2 FRÜHE POSITIONEN, TEIL I
Ich habe Sie letztes Mal sicher furchtbar gelangweilt mit meinen Bemerkungen darüber, wie man Philosophie lernt, wie man dabei Maßstäbe erwerben kann, welche Rolle Wissenschaft und Tradition spielen und all dieses Zeug. Zwei kleine Zusätze trotzdem noch.
Daß die Philosophie die Maßstäbe ihrer Aussagen einerseits im Hinarbeiten auf Wissenschaften, die von ihr selbst zu unterscheiden sind, findet, anderseits in ihrer eigenen Geschichte, in dem was schon gesagt wurde zu der Sache --- das ist nicht eine Erfindung oder idee fixe von mir, sondern ist von Aristoteles so richtig eindeutig erkannt und in die Praxis umgesetzt worden. Bei Aristoteles ist die Frage nach einer Methode der Philosophie sehr schwierig, er ist grundsätzlich skeptisch in diesem Punkt, dh mit gewissen Vorbehalten kann man annehmen oder herauslesen, daß er nicht geglaubt hat, daß man eine Methode der Philosophie überhaupt angeben kann. Aber man kann bei ihm sehr deutlich ein bestimmtes Verfahren erkennen, nach dem er selbst faktisch seine Vorlesungen, seine Philosophie ausrichtet. Und das besteht darin, daß er zu einem bestimmten Thema oder Problembereich zunächst einmal sichtet, was berühmte Leute schon darüber gesagt haben, was an interessanten Meinungen darüber sich überliefert hat. Diese Meinungen stellt er gegeneinander, er eliminiert die, die in sich inkonsistent oder prinzipiell unplausibel sind, und versucht dann, gewisse Kernpositionen aus den übriggebliebenen herauszudestillieren, die sich dadurch qualifizieren, daß sie ihm entweder sowieso in die richtige Richtung zu weisen scheinen, oder daß sie, obwohl wahrscheinlich nicht selbst haltbar, doch auf gewisse Probleme aufmerksam machen.
Und dann, wenn diese Phase erreicht ist, beginnt er selbst in einer recht charakteristischen Weise eine typische derartige Position zu analysieren. Das ist sowas ähnliches wie ein sprachanalytisches Verfahren, das er da anwendet, ein bißchen so wie Gilbert Ryle vielleicht, oder auch wie G.E.Moore. In der Diktion von Moore steckt viel Aristotelisches. Aber bei Aristoteles selbst haben diese Analysen einen ausgesprochen starken Zug in Richtung Wissenschaft. Da geht es darum, Fragestellungen und Grundbegriffe am Schluß als Resultat zu haben, die wirklich als eine selbständige Wissenschaft bestehen können.
Wie schon gesagt, diese Bemerkung ist vorläufig nichts als ein Hinweis darauf, daß die Dimensionen von Wissenschaft und Geschichte für das Selbverständnis der Philosophie schon spätestens seit Aristoteles wesentlich sind, und soll verstanden werden ganz unabhängig von der Frage nach der Methode der Philosophie und auch von der nach der Lehre der Philosophie. Obwohl wir natürlich dann immer wieder sehen werden, wie sehr diese Dinge zusammenhängen.
Der zweite Zusatz ist wichtiger und bezieht sich darauf - was Sie natürlich auch selbst erkannt haben - daß dieses Problem der Lehrbarkeit der Philosophie auch sachlich, inhaltlich viel mit unserem Thema zu tun hat. Allerdings auf eine ziemlich vertrackte Weise. Heute, in unserer Zeit, liegt es eigentlich auf der Hand, daß diese Schwierigkeit mit der Lehrbarkeit etwas ist, was die Philosophie mit der Kunst gemeinsam hat. Und die Wissenschaft ist typischerweise der Gegensatz dazu. Aber wenn man näher hinsieht, ist die Lehrbarkeit nur eine Charakteristik der Wissenschaft, die noch dazu in einer sehr starken Spannung steht zu dem Ziel der Forschung, der Entdeckung des Neuen; und dann gibt es da noch einen dritten Begriff, den der Begründung, der in diesem Zusammenhang nie fehlt. Vorige Woche, als ich auf den Begriff Wissenschaft gekommen bin, habe ich zunächst nur jene Eigentümlichkeiten erwähnt, die sie in bevorzugter Weise lehrbar machen: Standpunktunabhängigkeit, Beweisbarkeit, Verläßlichkeit.
