noch-nicht hat den Charakter von etwas, wozu das Dasein sich verhält. Das Ende, der Tod ist ein Bevorstand des Daseins. Der Tod verweist das Dasein völlig auf sein eigenstes Seinkönnen.
“Der Tod ist die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit. So enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit. Als solche ist er ein ausgezeichneter Bevorstand.”[ccxcvii]
Das Dasein stirbt faktisch solange es existiert, aber zunächst und zumeist in der Weise des Verfallens. In diesem verfallenden Sein bei… meldet sich die Flucht aus der Unheimlichkeit, d.h. vor dem eigensten Sein zum Tode.
Existenz, Faktizität und Verfallen charakterisieren das Sein zum Ende und sind demnach konstitutiv für den existenzialen Begriff des Todes.
Das Sterben gründet hinsichtlich seiner ontologischen Möglichkeit in der Sorge. Die Auslegung des Man sagt »man stirbt«, d.h. dieses Man ist das Niemand. Dergestalt besorgt es eine ständige Beruhigung über den Tod. Die Öffentlichkeit soll nicht in ihrer besorgten Sorglosigkeit gestört werden. Das Man läßt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen und verkehrt die Angst in eine Furcht vor einem ankommenden Ereignis. Es dekrediert eine gleichgültige Ruhe gegenüber dem Sterben, welches das Dasein seinem eigensten und unbezüglichen Seinkönnen entfremdet. Versuchung, Beruhigung und Entfremdung kennzeichnen aber die Seinsart des Verfallens. Das alltägliche Sein zum Tode ist das Verfallen, das ist eine ständige Flucht vor ihm. Das Gewiß-sein gegenüber dem Tod stellt am Ende eine ausgezeichnete Daseinsgewißheit dar. Das alltägliche Sein zum Tode spricht dem Tod »nur« empirische Gewißheit zu. Dies ist nicht die höchste Gewißheit, die apodiktische. Die Alltäglichkeit drängt in die Dringlichkeit des Besorgens und der Tod wird hinausgeschoben. So verdeckt das Man das Eigentümliche der Gewißheit des Todes, nämlich daß er jeden Augenblick möglich ist. Mit der Gewißheit des Todes geht die Unbestimmtheit seines Wann zusammen. So verhüllt sich der eigenste Möglichkeitscharakter des Todes: gewiß und dabei unbestimmt, d.h. jeden Augenblick möglich.
“Der volle existenzial-ontologische Begriff des Todes läßt sich jetzt in folgenden Bestimmungen umgrenzen: Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins. Der Tod ist als Ende des Daseins im Sein dieses Seienden zu seinem Ende.”[ccxcviii]
Das alltäglich verfallende Ausweichen vor dem Tod ist ein uneigentliches Sein zum Tode. Das eigentliche Sein zum Tode bedeutet eine existenzielle Möglichkeit des Daseins. Das Dasein wird konstituiert durch die Erschlossenheit, das ist ein befindliches Verstehen. Der Tod ist als Möglichkeit kein mögliches Zuhandenes oder Vorhandenes, sondern eine Seinsmöglichkeit des Daseins. Das fragliche Sein zum Tode kann offenbar nicht den Charakter des besorgenden Aus-seins auf seine Verwirklichung haben. Zu einem Möglichen in seiner Möglichkeit verhält sich das Dasein jedoch im Erwarten. Das Vorlaufen in die Möglichkeit des Todes soll nicht ein besorgendes Verfügbarmachen eines Wirklichen, sondern im verstehenden Näherkommen die Möglichkeit des Möglichen nur »größer« machen. Die nächste Nähe des Seins zum Tode als Möglichkeit ist einem Wirklichen so fern als möglich. Je unverhüllter diese Möglichkeit verstanden wird, desto reiner wird das Verstehen von der Unmöglichkeit der Existenz überhaupt. Der Tod als Möglichkeit ist für das Dasein die Unmöglichkeit jedes Existierens, jeglichen Verhaltens zu… Das Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit ermöglicht allererst diese Möglichkeit und macht sie als solche frei. Das Sein zum Tode als vorlaufendes Enthüllen: aufs eigenste Seinkönnen sich entwerfen aber besagt: sich selbst verstehen können, im Sein des so enthüllten Seienden: existieren. Das Vorlaufen erweist sich als Möglichkeit des Verstehens des eigensten äußersten Seinkönnens, d.h. als Möglichkeit eigentlicher Existenz. Der Tod als eigenste Möglichkeit des Daseins entreißt das Dasein dem Man. Die im Vorlaufen verstandene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst. Diese Vereinzelung ist eine Weise des Erschließens des »Da« für die Existenz. Bei diesem eigensten Seinkönnen versagt alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mit-sein mit anderen. Besorgen und Fürsorge bedeuten keineswegs eine Abschnürung des Daseins vom eigentlichen Selbstsein. Sie gehören mit zur Bedingung der Möglichkeit von Existenz überhaupt.
Die eigenste unbezügliche Möglichkeit ist unüberholbar. Das Vorlaufen aber weicht der Unüberholbarkeit nicht aus wie das uneigentliche Sein zum Tode, sondern gibt sich frei für sie. Sie befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten. Das Vorlaufen erschließt der Existenz als äußerste Möglichkeit die Selbstaufgabe und zerbricht so jede Versteifung auf die je erreichte Existenz. Der Tod als unbezügliche Möglichkeit vereinzelt als unüberholbare das Dasein als Mit-sein verstehend zu machen für das Seinkönnen der anderen. Darin liegt die Möglichkeit eines existenziellen Vorwegnehmens des ganzen Daseins, d.h. die Möglichkeit als ganzes Seinkönnen zu existieren.
Das Für-wahr-halten des Todes zeigt eine andere Art und ist ursprünglicher als Gewißheit bezüglich eines innerweltlich begegnenden Seienden oder der formalen Gegenstände. Im Vorlaufen zum unbestimmt gewissen Tode öffnet sich das Dasein für eine ständige Bedrohung. Alles Verstehen ist befindliches. Die Stimmung bringt das Dasein vor die Geworfenheit seines »daß-es-da-ist«. Die Geworfenheit in den Tod enthüllt sich dem Dasein ursprünglich und eindringlicher in der Befindlichkeit der Angst. Das Wovor dieser Angst ist das In-der-Welt-sein selbst, das Worum dieser Angst ist das Sein-können des Daseins schlechthin. Furcht vor dem Ableben ist nicht Angst vor dem Tode. Die Angst ist keine beliebige, zufällige, »schwache« Stimmung des Einzelnen, sondern als Grundbefindlichkeit des Daseins die Erschlossenheit davon, daß das Dasein als geworfenes Sein zu seinem Ende existiert. In der Angst befindet sich das Dasein vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz. Die Angst ängstet sich um das Seinkönnen des so bestimmten Seienden und erschließt so die äußerste Möglichkeit. Durch die Vereinzelung des Vorlaufens wird das Dasein selbst der Ganzheit seines Seinkönnens gewiß. Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst.[ccxcix]
“Die Charakteristik des existenzial entworfenen Seins zum Tode läßt sich dergestalt zusammenfassen: Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär ungestützt es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode.”[ccc]
Die Möglichkeit eines eigentlichen Ganzseinkönnens ist nur eine ontologische Möglichkeit. Diese bedeutet so lange nichts als nicht das entsprechende ontische Seinkönnen aus dem Dasein selbst erwiesen ist.
Die Bezeugung soll ein eigentliches Selbstseinkönnen zu verstehen geben. Eine solche Bezeugung ist der alltäglichen Selbstauslegung des Daseins als Stimme des Gewissens gegeben. Das Gewissen gibt »etwas« zu verstehen, es erschließt. Die eindringliche Analyse des Gewissens enthüllt sich als Ruf. Das Rufen ist ein Modus der Rede. Der Gewissensruf hat den Charakter des Anrufs des Daseins auf sein eigenstes Selbstseinkönnen, und das in der Weise des Aufrufs zum eigensten Schuldigsein. Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst.
Die Entschlossenheit wird charakterisiert als das sich-Angst-zumutende, verschwiegene Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein. Das Zu-Ende-sein des Daseins besagt jedoch existenzial: Sein zum Ende. Das eigentliche »Denken an den Tod« ist das existenziell durchsichtig gewordene Gewissen-haben-wollen. Die vorlaufende Entschlossenheit ist kein Ausweg, erfunden, um den Tod zu »überwinden«, sondern das dem Gewissensruf folgende Verstehen, das dem Tode die Möglichkeit freigibt, der Existenz des Daseins mächtig zu werden und jede flüchtige Selbstverdeckung im Grunde zu zerstreuen. Entschlossenheit entspringt dem nüchternen Verstehen faktischer Grundmöglichkeiten des Daseins.
“Mit der nüchternen Angst, die vor das vereinzelte Seinkönnen bringt, geht die gerüstete Freude an diese Möglichkeit zusammen. In ihr wird das Dasein frei von den »Zufälligkeiten« des Unterhaltenwerdens, die sich die geschäftige Neugier primär aus den Weltbegebenheiten verschafft.”[ccci]
Der Seinssinn des Daseins ist nicht »außerhalb« seiner selbst, sondern das sich verstehende Dasein selbst. Wenn zum Sein des Daseins das eigentliche bzw. uneigentliche Sein zum Tode gehört, dann ist dieses nur möglich als zukünftiges. Zukunft meint hier nicht ein Jetzt, das nicht wirklich geworden erst einmal sein wird, sondern die Kunft, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt. Die Zukunft und Gegenwart der Angst zeigen sich aus einem ursprünglichen Gewesensein im Sinne des Zurückbringens auf die Wiederholbarkeit. Eigentlich kann die Angst aber nur aufsteigen in einem entschlossenen Dasein. Die Analyse des eigentlichen Ganzseinkönnens enthüllt den in der Sorge verwurzelten gleichursprünglichen Zusammenhang von Tod, Schuld und Gewissen. Erst das Seiende »zwischen« Geburt und Tod stellt das gesuchte Ganze dar. Je eigentlicher sich das Dasein entschließt, d.h. unzweideutig aus seiner eigensten ausgezeichneten Möglichkeit im Vorlaufen in den Tod sich versteht, umso eindeutiger und unzufälliger ist das wählende Finden der Möglichkeit seiner Existenz. Nur das Vorlaufen in den Tod treibt jede zufällige und »vorläufige« Möglichkeit aus. Die ergriffene Endlichkeit der Existenz bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals. Schicksal verlangt als ontologische Bedingung seiner Möglichkeit die Seinsverfassung der Sorge, d.h. die Zeitlichkeit. Nur wenn im Sein eines Seienden Tod, Schuld, Gewissen, Freiheit und Endlichkeit dergestalt gleichursprünglich zusammen wohnen wie in der Sorge kann es im Modus des Schicksals existieren, d.h. im Grunde seiner Existenz geschichtlich sein. Nur eigentliche Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist, macht so etwas wie Schicksal, d.h. eigentliche Geschichtlichkeit möglich. Die auf sich zurückkommende sich überliefernde Entschlossenheit wird dann zur Wiederholung einer überkommenen Existenzmöglichkeit. Das eigentliche Sein zum Tode, d.h. die Endlichkeit der Zeitlichkeit ist der verborgene Grund der Geschichtlichkeit des Daseins. Das Dasein ist als zeitliches geschichtlich. Es kann sich wiederholend in seiner Geschichte übernehmen. Das Dasein kennt die flüchtige Zeit aus dem flüchtigen Wissen um seinen Tod und weil der Tod sogar an der Rede vom Vergehen der Zeit verdeckt bleiben kann, zeigt sich die Zeit als ein Vergehen an sich.
