"UEBER DIE ALLMAEHLICHE VERFERTIGUNG VON DIFFERENZEN BEIM SCHREIBEN"

Zu Heinrich von Kleist und Jacques Derrida und anderem/anderen oder: Versuch einer vorsichtigen Dekonstruktion


Heinrich von Kleist bewegt sich in seinem Brief-Rede-Essay-Aufsatz zwischen den Zeilen seines eigenen Aufsatzes. Er geht um mit Unterschieden, Widerspruechen, Differenzen. Aber wie?
Sein Text als "TEXT" gelesen - denn es handelt sich hier um SCHRIFT im engeren Sinne, nicht um Sprache als Gesprochenes (obwohl es durchaus manchmal den Anschein haben koennte, daß hier jemand zu jemandem spricht) - rekurriert mit jedem Wort auf sich selbst, er wird so zu einem selbstreferentiellen, einem poetologischen Text: AUTOPOIESIS:

In der "Paradoxe" "Von der Überlegung" schreibt Kleist von einer Rede an seinen Sohn (die es noch zu halten gilt):
"Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat." Ich darf variieren: ...als vor dem Text. "Wenn sie vorher, oder in dem Augenblick der Entscheidung selbst, ins Spiel tritt, so scheint sie nur die zum Handeln nötige Kraft, die aus dem herrlichen Gefühl quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu unterdrücken; dagegen ist nachher, wenn die Handlung abgetan ist, der Gebrauch von ihr machen laeßt, zu welchem sie dem Menschen eigentlich gegeben ist, naemlich sich dessen, was in dem Verfahren fehlerhaft und gebrechlich war, bewußt zu werden und das Gefühl für andere künftige Fälle zu regulieren." (Kleist, Werke, 948)

Hier lesen wir also eine Rede, Gesprochenes liegt geschrieben vor uns - Gebrochenes liegt gespieben vor uns. Die Rede ist an seinen Sohn gerichtet, der eine fragliche Figur ist, und wird erst gehalten werden. Noch ist dies also keine Rede, noch ist es Schrift, die auf dem (besten) Wege ist zu einer Sprache, einem Sprechen, zu einer Rede. Eine Rede, die ihren TON noch sucht. Und ihren Sprecher.

Was bleibt, waere also die Frage nach der Wahl des Tonfalles, des Tones, der hier schon angedeutet - also schon im Text - sein muesste. Doch noch braucht uns dieses Problem nicht zu verwirren. Denn an Verwirrung fehlt es uns hier freilich nicht! (Verirrungen?)

Wir stehen vor einem Text, einer Paradoxe, einer Schrift als eine Rede, Schrift als Sprache, ohne tatsaechliches Gegenueber, ohne Adressaten. Es ist die Rede von der der Rede nachfolgenden Ueberlegung. Doch wie koennte ein solcher Text anders entstanden sein, als durch gruendliche vorhergehende und eingehende Ueber-legung eines schreibenden Ich, des Autors? Der Text verweist auf sich selbst. Er beschreibt ein Verfahren, das er selbst nicht befolgt, nicht ausfuehrt. Also verkehrt er seine Absicht durch seine Existenz, sein SO-sein. Sein Selbstverweis ist ein negativer. Doch ein handfester.

Der Text verweist auf sich selbst. Er wird zum Paradox, das er von allem Anbeginn war. Der Text erzaehlt und "redet", was er selbst darstellt. Auch er wird so zum selbstreferentiellen Schreibgestus. Es muessen weiters andere Texte bereits vorausgegangen sein, aus dessen nachfolgender Ueberlegung eben jener neue Text hervorgegangen ist, das Gefuehl fuer diesen Fall war reguliert, was fehlerhaft oder gebrechlich war, war bewußt geworden.

