3.2Begriffsdefinition

Der Begriff "Mystik" leitet sich aus dem lateinischen "Mysterium" ab, was soviel wie Geheimkult, Geheimlehre bedeutet 53. Dies entspricht dem griechischen Begriff "musterion", was "Geheimnis" oder "übertragene Gebote der geheimnisvollen Weisheit" (= Naturgesetze) bedeutet 54.
Eine andere Deutung leitet Mystik von "mus" ab, was "sich schließen" heißt. "Augen und Mund schließen – und zwar nicht aus Enttäuschung, sondern aus Verwunderung, als Ausdruck höchster Kommunikation. In der Mystik tritt uns Menschen das Geheimnis entgegen, das erfüllt und dermaßen fasziniert, daß uns nur schweigende Anbetung, Staunen und Verwundern, ganzheitliches Gegenwärtigsein bleibt." 55
Dionysius Areopagita verbindet "myein", was "die Augen schließen, eingeweiht werden heißt und mystes, "der Eingeweihte", zu dem Begriff mystische Theologie. 56
Für Kritiker ist Mystik jedoch nichts als ein romantischer Irrationalismus, der in periodischen Abständen die westliche Welt befällt. Für sie wird Mystik zu "Phasen des Irrationalismus und der heilsamen Absurdität zur Regeneration, als gefühlsstarker Ausgleich zu ihrem gefühllosem Alltag" 57
Bruno Borchert definiert Mystik als " ... ein Phänomen, das offensichtlich in allen Religionen und Kulturen vorkommt, in seinen Äußerungsformen zwar verschieden, aber im Kern überall gleich: ‘aus Erfahrung wissen, daß alles irgendwie zusammenhängt, daß alles im Ursprung eins ist.’" 58
Eine weitere Definition liefert das RGG.
"Mystik ist ein religiöses Urphänomen, bei dem in unmittelbarer Intuition das Erleben Gottes stattfindet ... Thomas von Aquin definiert Mystik als cognitio Dei experimentalis, die fundamentale Erfahrung eines unmittelbaren Kontaktes mit Gott oder der metaphysischen Urwirklichkeit ... Der Akt der unio mystika kann mit irdischen Termini nur ungenügend beschrieben werden. Darum wird oft von einem silentium mystikum und einer theologia negativa gesprochen ... Der paradoxale Charakter der mystischen Urerfahrung bringt es mit sich, daß alles, was von ihr ausgesagt wird, durch Gegenaussage aufgehoben werden muß. Die von manchen Mystikern hervorgehobene Aufhebung des persönlichen Gottesbildes zugunsten eines unpersönlichen Urseins (Indien) hat ihr Gegenstück in Formen absoluter personaler Gottesmystik; ja selbst die unio mystica, das Herzstück der Mystik, kann fehlen, wie die frühe jüdische Mystik beweist". 59
Solche "Definitionen" lassen sich sehr schwer fassen und tragen sicher nicht zu einem besseren Verständnis oder zu einer Klärung des Begriffes bei. Offensichtlich ist hier eine neue Methode gefragt. Die klassische Reproduktion von Definitionen scheint kein adäquates Mittel zu sein, sich dem Begriff "Mystik" zu nähern.

3.2.1 Mystologie

Mystologie ist die wissenschaftliche Erforschung der Mystik. Mystologie bedeutet im Anfang immer Mystizismus im Gewand der Wissenschaft. Man läßt sich beobachtend, beschreibend und deutend auf ein Erleben ein, dem nur als Beobachter begegnet wird. Auch Mystologie bespricht alles mystische Erleben im Konjunktiv.