Der hohe Stellenwert des Todes bei Heidegger wird durch den Horizont der Zeitlichkeit des Daseins bestimmt. Durch das Wissen um seine Endlichkeit werden für das Dasein die existenzialen Bedingungen eines Vergehens jeglichen Seins konstituiert, wodurch eine Transzendenz eines “diesseitigen” Seins in eine “jenseitige” Welt auch im Entwurf unmöglich wird. Das Dasein Heideggers wird in seiner Geworfenheit mit dieser Welt konfrontiert. Jegliche Flucht vor diesem Sein endet in einer Form von Verfallenheit, wodurch es - nach Heidegger - seinem eigensten Sein, d.h. seinem Selbst, entfremdet wird. Euthanasie oder Suizid werden von Heidegger nicht explizit thematisiert. Seine Freiheit zum Tode ist als Freiheit in der Wiederholung existentieller Möglichkeiten aufgrund geänderter Entwurfmöglichkeiten zu interpretieren. Die Konfrontation mit dem Tod und der Möglichkeit des Todes läßt kein Delegieren des Problems, d.h. keine Stellvertretung zu. Durch diese Faktizität wird der Mensch in die Unausweichlichkeit des eigenen Tod und damit in die Unvertretbarkeit der eigenen Existenz geworfen. In seinem existentiellen Sein wird dem Menschen sein Selbst bewußt, d.h. seine eigene, subjektive Identität eines in-der-Welt-seienden Individuums wird ihm als Wahrheit, im Sinne von é-lÆyeia bewußt.
Die Kritik Sartres an der Heideggerschen Thanatologie, daß auch Gemütsbewegungen nicht durch jemand anderen empfunden werden können,[cccii] ist zwar richtig - Gemütsbewegungen können jedoch wiederholt werden. Auch Adorno verfehlt den Ansatz Heideggers mit seinem Vorwurf, daß Heidegger eine Theodizee des Todes schreiben wollte.[ccciii] Heidegger wollte nicht eine Apologie des Todes schreiben. Er stieß lediglich in seiner Seinsanalyse auf das Faktum des herausragenden Stellenwertes des Todes in der menschlichen Existenz und sah darin die existenzielle Möglichkeit des Menschen zu sich selbst zu finden.
Eine Hermeneutik der “Freiheit zum Tode” legt jedoch aufgrund der etymologischen Wurzel auch eine weitere Interpretationsmöglichkeit nahe: Das mittelhochdeutsche vrïheit und das althochdeutsche frïheit hatten die Bedeutung des freien Sinns bzw. des verliehenen Vorrechts. Im Kontext mit der Existenzialität des Todes ergibt sich die Interpretationsmöglichkeit eines Vorrechts, den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu wählen. Heidegger versteht unter dem Terminus Sinn ein Existenzial des Daseins und nicht eine Eigenschaft, welche an einem Seienden haftet. “Sinn bedeutet das Woraufhin des primären Entwurfs, aus dem her etwas als das, was ist, in seiner Möglichkeit begriffen werden kann.”[ccciv] Aus der Charakteristik des existenzial entworfenen Seins zum Tode ergibt sich deshalb nicht nur die Möglichkeit des Gewinnens der eigenen Existenz, sondern auch die Freiheit, den eigenen Tod zu wählen, d.h. den Zeitpunkt des Endes der eigenen Existenz selbst in einem Willensakt herbeizuführen.[cccv] Aufgrund der wertfreien Struktur der existenzial-ontologischen Analyse kann kein moralisches Argument gegen den Freitod vorgebracht werden. Heideggers Feststellung, daß das Sein zum Tode nicht den Charakter des besorgenden Aus-seins auf seine Verwirklichung habe,[cccvi] läßt eine Interpretation nur im existenzialen Horizont, nicht jedoch im moralischen Kontext zu.
Die Emphase der Daseinsbewältigung liegt auf dem Existieren: “Das »Wesen« des Daseins liegt in seiner Existenz.”[cccvii] Dem Dasein geht es in seinem Sein gemäß dem Charakter der Jemeinigkeit um sein Selbst. Zur Seinsverfassung des Daseins gehören wesenhaft Erschlossenheit, Geworfenheit, Entwurf und Verfallen. Im Begriff der Existenzialität wird der Zusammenhang der konstituierenden Strukturen von Existenz erfaßt, wobei sich Befindlichkeit und Verstehen als fundamentale Existenzialien erweisen. Im Verfallen verliert sich das Dasein an das Besorgen und die Geschäftigkeit der alltäglichen Welt, an das In-der-Welt-sein, wodurch es seinem Selbst, der eigensten eigentlichen Existenz entfremdet und dadurch uneigentlich wird. Heidegger drückt damit keine negative Bewertung aus. Verfallen wird ebenso wie Faktizität und Existenzialität als ontologische Umgrenzung der Ganzheit des Strukturganzen des Daseins bezeichnet. Trotz dieser expressis verbis wertneutralen Haltung impliziert der hohe existenziale Stellenwert des Todes eine positive Wertung. Die Wertneutralität der Heideggerschen Analyse kann keine absolute Gleichgültigkeit ausdrücken, da in diesem Fall sogar das Ausarbeiten dieser Analyse widersinnig wäre. Gegen eine Interpretation in Richtung existenziellen Fatalismus spricht auch die Priorität von Sinn für das Dasein in der Zeitlichkeit, wobei es primär um das eigenste Seinkönnen geht und welche im Sich-vorweg-sein des Daseins in der Zukunft gründet. Wenn innerweltlich Seiendes mit dem Sein des Daseins entdeckt, d.h. zu Verständnis gekommen ist, hat es Sinn. Im Sinn liegt die Verständlichkeit von etwas - das, was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist. Sinn wird aus dem durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierten Woraufhin des Entwurfs verständlich. Nur Dasein kann sinnvoll oder sinnlos sein. Sinn bedeutet streng genommen das Woraufhin des primären Entwurfs des Verstehens von Sein. Der Begriff des Sinns wird nicht auf die Bedeutung »Urteilsgehalt« restringiert, sondern ist als existenziales Phänomen zu verstehen, darin das formale Gerüst des im Verstehen Erschließbaren und in der Auslegung Artikulierbare überhaupt sichtbar wird. Der Sinn des Daseins liegt in der Sorge, der diese in ihrer Konstitution ermöglicht und macht ursprünglich das Sein des Seinkönnens aus.
“Der Seinssinn des Daseins ist nicht ein freischwebendes Anderes und »Außerhalb« seiner selbst, sondern das sich verstehende Dasein selbst.”[cccviii]
Aus dieser wertfreien existenzial-ontologische Analyse Heideggers ergibt das Sosein des Daseins in einem axiologischen Schema den Menschen als Selbstzweck bzw. höchsten Wert. Der Sinn von Dasein ist Selbstsein als verstehendes In-der-Welt-sein.
Diese Seinsanalyse steht als Metaphysik nicht im Gegensatz zur Ethik Singers. Im Gegenteil - Singers Versuch einer universalen Ethik kann durchaus als empiristische Ergänzung, als Inhalt zu dieser leeren, formalen Seinsanalyse verstanden werden. Nicht Widerspruch, sondern Komplementarität als Interpretationsmöglichkeit zeigen Parallelen auf.
So kann im präferenzutilitaristischen Personalitätskriterium das ontologische Dasein Heideggers auf einer empiristischen Betrachtungsebene wiedererkannt werden.
Singer stellt die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens[cccix] und beantwortet sie, indem er eine ethische Betrachtungs- und Lebensweise (ethical point of view) als lebenslang unerschöpfliches Betätigungsfeld (meaning and purpose) proponiert.
Bei Heidegger wird dieselbe Frage auf einer tieferen, inhaltsleeren und strukturellen Ebene untersucht, ohne sie mit einer positiven Antwort zu versehen.
Das katastrophische Todesverständnis trifft auf den Tod zu, welcher einen Menschen aus der Blüte seines Schaffens herausreißt. Von kranken und alten Menschen, welche keine Zukunftsperspektive haben, wird der Tod erwartet und begrüßt. Der Tod ist nicht mehr eine Katastrophe, sondern eine Erlösung.[cccx]
Die existenziale Analyse des
Daseins zeigt in einer wertfreien Form den Sinn von Existenz in einem
verstehenden Existieren in dieser Welt. Das Seinkönnen und die herausragende Bedeutung
des Todes wurde als neuerliches Entwerfen der Seinsmöglichkeiten des Daseins herausgearbeitet. Aus dieser Analyse
ergibt sich die Sinnlosigkeit eines
Daseins, welches sich in einem verstehenden Sein nicht mehr verstehend
verwirklichen kann. Ein Existieren, welches nur mehr Qualen für den Rest des
verbleibenden Lebens bedeutet und keine Aus-sicht auf ein transzendentes,
“jenseitiges” Sein hat, kann weder von dem Betroffenen, noch von einer anderen
Person verstanden werden. Der Tod, unter normalen Umständen emotional gefürchtet,
hat als Beendigung eines unerträglichen Daseins plötzlich Sinn.
Der existenziale Entwurf auf den Tod i.S. der Verwirklichung wird unter pathologischen Bedingungen rational begründ- und verstehbar. Das willkürliche Herbeiführen des Todes stellt keinen Widersinn dar.
Heidegger verknüpft den Wertbegriff in Sein und Zeit mit Dinglichkeit: “Werte sind vorhandene Bestimmtheiten eines Dinges.”[cccxi] Der Tod als Nicht-mehr-dasein kann nicht als Ding bezeichnet werden, jedoch für terminal Kranke und Alte repräsentiert er den existentiellen Wert, daß mit dem Ende des Lebens auch das Ende des Leiden erreicht wird.
Genuine eÈyanas€a als Modus der kollektiven Bewältigung des Todes repräsentiert den existentiellen Wert einer gemeinschaftliche Lebensbewältigung, welcher den Moribunden das Sterben erleichtert und den Lebenden aufgrund der Zukunftsperspektive eines möglichen Fluchtweges aus aussichtslosen Situationen das Leben ermöglichen kann.
