2.4 Internet als Medium

Bei der Annäherung an dieses Medium zeigt sich gleich von Beginn an das Problem, daß es noch keinen Namen dafür gibt. In manchen Bereichen wird "Multimedia" verwendet, Internet ist ein häufig gebrauchtes Synonym, das auch in dieser Arbeit für die neue Medienlandschaft verwendet wurde. Ein weiterer Begriff, der das neue Medium gut beschreibt, ist "Netz-Medium" 44. "Der Begriff "Netz-Medium" ist eine begriffliche Neuschöpfung. Der Begriff "Netz-Medium" meint zunächst das technische Vermittlungssystem, das durch die digital-elektronische Vernetzung entsteht, das aber über die technische Vermittlungsfunktion hinaus das Potential eines publizistischen Mediums enthält. Das heißt eines sinn-konstituierenden Handlungskontextes, in dem professionelle Akteure und Organisationen regelhaft mitwirken." 45
Der so definierte Begriff "Netz-Medium" soll das WWW im Internet, e-mail und Datenbankzugänge, Chat- und Newsforen, Online-Dienste kommerzieller und nicht kommerzieller Organisationen, sowie die Integration traditioneller Massenmedien (wie z.B. Programmfernsehen) auch in neuen Vermittlungsformen wie digitales Fernsehen oder interaktive Varianten wie "video on demand" umfassen.
Bereits aus dieser Aufzählung geht hervor, daß Neverla keine sorgfältige Abgrenzung der technischen Unterschiede in ihrem Begriff trifft. Die Begründung für diese fehlende Abgrenzung wird in der hohen Dynamik des neuen Mediums festgemacht. Im wesentlichen stellt Neverla zwei Thesen dar:

Wie bei jeder neuen Technologie knüpfen sich auch an die elektronisch-digitalen Netzwerke vielfältige soziale Phantasien, die einige Potentiale der Technik erst zur Praxis werden lassen. Rund um die neue Technik wird also in den Köpfen der Menschen eine soziale Wirklichkeit konstruiert. Eine wichtige Rolle in dieser Konstruktion spielen verschiedene Erzählpraktiken, die als Gemeinplätze, Methaphern, Szenarien und Diskurse verschiedene Leitbilder erzeugen. Im Zusammenspiel von materiellen und ideellen Wirkkräften wird Technik vergesellschaftet und es werden die Anwendungsformen und der Umgang mit den Gegenständen geboren. Neverla sieht das "Netz-Medium" als eine Form gesellschaftlicher Praxis: "Dieser gesamte soziale Prozeß zeigt, daß Technik als materiale Form gesellschaftlicher Praxis zu verstehen ist, die nicht zuletzt durch eine Abfolge von kommunikativen Akten geprägt ist." 46
In der Debatte um das neue Medium werden Grundfragen behandelt, die das Bild des Menschen in seiner gestaltenden Kraft, das Verhältnis von Natur und Kultur sowie Individuum und Gesellschaft betreffen. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die aktuelle Erwartung der Menschen an die Rolle der Medien in der gesellschaftlichen Entwicklung.