Ist also die, oder EINE Ueberlegung nicht schon vorausgegangen? Wir stehen zwischen den Zeilen, sind verwirrt, waehrend sich Heinrich von K. ueber uns amuesiert. Von eben jenen Problemen - mit Texten und ihren Widerspruechen oder Differenzen - spricht David Martyn in seinem Aufsatz "Dekonstruktion", allerdings am Beispiel von Goethes Gedicht "Ein gleiches", was uns aber fuer die Untersuchung von Kleists Text nicht zu stoeren braucht.
"Der Grund für diese Diskrepanz liegt weniger beim Interpreten als bei dem Gedicht selbst. Der Text ist gerade dazu konzipiert, die Illusion zu erwecken, daß die Distanz zwischen seiner lyrischen Sprache und der in ihr beschriebenen Natur aufgehoben wird - obwohl er diese Distanz ausdrücklich in seiner Beschreibung einer stummen Natur betont. Das was der Text besagt (die Natur schweigt), widerspricht dem Gefühl, das er bewirkt (die Natur spricht). Seine konstative Aussage unterminiert seine performative Wirkung." (Martyn, 674)
Dazu und zur hier angesprochenen Sprachakttheorie, zu Austin und de Saussure weiter unten.
"In Goethes Gedicht geht es also (...) um die irrtümliche Neigung, diese Differenz zu verkennen. Diese Neigung aber wird von dem Gedicht selbst hervorgerufen. Die Sprache von Goethes Text ist selbst schon Metasprache: Sie kommentiert die irrtuemliche Verwechslung von Natur und Sprache, die sie selbst bewirkt." (Martyn, 674)

Unser Text illusioniert (simuliert?) also vielleicht eine Aufhebung einer Distanz zwischen Ueberlegung und Akt, die er selbst beschreibt. Was gesagt wird widerspricht dem, was bewirkt wird. Kann man diese Eroerterung nun auch auf die "allmaehliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" uebertragen? Dies ist wohl nicht in einem Verhaeltnis von eins zu eins moeglich, doch ich werde versuchen, die Vorgehensweise, und die Bewegung der Untersuchung, der Beschaffenheit unseres Textes und unseres Problemes anzunaehern.

Wir haben es bei Kleist beide Male mit Aufsaetzen zum REDEN zu tun (und ausdruecklich nicht mit SCHREIBEN). Waehrend in "Von der Überlegung" von einer zeitlichen Differenz zwischen Denken und Handeln, zwischen Ueberlegen und Reden, gesprochen/geschrieben wurde, haben wir es in unserem Aufsatz zur "Verfertigung von Gedanken" mit einer Gleichzeitigkeit zu tun. Noch wissen wir nicht, ob es sich nur um eine Chimaere handelt, die uns vom Text vorgegaukelt wird, oder ob es tatsaechlich moeglich sein sollte, ohne Konzept, ohne vorherige Ueberlegung eine in sich stimmige, oder konsistente Rede zu halten.
Hier streifen wir wieder die "Überlegung", die - wo auch immer sie auftauchen mag oder anzusiedeln ist - nicht notwendigerweise VOR der jeweiligen Tat, Handlung, Rede zu stehen hat. EIN Text legt uns nahe, erst im nachhinein, NACH der Ausfuehrung, zu ueberlegen, (ueber) die Tat zu reflektieren. EIN Text legt uns nahe, ohne Denken "ueber" die Tat diese einfach zu beginnen, es wird sich aus einem gegebenen Umfeld, einer Situation, einem Kontext schon ergeben, was zu tun oder zu sagen sein wird.

Sind diese Texte einander zutraeglich, gemeinsam vertraeglich? Oder stoße ich auf Widersprueche, Kluefte, will ich beide befolgen?

Wir sollen also einfach beginnen. Die Gedanken, die Sprache ueber die Sprache, die Schrift ueber die Schrift, werden sich dann schon einstellen.
Es geht also um die Infragestellung einer Meta-Sprache und um die Moeglichkeit eines Beginns, eines Anfangs - oder um seine Unmoeglichkeit. Es geht also um die Schaffung oder Anerkennung von bereits vorhandenen Differenzen. Der Text produziert Widersprueche, schon allein dadurch, daß er ist, daß er etwas will sobald er auftritt, daß er SICH schreibt;
denn: "Alles macht sich selbst. (...) Um eine ruhende Mitte." (Hölzl, Tractatus, 66f.)