3.2.2 Mystizismus


Mystizismus ist noch keine echte Mystik. Vielmehr scheint es ein "Liebäugeln" mit Mystik, bzw. Mystik im Konjunktiv zu sein.
Der heutige Mysikboom legt es darauf an, daß er in weiten Kreisen Mystizismus bleibt. So kann es zu Wortkreationen wie "Mystikmarkt" und "Mystikwelle" kommen. Dennoch besteht immer die Möglichkeit, daß dieser Mystizismus oder die Mystologie in eine echte Mystik umschlagen kann, daß das eigene Erleben den Beobachter einholt.
Mystizismus steht in einem Naheverhältnis zur Mystik. Schmidt definiert den Zustand der mystischen Erleuchtung als Einheit von Realität und Wirklichkeit, als Unmittelbarkeit. Dieser Zustand erscheint im Mystizismus nur als verborgene Möglichkeit.
Der Zeitgeist, der Hektik, Streß und krankhaften Aktivismus als Statussymbol für Erfolg definiert, bleibt eine einfache Möglichkeit, dem Zustand der Unmittelbarkeit zu entgehen. Auch Mystizismus und Religiosität sind immer schon eine Methode gewesen, dem mystischen Erleben zu entgehen. Wenn die innere Stimme zur Unmittelbarkeit ruft, so bietet die Religion oder der Mystizismus einfache Methoden, diesem Drang so weit nachzugeben, daß er befriedigt ist, ohne in den rational unkontrollierbaren mystischen Zustand zu kommen.
Oft reduziert sich die Suche nach dem mystischen Erleben auf einen Mystizismus aus Angst vor der Unmittelbarkeit und Unkontrollierbarkeit eines echten mystischen Erlebnisses.
In der Regel erzählt der Mystizist von seiner Entrückung, um sich selbst in seinen Erfahrungen zu sonnen. Er demonstriert spirituelle Überlegenheit. Er braucht Bewunderer, denen er sich so lange sicher sein kann, solange seine Anhänger nicht zum eigenen Erleben gefunden haben. Viele der heute als "Gurus" bezeichneten Mystiker mögen in ihrem Erleben Mystiker sein. Im Umgang mit ihren Schülern erweisen sie sich aber als Mystizisten.
Mystik als Zeittrend ist die Suche nach dem Unbekannten und die Neugier nach dem Neuen. In der Regel gipfelt die Suche aber in einem Mystizismus. Nur sehr selten werden echte mystische Erfahrungen erlebt. Die äußere Welt ist scheinbar bekannt. Nun suchen wir Abenteuer in der letzten "terra incognita", der eigenen Seele.

3.2.3 Probleme der Mystik

3.2.3.1 Mystik und Fundamentalismus

Die jüngere Geschichte hat gezeigt, daß Mystik auch eine Gefahr sein kann. Die Blut- und Bodenmystik des Nationalsozialismus könnte heute ebenso wie damals zu mystisch entzündeten Massen führen. Der Fundamentalismus in Verbindung mit einer Blut- und Todesmystik, wie er von iranischen Ajatollahs praktiziert wird, ist für viele Grund genug sich vor Mystik zu fürchten.
Fundamentalismus kann man als den Versuch bezeichnen, sich mit einer definitiven Lehre vor der unberechenbaren Wirklichkeit zu schützen. Zwischen den Fundamentalisten und der erlebten Wirklichkeit steht die vollkommene Lehre - in der Regel eine letztlich banale Doktrin. Das Selbst, das der Fundamentalist gefunden hat, ist im besten Fall ein von einer Gruppe neu normiertes Ich. Er lebt also seine Doktrin und erlebt Scheinmystik.