2.4.1 Medienbegriffe als Erzählpraktiken

Irene Neverla findet vier Erzählpraktiken, die sich mit unterschiedlichen Akzenten der selben Gemeinplätze bedienen und so ein Spannungsverhältnis darstellen. Das "Netz-Medium" ermöglicht eine Bewegung in einen neuen Raum hinein und vermittelt dabei Weite, Expansion und individuelle Freiheit. Auf der anderen Seite sind Infrastruktur, Ordnung und Regelung die Voraussetzung, um diese Weite des Raums zu nutzen und sie zu gestalten. Auf der einen Seite steht die sinnlich-ästhetische Entfaltung und Expression des Individuums, auf der anderen Seite die Bändigung und Zivilisierung eines ungeordneten Urzustandes. Dem sind auch verschiedene Medienbegriffe zugeordnet. Erstens ist das Medium Mittel eines individuell-expressiven Ausdrucks – also eine Art vorgesellschaftliches Mittel zur individuellen Erfahrung.
Andererseits ist das Medium Instrument eines zweckgerichteten, strategischen Handelns zur Erreichung eines gesellschaftlichen Ziels, dem eine bestimmte Ordnung unterliegt. Im "Netz-Medium" wird also durch die Eigentümlichkeit der Technik eine neue Gesellschaft konstituiert. Dabei wird die "alte" Gesellschaft als Ausgangslage betrachtet. Als Bild dafür wurde das "Rhizom" gefunden. Dieser Begriff wurde der Biologie entnommen und geht auf Deleuze und Guattari zurück. Er meint das unentwirrbare, unterirdisch wuchernde Wurzelgeflecht von Sträuchern. Kennzeichen des Rhizoms sind Vernetzung und Heterogenität, Vielheit, permanente Veränderbarkeit und Unzerstörbarkeit durch vielfältige Anschlußmöglichkeiten. Das Rhizom wird als Metapher und Charakterisierung für das "Netz-Medium" aufgegriffen. Das "Netz-Medium" wird in dieser technokratischen Sicht als Instrument der Weltgestaltung gesehen.
Zur rhizomatischen Gesellschaft gehört der nomadische Mensch, da eine Zentrierung an einem Ort überflüssig und auch unmöglich ist. Das "Netz-Medium" wird von diesem Menschen als Mythos verstanden. Es wird ein Gewebe unterschiedlichster Erzählstränge darum gerankt, um die komplizierte Technik zu erklären, sich anzueignen und zu domestizieren. Im Unterschied zu früherem religiösem Denken, das ein Individuum gänzlich in der Macht der Gottheit ließ, bezieht sich diese neuere Version auf das "höhere Wesen" Technik, das allerdings selbst ein Ergebnis menschlichen Handelns ist. Damit entsteht eine paradoxe Situation, denn die Verletzlichkeit im Umgang mit diesem Medium wird als technisch beherrschbar und damit letztlich auch als Zeichen der eigenen Allmacht begriffen. Für das "Netz-Medium" gilt also, daß seine Technik in der menschlichen Vorstellungskraft von der Überwindung materieller und existentieller Grenzen - also einer Utopie – wurzelt, die durch ihre Realisierung transformiert wird. Im Sinne Ernst Cassirers läßt sich seine Aussage über die Technik auch auf das Internet anwenden: Er meint, daß Technik, obwohl sie das Ergebnis menschlichen Denkens ist, manchmal als die "Uroffenbarung aus einer anderen Welt" 47 erscheint. Das Medium wird hier zum Ort des Mythos. In diesem mythologischen Begriff des Mediums wir es zu einem magischen Vehikel auf dem Weg des Schicksals.
Von einigen Vertretern der neueren Postmoderne wird ein völlig neuer Medienbegriff erarbeitet. Die Differenz zwischen Mensch und Technik wird aufgehoben. Technik in diesem Sinne ist keine essentielle, abgegrenzte, konstante Identität. Ihre "Identität" ist als fragmentiertes, partiales und unabgeschlossenes Selbst zu verstehen, das keiner absoluten Distanzierung vom Objekt, auch nicht von der Natur bedarf. Dieses Denken bricht mit radikalen Denkmustern und ist absolut utopisch. Aber dadurch, daß es radikal in der Zukunft agiert, droht es die Historizität und damit die soziale Konstruktion von menschlicher Gesellschaft aus dem Blick zu verlieren. Trotzdem erscheint hier ein neuer Medienbegriff, in dem das Medium Ausdruck der Synthese von Mensch und Maschine, vergesellschaftete Natur und ein eigentümliches Geschöpf für sich ist. "Diese Art von Medium ist zugleich hochkontingent und singulär, indifferent und hoch komplex. Insoweit ist das Medium als eigenes Symbolsystem zu verstehen, vergleichbar den Symbolsystemen Sprache und Schrift." 48
Alle vier Medienbegriffe sind weit davon entfernt, was die Kommunikationswissenschaft über den publizistischen Medienbegriff entwickelt hat: Dort bildet die Technologie zwar den Kern des Mediums, das zweite zentrale Merkmal eines publizistischen Mediums ist aber die historisch geprägte Organisationsform. Die gesellschaftliche Bedeutung eines Mediums erschließt sich erst über die Analyse des Sinnzusammenhanges.
Das "Netz-Medium" mit seiner rasanten Entwicklung entzieht sich zur Zeit noch jedem Ordnungsversuch und ist daher von einer historischen Organisationsform weit entfernt. Auch die gesellschaftliche Bedeutung liegt im Unklaren, da die gesellschaftliche Durchdringung mit dem neuen Medium erst voll im Gange ist und keineswegs vorausgesehen werden kann, wie sich Medium und Gesellschaft zueinander verändern. Die so dargestellten Medienbegriffe können also nur in Bezug auf ihre Erzählpraktiken als Medienbegriffe verstanden werden und nicht als Medienbegriffe nach dem Verständnis der Kommunikationswissenschaften.