Daß das Inventive, das Finden des Neuen, überhaupt in die Wissenschaft selbst einbezogen werden kann, ist hingegen gar nicht selbverständlich. Das scheint auf den ersten Blick sowohl dem Anspruch auf Allgemeinheit, wie auch dem auf Begründung zu widersprechen. Tut es auch. Daß in der frühen Neuzeit diese "Einbeziehung" trotzdem stattgefunden hat, ist nur zu erklären im Zusammenhang mit dem Begriff der Methode und seiner Geschichte. Ich sage jetzt gar nichts zu dem Inhalt dieses Begriffes, sondern ich markiere nur ganz äußerlich die entscheidende pointe: an der Methode ist in diesem Kontext interessant, daß sie eine Verläßlichkeit und Kontrolle verspricht und trotzdem auf etwas Neues führt. Die verläßliche Überraschung gewissermaßen. Etwas, was ich Ihnen in dieser Vorlesung zu einem späteren Zeitpunkt erklären möchte, etwas was mir wirklich sehr am Herzen liegt, das ist daß der wirkliche Gegensatz, der da in vielen Theorien im 16. und 17. Jahrhundert die Dynamik bestimmt, das Auseinandertreten von Begründung und Verläßlichkeit ist. Daß in der Wissenschaft eine Verläßlichkeit und eine Sicherheit vorstellbar werden, die nicht äquivalent oder gleichbedeutend mit Begründung sind. Und genau da liegt eines der Elemente der Attraktivität des Begriffes Methode. Und es ist natürlich nicht nur ein Wortwitz, wenn man feststellt, daß diese Erwartungshaltung gegenüber der Methode vor allem oder fast ausschließlich an der Mathematik sich orientiert hat, und daß die Übersetzung von mathema "das Lehrbare" ist.
Auf der anderen Seite aber müssen Sie sehen, daß in der Antike zwar auch schon der Begriff der Methode mit dem der Lehrbarkeit eng verknüpft war, daß aber die allgemeinere Bezeichnung für eine lehrbare Fähigkeit "Kunst" war. Plato bezeichnet als Kunst genaue jene Fähigkeit, die aufgrund ihrer methodischen Strukturierung oder Verfassung lehrbar ist. Die nicht nur durch Nachahmung tradiert werden kann. Und die Wissenschaft ist eine Kunst, fällt unter den Oberbegriff Kunst. Spätestens in der Neuzeit hat sich dann der Kunstbegriff so verändert, daß er ganz aus diesem Zusammenhang herausrutscht. Also diese Begriffe: Kunst, Philosophie, Lehre, Begründung, Wissenschaft, Invention --- die sind das Spielzeug, das wir in diesem Semester haben werden, und die sind in der Geschichte und selbst in einzelnen Theorien so ungeheuer beweglich gegeneinander, die können in so viele verschiedene Konstallationen treten, daß wirklich für Spannung gesorgt ist. Diese zweite Anmerkung, die ich da jetzt gemacht habe, ist also einerseits ein doch sehr wichtiger Hinweis auf den Zusammenhang von Fragen der Lehrbarkeit mit denen der Methode, anderseits ist sie natürlich ein richtiger "Verwirrer", bringt alles durcheinander. Also werden wir jetzt bei unserem ersten ernsthaften Schritt mal alles das weit in den Hinterkopf verbannen und versuchen eine viel speziellere und eingeengtere Situation zu beschreiben --- die Situation des jungen und mittelalten Kant. In welcher Form ist er mit dem Problem der Methode konfrontiert gewesen? Wir machen das in zwei Abschnitten, der eine greift ein wenig zurück auf die Situation bei Descartes und Leibniz, der zweite bringt ein Beispiel.