3.2.4 Mystik als Lehre

Ein mystisches Erlebnis macht noch niemanden zum Mystiker. Wenn es einem Menschen gelingt auf diese Erfahrung einzugehen, ihr Form zu geben und damit zu leben, bezeichnet man ihn als "Mystiker". Je nachdem wie gut ihm das gelingt wird er zu einem "großen" oder bedeutungslosen Mystiker.
Der Mystiker erwirbt sein Verständnis darüber, was "Mystik" ist, dadurch, daß ihm von "Eingeweihten" die Praxis und die logisch vermittelbaren Grundsätze gelehrt werden. Die dadurch entstehende Meister- oder Guruzentriertheit soll in dieser Arbeit aber verhindert werden um eine objektive Annäherung an den Begriff zu ermöglichen. Es wird die Idee verfolgt, verschiedene Blickwinkel auf den Begriff Mystik und deren Aussagen zu betrachten.
Aus dieser Annäherung an das Thema ergibt sich eine Methode, die aus Analogien in den Aussagen, welche ausgehend von verschiedenen Ausgangspunkten Bilder über den Begriff Mystik entwerfen, auf einen gemeinsamen Inhalt zu schließen versucht.
Die Unterscheidung in wahrhaftige und falsche mystische Leitfiguren ist ein wichtiges Kriterium für die Qualität der mystischen Lehre.
"Der wahre Meister löst sein Ich auf, der falsche bläht es auf." 60
Das wahnhaft erlöste Ich scheut jede Begegnung, weil echte Begegnung den Wahn als Wahn erkennen läßt. Es benötigt distanzierte Fans, die ihre Projektion in den Meister legen. Das wahrhaft erlöste Ich entsteht durch den nie vollendeten Prozeß der Ich-Auflösung. Dieser Prozeß hält nur an, solange sich der Meister der widersprüchlichen Realität stellt. Daher ist ein unvollkommener Meister viel eher ein wahrer Meister.
In dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, eine systematische Analyse einiger Methoden der Genese zum Mystiker darzustellen. Was diesen Methoden zu Grunde liegt, soll im Zuge dieser Arbeit herausgefunden werden.
Wie erfolgversprechend so eine Methode ist, wird von Jiddu Krishnamurti folgendermaßen dargestellt:
"Wissen ist ein Lichtblitz zwischen zwei Dunkelheiten, aber es leuchtet weder in das Dunkel hinein noch darüber hinaus. ...
Mit der Wißbegierde verhält es sich wie mit jeder anderen Leidenschaft; sie bietet uns eine willkommene Gelegenheit, der Angst zu entkommen, der Angst vor der Leere, der Verlassenheit, der Sinnlosigkeit unserer Existenz, der Angst vor der Erkenntnis, ein Nichts zu sein. Das Licht des Wissens breitet einen zarten Schleier über das Dunkel, das menschlicher Geist nicht durchdringen kann. Der Geist entsetzt sich vor dem Unerforschlichen und flüchtet darum in Theorien, Hoffnungen und Vorstellungen; aber eben das Wissen, das er dabei anhäuft, hindert ihn daran, des Unbekannten innezuwerden. Wer das Wissen beiseite legt, der ladet die Angst zu sich zu Gaste, und wer auf das Denken verzichtet, das einzige Werkzeug zur Wahrnehmung, das wir besitzen, den wird jedes Leid und jede Freude um so tiefer verwunden. Es ist alles anders als leicht das Wissen beiseitezulegen. Ohne Wissen zu sein heißt aber nicht etwa unwissend zu sein. Unwissend ist vielmehr der, dem es an Selbsterkenntnis mangelt, und Wissen wird zur Unwissenheit, wenn es sich nicht mit einem Innewerden der eigenen Wesenheit paart. Dieses Innewerden allein bringt uns Freiheit vom Wissen." 61
Im Sinne einer "wissen - schaftlichen" Arbeit - leere Seiten werden als Diplomarbeit eben nicht anerkannt - werde ich trotz vieler Aussagen, die mit denen Krishnamurtis vergleichbar sind, versuchen, den Begriff Mystik von verschiedenen Seiten zu beleuchten.
Wenn der Mystologe 62 bereit ist, immer wieder seine Methode in Frage zu stellen, dann kann Mystologie in diesen kurzen Augenblicken ein Innewerden dessen sein, was der Mystiker "Augenblick", "Leere", Einssein oder Gegenwart nennt. Diese Momente des Zweifelns können so zu Momenten der Erkenntnis werden.
Jegliche Definition des Begriffs "Mystik" ist aber von vornherein zum Scheitern verurteilt. "Die mystische Tradition kann nur ein Anstoß sein, das unendlich Nahe zu entdecken." 63
Eine häufig zu beobachtende Entwicklung der Mystik führt zuerst zur Ablehnung aller tradierten Vorstellungen. Der Mystiker löst alle Traditionen im Nichts auf. In der folgenden Phase wählt er das Nichts zum Symbol der höheren Wirklichkeit und entwickelt einen nihilistischen Standpunkt.
Am Ende erkennt er das Nichts im "Einssein" aller Dinge und aller Traditionen und nimmt so einen pantheistischen Standpunkt ein. "Mystik ist ein Prozeß, eine Wandlung. Sie ist nie eine weltanschauliche Position." 64




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53 Stowasser, J.M. u.a.: "Der kleine Stowasser; Lateinisch - Deutsches Schulwörterbuch"; Wien 1980; Seite 292
54 Gemoll, Wilhelm: "Gemoll; Griechisch - Deutsches Schul- und Handwörterbuch" München 1997; Seite 514
55 Rotzetter, Anton: "Liebe – allem Leid entrissen; Franziskanische Mystik" Mainz 1998; Seite 8
56 Flasch, Kurt: "Meister Eckehart - Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten" in Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie herausgegeben von Peter Koslowski; Zürich 1988; Seite 99
57 Schmid, Georg: "Die Mystik der Weltreligionen - Eine Einführung"; Stuttgart 1990; Seite 13
58 Borchert, Bruno: "Mystik"; Königstein 1994, Seite 9
59 Schmid, Georg: "Die Mystik der Weltreligionen - Eine Einführung"; Stuttgart 1990; Seite 22f
60 Schmid, Georg: "Spiritualität als Therapie und Therapie als Spiritualität in den Krisen der modernen Zivilisation" in Luzerner Psychotherapie Tage ; Bern 1995 Seite 57
61 Krishnamurti, Jiddu: "Leben", 1978 Seite 29ff
62 "Wissenschaftlich nach der Mystik suchender Mensch" Bezeichnung nach Schmid, Georg: "Die Mystik der Weltreligionen - Eine Einführung"; Stuttgart 1990
63 Schmid, Georg: "Die Mystik der Weltreligionen - Eine Einführung"; Stuttgart 1990; Seite 52
64 Schmid, Georg: "Die Mystik der Weltreligionen - Eine Einführung"; Stuttgart 1990; Seite 60