2.4.2 Abgrenzung zu anderen Medien

In einem weiteren Ansatz sich dem Begriff "Internet" zu nähern versucht man das Internet - als Medium - durch seine Besonderheiten von anderen Medien abzugrenzen. Dazu werden sieben Paradigmen dargestellt, die das Medium Internet von anderen Medien unterscheidet.
Das Paradigma der "Interaktivität" spricht die Möglichkeit des Internets zum Dialog an. So kann man eine direkte Antwort erhalten, es ist aber auch ein reziproker Austausch von Mitteilungen oder einfach eine zweiwegige Kommunikation zwischen Anbieter und User möglich. Der User kann von sich aus mit anderen in Kommunikation treten oder selbst Einfluß auf den Inhalt oder den Ablauf des Mediums haben.
In diesem Paradigma werden verschiedene Folgen in der Kommunikation mit diesem Medium vorweggenommen. So wird eine entstehende Rollensymmetrie postuliert, daß entsteht, d.h. die Rollen "Sender" und "Empfänger" werden aufgehoben, traditionelle Kommunikationstypen wie Massen-, Gruppen- oder Individualkommunikation werden teilweise aufgelöst und zu virtuellen Gemeinschaften gemischt.
Das Paradigma der Freiheit im Netz meint, daß die Unübersichtlichkeit und Größe des Internets die Vorstellung induziert, daß jeder User zu jeder Zeit auf jeden gewünschten Inhalt zugreifen kann. Darunter wird verstanden, daß der User die Themenauswahl selbst treffen, die unterschiedlichsten Quellen miteinander verknüpfen und sich einen eigenen Weg durch das vorhandene Informationsangebot suchen kann. Als Grundlage dienen Überlegungen zum Hypertext Konzept 49. Das Paradigma erscheint aber mit dem immer stärker werdenden Einzug von kommerziellen Interessen in den Inhalt von Internet-Auftritten immer fraglicher, weil der User immer weniger selbständig Inhalte selektieren und verbinden kann, sondern immer mehr zum geführten Konsumenten wird, der wohldefinierte Stadien durchläuft, bis er zum Konsum von Informationen oder Waren geführt wird.
Das Paradigma der Multimedialität beschreibt, daß in einigen der Übertragungsprotokolle des Internets, wie z.B. HTTP 50 die Möglichkeit besteht, Texte, Bilder, Animation und Ton miteinander zu verbinden. So wurde der Begriff Multimedialität, der ursprünglich auf den Zusammenschluß verschiedener technischer Geräte eingeschränkt war, auf das Medium Internet erweitert.
Dieses Paradigma besagt also, daß verschiedene Elemente integriert werden können. Daher kann Multimedia im Rahmen dieses Paradigmas als Medienformenintegration definiert werden.
Im Paradigma der Vielfalt bietet das Internet die Möglichkeit, über eine Unzahl von Speichermedien eine nahezu unbegrenzte Speicherkapazität zur Verfügung zu stellen. Auch inhaltlich gibt es kaum Themengebiete, die nicht in irgendeiner Form angesprochen oder abgedeckt werden. Daher erscheint in diesem Medium - wie in keinem anderen - eine quasi unbegrenzte Vielfalt vorzuherrschen.
Inhaltliche Vielfalt kann aber in jedem Medium geboten werden. Das Paradigma der Vielfalt erscheint wohl erst durch die Kombination mit der schnellen Zugriffszeit auf die Information logisch.
"Virtuell" wird im Zusammenhang mit dem Paradigma der Virtualität und den neuen Medien als "künstlich" im Sinne von "simuliert" verwendet. Es wird unterstellt, das Internet erzeuge "virtuelle Welten" 51." Die Darbietung im Internet ist - bei gut gemachten Auftritten - sehr realistisch und das Medienprodukt als solches daher schwer identifizierbar. Ob und inwieweit das Internet als virtuell bezeichnet werden kann, hängt aber von der Abgrenzung des Begriffs "virtuell" ab. "Virtuelle Applikationen sind im Internet zwar prinzipiell möglich, sie können aber ebenso in anderen Medien präsentiert werden. Beispielsweise mit dem Computer bzw. mit CD–ROM basierten Computerspielen lassen sich weitaus mehr "virtuelle" Effekte erzielen.
Das Paradigma der Globalität geht von einer Vielzahl von Netzen aus, die über die ganze Erde verstreut sind und das Internet bilden. Es wird aber auch unterstellt, daß das Internet für jedermann öffentlich zugänglich und die Zahl der potentiellen Sender und Empfänger praktisch nur durch die Zahl der Menschen begrenzt ist. Das Fehlen eines geographischen Referenzpunktes, an dem "das Internet" lokalisiert werden kann, bedeutet aber noch lange nicht, daß es für jedermann zugänglich ist, denn eine hohe Know–How Schranke in Verbindung mit hohen Kosten machen es nur für eine kleine Schicht der ersten Welt zugänglich.
Hinter dem Paradigma der Zeitlosigkeit steht die Überlegung, daß Telekommunikationsverbindungen in immer kürzerer Zeit immer größere Mengen von Daten transportieren können, mit denen die Rechner immer schneller operieren. Daher wird vielfach von "synchroner" Kommunikation gesprochen. Die Zeitverzögerung der Übertragung erscheint dabei so niedrig, daß sie nicht mehr als Zeitverzögerung empfunden wird. Dem Medium Internet wird auf diese Weise die Loslösung von zeitlichen Restriktionen unterstellt. In Hinblick auf Internet Auftritte unterstellt dieses Paradigma die stete Aktualität der angebotenen Inhalte, was leider allzuoft nicht der Fall ist.