2.1 Das Aufkommen der Methodenfrage
2.1.1 Allgemeine Orientierung
Ich habe letztes Mal nicht diese Frage, aber die damit verwandte nach dem "wann" angesprochen, und gesagt: Je nachdem, nach Geschmack, bei Spinoza oder bei Leibniz. Nun, wirklich um ihrer selbst willen wollen wir ja diese Frage nicht beantworten. Sondern wir wollen sie einer Beantwortung zuführen, die uns die Situation bei Kant verständlicher macht. Aus dieser Perspektive besteht aber tatsächlich ein ziemlicher Unterschied, ob man die Antwort Spinoza oder die Antwort Leibniz gibt.
Natürlich rückt Spinoza die Methodenfrage auf dramatische Weise ins Zentrum mit seiner Ethik more geometrico. Man muß auch einräumen, daß es sich da keineswegs nur um eine Frage der Darstellungsform handelt. Das schlägt schon auf die inhaltlichen Positionen durch. Aber daß eine dringende Frage sich auf die Methode der Philosophie gerade in ihrer Unterschiedenheit von der mathematischen richten muß, und daß wegen dieser Verschiedenheit ihrer Methode von der mathematischen die Philosophie sich von der Wissenschaft unterscheiden wird --- für diese Einsicht ist eindeutig Leibniz zuständig. Da muß man allerdings sofort warnen vor Mißverständnissen und Mehrdeutigkeiten. Denn teilweise bei Leibniz selbst, vor allem aber bei späteren Leibnizianern, gibt es auch andere Kriterien zur Unterscheidung von Philosophie und Wissenschaft --- nicht aus der Perspektive der Methode, sondern zb aus der Perspektive der jeweiligen Gegenstände. Also wenn man zb sagt, und das kann man in der entfernteren Leibniz-Nachfolge im 18. Jh durchaus sagen, Die Metaphysik ist die Wissenschaft von den übersinnlichen Gegenständen --- dann ist man keineswegs zu der Annahme verpflichtet, daß die Metaphysik auch in ihrer Methode sagen wir von der Physik verschieden sein muß. Man könnte zb die Position vertreten, daß die physikalische ebenso wie die metaphysische Methode die der Mathematik ist, und insbesondere die geometrische Beweisart. Dann haben Sie eine Physik, die wie Spinozas Ethik ausschaut, und auch eine Metaphysik, die so ausschaut --- aber es sind natürlich verschiedene Wissenschaften.
Was uns interessiert ist aber, daß Leibniz eben vor allem nahelegt eine methodologische Unterscheidung von Wissenschaft und Philosophie. Und der Drehpunkt für so eine Unterscheidung ist die mathematische Methode; nur daran kann man diese Unterscheidung festmachen --- wenn sie überhaupt sinnvoll ist. Der Begriff oder das Wort "Physik" ist durchaus beweglich oder verschiebbar. Klarerweise besteht das Kardinalfaktum zu Leibniz' Zeit gerade darin, daß man jetzt eine mathematische Physik hat. Aber für ihn ist das ein Faktum, gegen das er in gewisser Weise gerade ankämpft. In gewisser Weise will er zeigen, daß die wahre Physik metaphysisch ist, daß es sowas Ähnliches wie zwei Physiken gibt, eine mathematische und eine metaphysische. Also der Begriff Physik steht zur Disposition, nicht aber der der Mathematik. Um den, als Achse, wird alles andere gedreht.
Ich versuche das jetzt noch einmal so klar und so gut merkbar wie möglich zu sagen: Da gibt es die seit Galilei, spätestens seit Newton fest etablierte neue Situation, daß die Physik mit der Methode der Mathematik zu betreiben ist. Also der Gegenstand: Von mir aus sagen wir dazu "Bewegung" oder "Natur" oder sonstwas; und die Methode: die Mathematik. Und was Leibniz sagt ist, daß man auf diesen selben Gegenstand zugehen kann, aber eben mit einer anderen Methode gewissermaßen. Es ist Metaphysik, was er da im Auge hat.