Die Möglichkeit einer willkürlichen Beendigung menschlichen Lebens wird aufgrund der sich bereits abzeichnenden potentiellen Entartung der medizinischen Entwicklung immer virulenter, weshalb sich verändernde Rahmenbedingungen ein Überdenken der ethischen Grundlagen in bezug auf Leben und Tod erforderlich machen. Das Problem zu negieren, ist keine Lösung. Bei einer wie oben konzipierten Begründungsstruktur wird die Möglichkeit einer Instrumentalisierung menschlicher Existenz - auch die einer ungewollten wie bei der Singerschen Fundierung ethischer Prinzipien - a priori ausgeschlossen. Aus den vorgelegten Argumenten wird ersichtlich, daß unser Denken in bezug auf Töten mit Fehlern behaftet ist. Nichtsdestoweniger darf nicht übersehen werden, daß Moralität im Töten nur als exceptio einer in principio richtigen Regel - dem Tötungsverbot - angenommen werden kann und eine Freizügigkeit in diesem Bereich die Gefahr einer moralischen Entwurzelung als allgemeine, ethische Orientierungslosigkeit im sozialen Gefüge in sich birgt. Es darf aber auch nicht übersehen werden, daß bei einer Auflösung des Tötungstabus aus schicksalsbedingten Notwendigkeiten als gemeinsame Bewältigung des Todes Gemeinschaft fördern und damit existentielle Möglichkeiten eröffnen kann
Als der Verfasser dieser Arbeit begann, sich mit der Euthanasieproblematik zu beschäftigen, setzte er sich das Ziel, die Thematik vorurteilsfrei und voraussetzungslos zu untersuchen. Das Thema nach philosophischen Kriterien zu untersuchen schien naheliegend, da sich Euthanasie als Problem von derartiger Komplexität erwies, daß eine einzelwissenschaftliche Untersuchung aufgrund des restriktiv ausgelegten methodischen Ansatzes nur unzureichende Ergebnisse zeitigen konnte. Nur von einer philosophische Analyse war zu erwarten, Euthanasie in ihrer gesamten Phänomenalität aufzeigen zu können.
Bei der Beobachtung des dzt. weltweit stattfindenden Euthanasiediskurses war festzustellen, daß sich die Diskussionen vorwiegend auf der Ebene des Rechts und der Medizin abspielten. Die philosophischen Beiträge hatten offensichtlich nur Randbedeutung.
Die bedingungslose Ablehnung von Euthanasie schien sich auf die Angst for dem eigenen Tod bei den Kritikern zu reduzieren. Offensichtlich verhinderte die allgemeine Angst vor dem Tod eine rationale Untersuchung nicht nur nach Kriterien der Utilität, sondern auch nach Kriterien ethischer Normen, da der Tod und die damit verbundene willkürliche Verfügung als Tabu angesehen wurde.
Die Medizin, welcher aufgrund ihrer fachspezifischen Kenntnisse eine herausragende Stellung eingeräumt wird, verleugnet den Tod, da er eine Niederlage repräsentiert. In Gesprächen mit alten Menschen zeigte sich die Angst, daß man ihnen das Sterben verwehren könnte, und diese Angst ist nicht unbegründet. Bei Diskussionen mit Ärzten konnte festgestellt werden, daß diese Verwehrung des eigenen Sterbens durch die Medizin aufgrund ihrer technologischen Mitteln praktiziert wird, obwohl den Ärzten die Sinnlosigkeit dieses Tun bewußt ist, sie aber aufgrund juristischer Bestimmungen immer Gefahr laufen, selbst straffällig zu werden, wenn sie nicht alle Möglichkeiten der Lebensverlängerung bis zum Exzeß ausschöpfen. Für eine Akzeptanz des unvermeidlichen Todes ist in unserer Gesellschaft anscheinend kein Raum.
Euthanasie zeigt sich nicht nur auf ethische Problematik reduziert, sondern stellt sich als Phänomen des Todes dar. Nur in diesem Kontext kann ein Euthanasiediskurs hinreichend erörtert werden. Aus dem philosophiehistorischen Beitrag[cccxii] ist ersichtlich, daß der Tod von den Philosophen schon immer auf diese oder jene Weise rational bewältigt werden konnte, weshalb sich das philosophische Denken als Form von effizienter Todesbewältigung anbietet, und zwar als Modus der Todesbewältigung, welche auch ohne religiöse, d.h. transzendente, Annahmen auskommt; m.a.W.: Es zeigt sich keine Notwendigkeit einer argumentativen Begründung ex petitionibus principiorum.
Offensichtlich wurde mit der Ablösung des Mythos durch den Logos im antiken Griechenland eine Entwicklung initiiert, welche in der Auseinandersetzung mit dem Tod eine Form von Lebensbewältigung in die Wege leitete. Einerseits wurde die Methode eines transzendenten Seins angewendet, wie bei den Pythagoreern und bei Platon, andererseits aber wurde eine Annahme von Unsterblichkeit schlichtweg abgelehnt, wie dies aus der atomistischen und aristotelischen Tradition hervorgeht. Die Ablehnung eines transzendenten Seins erwies sich in keiner Weise als defizienter Modus, wenn auch in der Folge die christliche Philosophie ein persönliches Weiterleben nach dem Tode lehrte und mit der Prämisse des moralischen Wohlverhaltens im christlichen Sinne verknüpfte.
Aus dem von Ariès zusammengetragenen Material läßt sich die wechselnde Beziehung des Menschen zum Tod über die Jahrtausende erkennen: Der “gezähmte Tod”, welcher schon in der Antike das Leben bestimmte und welcher vom Christentum ursprünglich übernommen wurde, wandelte sich im Laufe der Zeit. Aus einem kollektiven Ereignis, dem gemeinschaftlichen Tod, wurde durch die persönliche Biographie der individuelle Tod. Das Nebeneinander von Leben und Tod, sehr schön veranschaulicht durch den mittelalterlichen Friedhof, welcher als Stätte des Todes gleichzeitig als Markt, d.h. als Stätte des Lebens und der Fröhlichkeit diente und durch seine Asylfunktion das Weiterleben in dieser Welt bedingte, fand ein Ende. Der Mensch wurde nicht mehr als homo totus angesehen und in der Entstehung des Dualismus von Leib und Seele wurde eine Dichotomie eingeleitet, welche bis in unsere Zeit anhält. Das Weltgericht, ursprünglich im vertrauensvollen Glauben an Gott in keiner Weise ein Grund für Befürchtungen, wurde eine Quelle existentieller Angst, welche von der Geistlichkeit weidlich zur Machtakkumulation ausgenützt und vergrößert wurde. Die Angst vor den Höllenqualen der Seele führte zu einer Furcht vor dem Sterben. Die Zerrissenheit zwischen dem Verfall, dem Makabren, der Häßlichkeit der Leiche, und der Sehnsucht nach dem Schönen ließ sogar Phantasien von sexuellen Beziehungen zu den Verstorbenen entstehen bevor der Tod von der Vergänglichkeit des Daseins zum Nichts wurde. Verfolgen läßt sich die Hilflosigkeit der Geistlichkeit und der Medizin gegen diese Angst. Der unbedingte Fortschrittsgedanke in der Medizin konnte nicht verhindern, daß der Tod stärker war und sich nicht besiegen ließ. Der Kampf der Ärzte war aussichtslos. Als im 20. Jahrhundert der Megatod die Bühne der Geschichte betrat, war es das einfachste - den Tod zu negieren. Der Sterbende wurde ganz einfach “abgeschoben” und in seinem Sterben allein gelassen. Hatte man das Unglück bei einem Sterbeprozeß dabeisein zu müssen, redete man dem Sterbenden eben ein, daß alles gut werden würde - er mußte ja nicht sterben, er würde noch lange weiterleben. In diesen Ausreden schwingt die Konnotation, daß man ewig leben würde. Jede Form von Logik wird radikal verleugnet, nur um ja nicht das Faktum des Todes akzeptieren zu müssen. Daß in der heutigen Zeit Sterbebegleitung erlernt werden muß, ist wohl das markanteste Zeichen des Verlusts einer Todes- und Sterbekultur. In der Regel wird nicht erkannt, daß der Verlust des Todes - wenn auch nur in Form der Verleugnung - immer einen Verlust des Lebens nach sich zieht. Wäre der Horizont des Lebensablaufes unendlich, würden die Determinanten dieses Lebens völlig anders sein als bei einem beschränkten[cccxiii] Dasein.
In der herausragendsten Thanatologie des 20. Jahrhunderts, derjenigen Heideggers, wird der Tod als solcher erfaßt. Die historische Entwicklung der Todeseinstellungen, welche von der Vergänglichkeit menschlichen Seins zum Nichts führte, mündet bei Heidegger als Philosophem in Form einer Analyse des Seins. Diese Analyse, welche von Heidegger als existenzial-ontologische bezeichnet wird und womit der Bezug des Menschen zu seiner Welt ausgedrückt wird, stellt den Tod als individuelles Sterben dar und untersucht dieses in seiner Phänomenalität. Heideggers Philosophie ist eine atheistische, die Analyse bewegt sich im Horizont der Zeit, im “Diesseits”. Jede Form von Transzendenz auf ein “Jenseits” wird expressis verbis zurückgewiesen. Heidegger setzt damit die erkenntnistheoretische Position des philosophischen Materialismus fort, wenn sich auch seine Sprache und seine Begrifflichkeit nicht in dieser Tradition bewegt. Aufgrund der radikalen Ablehnung jeglicher Form irgendeines “Weiterlebens” gelangt er in seiner Analyse des menschlichen Daseins in dieser Welt zur Schlußfolgerung, daß der Tod einen besonderen Stellenwert im menschlichen Leben darstellt. Es lag nicht in seinen Intentionen, eine Theodizee des Todes zu schreiben, wie von manchen Kritikern behauptet wurde[cccxiv], sondern aufgrund seines Untersuchungshorizontes war die Konklusion, daß der Tod für das menschliche Leben von außerordentlicher Bedeutung ist, unvermeidlich. Nach Heidegger läßt die Endgültigkeit des Todes, diese unwiderrufliche Finalität, diese apodiktische Gewißheit der eigenen Vergänglichkeit, den Menschen seine Endlichkeit in Zeit und Raum erkennen und damit zu sich selbst finden - d.h. sich seiner Beschränkung auf dieses endliche Dasein bewußt zu werden. Durch diese Erkenntnis kann der Mensch die Möglichkeiten ergreifen, welche sich in seinem beschränkten Dasein anbieten; Möglichkeiten, welche ihm ansonst verborgen geblieben und deshalb entglitten wären. Der Tod wird damit ein Aspekt von persönlicher Freiheit. Die emotionale Angst, welche in der historischen Entwicklung zur Verleugnung des Todes geführt hat, wird bei Heidegger als Befindlichkeit zum Initiator des Erkennens seiner selbst. Nur wenn der Mensch bereit ist, diese furchtbare Angst vor dem eigenen Ende auf sich zu nehmen, kann er den Tod als solchen akzeptieren und damit sein Leben “in seine Hand nehmen”, d.h. die Möglichkeiten seiner Existenz ergreifen. Der Sinn von Sein, d.h. der Sinn menschlichen Existierens, kann nur in diesen Grenzen gefunden werden.