Ist ein Sprechen "ueber" etwas problemlos moeglich, ist die Trennung zwischen Objekt und Objektsprache, zwischen Signifikat und Signifikant, durchzufuehren, und wo und wie beginnt dieses Sprechen, wo hoert es wie auf (wenn es anfaengt oder aufhoert)??
Diese Fragen werden uns beschaeftigen:

die textlichen Gegebenheiten und notwendige Differenzierungen werden uns diese Reihenfolge jedoch oft genug durchbrechen lassen. Und es geht auch gar nicht anders als zu springen. Ohne jedoch zu wissen, was man ueber-springt, ohne die Dimensionen des Abgrunds, der Kluft, und ohne die Distanzen zu kennen, von Rissen, Spruengen, Differenzen. (Nun soll jedoch der Autor selbst zu Wort kommen:)

"(...) nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt, wenn schon dies letzte häufig der Fall sein mag. Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so praegt, wenn ich nun dreist damit den Anfang mache, das Gemuet, waehrend die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur voelligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist." (Kleist, Werke, 898)

Man lasse mich die Worte des Meisters ein wenig umwenden:
Um dem Anfang ein Ende zu finden, praegt das Gemuet (als dreister Anfang) in der Rede die verworrene, dunkle Vorstellung, die mit dem, was ich suche, in ferner Verbindung steht, zur voelligen Deutlichkeit aus, sodaß die Erkenntnis fertig ist. Und hier und hiermit sind auch schon alle wesentlichen Stichwoerter geliefert: Ein Anfang muß gesetzt werden (Vorstellung), das zu einem prozessualen Anfang (das Gemuet, wirkt in der Rede zur Schwester) ein Ende (Erkenntnis) sucht, etwas Verborgenes wird entdeckt, Amorphes wird fest und deutlich, eine ungefaehre Vorstellung steht seit jeher mit einem Ziel in Verbindung, der Anfang traegt also das Ende schon in sich.

Der Rest, das weitere, die eigentliche Rede, ist nur mehr die Verfolgung einer, dieser Spur. Und wird so zum Botenstoff, zur Traegersubstanz fuer etwas ganz anderes, etwas das sie, die Rede, fuer sich verwendet. Die Rede als Bote, als Medium, als Wittgenstein'sche Leiter, als Basis und Sprungbrett. Diese Rede als Text schreibt sich selbst, sie IST was sie beschreibt, sie hebt sich nicht von einem Objekt ab, in sie ist immer schon so etwas wie eine text-immanente Differenz eingeschrieben, die der Text selbst weiter fortschreibt, ueberschreibt, uebersetzt, verwischt und neuschreibt, die er - als Differenz - verschiebt. Die Differenz ist es, die dem Text vorausgeht, jedoch nicht als URSPRUNG.

Dazu finden sich im Aufsatz von David Martyn einige hier brauchbare "Ueberlegungen" und noch anzubringende "Anhaltspunkte":
"Das 'Reden über' wird in der Literaturwissenschaft wie auch in der Linguistik durch die Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache ermoeglicht. (...) Man redet über das Reden." (Martyn, 664)
"Die erste Zeile [Anm.: des Goethe-Gedichts] beschreibt sich selbst; sie ist bereits ein Reden über das Reden, ist schon Metasprache. (...) Mit jedem Schritt wird die vorhergehende Metasprache zu einem Gegenstand, zu einer Objektsprache konstituiert, über die man mittels einer 'höheren' Metasprache sprechen kann." (Martyn, 665)
"Die erste Zeile IST ihre eigene Metasprache. Sie spricht nur über sich und trotzdem überhaupt nicht über sich; denn sie hat kein Selbst, über welches sie sprechen könnte." (Martyn, 666)
"Wenn aber die Literatur ihre eigene Metasprache ist, gibt es keine Literaturwissenschaft, sondern allenfalls einen akademischen Diskurs, der sich mit Literatur beschäftigt." (Martyn, 667) ... Genau! (Sic!)

Heinrich von Kleist verhandelt aehnliches.
Sein erster Satz in der "Allmählichen Verfertigung..." lautet verkuerzt: "Wenn du etwas wissen willst ... so rate ich dir ... darüber zu sprechen." Fertig! So einfach kann das sein. Er tarnt sein Reden als Ansprache an Ruehle von Lilienstern, in Form eines Briefes. Er bewegt sich zwischen Brief, Rede und Aufsatz, zwischen sprechen und schreiben, zwischen denken und sprechen/schreiben und ueberlegen. Falls der Satz, der erste des Textes, gueltig ist, so kann er auch an den Autor gerichtet werden, gerichtet sein. Ich kann ihn an den Autor zurueckgeben und an ihm anwenden.