Wenn man da in dieser selben Allgemeinheit weitermachen wollte, dann müßte man jetzt erklären was mathematische Methode heißt, was Bewegung und was Metaphysik etc. Aber das werde ich nicht machen, ich werde nur noch sehr kurz etwas sagen, was man nicht als Beschreibung oder gar Erklärung der Position von Leibniz nehmen kann, aber als eine Art Mini-Charakteristik, die wir in dieser Stunde verwenden können. Und das Weitere werde ich an einem Beispiel verdeutlichen, an jener Sachfrage, die auch für Kant die Einstiegsfrage war. Aber zuerst diese Mini-Charakteristik.
Eine der exponiertesten Lehren von Descartes war ja eben der reale Unterschied von ausgedehnter und geistiger Substanz. Man versteht die Tragweite dieser Lehre nicht, wenn man sie sich immer nur in der Form präsent macht, daß "unser Geist von unserem Körper verschieden ist". Sie besagt mehr, nämlich überspitzt formuliert daß es zunächst überhaupt nur zwei Substanzen gibt, und die sind radikal voneinander verschieden --- sind durch einander ausschließende Attribute bestimmt. Die eine Substanz ist die ausgedehnte, und alles was man über diese Sache sagen will und kann muß in Prädikaten gesagt werden, die Verhältnisse der gegenseitigen Lage oder Lageveränderung zum Inhalt haben. Und die andere Substanz ist die denkende, und alles was man über die sagen will und kann muß in ganz anderen Prädikaten gesagt werden. Ich will nicht darauf eingehen, was das für Prädikate sind, das ist jetzt auch wirklich unerheblich für uns, entscheidend ist nur, daß die "Ausdehnungsprädikate" ausgeschlossen sind, und umgekehrt die mentalen Prädikate ausgeschlossen bei der ausgedehnten Substanz. Die Radikalität dieses Gedankens machen Sie sich am besten daran klar, daß auf diese Weise für Descartes ein absoluter Unterschied von Innerem und Äußerem besteht. Wir reden jetzt nicht vom Alltag, von der gewöhnlichen Sprache etc --- in einem gewissen grundlegenden Kontext sind Innen und Außen keine relativen Begriffe für ihn. Es gibt sozusagen ein Reich des Außen oder wenn Sie wollen ein "äusseres Reich", und in dem gibt es nur äußerliche Beziehungen. Nichts, was diesem äußerlichen Reich angehört hat ein Inneres. Es gibt keinerlei innere Bestimmungen des Äußeren, der ausgedehnten Substanz. (Insbesondere ist zb die Substantialität der ausgedehnten Substanz nicht etwas ihr Innerliches oder dgl). Und alles was die ausgedehnte Substanz angeht ist in der Sprache der Mathematik beschreibbar. Also während zb für Aristoteles ein Naturding typischerweise gerade ein solches war, das den Grund seiner Bewegung in sich selbst hat, so ist für Descartes die Natur und alles Natürliche genau dasjenige, was überhaupt nichts "in sich hat", schon gar nicht einen Grund.
Exakt an diesem Punkt hat Leibniz Descartes widersprochen und die Sache des Aristoteles noch einmal ganz groß ins Spiel bringen wollen. Alles, was mehr ist als eine bloße Einbildung oder eine formale Konstruktion in meinem Geist, muß durch seine je eigenen inneren Bestimmungen charakterisiert werden können. Insbesondere, und das weist jetzt schon auf unser Beispiel voraus, gilt das für die Bewegung. Wenn ich nicht nur sagen will, daß ich eine Bewegung wahrnehme zb in der relativen Lageveränderung zweier Körper, sondern einem (oder auch beiden) dieser Körper zuschreiben möchte, daß er es ist, der sich bewegt, dann muß ich dabei auf innere Bestimmungen dieses Körpers selbst Bezug nehmen. Und gerade weil aber Descartes sozusagen die Ko-Extensionalität von Äußerlichkeit und Geometrie etabliert hat, so muß dafür eine andere Sprache in Gebrauch genommen werden. Die Sprache der Metaphysik, und der oder zumindest ein Zentralbegriff dieser Metaphysik ist der der Kraft. Genau zu der Zeit, wo die Wissenschaft der Physik sich des Begriffes der Kraft entledigt, bzw diesen Begriff depotenziert zugunsten solcher Begriffe wie Funktion oder Relation, genau zu der Zeit versucht die Philosophie noch einmal mit seiner Hilfe eine eigenständige und privilegierte Perspektive auf die Natur für sich zu reklamieren.
