Wissen erzählen. Die Enzyklopädie im und als literarischer Text

Ich möchte in meinem Vortrag der Frage nachgehen, wie sich das Thema der Wissensspeicherung und Wissensorganisation in literarischen Texten, genauer Romanen, widerspiegelt. Dabei möchte ich mich auf das Motiv der Enzyklopädie als Speicher- und Organisationsmedium konzentrieren. Anhand von zwei Texten werde ich die Veränderung in der Auseinandersetzung mit und Gestaltung von "Enzyklopädie" untersuchen: dem Fragment gebliebenen Spätwerk Gustave Flauberts Bouvard et Pécuchet (1881) sowie Alizès (1984) von Michel Rio.

Gustave Flaubert macht sich über den Totalitätsanspruch lustig, den das Wort "Enzyklopädie" impliziert. Er behandelt das Thema im Stil einer "comique dŽidées", um so der "illusion de totalité" zu entgegnen, die seine Zeit mit ihrer ausgeprägten Wissenschaftsgläubikgeit charakterisiert. Die Vorliebe für enzyklopädische Vulgarisierung reduziert sich im 19. Jahrhundert nicht nur auf große Enzyklopädie-Projekte, wie jenes von Pierre Larousse, sondern umfasst auch Almanache, Zeitungen und Manuels – Textsorten, die in Bouvard et Pécuchet zahlreich zitiert werden. Aber schon im 18. Jahrhundert ist die Nachfrage nach Enzyklopädien und Wörterbüchern groß, die Encyclopédie von Diderot und dŽAlembert ein großer Erfolg und Voltaire ist nicht der einzige, der ein Dictionnaire (philosophique) portatif zusammenstellt.

Michel Rio, "honnête homme du 20e siècle" schließt mit seiner Enzyklopädiekonzeption an das Enzyklopädieprojekt von Diderot und dŽAlembert an. In seinem Text handelt es sich um eine Enzyklopädie, die versucht, das Projekt der Aufklärung unter heutigen Bedingungen fortzuschreiben. Mit Enzyklopädie bzw. einem "sens encyclopédique" verbindet Michel Rio die Verknüpfung von Wissen und Imagination, die Diskussion zwischen LogikerIn und TräumerIn. In einem Interview mit Alain Nadaud formuliert er drei für ihn notwendige Voraussetzungen für die Existenz von Literatur: action, poétique und eine vision du monde informée (einen interessierten/informierten Blick auf die aktuelle/zeitgenössische Welt) und versucht in diesem Sinn aktuelle Fragestellungen aus Wissensbereichen wie Biologie und Physik in den Erzähltext zu integrieren.

In meinem Vortrag soll das Motiv "Enzyklopädie" auf zwei Ebenen thematisiert werden, einmal auf der Inhaltsebene, zum anderen auf der Gestaltungsebene, d.h. es soll untersucht werden, wie das Muster der Enzyklopädie die Struktur des Textes prägen kann. Dem postmodernen Spiel mit dem Motiv Enzyklopädie wird eine formkritische Auseinandersetzung im Text der Moderne gegenübergestellt. Einerseits (bei Rio) ist Enzyklopädie mit einem positiven, aufklärerischen Programm persönlicher "élucidation" verbunden, andererseits (bei Flaubert) eine Art "cours de négativisme philosophiqe" (Yvan Leclerc).

1. Die Enzyklopädie im Text

In beiden Texten werden Enzyklopädien genannt Während es sich bei BP um die Nennung real existierender Enzyklopädien handelt, haben wir es in Alizès mit einer fiktionalen Enzyklopädie zu tun. Das erste der zahlreichen Bücher, die in BP genannt werden, ist eine Enzyklopädie (Enyclopédie Roret). Sie wird in einer Aufzählung mit "le Manuel du Magnétiseur, un Fénelon, dŽautres bouquins" erwähnt. Die Enzyklopädie ist Element der Beschreibung von Pécuchets Wohnung bzw. bezeichnenderweise Teil der Unordnung, die diese kennzeichnet.