Kleist raet somit auch sich selbst zu sprechen. Wenn aber keinerlei Ueberlegung vorausgeht, wie kommt er dann zu diesem ersten Satz, der einen imaginaeren Anfang markiert ? Wenn er etwas wissen wollte, hat er gewußt, wonach er suchte ? Warum fragt er nicht danach ? Denn wollte er erfahren, wie er ohne Vorueberlegung zu einer Rede kommen koenne, so haette er sein Bestreben thematisieren und verhandeln muessen. Er gibt aber im ersten Satz schon die Anweisung, also eine Loesung: die Gedanken kommen; du mußt nur anfangen, zu sprechen! Wie kam er nun zu einer solchen Anweisung, zu einem solchen Ratschlag ? (Wie kommt dieser zu Kleist?)
Ohne naemlich sein Anliegen zu thematisieren und ohne sich anzunaehern, ohne danach zu fragen. Doch wie waere er zu so einer/seiner Frage gekommen, haette er nicht schon eine Ahnung von einer moeglichen Antwort gehabt ?

Wenn Kleist etwas auf der Spur war, etwas gesucht hat, dann haette er es sprechend (und ent-sprechend) sich entwickeln lassen muessen. Doch das tut er nicht. Er faellt mit der Tuer ins Haus, das noch nicht gebaut ist. Er faellt mit einer, irgendeiner Tuer in ... nicht einmal noch eine Baustelle; wie kommt die/diese Tuer ins Feld ? ins Spiel ? Wie kommt Kleist zu diesem Aufbruch ? Der erste Bruch ist ein halber: der AUF-bruch.

Wenn Kleist aber nichts (Konkretem) nachgespuert war, nichts Geahntem, Vermutetem, Gewußtem, wozu dann dieser erste Satz ? Doch vielleicht hatte er wirklich einfach nur eine Ahnung, die er formulieren, oder ueberpruefen wollte. Und zwar auch mit dem Risiko zu scheitern; und nach diesem ersten Satz nichts mehr vorzufinden, abzubrechen, nichts zu finden, keine Fortsetzung, keine Folge. Vielleicht wollte er nur eine anfangs undifferenzierte These vorstellen, um sie in weiterer Folge zu diskutieren; zu vervollstaendigen und auszubauen oder sie zu verwerfen, als weiteren mißlungenen Versuch. Doch etwas stoert auch diese Vorstellung: der TITEL.

Der ach so verhaengnisvolle Titel! Er sagt noch vor dem eigentlichen Satz aus, worauf die nachfolgende Abhandlung hinauslaeuft: daß die Gedanken oder Ideen erst durch das Reden kommen, man muesse nur einmal irgendwo beginnen. Doch da sind wir schon im groessten Schlamassel. Denn: Wie streng habe ich die Linearitaet eines (solchen) Textes zu verfolgen? Warum vermute ich, daß der Titel unweigerlich VORAUSgeht ? zumindest fuer mich als Leser und Konsument, fuer den eventuell sprunghaft arbeitenden Autor vielleicht nicht.

Wir beginnen mit Heinrich von K. im groeßten Schlamassel. Ein Beginn, ein Anfang, ein Aufbruch wird gefordert. Doch: Wo ist dieser Anfang in unserem Text gegeben ? Im Titel? Im ersten Satz ? Oder schon vorher ? Freilich, der Titel kann erst im nachhinein entworfen worden sein, er koennte erst nachtraeglich dem fertigen Text bei- und vorangestellt worden sein. Sicher. Doch er steht nun einmal nicht nur aus Tradition, daß da eine, irgendeine Ueberschrift zu sein hat, da, wo er eben scheinbar absichtslos nun eben steht. Dafuer scheint mir ein Autor wie Heinrich von Kleist zu berechnend, zu "ueberlegen/ueberlegend", zu gewitzt. Der Titel will also etwas (wenn auch nur blenden, ablenken, oder einen Anfang markieren) - und mit ihm derjenige, der ihn formuliert und gesetzt hat. Ich kann ihn somit als Ouvertuere, als Vorwegnahme oder Abwandlung des Themas, als THESE interpretieren. Und das will ich auch gleich tun.