2.1.2 Die lebendige Kraft
Unser eigentlicher Start, so habe ich letztes Mal angedeutet, wird bei einigen Schriften Kants aus den frühen 60er Jahren liegen. Aber es ist nicht uninteressant zu sehen, wie sich sein methodologisches Selbstbewußtsein aus einer bestimmten Sachfrage heraus entwickelt. Seine erste publizierte Schrift, "Von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte", aus dem Jahre 1747, hat genau mit dem Problem der mathematischen Physik zu tun. Ich möchte übrigens gleich von vornherein sagen, daß es sich bei dieser Frage tatsächlich um einen "Streit um des Kaisers Bart" handelt --- die Leute glaubten um eine Sache zu streiten, in Wahrheit ging es weitgehend um Worte; aber trotzdem ist es eine wichtige, enorm wichtige Auseinandersetzung. Was war das Problem?
Zur Zeit Kants formulierte man es etwa so: Descartes sagt, das wahre Maß der Kraft sei das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit des Körpers, und im Universum bleibt diese Größe konstant. Leibniz dagegen sagt, das wahre Maß der Kraft sei das Produkt der Masse mit dem Quadrat der Geschwindigkeit. Es ist übrigens schon in dieser Formulierung der Anfang des Mißverständnisses gemacht, und zwar in der Art wie die cartesische Auffassung dargestellt ist. Denn für Descartes selbst war der Begriff der Kraft ja gar nicht interessant, Kräfte immer rückführbar auf Ausdehnung und Bewegung. Heute nennen wir das Produkt von Masse und Geschwindigkeit "Bewegungsgröße", und als das war es auch sachlich von Descartes gedacht. Es mißt das, was etwa zwei kollidierende Körper einander an Bewegung mitteilen. Auch Newton hat natürlich diese Bewegungsgröße als konstant angesehen. Auf der andern Seite ist das wirklich nur die in der Kollision selbst erteilte Geschwindigkeit, also wenn man es Kraft nennen wollte, dann ist es nur die "Kraft in einem Augenblick", eine Kraft ohne zugeordnete Wirkung. Weil die Wirkung ja erst in der Folge eintritt. Man kann auch sagen: diese Größe mißt nicht die Arbeit, die von einer Kraft verrichtet wird. Zb bestimmt diese Größe nicht, wie weit eine Masse durch den Anstoß einer anderen verschoben werden kann. Aber dadurch würde klarerweise Kraft in einem viel tieferen Sinn erfaßt, der auch der Intuition näher kommt. Die einem Körper mitgeteilte Kraft ist doch eigentlich das, was er über eine bestimmte Strecke und gegen einen Widerstand aufzehrt. Dieser Weg sollte in das Maß der Kraft eingehen, die dann den Namen "lebendige" Kraft verdient.
Leibniz sagt nun: Gehen wir davon aus, daß es gleich viel Kraft erfordert, eine Masse 1 auf 4 Längeneinheiten zu heben, wie eine Masse 4 auf 1 Längeneinheit. Und machen wir die weitere Voraussetzung, daß die Kraft, mit der ein Körper auf eine Höhe h gebracht wird, dieselbe ist, die er besitzt, wenn er im freien Fall von h auf die Erde zurückkehrt. Diese Kraft kann man nach Galilei durch die Aufprallgeschwindigkeit messen: Wurzel aus dem doppelten Produkt von Schwere (g) und Weg. Und da kann man nun mit einer einfachen Rechnung zeigen, daß wenn das Produkt von Masse und Geschwindigkeit das Kraftmäß wäre, daß dann die Kräfte in den beiden Fällen verschieden wären, was aber der Annahme widerspricht; hingegen wenn wir in die Kraft das Quadrat der Geschwindigkeit eingehen lassen, dann sind die Fälle gleich.