Die Heideggersche Analyse bietet sich deshalb in ihrer Sinnexplikation als tiefstliegende Begründungsebene für einen Euthanasiediskurs an. Dies Frage nach dem Sinn von Sein muß bei einer nichttranszendenten Daseinsform anders gestellt und beantwortet werden als im religiösen Horizont, in welchem das transzendente Fortbestehen einen essentiellen Bestandteil der Begründungsmodi darstellt. Auch die Frage nach dem Sinn von Leid ergibt eine völlig andere Struktur. Während Leiden im religiösen Horizont nur eine vorübergehende Episode zur Erlangung ewiger Freuden spielt, wird Leid in einem nichttranszendenten Leben zum Inbegriff der Sinnlosigkeit, wenn es unerträglich, nicht terminierbar und nicht reduzierbar ist.
Der Tod ist in einem leidvollen Leben ein Bedürfnis.[cccxv] Aus den Beiträgen zum Suizid[cccxvi] ist ersichtlich, daß die Selbsttötung schon in der europäischen Antike mit verschiedenen Einstellungen betrachtet und im weiteren Verlauf der Geschichte durch das Christentum so verteufelt wurde, daß Repressalien von unmenschlicher Grausamkeit gegen Suizidanten und ihren Angehörigen ausgeübt wurden. Es läßt sich annehmen, daß diese Tradition für die heutige unreflektierte Verdammung von Euthanasie maßgebend ist. Aufgrund der im Laufe der Geschichte entstandenen religiös fundierten Argumentationsformen vollzieht sich auch in der heutigen Zeit nach Verlust dieses religiösen Glaubens das Denken noch immer in den gleichen Strukturen. Töten ist ein Tabu, ohne nach dem Sinn von Leben und Tod zu fragen, während diese Frage in der Philosophie schon seit erdenklichen Zeiten thematisiert wurde. Diese Denkstrukturen haben auch auf andere Kulturen übergegriffen, wie die Opposition gegen Euthanasie in Japan zeigt. Obwohl in der japanischen Kriegergesellschaft der Tod durch eigene Hand als ehrenvoll angesehen wurde, ja sogar oft die einzige Möglichkeit darstellte, seine Ehre zu bewahren und seine Aufrichtigkeit zu zeigen und obwohl diese Tradition auch in unserem Jahrhundert noch lebendig ist, wurde Euthanasie nicht durch einen legislativen, sondern erst durch einen judikativen Akt möglich. Darin zeigt sich eine Verweigerung des offenen Bekennens zu diesem Akt, welche eine Parallele zur niederländischen Gesetzgebung aufweist, die Euthanasie nicht als erlaubt, sondern nur als straffrei deklariert.
Es kann berechtigterweise angenommen werden, daß ein Mensch nicht einen natürlichen Trieb besitzt, um den Tod zu suchen. Eine derartige Theorie, wie von Metchinkoff und Freud vertreten, wird von der Fachwelt zurückgewiesen, weshalb der Suizid immer als eine Flucht vor unerträglichen, existentiellen Bedingungen angesehen werden kann, wenn nicht sogar eine pathologische Kausalität vorliegt. Die allgemeine Ächtung des Suizids, welche in concreto oft nicht rational begründbar ist, läßt den Suizidanten einen einsamen Tod sterben - eine Todesform, welche anscheinend dem natürlichen Bedürfnis des Individuums entgegensteht. Der gemeinschaftlich getragene Tod wäre nicht nur für die Lebenden, sondern auch für den Sterbenden in seinem Sterben eine Erleichterung. Diese Dynamik ist aus den Fallbeispielen im psychothanatologischen Beitrag[cccxvii] ersichtlich. Maßnahmen, welche der Suizidant trifft, um doch noch gerettet zu werden, können als Hilfeschrei interpretiert werden.
Legalisierte Euthanasie wäre m.E. eine Möglichkeit, einem in existentiellen Nöten befindlichen Menschen, welcher sich vielleicht in einer nur für ihn selbst subjektiv empfundenen aussichtslosen Situation befindet, zu helfen. Gemeinschaftlich lassen sich oft Lösungen zu Problemen finden, welche von einem Individuum allein nicht gefunden werden können. Der Einzelne wird aber ein Problem nicht an die Gemeinschaft herantragen, wenn er weiß, daß das Problem unlösbar ist, der Tod den einzigen Ausweg bietet, dieser aber ein gemeinschaftliches Tabu darstellt. Es bleibt ihm nur die einsame Entscheidung zum Suizid. Unter Umständen ließe sich mit einem legalisierten Euthanasieverfahren sogar die Suizidrate senken, wenn der Suizidant wüßte, daß ihm bei tatsächlicher Aussichtslosigkeit beim Sterben geholfen werden würde. Durch eine gemeinschaftliche Entscheidung wäre die Verantwortung verteilt und der Suizidant würde nicht die ganze Last - d.h. die ganze Verantwortung - seines eigenen Todes tragen, weshalb das Gewissen beruhigt wäre[cccxviii] und das Sterben leichter fiele.
Dies wirft die Frage auf, ob das Töten von Menschen in jedem Fall moralisch verwerflich ist. Peter Singer beantwortete diese Frage auf Grundlage seiner Ethik mit einem entschiedenen Nein. Auch andere Philosophen hinterfragen das Tötungstabu, kommen aber nicht zu den radikalen und kompromißlosen Schlüssen Singers. In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, auf einer konsequentialistischen Basis die logischen Inkonsistenzen der Singerschen Ethik in der Anwendung auf die Praxis aufzuzeigen. Es erwies sich, daß diese Ethik in Hinblick auf die Praktikabilität starke Schwächen aufweist und daß Interesse und Personalität als ethische Kriterien mehr zukünftige (ethische) Gefahren für die Menschheit aufwerfen, denn ethische Probleme lösen. Es ist jedoch der Verdienst Singers, daß er in seiner Radikalität die kontemporären Ethiker aus ihrem dogmatischen Schlummer aufrüttelte.
Auch wenn die Ethik Singers nicht als Begründungsbasis verwendet wird, muß doch die Frage aufgeworfen werden, ob von einem Menschen verlangt werden kann, daß er sein Leben auf natürliche Weise beenden muß, d.h. daß er auf seinen Tod warten muß bis dieser “von selbst” kommt - auch wenn dieses “Warten” nur Schmerz und Leid bedeutet?
Ist der Wunsch, sein Leben zu beenden, unmoralisch?
Ist die Handlung, d.h. das Töten eines Menschen, in jedem möglichen Fall als Verstoß gegen universal geltenden, ethischen Normen zu klassifizieren?
Bei den Naturvölkern, wie den Buschmännern in der Kalahari oder den Eskimos, gingen die Alten genauso wie auf der antiken Insel Keos freiwillig in den Tod, um das Fortbestehen ihrer Gruppe, d.h. der Gemeinschaft, zu gewährleisten. So ließ man bei den Buschmännern die Alten mit Proviant zum Sterben zurück, wenn sie nicht mehr die Kraft hatten, bis zur nächsten Wasserstelle zu kommen, und eine Rücksichtnahme der Gemeinschaft auf ihre Schwäche den Untergang der gesamten Gruppe bedeutet hätte. Eine solche Vorgangsweise ist insofern bedenklich, da hierin die Gefahr einer Instrumentalisierung des individuellen Menschen für die Zwecke der Gemeinschaft liegt[cccxix], aber in der obigen Situation hatte die Vorgangsweise der Buschmänner ihre Berechtigung, da auf diese Weise das Fortbestehen der Gruppe gewährleistet war und bezüglich dieses Vorgehens ein allgemeiner Konsens bestand.
Die Problematik des heutigen Euthanasiediskurses hat jedoch nicht diese Dimension: Es geht nicht um das Wohl oder das Fortbestehen der Gemeinschaft, sondern um das Wohl des Einzelnen - auch wenn dieses “Wohl” im Tod liegt. Die ethische Problemstruktur liegt nicht in der Zweckfrage, wie kann das Wohl der Gemeinschaft, d.h. der anderen, gesteigert oder bewahrt werden, sondern wie kann das Übel (einer unerträglichen Existenz) abgewendet werden.
Da wir jedoch nicht in einer idealen Gesellschaft mit altruistischen Gesinnungstendenzen leben, kann die Gefährlichkeit einer Auseinandersetzung mit der Euthanasiethematik nicht hoch genug veranschlagt werden[cccxx]. Bei einem Rückblick in die jüngere Geschichte, in das Dritte Reich, in dem “Euthanasie” betrieben wurde, was aber tatsächlich rassenselektiver und eugenisch motivierter Mord war und damit den antiken Begriff in Verruf brachte, zeigt, daß auch in einer solchen destruktiven Gesellschaftsform Euphemisierungen unter den verantwortlichen und exekutierenden Nazis notwendig waren, um die Mordorgien zu bemänteln. Diese Euphemisierungen sind ein Indiz dafür, daß auch die Verantwortlichen Strategien entwickeln mußten, um die Morde vor ihrem eigenen Gewissen zu rechtfertigen. Daß peinlichst genaue Auflagen erfüllt werden mußten, um die “Euthanasieverfahren” nicht in das öffentliche Bewußtsein gelangen zu lassen, deutet auf eine allgemeine Ablehnung solcher Praktiken, d.h. es widerspricht der menschlichen Natur, Menschen in großem Stil abzuschlachten, auch wenn sie einer anderen Rasse angehören.
Nichtsdestoweniger steht der Satz Kants, daß es in der Welt nichts Gutes gäbe als den guten Willen allein, nicht zufälligerweise zu Beginn dieser Arbeit: Bei einer Hinterfragung der ethischen Begründungsstruktur von Handlungen, welche anderen Menschen den Tod bringen, kann die Frage von Moralität nur in dem Horizont gestellt werden, ob der Tod für den Betroffenen gut ist. Fehlt dieser gute Wille, wird das Ergebnis sowohl bei einer theoretischen Untersuchung, als auch in der praktischen Durchführung in ein Desaster für den Einzelnen und für die Gemeinschaft führen: für den Einzelnen, weil es seine Vernichtung bedeutet; für die Gemeinschaft, weil die Kohäsion der gemeinschaftlichen Strukturen verloren geht und die Gemeinschaft damit auseinanderbricht. Euthanasie kann in der genuinen Bedeutung des Wortes nur in einer reifen Gesellschaft funktionieren.