Somit waere der Aufsatz H. v. Kleists nur die Abhandlung dessen, was der Thesen-Titel bereits aussagt. Er diskutiert nicht einmal diese These, er untermauert nur mit Beispielen, er fungiert lediglich als Schmuck, als Ornament, als schmueckendes Beiwerk: als Fuellung. Doch wenn sich all das im Titel sagen laeßt, warum dann diesen Aufwand betreiben ? Wenn der Titel genuegt, und schon stimmt (wenn nicht, was haette er dann DA verloren/zu suchen?), dann widerspricht sich der Aufsatz selbst:

Kleist hat gelogen! Heinrich hat betrogen!
Kleist hat vorher sehr wohl gruendlich ueberlegt!
PFUI! (und die Katze hat sich selbst am Schwanz gezogen)

Oder loest sich der Widerspruch auf und verpufft seine gesamte Sprengkraft in dem kleinen Nebensatz:
"und es durch Meditation nicht finden kannst" ?
Heißt das, daß er sich die Moeglichkeit einraeumt, sehr wohl zu meditieren, zu ueberlegen? Heißt das, Kleist arbeitet mit versteckten Hintertueren, Seitenausgaengen und Falltueren, mit Notausgaengen fuer im eigenen Text verunglueckte Autoren ? Doch was waere selbst dieses Vorgehen (zu dem die "allmaehliche Verfertigung" nur eine Alternative darstellt), was waere die Meditation anderes als ein eben solches Reden, nur nach innen gekehrt und umgestuelpt. Das Gegenueber wird imaginiert, man geht in sich, gruebelt und denkt in sich, spricht zu sich, mit sich selbst, man spricht innerlich, und hilft sich so ueber die negierte aeußere Situation hinweg.
Zuerst steht die Meditation - als eine Art von Ueberlegung/Unterlegung (HYPOSTASIS)? Dann bleibt immer noch die Rede - als allmaehliche Verfertigung. Und nach dieser darf dann ueberlegt werden. Heinrich von Kleist muß also aus Erfahrung sprechen, sonst koennte er wohl kaum derartige Ratschlaege erteilen. Seine Erkenntnis ist diesbezueglich zu Ende gekommen. So kann er sie mir zu vermitteln versuchen.

Doch zuerst noch zurueck zum Eigentlichen: Ich hatte doch versprochen, oder vorgehabt, von Differenzen zu erzaehlen - denn "ueber" sie zu sprechen ist, wie wir gesehen haben, problematisch geworden. Literatur als ihre eigene Metasprache, als Literaturliteratur ?
Kleists Text referiert sich selbst. Ich referiere die Differenzen im Text. Ich befrage den Text von Kleist, ich befrage meinen - im Entstehen gerade begriffenen - Text; ich befrage mich, der ich diesen Text, der sich durch mich schreibt, schreibe, um mir klar zu werden, was die allmaehliche Verfertigung so reizvoll, was den Text von Heinrich von Kleist so interessant macht.
Eine erste Differenz haben wir schon kennengelernt, vorgestellt und untersucht: die von Objekt- und Metasprache. Auch haben wir gesehen, daß die Unterscheidung nicht mehr durchzuhalten ist, noch nie eindeutig war. Somit wuerde die Kleist'sche Literatur ihre eigene metasprachliche Besprechung und Diskussion, Sekundaerliteratur darstellen und schon beinhalten.

Eine weitere Differenz zeitigt sich - nach Martyn - in Begriffen aus der Sprechakttheorie J.L.Austins. Er unterscheidet zwischen "konstativen" Aussagen, Beschreibungen, Aeußerungen, die wahr/falsch sein koennen, und "performativen" Aussagen, Ausfuehrungen, Handlungen, Ereignissen. Beschreibt somit unser Text etwas ? Fuehrt er etwas aus ? Er, so wuerde ich vorerst einmal sagen, besteht aus Saetzen, aus Aussagen, die diese Arbeit leisten: sie beschreiben die Methode, die die Saetze (eben diese Saetze selbst) ausfuehren.

Es wird hier einerseits beschrieben, wie man vorzugehen hat, um bei einer Gedankensuche erfolgreich zu sein. Die Beschreibung liefert ein Bild einer Methode, eine Moeglichkeit des Handelns. Andererseits geschieht im Text auch etwas, es wird etwas ausgefuehrt. Kleist ist auf etwas gekommen, und er gibt dies hiermit weiter. Das Ereignis ist der Gedanke, den Kleist vorstellt.
Der Weg ist das Ziel. To do is to be. Das Medium ist die Botschaft. To be is to do. Die Ausfuehrung liefert die Vorstellung einer Idee, also deren Beschreibung. (Do be do be doo...)