Leibniz sagt auch einmal, das sei die Messung nach der "quantitas effectus, quam vis producere potest", und diese Größe ist das einzig plausible Maß für die Kraft, die im Körper ist oder wirkt. Die Differenz, die sich bei Anlegen des cartesischen Bewegungsmaßes ergibt, kommt natürlich daher, daß einerseits die Fallgeschwindigkeit nur vom Weg abhängt, die Masse aber sozusagen "dazu multipliziert" wird, als wäre der Weg schon vorher "verschwunden" in der Geschwindigkeit. Die Leibnizsche Formel dagegen berücksichtigt, daß auf dem ganzen Weg, in jedem noch so kleinen Abschnitt, die Schwerkraft kontinuierlich auf die Masse wirkt.
Als erster hat diese Sachlage d'Alembert vollkommen durchschaut, 1743. Er sah klar, daß die Unterscheidung dieser beiden Größen nichts zu tun hat mit irgendwelchen metaphysischen Annahmen. Aber bei Leibniz spielt eine solche Annahem eine wesentliche Rolle, nämlich daß die lebendige Kraft ein Grundattribut von Substanz als solcher ist.
Kant nun ist in jener Schrift Leibnizianer, aber in dem Sinn, daß er überhaupt nur die metaphysische Plausibilität der Sache behandelt, und die physikalischen Umstände weitgehend außer Betracht läßt. Er geht davon aus, daß der Körper wesentlich durch Kraft bestimmt ist --- also noch vor der Ausdehnung durch Kraft. Er hat die Ausdrücke "wirkende Kraft" oder "vis activa". Die kommt dem Körper auch vor aller Bewegung zu --- und daher meint er, es sei in gewisser Weise irreführend, sie eine "bewegende Kraft" zu nennen. Bewegung ist nicht die Wirkung der Kraft, sondern, ich zitiere das aus dem par3:
nur das äußerliche Phänomenon des Zustandes des Körpers, da er zwar nicht würket, aber doch bemüht ist zu würken...
Erst wenn der Körper an einem Widerstand zur Ruhe kommt, wirkt er eigentlich. Wie ist aber dann der Zusammenhang von wirkender Kraft und Bewegung? Nehmen wir eine Substanz A, die wirkt. Sie findet ein Objekt oder nicht. Wenn alle Kräfte, unmittelbar indem sie wirken, äquivalente Widerstände fänden, gäbe es keine Bewegung. Aber Kant meint, das würde nicht bedeuten, daß es keine Wirkung gäbe; wir würden sie nur einfach nicht nach der Bewegung benennen oder beschreiben. So ist es aber nicht. Sondern die Kräfte finden normalerweise keine Widerstände vor, die sie instantan aufzehren. Also hat die Wirkung eine zeitliche Dimension. Aber wenn wir einen Augenblick unmittelbar nach dem ersten betrachten, so ist offenkundig, daß A nicht wieder in dieselbe Substanz B wirken kann wie vorher. Denn wenn B vorher nicht fähig war, die ganze Wirkung von A aufzunehmen, dann jetzt auch nicht. Also wirkt A nach und nach in verschiedene Substanzen. Das ist jedoch nur dann möglich, wenn sich in der Zeit auch noch die Lage der Substanzen gegeneinander ändert --- sonst gälte ja für jede Substanz, was gerade für B gegolten hat. Und das bedeutet, so Kant, daß A sich bewegt hat. Das ist der Zusammenhang von Kraft und Bewegung. Die Bewegung ist also überhaupt nur die Erscheinung, die die Wirkung einer Kraft unter bestimmten Umständen annimmt. Die wichtigsten und allgemeinsten dieser Umstände sind: die Substantialität der Kraft, und die Leere des Raumes (daß der Raum nicht seinerseits Kraft aufzehrt).