Der Ich-Erzähler in Alizès erbt von seinem reichen Onkel eine zweisprachige (englisch-französische) Enzyklopädie. Auf den ersten Seiten des Romans wird die Entstehungsgeschichte dieser Enzyklopädie beschrieben. Für die Zusammenstellung des umfangreichen Werkes hat der Onkel die besten WissenschaftlerInnen, SchriftstellerInnen und KünstlerInnen des jeweiligen Sprachraumes engagiert, die, ohne voneinander zu wissen, an dem Projekt arbeiten. Das Ergebnis sind zwanzig umfangreiche Bände. Die linken Seiten der Ausgabe bestehen aus zwei Spalten – der englischen und französischen Version; die rechten Seiten sind der Illustration gewidmet.

Mon grand-oncle avait éliminé toute photographie au profit de la gravure, du dessin et de la peinture. [...] Le spectacle du monde, quŽil sŽagît dŽhommes ou de choses, de nature ou de manufacture, de technique ou dŽimaginaire, passait par la main de lŽartiste. [...] CŽest ainsi que Salvador Dali avait signé les dessins à lŽencre dŽun accélérateur de particules lourdes et dŽun hygromètre à cheveu, des pastels de borraginacées dont un splendide héliotrope, des huiles représentant le portrait dŽaprès photographies du linguiste Guillaume, un proxénète type des années trente et la grande nébuleuse spirale dŽAndromède. (Alizès, Balland, 13-15)

Dieses Zitat zeigt den spielerischen Charakter in der Art der Beschreibung der Enzyklopädie. Wie in der Encyclopédie von Diderot und dŽAlembert wird dem Handwerk eine besondere Bedeutung beigemessen und großer Wert auf die Verbindung von zwei Systemen der Wissensklassifizierung gelegt: Schrift und Bild.

Poesie der wissenschaftlichen Nomenklatur

Beide Texte charakterisieren sich – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – durch das Schlagwort "Erzählen = Aufzählen" (Ulrike Sprenger) sowie ein Faible für eine "poésie de la nomenclature scientifique". Typisch für Bouvard et Pécuchet sind Reihungen von Namen und Nomenklaturen. Diese Vorliebe spiegelt sich in einer mise en abyme zu Beginn des Romans, wenn die beiden Protagonisten im Moment ihres Kennenlernens feststellen, dass eine ihrer Gemeinsamkeiten darin besteht, ihre Namen in ihre Kopfbedeckungen eingeschrieben zu haben. Auch für Michel Rio sind "Benennungen" sehr wichtig. Er verwendet teilweise ein sehr spezifisches Vokabular, z.B. in der Beschreibung des Segelbootes, mit dem sich der Ich-Erzähler auf die Reise macht. Auch das oben erwähnte Zitat ist Beispiel für seine Art der Aufzählung und Verwendung von Nomenklatur.

2. Die Enzyklopädie als Text

"Navigation encyclopédique"

Das Thema der Wissensaneignung ist häufig mit Reise bzw. der Metapher der Reise verbunden. In beiden Texten begeben sich die Protagonisten auf eine Reise, wobei es sich bei Flaubert um eine Reise im übertragenen Sinn, eine Reise durch sämtliche Wissensgebiete handelt. Raymond Queneau beschreibt Bouvard et Pécuchet diesbezüglich als enzyklopädische Schiffsreise (navigation encyclopédique) und nennt die beiden Protagonisten "Abenteurer des Wissens" (aventuriers du savoir).

Der Wissensparcours Bouvards und Pécuchets soll mit anderen Wissensanordnungen verglichen werden, wie z.B. jener im Discours préliminaire von dŽAlembert oder der Jean-Marie Ampères aus dem 19. Jahrhundert, d.h. die lineare Anordnung einer Wissensklassifikation in Form eines "tableau" soll jener im romanesken Raum gegenübergestellt werden.

In Alizès haben wir es mit einer "navigation encyclopédique" im wahrsten Sinne des Wortes zu tun, begibt sich doch der Ich-Erzähler mit den Exemplaren der geerbten Enzyklopädie auf eine Reise in den Indischen Ozean. Nach seinem Schiffbruch auf der Sailaway-Insel lernt er die Eingeborene Suzanne kennen. Ihre Beziehung und ihre Gespräche repräsentieren die Konfrontation "der modernen (natur-)wissenschaftlichen Reflexion und Theoriebildung mit dem mythisch-legendären Denken" (Wolfgang Asholt).

