Das
Erzählen erzählen.
Zur
„Unreliability“ von Narration in Literatur und Film
Tom Kindt (Universität Hamburg)
Eines
der typischen Merkmale modernen Erzählens in der Literatur und anderen Künsten
besteht zweifellos in seiner Selbstreflexivität. Seit etwa einem Jahrhundert
läßt sich die Tendenz beobachten, beim Erzählen zunehmend das Erzählen selbst
zum Problem und so zum Thema werden zu lassen. Auf dieses Phänomen ist zwar
wiederholt hingewiesen worden; es fehlt aber bislang noch immer an
systematischen Versuchen, die verschiedenen Typen, Strategien und Techniken
narrativer Selbstbezüglichkeit zu bestimmen. Der Beitrag kann eine solche
Rekonstruktion natürlich nicht nachholen; er wird der Reflexivierung der
Erzählens vielmehr exemplarisch nachgehen, indem er sich einer subtilen
Spielart der Selbstthematisierung narrativer Sinnstiftung widmet: der
„erzählerischen Unzuverlässigkeit“.
Erzähltexte, Dramen oder Filme, bei deren
Rezeption Zweifel entstehen, ob die präsentierte Geschichte glaubhaft und deren
normativer Gehalt beispielhaft ist, haben innerhalb der Literatur- und
Filmwissenschaft in den vergangenen Jahren verstärkt Beachtung gefunden. Die
Auseinandersetzung mit dem Phänomen hat sich dabei allerdings weitestgehend auf
die Differenzierung und Operationalisierung der Überlegungen beschränkt, zu
denen der amerikanische Literaturtheoretiker Wayne C. Booth bei der ersten
systematischen Beschäftigung mit dem Problem „narrativer Unzuverlässigkeit“
gelangt ist. Nach Booths bekanntem Bestimmungsversuch aus dem Jahr 1961 gilt
ein Erzähler dann als „unzuverlässig“, wenn seine normativen Positionen von
denjenigen des „impliziten Autors“ abweichen. Ziel des Beitrags ist es, einige
zentrale Probleme dieser Definition und der bisherigen Diskussion
„erzählerischer Unzuverlässigkeit“ aufzuzeigen. Vor diesem Hintergrund soll
eine Explikation für das Konzept umrissen werden, die dessen Verwendung in
Untersuchungen mit unterschiedlicher interpretationstheoretischer Ausrichtung
und medialer Fragestellung möglich macht. Auf diese Weise soll der Aufsatz
zugleich die Grundlage für eine Reflexion der Zuschreibung des Konzepts
liefern.
1. Ausgangspunkt der Explikation ist die
Beobachtung, daß es durch das beharrliche Festhalten an Booths
Begriffsbestimmung und die gleichzeitige Ausrichtung an seinen
Anwendungsbeispielen zu einer Differenzierung der Bedeutung des Konzepts
gekommen ist, die es notwendig macht, zwei Typen von „unzuverlässiger
Narration“ auseinanderzuhalten. Es sollte unterschieden werden, ob sich mit der
Frage nach der „Zuverlässigkeit“ von Erzählern auf die Vorbildlichkeit ihrer
Positionen oder die Adäquatheit ihrer Berichte bezogen wird.
2. Für eine Definition der Spielarten
„unzuverlässigen Erzählens“ ist es ergänzend erforderlich, den Referenzrahmen
der Begriffsattribution zu klären. In Abgrenzung von Booths Ansatz wird
vorgeschlagen, die Bestimmung der „Zuverlässigkeit“ des Narrators als Aspekt
einer allgemeinen Textauslegung zu verstehen, die potentiell mit dem jeweils
gewählten Interpretationsansatz variieren kann. Um sowohl Booths
Vorentscheidung zugunsten einer rhetorischen Literaturanalyse als auch den
Relativismus einer rezeptionsorientierten Charakterisierung „erzählerischer
Unzuverlässigkeit“ zu vermeiden, soll die Begriffsverwendung also auf Interpretationstheorien
relativiert werden.
3. Vor diesem Hintergrund läßt sich
„Unzuverlässigkeit“ als eine Eigenschaft fassen, die nicht mehr nur
Erzählerfiguren, sondern auch Erzählprozessen zukommen kann, womit zugleich die
definitorischen Voraussetzungen geschaffen sind, um sich mit dem Vorliegen und
den Ausprägungen des Phänomens in anderen Medien beschäftigen zu können. Ein
vergleichender Blick auf die Typen „erzählerischer Unzuverlässigkeit“ in
Literatur und Film soll dies veranschaulichen.
Abschließend werden die Ergebnisse der
Überlegungen auf deren Ausgangfrage zurückbezogen werden. Es soll zumindest
skizzenhaft verdeutlicht werden, welche systematischen und historischen
Beziehungen zwischen dem Phänomen der „Unzuverlässigkeit“ und dem der
Reflexivität moderner Narration bestehen.
„Unreliable Narration“ in Fiction and Film
One of the most significant characteristics of
modern narration in literature and other arts is without doubt its
selfreflective approach. Since the nineteenth century narrative texts often
focus on the act of narrating itself. Although the phenomenon has been discussed at length there is still a lack of
systematic attempts to characterize the various types, strategies and
techniques of narrative selfreflection. This paper does of course not aim to
offer a conclusive reconstruction of the problem; it will rather discuss
selfreflective narration by concentrating on one of its subtle variances: that
of the „unreliable narration“.
Novels, plays, or movies raising the audience’s
suspicion whether the presented story and its moral impact should be taken at
face value have been widely discussed in literary studies and film theory
during the last years. These debates were mainly based on Wayne C. Booth’s
investigation and definition of „unreliable narration“. In his well known book The Rhetoric of Fiction (1961) Booth
proposed to call „a narrator reliable, when he speaks for or acts in accordance
with the implied author’s norms, unreliable when he is not“. The current paper
attempts to make clear not only the problems of Booth’s definition as such, but
also to show the weak points in the ongoing discussion of the „unreliable
narrator“. Furthermore, it tries to develop a definition of the concept of
„unreliability“ which can serve as an instrument in different methodological
contexts, and with regard to media such as literature, drama, film, etc..
1.
The point of departure is the ambiguity of „unreliability“ that has resulted
from clinging to Booth’s definition on the one hand, and from using his
examples of application on the other. My suggestion is to differentiate between
narrators that present the events of a story in a misleading way, and narrators
that are morally deficient and non-exemplary.
2.
In order to define these two types of „unreliable narration“ it is necessary to
clarify the frame of reference for either concept. Opposing Booth’s definition,
my paper proposes to conceptualize the „reliability“ of a narrator as part of a
general textual interpretation which may vary depending on the interpretive
approach chosen. It is accordingly possible to avoid Booth’s decision for a
rhetorical perspective, as well as the relativism of a cognitive theory of
„unreliable narration“.
3.
The definition of „unreliability“ as outlined in the above results in a concept
which can serve not only to qualify narrators, but also to describe ways of
narrating. From this point of view it is practicable to dicuss the existence
and forms of the phenomenon in different types of media. This will be illustrated by comparing
„unreliable narration“ in fiction and film.
Finally,
my paper will sketch the systematic and historical relations between
„unreliable“ and selfreflective narration.