Die Kehrseite des Umstandes, daß die Bewegung eigentlich nur ein Symptom der Wirkung ist, ist natürlich daß Wirkung nur eine Beziehung zwischen den Innerlichkeiten von Substanzen ist. So wie die Kraft eine rein innere Bestimmung von A ist, so bringt sie auch in B nur wieder innere Effekte hervor. Daraus resultieren dann in der Durchführung der Idee katastrophale Schwierigkeiten, und letztlich scheitert dieses Konzept natürlich. Kant kommt am Ende auf einen Begriff der "Vivifikation", der Selbst-Erneuerung seiner lebendigen Kraft etc. Aber das interessiert uns hier nicht, für uns ist wichtig diese Tendenz, der Bewegung (und ihrem Maß) eine äußere, der Kraft eine innere Perspektive zuzuordnen. Die Bewegungsgröße ist etwas, was dem Körper in reiner Außenperspektive zukommt, was man als räumliche Beziehung darstellen muß. Die Vivifikation ist ein völlig unräumlicher, innerer Vorgang. Der Raum ist irgendwie die Domäne des Todes, die Kraft dominiert das Leben.
Daraus erklärt sich die letzte Konsequenz: Kant meint, daß das einzige Kraftmaß, das mathematisch zu gebrauchen wäre, das cartesische sei, also das Maß der toten Kraft. Nur dieses läßt sich in geometrischen Relationen darstellen und auf mathematischem Wege finden. Das natürliche Kraftmaß aber läßt sich nur metaphysisch begründen. Wie aber können Metaphysik und Mathematik ein und dieselbe Natur zum Gegenstand haben?
Etwa neun Jahre später erschien von Kant ein Schriftchen, das schon durch seinen Titel klarmacht, daß er diesem Problem nachgegangen ist: "Metaphysicae cum Geometria iunctae usus in philosophia naturali, cuius primum specimen continet monadologiam physicam" --- eine physische Monadologie. Der zentrale neue Gedanke ist, daß räumliche Position und Beziehungen einer Substanz direkt, und nicht nur "symptomatisch", aus ihren Kräften interpretierbar sein müssen. Umgekehrt: die Kräfte einer Substanz, sowie Maß und Art ihrer Wirkung, sollen sich ablesen lassen aus ihren räumlich-äußeren Beziehungen zu anderen Substanzen. (Die Substanzen wirken also jetzt äußerlich aufeinander ein.) Der Raum selbst ist nicht nur eine Erscheinungsweise, sondern eine Wirkung der Substanzen. Also das ist, trotz des Wortwitzes mit der physischen Monadologie, noch immer eine leibnizianische Position: Kräfte sind zwar nur in äußeren Relationen, also mathematisch, beschreibbar --- aber die äußeren Relationen sind in der Wirkung der Substanz gegründet und darauf zurückzuführen. Kant versucht eine Begründung dafür, daß im physischen Raum die Geometrie (und insbesondere die geometrische Vorstellung von Kontinuität) Anwendung finden kann. Diese Begründung selbst ist natürlich rein metaphysisch, sie baut darauf, daß die wahrhaft seienden Elemente unteilbare und diskontinuierliche Teile sind, mit inneren Zuständen und Kräften begabt. Der kritische Kant wird sich von dieser Begründungsart losmachen, er wird an die Stelle der Metaphysik hier etwas setzen, was wir uns angewöhnt haben "Erkenntnistheorie" zu nennen. Aber er wird dabei bleiben, daß die Möglichkeit mathematischer Naturwissenschaft einer philosophischen Begründung bedarf. Schon im Konzept der "physischen Monadologie" hat er, im Unterschied zur "Wahren Schätzung", eine kooperative Kompetenzaufteilung von Naturphilosophie und Naturwissenschaft vorgesehen. Und diesen Problemen ist er allerdings immer mehr unter methodologischen Aspekten nachgegangen, und natürlich ist dabei die Frage nach dem eigentlichen Wesen der mathematischen Methode immer im Zentrum geblieben.