"Vielmehr sollst Du es ihm selber allererst erzaehlen." (Kleist, Werke, 897)
heißt es nach den ersten beiden Saetzen im Text. Die konstative Aussage waere hier "erzaehlen", was die Vorgehensweise beschreibt. Die performative Aussage waere hier "Vielmehr", was den Gedanken forttreibt, ihn darstellt, seine Beschreibung ausfuehrt, beschreibt. Wir sehen also, daß hier die Beschreibung ausgefuehrt und die Handlung beschrieben wird. Beide kommen nicht aus ohne den je Anderen. Meine Trennung / Teilung ist eine kuenstliche, eine behelfsmaeßige, eine vorlaeufige, eine gewalttaetige.
Deshalb: "Vielmehr ... allererst erzaehlen!"
Die eine Aussage beschreibt die Vorgangsweise der Gedankensuche, und die andere fuehrt einen Gedanken aus. Die Beschreibung und die Ausfuehrung verwischen sich ineinander; vielleicht ist es das, worum es im Text AUCH geht ? Aber: diese Verwischung nun, wird sie vom Text beschrieben ? oder fuehrt er sie aus ? Der Gedanke als Begriff und Bezugspunkt vermittelt zwischen beiden.

"Diese 'aktive', in Bewegung begriffene Zwietracht verschiedener Kraefte und Kraeftedifferenzen, die Nietzsche dem System der metaphysischen Grammatik ueberall dort entgegensetzt, wo sie Kultur, Philosophie und Wissenschaft beherrscht, koennen wir mithin différance nennen." (Derrida, DD, 98)
"Was sich différance schreibt, waere also jene Spielbewegung, welche diese Differenzen, diese Effekte der Differenz, durch das 'produziert', was nicht einfach Taetigkeit ist. Die différance, die diese Differenzen hervorbringt, geht ihnen etwa in einer einfachen und an sich unmodifizierten, in-differenten Gegenwart voraus. Die différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr der Name 'Ursprung' nicht mehr zu. (...) wurden die Differenzen produziert, sind sie produzierte Effekte, deren Ursache ein Subjekt oder eine Substanz, eine Sache im allgemeinen, ein irgendwogegenwaertiges und selbst dem Spiel der différance entweichendes Seiendes ist." (Derrida, DD, 89)

Was diese différance also bewirkt (unter anderem / mit Anderem), ist eine Subversion jeder Linearitaet, jeglicher Kausalitaet, jedweder Finalitaet.
Die Differenz nun zwischen konstativer und performativer Sprache kann so als eine différance und somit auch in den Begriffen der différance gedacht werden. Sie wuerde selbst der Differenz und ihren Gliedern (Beschreiben und Ausfuehren) vorausgehen. Sie kann daher weder ausgefuehrt noch beschrieben werden; so auch die Verwischung der beiden Aussagen(arten).
Unser Text wuerde somit weder beschreiben, noch ausfuehren, oder beides zugleich: er fuehrt aus, was er sagt; er ist, was er beschreibt. Doch: TUT/IST er das wirklich ? Wovon kann ich ausgehen, von wo kann ich messen, verifizieren, relativieren ? Immerhin moechte ich doch zu irgendwie gearteten Aussagen kommen, moechte einen Text hervorbringen, ihn sich hervorbringen lassen.

Fuehrt mein Text diese Unentscheidbarkeit aus oder beschreibt er ? Ist er Metasprache oder Objektsprache? Ist er Dekonstruktion von Kleists Text oder beschreibt er sie? Und schon wieder haben die Ebenen und Verhaeltnisse sich verschoben, alles macht sich selbst. Wie kann ich mich hierin, hiermit bewegen, schreiben? Wo bewege ich mich HIERMIT?
Das "ueber" im Text-Titel von Kleists Aufsatz ist fraglich geworden. Nicht mehr geht es ueber die Verfertigung selbst, oder alleine. Die Trennung zwischen einem Gedanken und seiner Beschreibung, einem Text UEBER etwas und ETWAS kann nicht mehr: sein und gesagt werden. Ich kann diese Trennung weder beschreiben noch ausfuehren, oder aber ich kann beides zugleich: unentscheidbar.
Der Text wird UNLESBAR. [P.de Man]