Die Untersuchung der derzeitig gängigen ethischen Argumente hat gezeigt[cccxxi], daß ein absolutes Tötungsverbot in konkreten Situationen zu ethischen Antinomien führen kann. Die ethische Eindeutigkeit des moralischen Handelns i.S. eines moralischen Gutes ist nicht mehr gegeben. Die Fragwürdigkeit der bedingungslosen Akzeptanz des Tötungstabus wird nicht nur aufgrund präferenzutilitaristischer Kritik sichtbar, sondern auch aus dem Horizont der Sinnfrage menschlicher Existenz heraus. Leid als Selbstzweck kann nicht als Basis ethischer Axiomatik verwendet werden. Jede Moral mit Leid als existentielles Ziel wäre für jedes Lebewesen und jede Gemeinschaft selbstzerstörerisch. Das Argument der Gegner von Euthanasie und der Verfechter der These der Heiligkeit des (menschlichen) Lebens, daß der Mensch am Leid wächst und reift, ist zwar richtig - jedoch nur dann, wenn es eine Möglichkeit gibt, das Leid abzuwenden und wenn man nicht daran zerbricht.
In Kontext mit unbezwingbarem Übel zeigt sich der Schritt in den Tod als existentielle Freiheit - das Übel hat ein Ende. Dieser letzte Schritt ist schwierig und man darf nicht die thanatologische Autonomie des Philosophen im allgemeinen erwarten. Nicht jedermann steht die Bewältigung der Todesfurcht durch Reflexion offen. Bei denjenigen, welche diesen letzten Schritt kategorisch verdammen, ist aber eher eine Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Leid denn ein besonderes, moralisches Bewußtsein anzunehmen. Der Suizid wird nach den geschichtlichen Erfahrungen heute nicht mehr moralisch verurteilt. Euthanasie zu verdammen und den Suizid zuzulassen, bedeutet jedoch eine logische Inkonsistenz, welche einer rationalen Überprüfung nicht standhält.
Der Tod, unter normalen Umständen gefürchtet und gemieden, stellt für einen unheilbar schwerst Erkrankten die Erlösung dar. Diesen Tod als moralisch böse zu klassifizieren, wäre absurd. Eine phänomenale Analyse des Todes zeigt seine janusköpfige Natur: einerseits ein Übel, andererseits eine Wohltat. Den Tod zu akzeptieren[cccxxii], bedeutet nicht unbedingt Weltflucht. Diese Akzeptanz kann auch dazu führen, daß dem Individuum durch das Bewußtsein seiner eigenen Vergänglichkeit dieses Leben gelingt.
In der Euthanasie als potentielle Freiheit gegenüber dem Tod liegt ein positiver Aspekt: Während der Suizid in der Regel einen Akt der Verzweiflung darstellt, kann Euthanasie als Akt der Todesbewältigung die gemeinschaftlichen Strukturen stärken - so wie beim Harakiri nicht der Feind den Delinquenten köpft, sondern der teuerste Freund.[cccxxiii]
Nicht der böse Wille führt zur Euthanasie, sondern nur der gute - der böse führt ausschließlich in den Mord.
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Zur
Person:
Name des Autors: Robert Hammer
Geburtsort: Willendorf-Strelzhof
Geburtsdatum: 25.9.1951
Staatsbürgerschaft: Österreich
Ausbildung:
Volksschule Willendorf 1957 - 1961
Hauptschule Winzendorf 1961 - 1965
Kaufmännische Lehre mit Abschluß 1965 - 1968
Externistenreifeprüfung (naturwissenschaftliches Realgymnasium) 1981
Studium der Philosophie an der Universität Wien 1981 ad finem vitae
Der durch diese Arbeit intendierte Abschluß: Doktor der Philosophie (1998)
[i]Zugrundegelegt wurde die Originale, Practical Ethics, Ausgaben der Cambridge University Press 1979 und 1993 unter Hinzuziehung der Reclamausgaben Praktische Ethik - Auflage 1984 in der Übersetzung von Jean-Claude Wolf; Auflage 1994 in der Übersetzung von Oscar Bischoff, Jean-Claude Wolf und Dietrich Klose. Seitenangaben und Zitate mit dem Zusatz “A” beziehen sich auf die 1. Ausgabe der Cambridge University Press 1979. Der Zusatz “B” bezieht sich auf die 2. Ausgabe der Cambridge University Press 1993. Seitenangaben mit Zusatz “RA” beziehen sich auf die Reclamausgabe 1984, mit Zusatz “RB” auf die Reclamausgabe 1994.
[ii] ”Ethics, though not consciously created, is a product of social life which has the function of promoting values common to the members of the society.” (A 209)
[iii]”It is redundant to ask why I should, morally, do the action that I morally should do.” (A 203)
[iv]“We do not normally say that people ought to do, or that it is their duty to do, whatever gives them the greatest pleasure, for most people are sufficiently motivated to do this anyway.” ( A 210)
[v]”Most reflective people, at some time or other, want their life to have some kind of meaning.” (A 216)
[vi]”Now we begin to see where ethics comes into the problem of living a meaningful life. If we are looking for a purpose broader than our own interests, something which will allow us to see our lives as possessing significance beyond the narrow confines of our own conscious states, one obvious solution is to take up the ethical point of view. The ethical point of view does, as we have seen, require us to go beyond a personal point of view to the standpoint of an impartial spectator. Thus looking at things ethically is a way of transcending our inward-looking concerns and identifying ourselves with the most objective point of view possible - with, as Sidgwick put it, ‘the point of view to the universe‘.” (A 218f)
[vii]”… I am now suggesting that rationality, in the broad sense which includes self-awareness and reflection on the nature and point of our own existence, may push us towards concerns broader than the quality of our own existence; but the process is not a necessary one and those who do not take part in it - or, in taking par, do not follow it all the way to the ethical point of view- are not irrational or in error.” (A 219)
[viii]“Interests are interests, and ought to be given equal consideration whether they are the interests of human or nonhuman animals, self-conscious or non-self-conscious animals.” (A 65)
In der Reclamausgabe wurde “animals” mit “Lebewesen” übersetzt, wodurch die Schärfe der Singerschen Argumentation verloren ging.
[ix]“Ethics takes a universal point of view.” (A 11)
[x]d..h aktuelle, aktualisierte
[xi]Die Bezeichnung “Interessensabwägung” entspricht dem Denken Singers aufgrund der Metapher des Abwägens von Interessen auf einer Waage eher als die korrekte Übersetzung “Interessenserwägung”.
Wittmann verweist allerdings auf die Differenz von Interessenser- zur -abwägung.
[xii] “We can then say that euthanasia is only justifiable if those killed either: … or have the capacity to choose between their own continued life or death and make an informed, voluntary and settled decision to die.” (A 147)
[xiii]Wahrheit und Methode, S. 388
[xiv]Ebd. S. 389
[xv]Ebd. S. 390
[xvi]Winau-Rosemeier, S. 28
[xvii]”For the Nazis were concerned only for the welfare of members of the ‘Aryan‘ race, and the sufferings of Jews, Gypsies and Slavs were of no concern to them.” (A 20/B 22)
[xviii]”Some doctors closely connected with children suffering from severe spina bifida believe that the lives of some of these children are so miserable that it is wrong to resort to surgery to keep them alive. This implies that their lives are not worth living. Published descriptions of the lives of these children support this judgment. If this is correct, utilitarian principles suggest that it is right to kill such children.” (A 133, RA 181; kursiv durch R.H.)
[xix]Metaethische Überlegungen zu dem ethischen Diskurs über P.Singers »Praktische Ethik«, in Hegselmann/Merkel, S. 265f.
[xx]”Would euthanasia be the first step on to a slippery slope? In the absence of prominent moral footholds to check our descent, would we slide all the way down into the abyss of state terror and mass murder?” (A 154)
[xxi]Mir leuchtet nicht ein, wie man so Werte bewahren will - Peter Singer im Gespräch mit Christoph Fehige und Georg Meggle in: Hegselmann/Merkel, S. 153ff
[xxii]Hans Schuh, Läßt sich Euthanasie ethisch begründen?, in: Bastian, S. 121f
[xxiii]Singer, Bioethik und akademische Freiheit, in Hegselmann/Merkel, S. 324
[xxiv]Ebd. S. 322
[xxv]In Bastian, Denken, Schreiben, Töten: Spaemann, S. 8; Bastian, S. 11; Dörner, S. 24, S. 27, S. 35; Rost S. 40, S. 48, S. 53; Bastian/Rost, S. 75f.
[xxvi]Ebd., Dörner, S. 23. In Stössel, Tüchtig oder tot: Spaemann, S. 141. In Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Euthanasie: Birnbacher, S.40; Wittmann, S. 255.
[xxvii]In der Auseinandersetzung tauchte ein angebliches Zitat Singers, welches einen hohen Diskreditierungswert hat und Nähe der Singerschen Euthanasie zur Nazi-Ideologie indiziert. Der Satz, welcher weder von Singer, noch von Kuhse stammte, lautet: “Im Rahmen dieser Ethik ist es möglich und notwendig, lebenswertes und lebensunwertes Leben zu unterscheiden und das lebensunwerte zu vernichten.” (Hegselmann/Annette Strelow, Wie macht man Monster? - Zur Geschichte eines angeblichen Zitats, in Hegselmann/Merkel, S. 214ff.
Ebd., Fengler, S. 18f; Dörner, S. 28, S. 32; Rost, S. 40, S. 47f, S. 50f, S. 52; Matthias Bröckers (in “taz” vom 13.12.1990), S. 139.
[xxviii]Ebd., Bastian, S. 12f; Dörner, S. 24, S. 33; Rost, S. 39, S. 41, S. 46, S. 48f, S. 51, 53, 57; Bastian/Rost S. 73, S. 76. In Stössel, Tüchtig oder tot: Jantzen, S.151. In Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Euthanasie: Wittmann, S. 252f.
[xxix]Ebd., Fengler, S. 20f; Dörner, S. 33; Bastian/Rost, S. 80; Rost S. 38, S. 45. In Stössel, Tüchtig oder tot: Jantzen, S. 148.
[xxx]Ebd., Bastian, S. 13; Fengler, S. 15f; Bastian/Rost, S. 76f
[xxxi]Ebd., Fengler S. 21; Rost S. 49, S.53.
[xxxii]Ebd., Rost S. 49, S. 53; Bastian/Rost S. 68f, S. 72f, S. 76
[xxxiii]Vorwort, B X
[xxxiv] Vide Singer, Embryo Experimentation, S. 41
[xxxv]Ebd., S. 41
[xxxvi]Stössel, S. 153
[xxxvii] Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Euthanasie, S. 61
[xxxviii] Dieses Kapitel fehlt in der ersten Ausgabe.
[xxxix] ”Though popular, this view is not self-evidently morally sound.” (B 252)
[xl] Sendung David gegen Goliath; Reportage des ZDF vom 15.3.1996
[xli]Bastian und Rost werfen Singer vor, daß er sich von außerwissenschaftlichen Methoden leiten lasse, weil er das Paradigma der unbestechlich quantifizierenden Waage wählte. In: Bastian, Denken - Schreiben - Töten, S. 76.