Forme encyclopédique

Die enzyklopädisch "radikalere" Form nimmt Bouvard et Pécuchet an, da es in diesem Text nicht nur um eine inhaltliche Thematisierung der Enzyklopädie geht, sondern der Text teilweise die Grenzen zwischen Enzyklopädie bzw. Dictionnaire und Roman verwischt. Der Romantext steht in strukturellem Zusammenhang mit Flauberts Dictionnaire des idées reçues. Dieses Dictionnaire sollte als Kopie/Abschrift der beiden Schreiber (Bouvard und Pécuchet), Teil eines geplanten zweiten Bandes sein. Der Roman erzählt also kein "Handlungssyntagma im eigentlichen Sinn mehr, sondern scheint sich paradigmatisch an den Eintragungen eines imaginären Lexikons entlang zu arbeiten und geht zuletzt über in die reine Aufzählung in Gestalt eines Dictionnaire des idées reçues" (Ulrike Sprenger). Dieser Übergang realisiert sich u.a. über das Spiel mit der Erzählperspektive, d.h. über die Verwendung des style indirect libre bzw. des discours direct libre, oder auch den Einsatz des "on impersonnel".

Anhand des Themas "Enzyklopädie" soll also die Verknüpfung von "Wissen" (savoir) und Literatur (imaginaire) diskutiert werden, die Form der Enzyklopädie bzw. des Lexikons jener des narrativen Textes gegenübergestellt werden.

 

 

Narrating knowledge. Encyclopaedia in/as literary text

What will be at stake in my talk is the question of how knowledge is being stored, classified and organised in literary texts, or, more precisely, in novels. I would like to focus on the motif of the encyclopaedia as a medium of storage and order. On the basis of two literary texts, namely the fragmentary Bouvard et Pécuchet of Gustave Flaubert (1881) and Alizès (1984) of Michel Rio, I will examine the change in the dealing with and the shaping of "Enyclopaedia".

Gustave Flaubert doesnŽt take the claim of totality, which is implied in the word "Enyclopaedia", very seriously. He chooses the style of a « comique dŽidées » to reply to the « illusion of totality » that characterizes his time with its pronounced faith in science. The preference for encyclopaedic vulgarisation in the 19th century is not limited to big encyclopaedia-projects like the one of Pierre Larousse, but also includes almanacs, journals and manuals – all of which are numerously cited in Bouvard et Pécuchet. Yet already in the 18th century exists a huge demand for encyclopaedias and dictionaries - the Encyclopédie of Diderot and dŽAlembert is a big success and Voltaire is not the only one who composes a Dictionnaire (philosophique) portative.

Michel Rio, "honnête homme du 20e siècle", follows with his conception of encyclopaedia the encyclopaedic project of Diderot and dŽAlembert and tries to continue the project of enlightenment under contemporary conditions. With his notion of encyclopaedia, or, respectively, his "sens encyclopédique", Michel Rio thematizes the linking of knowledge and imagination, the discussion between logician and dreamer. In an interview with Alain Nadaud he formulates three necessary conditions for the very existence of literature: action, poétique and a vision du monde informée (an interested gaze on to the present). Moreover, he tries to integrate contemporary questions and debates from various fields of knowledge, like for example biology and physics, into the narrative text.

I will discuss the motif of "Encyclopaedia" concentrating on two distinct levels, namely on the level of content and on the level of form. That means that I will scrutinize how the pattern or model of encyclopaedia can shape the structure of a text. Furthermore I will compare the socalled postmodern play with the motif of encyclopaedia to the critique of form in the text of Modernity. On the one hand encyclopaedia is associated with a positive program of personal "élucidation" (Rio), on the other hand (Flaubert) it is a kind of "cours de négativisme philosophique" (Yvan Leclerc).

Enyclopaedia in the text

Encyclopaedias are mentioned in both texts. Whereas the encyclopaedia in Bouvard et Pécuchet exists in reality, the one in Alizès is fictional. The first of the numerous books to be mentioned in BP is an encyclopaedia (Encyclopédie Roret) together with other texts as "le Manuel du Magnétiseur, un Fénelon, dŽautres bouquins". The encyclopaedia is an element of the description of PécuchetŽs apartment, respectively is part of the signifcant disorder that characterizes it.