Ebenfalls unentscheidbar praesentiert sich die Moeglichkeit eines Anfanges.
"Aus demselben Grunde weiß ich nicht, auf welchem Wege anzufangen, um das Bündel oder die Linienführung der différance zu zeichnen. Denn was hier gerade in Frage steht, ist die Forderung nach einem rechten Anfang, einem absoluten Ausgangspunkt, einer prinzipiellen Verantwortung. Die Problematik der Schrift wird mit der Infragestellung des Wertes der 'arché' eröffnet. (...) Alles in der Zeichnung der différance ist strategisch und kühn. (...) Eine Strategie schließlich ohne Finalitaet" (Derrida, DD, 81)
Alles eine Frage des NAVIGIERENS [Netz-Navigator]

Der Anfang, das arché, bleibt fraglich.
Die Eroerterung eines Begriffes der Schrift muendet in eine Befragung einer Differenz, einer différance, die sich schon eingeschrieben (und die immer schon darueberhinaus gestiegen ist) hat, und die sich immer schon verfluechtigt hat. Sie hat sich verabschiedet und laeßt sich verleugnen (- und laeßt sich gehen). Ihre Bewegung ist eine ohne bestimmbaren Aufbruch, ohne arché; eine Bewegung ohne herrschende Wahrheit und ohne Zielgerichtetheit, ohne Gott und ohne telos/Finalitaet.

Die différance unterscheidet und verschiebt, sie macht etwas aus etwas, sie legt und verwischt eine Spur, der sie folgt; sie hinterlaeßt einen Rest aus dem sie sich speist. Da ist kein Ursprung und kein Begriff oder NAME, und kein Ziel: sie wurden verschoben und unterschieden, und diese Bewegung zeugt von einer bereits verwischten Spur, von einem unnennbaren Rest. Doch von diesen Verwischungen muß ich leben, will ich ETWAS fort-schreiben. Was ich mit jedem Text tue, auch hier(mit).

Die Bewegung laeßt kein "ueber" zu, keine Gewaltentrennung oder -teilung in Objekt- und Metasprache, in konstative und performative Aussagen. Der Text von Kleist legt hiervon ein Zeugnis ab. Und es ist kein Ende der Bewegung in Sicht, alles verschiebt sich weiter. Im Text. Das Ziel schiebt sich immer von mir fort, es verschiebt sich notwendigerweise mit. Es wird mir vorgegaukelt, versprochen und in Rechnung gestellt, unterstellt. Doch dieses Sprechen bleibt ein Ver-sprechen. Es wird nicht eingeloest, aufgeloest. Ich werde nicht abgeloest, erloest. Ich WARTE. Ich WERDE. Text wird.

Das Ziel verschiebt sich mit und Kleist hat dabei kraeftig mitgeschoben:
"(Die Fortsetzung folgt)" heißt es am "ENDE" unseres Textes "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken". Wir werden vertroestet auf spaeter. Was uns bleibt: ein Verweis auf folgendes, naechstes, nachfolgendes. Wir werden hinausgeleitet aus dem Text, gleichzeitig entlassen und hinausgeworfen, gleichzeitig immer noch in ihm, da er nicht (nie) abgeschlossen wurde. Noch sitzen wir und warten; harren den Ab-schluessen, die da kommen moegen.

Ist ein solch vorlaeufiger Schluß vielleicht der einzig moegliche, der einzig ehrliche Schluß, der andeutbar ist ? Andeutbar, ja, denn ein Schluß im eigentlichen Sinne ist SO nicht erreicht. Darauf werden wir noch 'lange' warten: denn wo waere denn die Fort-setzung (von Voraus-setzungen) ?
Ein Analogbeispiel bei Kleist draengt sich dazu auf:
"Auflösung im folgenden Stück" heißt die Abschiedsformel im Anschluß an "Rätsel" (Berliner Abendblätter 1810). Ein Abschied, der uns durch die Tuere hinausbegleitet, auf daß wir gleichzeitig wieder in den Raum - den verschobenen - hineingelangen.

"Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären)" verweist uns des Raumes, verweist auf einen Ausgang, der jedoch nirgendwo hinfuehrt/hinausfuehrt.
Man koennte hier an Konzeptionen denken, die das "offene Kunstwerk" (U. Eco), oder "unendliche Kunstwerke" (Fragmente der Romantiker, z.B.Novalis), oder "unendliche Geschichten" (M. Ende, Borges, Eco, Cervantes, Novalis, 1001 Nacht,...). Doch darauf einzugehen ist hier (noch) wenig interessant oder zielfuehrend.
Und doch verzweigt sich der Gedanke hier zurueck zum unabgeschlossenen Navigieren in Texten. Ups! - Der Hypertext hat sich ins Spiel gebracht, hat sich aufgedraengt, spielt mit. (Und wo bitteschoen bleibt der Kontext ?)

Heinrich von Kleist steht hier also immer schon irgendwo: dazwischen. Ich meine damit, zwischen bestehenden Differenzen (freilich auch zwischen den Zeilen). Er steht, oder befindet sich, als Text, der sich durch ihn geschrieben hat, in einer Unentscheidbarkeit zwischen Anfang und Ursprung/Urspur, zwischen Differenz und différance, zwischen performativer und konstativer Aussage, zwischen Objekt- und Metasprache, zwischen Sprache und Schrift, zwischen Brief und Rede, zwischen Literatur und Literaturwissenschaft, zwischen Kunst und Analyse, zwischen sich und dem Text, zwischen Meditation und Handeln/Reden und Ueberlegung, zwischen verfertigen und haben (von Gedanken). Und zwischen seinen eigenen Texten. Ups - der Intertext ist ins Spiel gebracht. Wo bleibt der Kontext ?

Kleist (sein Text) oszilliert zwischen eins und dem Anderen, zwischen Einheit und Mehrheit: er bewegt sich - indem er staendig auf sich selbst rekurriert, verweist und zurueck- und vorgreift - in der Iteration (Eins in das Andere, das es selbst ist, einsetzen) und in der fraktalen (dimensionsgebrochenen) Welt.

Kleist referiert sich selbst schon zur Genuege. Und seine Welt gleich mit. Ist das jetzt der Kontext ? Das bin jetzt ich, dieser Text.
Ich habe zu sprechen begonnen, daraus ist dieser Text entstanden. Ich wurde geboren. Ich gestehe: Ich betrieb eine Strategie ohne Finalitaet, jetzt weiß ich erst, was ich die ganze Zeit ueber zu sagen hatte:
Kleist ist sein bester Referent und Kunde. Mein Sprechen, dieser Text kann wegfallen, ich bin zu etwas gelangt, eine Idee habe ich verfertigt: dieser Text ist nicht notwendig, ich loese mich auf. Kleist braucht mich nicht, seine Texte noch weniger. Sie genuegen sich selbst. Ich kann wie die Wittgenstein'sche Leiter nach der Lektuere wegfallen, sich als Spur aufloesen, sich weg- und verschieben. - Empfehle mich!

Irrtum, mein Lieber. Kleist referiert sich selbst zur Genuege? Das bin jetzt ich, dein Autor.
Ich habe zu schreiben begonnen, daraus bist du entstanden. Ich betrieb eine Strategie ohne Finalitaet, und jetzt erst weiß ich, was ich die ganze Zeit ueber zu sagen hatte:
Kleist ist nicht sein bester Kunde. Wer waere das schon, und wodurch koennte man sich als solcher auszeichnen oder zu erkennen geben, sich profilieren ? Mein Text steht immer noch, wohin ich ihn schrieb. Bin ich zu etwas gelangt ? Habe ich so Ideen (allmaehlich) verfertigt ? Ohne Pointe - doch was anderes waere ein Titel? - ist dieser Text nicht erloest, er bleibt (notwendig: wozu?).
Kleist braucht mich, sein Text noch viel mehr. Sie genuegen sich nicht selbst. Die Wittgenstein'sche Leiter kann hier nicht als Modell herhalten, nichts faellt weg.Etwas hat eine Spur gezogen: diesen Text.

Der Leser wird somit nicht entlassen werden koennen. Denn es wird hier zu keinem Ende/Schluß/Abschluß kommen. Die Leiter fuehrt weiter. Wir bleiben zurueck.
(Fortsetzung folgt ! - im naechsten Stueck)
Dieser Text hat sich selbst gemacht. Und er hat sich selbst verschoben. Im Text, in den Text. Und er hat sich selbst aufgeloest. Er verschwindet, Kleist bleibt.
Der Leser bleibt in beiden. - Gefangen. (tut leid...)


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