Stenzel bezeichnet das quantitative Argument als die Absurdität, die in der ganzen Theorie Singers liegt, welche mit dem Prinzip der gleichen Interessenserwägung eng verschränkt ist und dieses zu einem ökonomischen Prinzip macht. Stenzel, Kein Recht auf Leben, S.33.
[xlii] Kein Recht auf Leben, S. 30ff
[xliii]Ebd. S. 36
[xliv]Ebd. S. 32f
[xlv]Singer greift in der ersten Ausgabe Schweitzer wegen dessen Hochschätzung jeglichen Lebens an. Schweitzer habe im Laufe seiner Forschungstätigkeit viele Bazillen und Parasiten vernichtet, um menschliches Leben zu retten. Singer entwickelt die Idee einer hierarchischen Wertordnung, in welcher das Leben ohne bewußter Erfahrung keinen intrinsischen Wert besitzt (A 92). In der zweiten Ausgabe weist er den Aussagen Schweitzers metaphorischen Stellenwert zu. Er wirft Schweitzer Irreführung vor, wenn dieser Ausdrücke wie “sehnen, exaltieren, Vergnügen und Furcht” im Konnex mit Pflanzen verwende. (B 279f).
[xlvi]Singer verwendet beide Interpretationsformen in einer semantisch undifferenzierten Weise.
[xlvii]Aufsatz Warum Fragen der aktiven und passiven Euthanasie auch in Deutschland unvermeidlich sind; in Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Euthanasie, S. 61
[xlviii]Bei Singer wird dies durch die stillschweigende Präsumption einer altruistischen Weltanschauung vorgenommen.
[xlix]Bei Singer die Differenz zwischen personalen und nichtpersonalen Interessen.
[l]Spektrum der Wissenschaft, 5/95, S. 76ff
[li]Gehlen, S. 84
[lii]Ebd. S 149
[liii]Ebd. S. 157
[liv]Ebd. S. 80
[lv]Ebd. S. 341
[lvi]Ebd. S. 366
[lvii]Die Bestimmung des Menschen, S. 31
[lviii]Dieses Argument soll in keiner Weise quälende Tierexperimente oder eine inadäquate Tierhaltung rechtfertigen. Auch wenn der Mensch als Spitze der terrestrischen Evolution als einzige, personale Lebensform zu betrachten ist, haben andere Lebensformen ihren berechtigten Platz. Anderen Lebensformen unnötige Qualen zuzufügen, kann nicht mit dem Argument der Personalität ethisch hinreichend begründet werden.
[lix]Aufsatz, Sind alle Menschen Personen?, in: Stössel, S. 134
[lx]Ebd. S. 22
[lxi]Ebd. S. 136
[lxii]S. 22, Einleitung
[lxiii]“A self-conscious being is aware of itself as a distinct entity, with a past and future.” (B 90)
[lxiv]Der Singersche Präferenzbegriff entspricht damit der ersten semantischen Interessensinterpretation, wobei das Interesse auf die eigene, individuelle Zukunft gerichtet ist.
[lxv]Singer verwendet die Begriffe “Interesse” und “Präferenz” weitgehend synonym.
[lxvi]Aufsatz Metaethische Überlegungen zu dem ethischen Diskurs über P.Singers »Praktische Ethik«, in Hegselmann/Merkel, S. 258
[lxvii]Anstötz, S. 78-82; paraphrasiert und gekürzt dargestellt.
[lxviii]Ebd. S. 82
[lxix]Ebd. S. 74-78
[lxx]Aufsatz IVF Technology and the Argument from the Potential, in: Embryoexperimentation, S. 76 - 89
[lxxi]“logical and physical possibility”
[lxxii]Leist, S. 107 - 131
[lxxiii]Ebd. S. 107
[lxxiv]Ebd. S 129
[lxxv]Leist, S. 182f
[lxxvi] C: kausaler Prozeß, der zu E führt.
E: einzig moralisch bedeutsame Folge
A: Handlung, die C auslöst
B: Handlung, die minimalen Energieaufwand umfaßt, der C beendet bevor E eintritt.
Prinzip der moralischen Symmetrie, formalisiert dargestellt: (AÙB) ® C « E
[lxxvii]Ebd. S.187
[lxxviii]”When we come to pronounce on the condition of human infancy, and to separate childhood, or non-age, from a state of maturity, we can scarce trace one useful or salutary consequence it is calculated to produce in society. In this view children seem less adapted to serve any special or important end, than even beetles, gnats, or flies. Experience, however, has long convinced the world of their present inestimable value from their future destination. And were a legislator, from the plausible pretext of their being a burden to the state, to exterminate the race of mankind in the insignificant stage of infancy, his decree, like that of a certain monster recorded in the gospel, would shock the sentiments of every nation under heaven, in whom there remained only the dregs of humanity.” S. 48
[lxxix]”In this respect Bentham was right to describe infanticide as ‘of a nature not to give the slightest inquietude to the most timid imagination‘. Once we are old enough to comprehend the policy, we are too old to be threatened by it.” (B 171)
[lxxx]Anstötz, S 118
[lxxxi]Winau, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, in: Winau-Rosemeier, S. 32f
[lxxxii]Leist, S. 42, S. 230, S. 243
[lxxxiii]Während beim Infantizid die reflektierenden Philosophen nicht betroffen sind, können die drei anderen o.a. Punkte auf alle Erwachsenen zutreffen und es stellt sich die Frage, ob die verfochtenen Argumente auf philosophische Grundlagen oder auf psychische Rationalisierungsmotive zurückzuführen sind.
[lxxxiv]Leist, S. 164
[lxxxv]Ebd. S. 190
[lxxxvi]”…beings who cannot see themselves as entities with a future cannot have any preferences about their own future existence.” B 95
[lxxxvii]Kritik der praktischen Vernunft, BA 65
[lxxxviii]BA 82, kursiv durch R.H.
Diese strenge Form des Personalitätskriteriums wäre treffend gegen Singers Hypothesen einer Personenhaftigkeit bei anderen Gattungen ins Feld zu führen, da mit Sicherheit gesagt werden kann, daß keine einzige Tiergattung - auch keine einzelnen, herausragend intelligente Mitglieder wie Koko - diesen Anforderungen entsprechen kann.
[lxxxix]Die Metaphysik der Sitten, AB 22
[xc]B 318
[xci]Metaphysik der Sitten, Einleitung, AB 22
[xcii]Ebd., Tugendlehre, Von der Kriecherei, A 93
Aus dieser Position lassen sich keine Erwägungen ableiten, die es zuließen, andere Menschen aus irgendwelchen “Unzumutbarkeitsgründen”, wie z.B. familiäre Belastungen wegen einer Behinderung, zu verstoßen, in Stich zu lassen oder zu töten.
[xciii]Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, A 79
[xciv]Die Mitglieder der Warnock-Kommission vertraten die Meinung, daß es einer “Rechtfertigung” bedürfte, die eigene Spezies einer anderen nicht vorzuziehen. (Mary Warnock, Aufsatz Haben menschliche Zellen Rechte, in Leist, S. 227)
[xcv]In einem Interview der “Zeit” vom 16.6.1989 erklärt Singer, daß Infantizid nur in bestimmten Grenzsituationen erlaubt sei, und zwar dann, wenn das Leben des Kindes so miserabel verlaufen würde, daß wir selbst unter diesen Umständen nicht leben wollen würden. Diese Position ist nach seiner Ethik nicht haltbar. Aufgrund fehlender Personalität kann jedes Kind nach der Geburt getötet werden. Auch die o.a. Massenmorde an neugeborenen Mädchen aus gesellschaftlichen oder ökonomischen Gründen haben nicht die geringste moralische Relevanz.
[xcvi]Dzt. ist jede Forschungsanstrengung, die auf die Modifikation von Keimbahnzellen abzielt, strengstens verboten. (Jeantine E. Lunshof, Aufsatz Ethische Probleme der Gentechnologie im Bereich der angewandten Humangenetik, in: Kampits, S. 215)
[xcvii]”A self-conscious being is aware of itself as a distinct entity, with a past and a future.” (B 90)
[xcviii]Aufsatz Abtreibung und Kindstötung, in Leist S. 166f
[xcix]Rolle der Ethiker nach Lunshof, in Kampits S. 211
[c]Bei einer stringenten und konsistenten Auslegung des Personenarguments könnten z.B. auch bei einem kurzzeitig Bewußtlosen während der Bewußtlosigkeit Organe zwecks Transplantation entnommen werden.
[ci]Glück und Wohlwollen, S. 153
[cii]Aufgrund der modernen technologischen Entwicklung besteht heute jedoch die Möglichkeit durch pränatale Eingriffe diese Form der Würde zu verletzen.
[ciii]i.S. einer auf dem Personenstatus fundierten Ethik
Als Grundlage für die geschichtliche Entwicklung des Euthanasiebegriffs wurde primär Winau, Aufsatz Die Freigabe der Vernichtung lebensunswerten Lebens, in Winau-Rosemeier, S. 27 - 51 und Leist, Aufsatz Diskussionen um Leben und Tod, S. 9 - 75, verwendet.
[cv]Die Parallelen zur Singerschen Ethik sind nicht zu übersehen:
“A life of physical suffering, unredeemed by any form of pleasure or by a minimal level of self-consciousness, is not worth living. Surveys undertaken by health care economists in which people are asked how much they value being alive in certain states of health, regularly find that people give some states a negative value - that is, they indicate that they would prefer to be dead than to survive in that condition.” (B 214)
“All of this is not to deny that departing from the traditional sanctity-of-life ethic carries with it a very small but nevertheless finite risk of unwanted consequences. Against this risk we must balance the tangible harm to which the traditional ethic give rise - harm to those whose misery is needlessly prolonged.” (B 217)
[cvi]Winau, S. 35
[cvii]Ebd. S. 36
[cviii]Ebd. S. 37
[cix]Ebd. S. 38
[cx]Winau, S. 40
[cxi]Die Rolle Amerikas auf dem Gebiet der eugenischen Euthanasie ist wenig bekannt. Der Arzt Harry J. Haiselden proponierte 1915 den Tod mißgebildeter Kinder (defective infants) und erhielt weite öffentliche Unterstützung.