Zusammenfassend läßt sich ein Bild skizzieren in dem diese Paradigmen durchaus auch für andere Medien gelten können. Im Internet konstituieren sie sich aber in einer spezifischen Art und Weise, die im Vergleich zu anderen Medien neu ist und dem Benutzer im Rahmen des Kommunikationsvorgangs in ihrer Kombination etwas qualitativ Neues ermöglichen.




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44 Neverla, Irene: "Das Netz-Medium: Kommunikationswissenschaftliche Aspekte eines Mediums in Entwicklung", Wiesbaden 1998; Seite 7
45 ebd. Seite 7
46 Neverla, Irene: "Das Netz-Medium: Kommunikationswissenschaftliche Aspekte eines Mediums in Entwicklung", Wiesbaden 1998; Seite 18
47 Cassirer, Ernst: "Symbole, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927 – 1933"; Hamburg 1985; Seite 6
48 Neverla, Irene: "Das Netz-Medium: Kommunikationswissenschaftliche Aspekte eines Mediums in Entwicklung", Wiesbaden 1998; Seite 28
49 Siehe http://hhobel.phl.univie.ac.at/~herbert/bemerkungen/text_bem.html
50 Siehe 2.2.1.10
51 Vesper, Sebastian: "Das Internet als Medium: Auftrittsanalysen und neue Nutzungsoptionen", Bardowick, 1998; Seite 24