The first-person narrator in Alizès inherits a bilingual (French-English) encyclopaedia from a rich uncle. On the first pages of the novel the history of the origin of this encyclopaedia is being described. The story goes as follows: For its composition the uncle invites the best researchers, writers and artists of the two countries. Both "teams" work on the project without knowing of the existence of the other. As a result, 20 substantial volumes are being produced. The pages on the left hand side of either volume contain the English and French versions, arranged within two ranges, the right hand sides are devoted to illustration.

Mon grand-oncle avait éliminé toute photographie au profit de la gravure, du dessin et de la peinture. [...] Le spectacle du monde, quŽil sŽagît dŽhommes ou de choses, de nature ou de manufacture, de technique ou dŽimaginaire, passait par la main de lŽartiste. [...] CŽest ainsi que Salvador Dali avait signé les dessins à lŽencre dŽun accélérateur de particules lourdes et dŽun hygromètre à cheveu, des pastels de borraginacées dont un splendide héliotrope, des huiles représentant le portrait dŽaprès photographies du linguiste Guillaume, un proxénète type des années trente et la grande nébuleuse spirale dŽAndromède. (Alizès, Balland, 13-15)

This citation shows the play-character in the way the encylopaedia is described. Like in the Encyclopédie of Diderot et dŽAlembert trade becomes significant and great value is attached to the connection of two systems of classifying knowledge: text and illustration.

Poetry of scientific nomenclature

Both texts are characterized – even though in different dimensions - by the key words "narrate = enumerate" (Ulrike Sprenger) and by a preference for a "poetry of scientific nomenclature". Ranging names and nomenclatures is typical for Bouvard et Pécuchet. This preference is reflected in a mise en abyme at the beginning of the novel, namely at the moment of the characters very first meeting where they also remark, that they both have inscribed their names in their hats.

For Michel Rio designations are very important too. He uses partly a very special vocabulary, like for the description of the sailing boat in which the narrator makes his journey. The above mentioned citation is an example and characterizes RioŽs manner of enumeration and using nomenclature.

2. Encyclopaedia as text

"Navigation encyclopédique"

The topic of knowledge acquisition is often associated to the idea of travelling, respectively to the metaphor of travelling. In both texts the characters make a journey, yet in the text of Flaubert it is a journey in a transferred sense, a journey through various fields of knowledge. Raymond Queneau describes BP in this regard as an encyclopaedic navigation (navigation encyclopédique) and the two characters as "adventurers of knowledge (aventuriers du savoir).

The arrangement of knowledge in BP will be compared to others, like in the Discours préliminaire de dŽAlembert or the one of Jean-Marie Ampère in the 19th century, i.e. the linear order of knowledge classification in form of a "tableau" will be confronted with the classification in the narrative space.

A "navigation encyclopédique" in the strict sense of the word is narrated in Alizès. The narrator makes a journey to the Indian ocean with his inherited encyclopaedia on board. After he shipwrecks on the Sailaway-Island he gets into contact with the native Suzanne. Their relationship and their discussions represent the confrontation of "modern scientific reflection and conceptualisation with mythical-legendary thinking" (Wolfgang Asholt).

Forme encyclopédique

The more "radical" encylopaedic form can be seen in Bouvard et Pécuchet since in this text the encyclopaedia is not only thematized from the point of view of content, but the text partly smudges the frontiers between encyclopaedia/dictionary and novel. The novel stands in structural connection with FlaubertŽs Dictionnaire des idées reçues which should have become part of the planned second part of the novel. The novel does no longer narrate "a syntagmatic content in a proper sense, but seems to work paradigmatically along the entries of an imaginary lexicon and turns finally into a pure enumeration in form of a Dictionnaire des idées reçues" (Ulrike Sprenger). This transition is also realised by the play with the use of style indirect libre as well as the on impersonnel.

To summarize: On the basis of the motif of "Encyclopaedia" I will both scrutinize the linking of "knowledge" (savoir) and literature (imaginaire) and confront the form of encyclopaedia/dictionary with the narrative text.