Martin S. Pernick: The Black Stork: Eugenics and the
Death of Defective Babies in American Medicine and Motion Pictures Since 1915
[cxii]Bemerkenswert ist eine statistische Zahl, welche durch eine Anfrage der damals noch in Bonn vertretenen Grünen im Jahre 1990 ans Licht kam: Die Bundesregierung teilte mit, daß in Deutschland (West) jährlich mehr als 1.000 schwachsinnige Frauen sterilisiert werden. Die tatsächliche Anzahl der Eingriffe könne wesentlich höher sein. Die bis dahin fehlende, rechtliche Grundlage wurde in der vereinten Republik noch durch die alten Abgeordneten als Betreuungsgesetz geschaffen, wodurch insbesondere weibliche Menschen ohne ihre Einwilligung unfruchtbar gemacht werden können. Stössel, S. 12
[cxiii]S. 44
[cxiv]Beobachtungszeitraum März 1995 bis Mai 1997
[cxv]Wilhelm Kamlah, Meditatio mortis, in: Ebeling, S. 217
[cxvi]Ebd. S 216
[cxvii]Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd.II, S. 393ff
[cxviii]Herodot, Neun Bücher der Geschichte, I/30, 31
[cxix]Burckhardt, Bd. 2, S. 381ff
[cxx]Seneca, Philosophische Schriften, Bd. III, S. 211; Übers. Apelt
[cxxi]Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 5. Buch, Z.29.
[cxxii]Ebd. 8. Buch, Z.47
[cxxiii]Buch I, Kap. 20
[cxxiv]Selbsttötung war ursprünglich in der Bibel nicht expressis verbis verboten. Jens/Küng, S. 71
[cxxv]A. Alvarez, The Savage God, S. 69
[cxxvi]Wilhelm Kamlah, Meditatio mortis; in: Hans Ebeling, Der Tod in der Moderne
[cxxvii]Dieter Birnbacher, Selbstmord und Selbstmordverhütung aus ethischer Sicht; in: Anton Leist, S. 397f
[cxxviii]A. Alvarez, S. 63
[cxxix]Dieter Birnbacher, Selbstmord und Selbstmordverhütung aus ethischer Sicht;in: Leist, S. 401
[cxxx]Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, S. 512f
[cxxxi]Ebd. S. 515ff
[cxxxii]Ebd. S. 515ff
[cxxxiii]Schopenhauer, Über den Selbstmord, Bd. II, S. 276
[cxxxiv]Als Grundlage diente The Psychology of Death von Robert Kastenbaum, welches als Standardwerk der Psychothanatologie gilt.
[cxxxv]Ebd. S. 67
[cxxxvi]Ebd. S. 212
[cxxxvii]Ebd. S. 194ff
[cxxxviii]Ebd. S. 38f
[cxxxix]Ebd. S. 13, zit. Nach Leenaars, 1988, S. 241
[cxl]Ebd., A 169f
[cxli]Anthropologie, B 67
[cxlii]Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, A 67f
[cxliii]Ebd. A 70/71
[cxliv]“…ein um noch so viel größerer Bewegungsgrund sein müssen, sich, ein Wesen von so großer, über die stärkste sinnliche Triebfedern gewalthabenden Obermacht, nicht zu zerstören, mithin sich des Lebens nicht zu berauben.” Ebd. A 72
[cxlv]Ebd. A 73
[cxlvi]Ebd. A 73: “Sich eines integrierenden Teils als Organs berauben (verstümmeln), z.B. einen Zahn zu verschenken, oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade eines anderen zu pflanzen, oder die Kastration mit sich vornehmen zu lassen, um als Sänger bequemer leben zu können, u. dgl. gehört zum partialen Selbstmorde; aber nicht, ein abgestorbenes oder die Absterbung drohendes, und hiemit dem Leben nachteiliges Organ durch Amputation, oder, was zwar ein Teil, aber kein Organ des Körpers ist, z.E. die Haare, sich abnehmen zu lassen, kann zum Verbrechen an unserer eigenen Person nicht gerechnet werden; wiewohl der letztere Fall nicht ganz schuldfrei ist, wenn er zum äußeren Erwerb beabsichtigt wird.”
[cxlvii]Vom Begehrungsvermögen, B 213 - B 215
[cxlviii]B 214
[cxlix]Der Streit der Fakultäten, A 169f
[cl]Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, A 199
[cli]Ebd., A 204f: “Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie eine verboten Ware), so daß dieses seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann, und die Schande der Mutter, wenn ihre uneheliche Niederkunft bekannt wird, kann keine Verordnung heben.”
[clii]Ebd.
[cliii]Ebd.
[cliv]Darstellung
aufgrund des Buches Samurai oder Von der Würde des Scheiterns des Japanologen Ivan Morris.
[clv]Die
vulgäre Bezeichnung Harakiri wurde wie bei Morris (v. Anmerkung 50, S. 530)
gegenüber der würdevollen Bezeichnung Seppuku beibehalten
[clvi]Mishima Yukio, welcher am 20.11.1970 anscheinend aus dem Streben, als Held zu sterben, Harakiri beging, hat zwischen dem Wesen des Harakiri und dem Prinzip des makoto (“Aufrichtigkeit”) einen Zusammenhang gesehen. In einer Erklärung an einen ausländischen Zeitungskorrespondenten bezweifelte er die westliche Aufrichtigkeit. Da man in der Feudalzeit glaubte, daß die Aufrichtigkeit in den Eingeweiden lebte, war es nötig, den Bauch aufzuschneiden, um die Aufrichtigkeit zu zeigen und als sichtbare Aufrichtigkeit herauszunehmen. Dieser Akt war ein Symbol der Willenskraft eines Soldaten. Jedermann wußte, daß dies die schmerzhafteste Art zu sterben war. In der Wahl, auf diese entsetzliche Art zu sterben, offenbarte sich die Tapferkeit des Samurai.
[clvii]Der
folgenden Darstellung wurde Philippe Ariès, Geschichte des Todes, zugrundegelegt.
[clviii]Der
folgenden Darstellung wurde Georg Scherer, Das Problem des Todes in der
Philosophie, zugrundegelegt.
[clix]So für Stössel, welcher in der Hospizbewegung eine ausreichende Betreuung Sterbender erfüllt sieht. Kübler-Ross wurde wegen ihrer diesbezüglichen Position von Singer kritisiert.
[clx]Aussage Maximilian L., Nachlaßverwalter in Hadamer; in: Ernst Klee, Hrsg., Dokumente zur »Euthanasie«, S. 125
[clxi]Der
personal verstandene Tod
[clxii]Ebd.
S. 44
[clxiii]Ebd. S. 45
[clxiv]Helga Kuhse, Die Lehre von der >Heiligkeit des Lebens<, in Leist, S. 91
[clxv]Leist, S. 92
[clxvi]Ebd. S. 93
[clxvii]Reinhard Merkel, Aufsatz Teilnahme am Suizid, Tötung auf Verlangen, Euthanasie, in Hegselmann/Merkel S. 72
[clxviii]Ebd. S. 88
[clxix]Aufsatz Philosophie und Öffentlichkeit, in Hegselmann/Merkel S. 183
[clxx]Helga Kuhse, Aufsatz Die Lehre von der >Heiligkeit des Lebens< in Leist, S. 88
[clxxi]Aufsatz Euthanasie, in Leist, S. 288
[clxxii]Ebd. S. 294
[clxxiii]Zur Debatte über Euthanasie, Einleitung, S. 16
[clxxiv]Eine solche Entscheidung wäre aber wieder zu hinterfragen, da ein gesunder Mensch in geordneten und positiv gestalteten Lebensumständen kaum ein rationales Motiv für einen Selbstmord vorbringen könnte und eine Entscheidung für den Tod jegliches Argument äußerst fragwürdig erscheinen läßt.
[clxxv]35 Noli me inuitus audire, tamquam ad te iam pertineat ista sententia, et quid dicam aestima: non relinquam senectutem, si me totum mihi reseruabit, totum autem ab illa parte meliore; at si coeperit concutere mentem, si partes eius conuellere, si mihi non uitam reliquerit, sed animam, prosiliam ex aedificio putri ac ruenti. 36 Morbum morte non fugiam, dumtaxat sanabilem nec officientem animo. Non afferam mihi manus propter dolorem : sic mori uinci est. Hunc tamen si sciero perpetuo mihi esse patiendum, exibo, non propter ispum, sed quia impedimento mihi futurus est ad omne, propter quod uiuitur. Inbecillus est et ignauus, qui propter dolorem moritur, stultus, qui doloris causa uiuit. 37 Sed in longum exeo : est praeterea materia, quae ducere diem possit : et quomodo finem inponere uitae poterit, qui epistulae non potest ? Vale ergo : quod libentius quam mortes meras lecturus es. Vale.
(Ad Lucilium epistulae morales, 58, 35-37)
[clxxvi]"Non afferam mihi manus propter dolorem: sic mori vinci est."
[clxxvii]"Morbum morte non fugiam,…"
[clxxviii]"…, dumtaxat sanabilem nec officientem animo."
[clxxix]Meditatio mortis, in Ebeling, S. 210 - 225
[clxxx]"Hat er aber gemordet, so muß er sterben." (Metaphysik der Sitten, B 229)
[clxxxi]Niederländische Ärzte, welche Euthanasie mit legal garantierter Straflosigkeit praktizieren, haben offensichtlich mit Gewissenskonflikten zu kämpfen.
[clxxxii]Aufsatz Selbstmord und Selbstmordvorsorge aus ethischer Sicht, in Leist, S. 420
[clxxxiii]Übersetzung durch Prof.Dr.med. Axel W. Bauer, Mitglied der Akademie für Ethik und Medizin.
[clxxxiv]Wie z.B. Spaemann; Sind alle Menschen Personen, in Stössel, Tüchtig oder tot, S. 146
[clxxxv]Kein Recht auf Leben, S. 34
[clxxxvi]Ebd. S. 36
[clxxxvii]Ebd. S. 38
[clxxxviii]Ebd. S. 40
[clxxxix]Ebd. S. 41
[cxc]Ebd. S. 43
[cxci]"Reinhard Merkel, ‘Der Streit um Leben und Tod‘, in: ‘Die Zeit‘, 23. Juni 1989."
[cxcii]Kein Recht auf Leben, S. 95
[cxciii]Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, A 302
[cxciv]Ebd., A 307
[cxcv]Ebd., A 314
[cxcvi]B 175
[cxcvii]Nikomachische Ethik, 1110a, 1 - 1110a, 13
[cxcviii]Ebd., 1111a 23, 24
[cxcix]Ebd., 1110b, 18 - 1110b, 24
[cc]Das Tötungsverbot aus Sicht des klassischen Utilitarismus, in Hegselmann/Merkel, S. 25-50
[cci]Aufsatz Ordnung, Pflicht und Tötungsbereitschaft, in Bastian, S. 15 - 21
[ccii]Zur Professionalisierung der ‘Sozialen Frage‘, a.a.O., S. 23 - 25
[cciii]Menschenwürdig sterben, in Jens/Küng, S. 61
[cciv]Siehe H. Begemann, Aufsatz Medizin im Widerspruch, a.a.O., S. 108
[ccv]Mehrere, um Diagnosefehler zu vermeiden.
[ccvi]Spaemann, Glück und Wohlwollen, S. 120
[ccvii]Erfülltes Leben - würdiges Sterben, S. 43
[ccviii]A.a.O., S. 56
[ccix]The Psychology of Death, S. 46
[ccx]Ebd., S. 1 - 47
[ccxi]Aufsatz Euthanasia and Physician Assisted Suicide in the Netherlands, in Kampits, S. 168
[ccxii]Jens/Küng, S. 71f
[ccxiii]A.a.O., S. 73f
[ccxiv]d.h. dem Leiden seinen Lauf zu lassen
[ccxv]Im Sinne einer formallogischen Konjunktion: a Ù b Ù g
[ccxvi]Voraussetzung ist allerdings, daß der Entschluß auf eine vernunftbedingte Entscheidung und nicht auf Verzweiflung zurückzuführen ist.
[ccxvii]Meditatio mortis, in Ebeling, S. 215
[ccxviii]Beide hatten für den Fall, daß seine Frau von der Gestapo interniert werden würde, eine Kapsel Zyankali auf dem Nachtisch. Dieser Fall trat nicht ein, weil das Dritte Reich eine Woche vor dem Abholtermin zusammenbrach.
[ccxix]Ariès, S. 726
[ccxx]Meditation XXVII, de la mort, Physiologie du gout
[ccxxi]Kein Recht auf Leben, S. 26
[ccxxii]Ebd., S. 39
[ccxxiii]B 179
[ccxxiv]B 200f
[ccxxv]B 201
[ccxxvi]B 84
[ccxxvii]Aufsatz Vom Wunschtraum zum Trauma?, in Stössel, S. 24 - 28
[ccxxviii]Es gibt keine rationale Begründungsmöglichkeit, Leid als teleologischen Zweck menschlichen Lebens anzusehen. Eine solche Betrachtungsweise läßt sich auch nicht aus theologischer Sicht vertreten. Für Johannes Brantschen sind die herrlichsten Menschen, die er kennt, diejenigen, welche durch tiefe Leiden hindurchgegangen sind, weil sie wahre Weisheit und weise Menschlichkeit besäßen. Trotzdem ist für ihn Leiden nicht "an sich" und automatisch etwas Gutes. Er überliefert die letzten Worte des französichen Kardinals Veuillot, Erzbischof von Paris, nach 3 Monaten Agonie im Jahre 1968 an seinen Freund, Bischof Lallier: "Wir Priester verstehen es meisterhaft, schöne Sätze übers Leiden zu machen. Auch ich habe übers Leiden in ergreifenden Worten gepredigt. Sagen Sie den Priestern, sie sollen lieber schweigen, wir wissen nämlich nicht, was leiden heißt…"
(Aufsatz Leiden, in Stössel, S. 156 - 168)
[ccxxix]B 346
[ccxxx]Kein Recht auf Leben, S. 66
[ccxxxi]In Hegselmann/Merkel, S. 270f
[ccxxxii]Fengler, Ordnung, Pflicht und Tötungsbereitschaft, in Bastian, S. 20
[ccxxxiii]Zur Professionalisierung der ‘Sozialen Frage’, in Bastian, S. 29
[ccxxxiv]In Stössel, S. 56f
[ccxxxv]Ebd., S. 154f
[ccxxxvi]Bastian, Nachwort, S. 117; Dörner/Daub in Daub/Wunder, S. 40; Rost in Bastian, S. 51; Dörner in Bastian, S. 533f, etc.
[ccxxxvii]B 214
[ccxxxviii]B 342
[ccxxxix]B 22
[ccxl]Spaemann; in Stössel, S. 137
[ccxli]Löw; in Bastian, S. 89
[ccxlii]Löw; a.a.O.
[ccxliii]Rita Süssmuth; in Daub/Wunder, S. 17
[ccxliv]Rita Süssmuth; ebd. S. 20
[ccxlv]Dörner und Daub; in Wunder/Daub, S. 38
[ccxlvi]Detlef B. Linke und Martin Kurthen; in Hoff/in der Schmitten, S. 255
[ccxlvii]In Leist, S. 266
[ccxlviii]Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 52
[ccxlix]A.a.O.
[ccl]Ebd., BA 66f
[ccli]Ebd., BA 66
[cclii]Ebd., BA 65
[ccliii]Ebd., BA 64
[ccliv]Logik, A 23
[cclv]Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Von der Kriecherei, A 94
[cclvi]A.a.O. Singer differenziert zwischen Empfindungsfähigkeit und Selbstbewußtsein.
[cclvii]Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 77
[cclviii]A.a.O.; kursiv durch R.H.
[cclix]Ebd., BA 78
[cclx]"…, weil moralische Gesetze für jedes vernünftige Wesen überhaupt gelten sollen,…" Ebd., BA 35
[cclxi]Wittkowski, S. 79
[cclxii]Ebd., S. 120ff
[cclxiii]A.a.O., S. 160f
[cclxiv]Leidzuweisung - Enteignung des Selbstseins, in Stössel, S. 170
[cclxv]Ebd., S. 173
[cclxvi]A.a.O.
[cclxvii]Ebd., S. 171
[cclxviii]Améry, S. 54
[cclxix]B 213
[cclxx]De ira, liber I.XV.2
[cclxxi]B 215
[cclxxii]B 217
[cclxxiii]Die Geschichte der Lebens(un)wert-Diskussion, Bruch oder Kontinuität?, in Daub/Wunder, S. 51 - 61
[cclxxiv]Section 3.12f
[cclxxv]Part 1.9(2), 4.18, 19
[cclxxvi]"Wer nicht schweigt, kommt ins KZ oder wird erschossen." - Zitat eines verantwortlichen Offiziers nach der Aussage eines Leichenverbrenners der Anstalt Hartheim; in Klee, Dokumente zur »Euthanasie«, S. 125
[cclxxvii]Bis zu 80%
[cclxxviii]Der nordaustralische Terminally Ill Act als erstes Euthanasie-Gesetz der Welt war vom 1.7.1996 bis 27.3.1997 in Kraft.
[cclxxix]Angaben nach Gerrit K. Kimsma, in Kampits, S. 161
[cclxxx]Mark Richartz, Euthanasie und Menschenrechte, in Daub/Wunder, S. 106
[cclxxxi]Ebd. S. 100
[cclxxxii]So bei Wunder, in Stössel, S. 100; Hagen Kühn, ebd. S. 129; Stössel, ebd. S. 17;
[cclxxxiii]In Daub/Wunder, S. 58
[cclxxxiv]Unbeschadet der moralischen Fragwürdigkeit ist die Ausgrenzung behinderter Menschen wegen ihrer Behinderung m.E. schon aus sozialhygienischen Gründen abzulehnen: Die Art und Weise wie eine Gesellschaft mit ihren Schwachen und Kranken umgeht, ist ein Symptom für den Gemeinschaftssinn und damit ein Symptom für die geistige Gesundheit dieser Gesellschaftsform. Das Aussondern der Schwachen und Kranken dürfte die Indikation für eine schwache Gesellschaftsform ohne Bestand sein, da sie das Kränkliche und Schwächliche nicht ertragen kann und deshalb gezwungen ist, dieses Faktum zu negieren bzw. zu korrigieren.
[cclxxxv]Wenn z.B. nach einem atomaren Holocaust 5% verbliebenen Gesunde 95% Kranke gegenüberstünden.
[cclxxxvi]Ethik und Behinderung, S. 119f
[cclxxxvii]Anstötz bringt dieses Fallbeispiel, um aufzuzeigen, daß Entscheidungen, was für ein geschädigtes Neugeborenes das Beste ist, nicht immer möglich sind und in welchem Ausmaß ethische Entscheidungen von wissenschaftlicher Erkenntnis und Entwicklung abhängig sind.
[cclxxxviii]In Daub/Wunder, S. 33
[cclxxxix]B 183
[ccxc]B 180
[ccxci]B 346, Appendix
[ccxcii]B 84
[ccxciii]Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 9
[ccxciv]Ebd., BA 11f
[ccxcv]B 203f
[ccxcvi]Zugrundegelegt
wurde Sein und Zeit
[ccxcvii]Ebd. S. 250f
[ccxcviii]Ebd. S. 258f
[ccxcix]Anmerkung aus Heideggers Handexemplar: nicht Angst als bloße Emotion
[ccc]S.
266
[ccci]S. 310
[cccii]Aufsatz Mein Tod, in Ebeling, Der Tod in der Moderne, S. 83
[ccciii]Jargon der Eigentlichkeit, S. 111f
[ccciv]Sein und Zeit, S. 324
[cccv]Eine weitere Interpretationsmöglichkeit ergäbe sich, das "Verfehlen der eigenen Existenz" als Form des Todes auszulegen.
[cccvi]Sein und Zeit, S. 261
[cccvii]Ebd. S. 42
[cccviii]Ebd. S. 325
[cccix]Has Life a Meaning? B 331 - 335
[cccx]Eine Studie Kastenbaums, in welcher Personifizierungsmodelle des Todes untersucht wurden, ergab vier Typen von Personifizierungen:
1. Der Tod als der Makabre - eine kraftvolle, überwindende und abstoßende Figur.
2. Der Tod als der sanfte Tröster - ein trostvolles, willkommenes Ereignis, oft in Person eines alten Mannes mit weißem Haar und langem Bart dargestellt.
3. Der Tod als fröhlicher Betrüger - eine attraktive, sinnliche Person beiderlei Geschlechts.
4. Der Tod als Automat - ein seelenloser, gefühlloser Automat mit menschlichem Aussehen, aber ohne menschliche Qualitäten.
[cccxi]S. 99
[cccxii]III. Kapitel, 1. Abschnitt, § 5
[cccxiii] D.h. beschränkt nicht nur in den sich anbietenden Verwirklichungsmöglichkeiten, sondern auch beschränkt in seinem zeitlichen Sein.
[cccxiv]So
z.B. von Adorno, Jargon der Eigentlichkeit
[cccxv]Die Aussage der Großtante Brillat-Savarins verweist auch bei gesunden, alten Menschen auf dieses Bedürfnis.
[cccxvi]III. Kapitel, 1. Abschnitt, § 3
[cccxvii]III. Kapitel., 1. Abschnitt, § 3b
[cccxviii]Dies kann aus dem Faktum geschlossen werden, daß bei der nordaustralischen Gesetzgebung Menschen versuchten, um jeden Preis legal zu sterben und nicht Suizid begingen.
[cccxix]Man könnte die Position vertreten, daß das einzelne Mitglied einer Gemeinschaft ausschließlich für die Zwecke des Kollektivs existiert!
[cccxx]Zu bedenken ist in diesem Kontext der weltweite demographische Überalterungsprozeß in den Industrieländern. Man kann nicht apriori ausschließen, daß die Regierenden die Probleme der Überalterung dadurch zu bewältigen versuchen, daß man legalisierte Euthanasie als Mittel zur Bevölkerungsregulierung verwendet.
[cccxxi]III. Kapitel, 2. Abschnitt, § 2
[cccxxii]Heidegger spricht von einem Mut zur Angst vor dem Tod!
[cccxxiii]S. Maurice Pinguet, S. 10